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Und Hilarius?
Auf ein bewegtes Leben war er vorbereitet gewesen, ein bewegtes hatte ihn den Tag über bis indie Nacht hinein in Anspruch genommen.
Von den zuletzt in heller Schar heranziehenden Gästen bestürmten ihn viele mit Wünschen, Vorschlägen und Anforderungen, die er nicht für möglich gehalten hätte.
Nach den einen hätte der Klosterhof zum Zweck der Jubiläumsfeier nichts Geringeres bedurft als einen mit allem Komfort versehenen Um- und Anbau, um die Jubilare würdiger und behaglicher unterzubringen. Dieser Ansicht gab ein mehrfacher Verwaltungsrat lärmenden Ausdruck, der in der Hauptstadt an eine glänzende Wohnung gewöhnt war und sich nun für zwei Tage mit einem bescheidenen Kabinett begnügen musste. Nicht weniger vorlaut und anspruchsvoll traten andere auf, welche die Reise mit peinlicher Sparsamkeit, fast »ungegessen« zurückgelegt hatten, nun aber, da sie bemerkt wurden, aufsehenerregende Umfragen hielten, »was für ihr Geld Gutes und Teures zu haben sei.« Der Wortführer dieser Sorte war ein langer, hagerer Zwitter-Glücksmann mit grauem Gaisbart und katzengrauen Augen, welcher Reichtum und Armut schon oft in grellen Wechseln durchgemacht hatte als Kaufmann, Börsenspieler, Wechselagent, Dienstmann und wieder Börsianer. Er schrie jetzt mit heiserer Fistelstimme umso aufbegehrlicher, als am Tage vor der Abreise ein partieller Krachschlag seinen in letzter Zeit schnell aufgedunsenen Glücksstand arg betroffen hatte und er »bis auf Weiteres« kaum mit dem Nötigen entkommen war, um das Jubiläum mitzumachen … Diese und ähnliche Erlebnisse machten Hilarius nicht mehr den peinlichen Eindruck wie vorher. Mit dem wachsenden Ansturm der Gäste hatte er sich selbst wiedergefunden, klassifizierte die Jubilare mit rasch gewonnenem praktischem Blick als solche, die seinem Ideale mehr oder weniger oder gar nicht entsprachen, begrüßte alle gleich liebenswürdig und hielt sich dann an die, welche seinen Erwartungen zumeist genügten. Die Verdienstvollen überwogen, das war ihm nach den ersten peinlichen Erfahrungen jetzt schon ein Trost, und als der Abend mit der Ankunft eines Gastes abschloss, dessen Ruf und Ruhm gegenwärtig im höchsten Glanz erstrahlte, triumphierte Hilarius laut … Dieser Jubilar war niemand anderer als der berühmte Verteidiger und Reichstags-Abgeordnete, welcher, zur Zeit einer tiefgehenden Krisis als Ministerpräsident berufen, der liberalen Richtung zum Siege verhalf und durch eine zeitgemäße Administration und Gesetzgebung den Staat vor den Gefahren ähnlicher Rückfälle zu schützen suchte. Dies hinderte freilich nicht, dass an maßgebender Stelle, sobald die Rettung vollbracht war, reaktionäre Gelüste und polizeistaatliche Intentionen wieder auflebten und den glänzend aufgestiegenen Volksmann zu umspinnen, zu verdunkeln und durch Verleitung zu falschen Schritten in der öffentlichen Meinung zu diskreditieren suchten. Aber was anderwärts zum Ruin vieler Volksmänner, die von der einmal erfassten Macht nicht mehr lassen konnten, gelungen war, gelang bei diesem festen und lauteren Charakter nicht. Hatte er bei seiner Ernennung gesagt: »Ein liberaler Minister muss sein Entlassungsgesuch immer in der Tasche tragen«, so hielt er auch in diesem Sinne Wort. Er trat ab, als man »aus Opportunitätsgründen« unscheinbare, für sein weitschauendes Auge aber gefährliche Zugeständnisse – erst erwünschte, und als er widerstand – verlangte. Mehrere seiner Gesinnungsgenossen, die er ins Ministerium berufen, folgten seinem Beispiel nicht. Sie hatten die Süßigkeit der Macht zu liebgewonnen, um einige ihrer Kurzsichtigkeit unbedeutend erscheinende Konzessionen abzuweisen, und erfuhren bald genug – für ihren Ruf freilich zu spät – dass sie nur am Ruder geduldet waren, bis sie sich selbst in der öffentlichen Meinung hinlänglich geschädigt hatten, worauf man sie »mit dem Ausdruck hoher Zufriedenheit« gehen ließ, woher sie gekommen. Ruhmlos und für immer unmöglich traten diese ins Privatleben zurück, während der Ministerpräsident nach seinem Rücktritt sofort wieder und unter demonstrativen Huldigungen in die Reichsvertretung gewählt wurde: ein Schrecken seiner Regierungsnachfolger, ein Held und Hort für künftige bessere Tage …
Oft war Hilarius von seinem Vater auf diesen ruhmvollen Kollegen aufmerksam gemacht worden; nun hatte er das große Vergnügen, den seltenen Mann selbst zu sehen und im Namen des Vaters als Gelobenden zu begrüßen … Hilarius benützte auch die ersten ruhigen Augenblicke, um seinem Vater das Ereignis triumphierend zu berichten und so seinen letzten Brief, welcher tagebuchartig die Erlebnisse verzeichnete, nach manchen Bitternissen freudig abzuschließen.
»Lebe nun wohl«, hieß es am Schlusse des Briefes, »gedenke Deines Sohnes morgen am Jubiläumstage, erhalte ihm Deine unschätzbare väterliche Liebe und Treue!«
Dass er vor Schlafengehen noch vorhatte, den von Sonndorf gekommenen Verbrecher – auch ein Gelobenden! – in seiner Zelle durch das Beobachtungsfenster zu sehen, erwähnte er nicht, um keinen Misston in die Freudigkeit des eben beendigten Berichtes zu mischen …
Hilarius verließ nun geräuschlos sein Zimmer und begab sich durch den Korridor links, welcher um den Hof des weitläufigen Gebäudes herumlief, nach der Gefängniszelle. Am Beobachtungsfenster angelangt, schob er den dunklen Vorhand sachte bei Seite und erblickte gerade gegenüber an einem runden Tisch in der Zelle den Verbrecher – eine imposante Erscheinung mit kräftig geformtem Kopf, hoher markierter Stirne, das Gesicht tief durchfurcht, voll Spuren wilder Seelenkämpfe, maßloser Leidenschaften und Genüsse. Zur rechten Hand des Verbrechers saß dessen Untersuchungsrichter, linker Hand der Präsident des Gerichtshofes; ihnen gegenüber, mit dem Rücken gegen das Beobachtungsfenster, saß der Staatsanwalt Rohrbach und neben diesem eine hohe, ansehnliche Gestalt, die Hilarius anfangs unbeachtet ließ, dann aber mit Befremden ins Auge fasste, bis eine Wendung des Kopfes einen Teil des Profils sehen ließ. Dem Befremden folgte Verwunderung über eine gewissen Ähnlichkeit – bald aber starres Erstaunen, als der Fremde, zum Staatsanwalt gewendet, in längerem vertraulichem Gespräch verharrte. Hilarius erkannte in dem Fremden – seinen Vater – und musste, Fassung suchend, sich an einen nahen Pfeiler lehnen, um nicht hinzusinken …