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»Frau Heimann abgereist?« hatten mehrere Jubilare zugleich gefragt.
»Um Mitternacht, in seltsamer Eile«, erwiderte Altringer. »In einigen Zeilen, die mir eben zugekommen, zeigt mir Heimann in krauser Stilisierung an, dass er, im Begriffe, den Klosterhof endlich zu erreichen, seiner Frau begegnet sei, die in Folge einer erschütternden Nachricht abreisen müsse; dadurch sei er selbst gezwungen, seine Frau zu begleiten, statt nach dem Klosterhofe zu kommen. Zum Schlusse empfiehlt er den Freunden auf das Wärmste, seine Bewirtung auch ferner sich behagen zu lassen!«
Diese Mitteilung erregte einiges Aufsehen.
Der Verwaltungsrat, mit dem Börsenschrecken in allen Gliedern, vermutete etwas wie partiellen Krach im Hause Heimann; der Justizrat, als er nur darüber beruhigt war, dass die Heimann'schen Delikatessen und Weine zu Handen blieben, dankte eigentlich Gott, dass die Türen und Wände einrennende Energie der Frau Heimann den Klosterhof verlassen habe; jetzt war Aussicht vorhanden, den Zutritt der Damen in den Versammlungssaal zu hintertreiben, wodurch er in die Lage kam, sein Leben nach seinem Sinne zu schildern, nicht nach den Vorschriften und Zutaten seiner lieben Aurelia. Die meisten aber bedauerten doch die Abwesenheit Heimanns nebst Gemahlin, da jede Lücke in den Reihen der Jubilare dem Feste Eintrag tue.
»In dieser Hinsicht müssen wir uns bescheiden lernen«, erwiderte Altringer. »Die Lücken werden leider zahlreicher sein, als wir wünschen. Drei der Freunde, feldtüchtige Landwehrmänner, hat der Heldentod bei Wörth, Gravelotte und Belfort heimgeführt; mehrere fesselt schweres Leiden an das Krankenbett – auch hat ein denkwürdiger Freund, der bereits angekommen war, diese Nacht plötzlich den Klosterhof wieder verlassen.«
»Wer?« fragten mehrere zugleich.
»Der Mönch, dessen Ankunft und Zurückgezogenheit seit gestern so viel Aufsehen erregt hat.«
»Und der Grund dieser Abreise?«
»Ist unbekannt«, erwiderte Altringer. »Der Portier berichtet nur, dass der Mönch kurz vor Mitternacht plötzlich am Eingang seiner Stube stand, das Tor zu öffnen befahl und ihn mit Blicken, die im Dunkel zu leuchten schienen, wie magisch zur Erfüllung des Befehls zwang. Im Hinausschreiten habe der Mönch dem Portier ein Goldstück in die Hand gedrückt und ihm ein Paket an meine Adresse übergeben; dann sei er wortlos durch das Tor geschritten und gespensterhaft verschwunden.«
»Was enthält das Paket?« lautete die gleichzeitige Frage der Jubilare.
»Hier ist's«, erwiderte Altringer und enthüllte zum Erstaunen der sich herandrängenden Jubilare ein Behältnis, das obenauf mit dem Protrait des Mönchs geschmückt war, innen aber eine große Anzahl gedruckter Blätter und Hefte enthielt – Ausschnitte und Teile aus Zeitungen und Broschüren, welche Urteile, Lehrmeinungen, Streitartikel religiösen und kirchlichen Inhalts von den glaubensfestesten Kämpfern, wie von den schärfsten Zweiflern, Denkern und Gelehrten der Neuzeit enthielten. Unter dem Portrait des Mönches standen nur die Worte:
»Salvavi animam meam.«
Überrascht sahen die Jubilare sich an.
»Salvavi animam meam …« wiederholte einer und der andere in Gedanken.
Soll dies heißen, ich habe meine Seele vor Einfluss dieser gefährlichen Lehren bewahrt und bin ein Mitglied meines Standes geblieben, wie es die Vorschriften der Kirche verlangen? – oder soll es heißen: ich habe trotz der von Jugend auf mich bestrickenden und durch die Wahl meines Standes ganz beherrschenden Lehren und Gebote der Kirche meinem Herzen die Empfänglichkeit für die Wahrheit bewahrt, laute diese auch noch so kühn und vermessen? –
Stimmer erhoben sich für und gegen beide Ansichten.
Aber, meinten einige, wenn unser rätselhafter Freund schon gesteht, dass er sich ein Herz bewahrt hat für die Wahrheit in jeder Form – warum ist er nicht geblieben und hat sich uns als denkenden, vorurteilslosen Priester offen gezeigt? – Und wenn er mit seiner Devise gemeint hat, all' diese geistigen Versuchungen seien an seiner kirchlich gepanzerten Brust unwirksam abgeprallt, warum hat er sich entzogen, statt sich als kühnen Verteidiger der Kirche, einschließlich der Unfehlbarkeitslehre, den Freunden zu zeigen? War er denn nicht gekommen, in der einen oder anderen Weise, wie wir alle, über sein Leben Rechenschaft abzulegen?
Man war noch in der lebhaftesten Gegenrede begriffen, als dem Präsidenten eine Zuschrift gebracht wurde, welche von dem Geheimsekretär des Staatsministers abgegeben und als dringend bezeichnet worden war.
In dieser Zuschrift bedauerte der Staatsminister, dem Jubiläum nicht beiwohnen zu können, da ihn dringende Geschäfte in die Hauptstadt zurückriefen; er müsse sich daher auch das Vergnügen versagen, das beigeschlossene Schreiben des Reichskanzlers, das an ihn gelangt sei, persönlich zu überbringen. Die Zuschrift schloss mit landläufigen Redensarten von unveränderlicher Freundschaft und Treue und gab der Hoffnung Ausdruck, einem und dem andern Kommilitonen später noch zu begegnen.
Ein feines ironisches Lächeln zuckte um Altringers Lippen.
Er betrachtete das noch uneröffnete Schreiben des Reichskanzlers und bemerkte nach einer Pause:
»Ein Unglück kommt selten allein. Es ist unschwer zu erraten, dass auch der Reichskanzler heute nicht erscheinen wird. Auch er – der im Jahre außer seinen Geschäften viel kostbare Zeit verlieren muss, um Bälle, Theater, Soiréen mitzumachen, sieht sich gezwungen, die verlorene Zeit an den lieben, lange nicht gesehenen Freunden hereinzubringen … Doch lasst sehen!«
Altringer öffnete das Schreiben und überflog es weniger aus Neugierte, ob er richtig vermutet habe, als gespannt auf die Entschuldigungsgründe, die der Reichskanzler vorbringen werde.
Sein Lächeln verschwand allmälig, und auf seine Stirne senkte sich ein ernster Schatten.
Das Schreiben, welches Altringer nun mit ruhiger Betonung vorlas, war liebenswürdig, fein und geistreich abgefasst und durch den humoristischen Anstreich besonders bezeichnend.
Ein harmloser, mit der vornehmen Welt nicht vertrauter Leser würde wahrscheinlich entzückt und gerührt die Ausdrücke des Bedauerns, von der Teilnahme am Jubiläum abgehalten zu sein, für wahr und echt hingenommen und die Lebhaftigkeit der Erinnerung und Freundschaft bewundert habe, mit welcher »der schönsten Lebenstage« auf der Universität und der Kommilitonen im Ganzen und einzelnen gedacht war; Altringer, der den Reichskanzler genau kannte, seine ausgezeichneten Gaben und Erfolge hoch anschlug, seinen witzigflattersinnigen Lebensansichten und pointereichen, oft genial aufblitzenden Tischreden nicht immer Geschmack abgewinnen konnte, war auch jetzt weder gläubig, noch erbaut von dem Schreiben des Kanzlers, hütete sich aber, durch Mienen oder Vortrag die Wirkung auf die Jubilare zu beeinflussen, insbesondere, da er an die Schlussstelle gelangte, welche lautete:
»Es wäre mir übrigens wohl kaum möglich, über mein Leben persönlich mehr Aufschluss zu geben, als ohne Zweifel die Freunde durch die öffentlichen Blätter seit Jahren bereits erfahren haben. Ich will von den schmeichelhaften Urteilen meiner offiziellen und offiziösen Federgarde nicht reden, die mit löblicher Rührigkeit mich schon bei lebendigem Leibe unter die Unsterblichen versetzet; ich muss diese dienstfreundliche Verherrlichung gelten lassen, da der Dispositionsfond stärker ist als ich und meine Freunde doch wohl ahnen, wie viel Lob der Mensch in seiner Schwäche vertragen kann! Diese Schwäche für Lob – ich gestehe sie ohne Beschämung zu – habe ich in Permanenz erklärt den rastlosen Gegnern und Scharfsehern gegenüber, die alle Falten meines Herzens und Lebens durchstöbern und meine Gefühle, Gedanken, Absichten, Wünsche und Hoffnungen wie Schmetterlinge an die Nadel ihrer Kritik spießen und aus den Spalten der Blätter als ertappte und entlarvte Landstreicher vorzeigen. Was ich träume, esse und trinke, das lese ich wenigsten achtundvierzig Stunden vor der Tat in Morgen- und Abendblättern. Kürzlich musste ich mein Reitpferd wechseln, da es nicht schnell genug war, meine Gedanken den Blicken der Forscher zu entführen, die sich während eines langsamen Spazierritts selbst mit meinem Pferde in vertraulichen Verkehr zu setzen wissen. Allein wenn auch meine Freunde in Konversations- und biographischen Lexizis meinen Lebens- und Tatenlauf, in illustrierten Zeitungen mein Portrait und manche öffentliche Aktion; in Witzblättern meine Haarlocken in wohl- und übelgemeinten Holzschnitten; in politischen Leitartikeln meine Herzfasern mit Hyrtl'scher Meisterschaft präpariert vorfinden: so würde das freilich nicht hindern, noch manches meinen Freunden zu bekennen, was ich vor der luchsäugigen Öffentlichkeit mühsam als mein Geheimnis gerettet habe. Allein da ich, wie gesagt, verhindert bin, zum Jubiläum nach dem Klosterhof zu kommen, so erlaube ich mir ergebenst und dringendst die Freunde einzuladen, in corpore oder in einzelnen Trupps – oder auch, wie es Zeit und Umstände jedem gestatten – einzeln mir die Ehre eines Besuches in meinem Tuskulum zu ** erweisen zu wollen, wo ich Ende Juli das seltene Vergnügen genießen werde, einige Tage der Ruhe, der Muße, der Freundschaft und Erinnerung zu leben. Dort werden mir alle und jeder lieb und wert und willkommen sein, und ich schließe mit Gruß und Handschlag und in der Hoffnung, diese Zeilen den Freunden in guter Erinnerung zu bleiben als
Treuergebener und zu
jedem Liebesdienst beritwilligster *.«
Die Wirkung dieses Schreibens auf die Jubilare war denn doch nicht unbedeutend. Der Gedanke, einen oder zwei Tage Gast des Reichskanzlers in seiner herrlich gelegenen Villa zu sein, erschien manchem gar zu lockend. Einer der Jubilare, der ein Tagebuch führte und die wichtigeren Vorfälle in Feuilletons verarbeitete, sah in seinem Geiste bereits die Überschrift prangen: »Zwei Tage vertraulichen Umgangs mit dem Reichskanzler.« Bei anderen erwachten allerlei Anliegen, die sich bei dem Besuche des Kanzlers so nebenher gemütlich-vertraulich abmachen ließen; so war der Verwaltungsrat so gut als gerettet, wenn ihm der Kanzler ein Empfehlungsschreiben an seinen in letzter Zeit vielgenannten und hochangesehenen Leibbankier mitgab. Er war sofort entschlossen, der Einladung des Reichskanzlers zu folgen, und machte aus diesem Entschlusse kein Hehl. Ihm schloss sich auch, mehr oder weniger zögernd, die Mehrzahl der Anwesenden an, wobei sich die Macht hoher Titel und Würden auch auf sonst vorurteilsfreie Männer unwillkürlich zeigte. Je gemütlicher sich mancher das vertrauliche Zusammensein mit dem einstigen Kollegen in der Stille ausmalte, desto händewindend-pietätvoller wurde bei der Erwähnung des hochgestellten »Freundes« der Titel »Exzellenz – Reichkanzler« – im Munde geführt.
Altringer hörte lächelnd zu und wollte eben an den einstigen Beschluss erinnern, dass der vom Jubiläum ohne ausreichende Entschuldigung Wegbleibende von einer Deputation aufgesucht und zum freimütigen Bekenntnis über sein Leben aufgefordert werden solle, als im Klosterhof ein außerordentlicher Vorfall erschütterndes Aufsehen erregte und dem Jubiläum jählings eine ungeahnte Wendung gab.