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Die schwarze Kutte

Hintereinander gingen die drei in ihren Soutanen im Eichwalde von Troçais einen Pfad entlang, der sich zwischen dem sommerlichen Untergehölz hinschlängelte. Es waren drei junge Leute aus dem Seminar von Ursier, ein großer und zwei kleine, die ihre Mittwochs-Promenade machten. Der Große, der sehr zart und sehr bleich aussah, hieß Chabert. Er war der Sohn eines Kassiers aus Saint-Amand. Die beiden Kleinen hingegen waren Pächterssöhne. Ihre Rasse verriet sich schon in ihren großen gemeinen Gesichtern, in ihrem Gang, der an ziehende Rinder erinnerte, sowie in ihren groben Händen und Füßen. Sie hießen Orillard und Vergier.

Der Pfad erweiterte sich und mündete in eine Lichtung, in der fünf Wege zusammentrafen.

Da rief Vergier: »Halt!«

Alle drei blieben stehen. Orillard und Vergier trockneten sich das Gesicht mit großen roten Taschentüchern, in deren Mitte man das Bildnis Leos XIII. erblickte. Chabert, auf dessen fahler, matter Haut sich kein Schweißtropfen zeigte, sah gerade vor sich hin in eine der Öffnungen, die in den Wald eingehauen waren.

Orillard stöhnte:

»Es ist gewaltig heiß.«

Und Vergier antwortete:

»Ja, aber nur keine Angst, wir werden uns einen bequemen, schattigen Platz im Moose aussuchen, dann werden wir uns auf den Rücken legen, und ... nichts wird uns mehr beunruhigen.«

»Du weißt doch, daß es verboten ist,« bemerkte Chabert.

»Ach was, da mach' ich mir gerade was draus«, erwiederte Vergier. »Wer, meinst Du denn, wird uns hier entdecken? Bei der Hitze läßt sich kein Abbé blicken. In dieser Zeit bleiben überhaupt die meisten bis zum Mahle in ihrem Zimmer. Kommt nur, oder wollt ihr nicht?«

Orillard allein folgte ihm, und die beiden streckten sich auf der Erde auf dichtem Moos aus. Der kleine Hügel, der sich auf den Wurzeln einer Eiche gebildet hatte, diente ihnen als Kopfkissen. Sie legten sich die Dreimaster in Deckelform auf die Stirn, um sich vor den Sonnenstrahlen, die durch die Zweige hindurchdrangen, zu schützen.

Vergier rief Chabert zu:

»Du weißt, es ist noch Platz hier auf dem Teppich.«

Aber der zog sein Brevier aus der Soutane und erwiderte:

»Nein. Nicht jetzt. Aber bald. Es ist die Zeit, das Laudes zu sagen.«

Er entfernte sich ein wenig, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm eines Baumes, schlug das Brevier auf und begann lateinische Gebete vor sich hinzumurmeln. Bei der schwülen Nachmittagshitze verschlang der Wald um ihn her jedes seiner Worte. Wenn der Abbé zuweilen den Kopf erhob, erblickte er seine schlafenden Kameraden, rot im Gesichte, schwitzen und schnarchen, den Hut auf der Nase, die vier schwarzen Beine in einer Richtung ausgestreckt, und die vier riesenhaften mit den Priesterschuhen bekleideten Füße.

Plötzlich klappte er das Buch zu, und mit entschlossenem Schritt schlug er einen der fünf Wege ein. Er ging hastig fünf Minuten weit, dann verlangsamte er seine Schritte ... In einer Entfernung von hundert Metern war die Aussicht durch eine Eisenbahn-Barriere beschränkt. Zur Seite stand das Wächterhaus; man konnte seinen Giebel aus roten Backsteinen, seine kleinen, offenen Fenster, sein Ziegeldach und seinen Schornstein erkennen, der beständig rauchte.

Hinter dem Fenster des Erdgeschosses ließ sich eine helle Bluse erblicken. Ein junges Mädchen betrat mit einem Eimer die Schwelle, ging an die Pumpe und füllte ihn. Dann begab sie sich wieder zurück ins Haus.

Chabert war stehen geblieben und zauderte noch, ehe er seinen Weg fortsetzte. Er wußte allerdings ganz genau, daß Marie allein im Hause war. Denn zwischen zwei und fünf Uhr kam kein Zug. Diese Zeit benutzte der Wächter, um seinen Spaziergang im Walde zu machen, seinen Amtsrock auszuziehen, und während er die Wohnung und die Barriere seiner Tochter überließ, einige Flintenkugeln abzuschießen. Chabert wußte das, denn er kam seit zwei Monaten fast jeden Mittwoch hierher, – seit dem Tage, an dem er, wie heute von seinen Kameraden getrennt und im Walde verirrt, an diese Thür geklopft hatte, um sich nach dem Wege zu erkundigen. Marie hatte ihm, während sie ihm mit ihren grauen Augen ins Gesicht blickte, lächelnd Bescheid gesagt. Den nächsten Mittwoch hatte er es dann so eingerichtet, daß er hier vorbeikam; er hatte mit dem Mädchen geschwatzt, und so war es ihm zur Gewohnheit geworden, sich bei jedem Ausgange von den beiden Schwarzröcken zu trennen, die Barriere aufzusuchen, sich an das kleine, offene Fenster zu lehnen und schweigend oder im Geplauder Marie zu betrachten, während sie nähte oder den Kochtopf vor dem Herde reinigte ... Unmerklich hatte sich bei diesem platonischen Zeitvertreib sein Herz verfangen. Und heute konnte er sich selbst nicht mehr verbergen, daß er liebte.

Und da er sein Herz auf dem rechten Flecke hatte, ein Herz, das sich nicht, wie das der andern Seminaristen, vor der Feldarbeit oder dem Soldatendienste fürchtete, so hatte er sich gesagt:

»Dann ist es noch immer besser, kein Priester zu sein, als ein schlechter Priester.«

Und noch an demselben Morgen hatte er sich zum großen Entschluß ermannt. Aber sobald es ans Handeln ging, empfand er Furcht, zauderte und konnte seinen Mut so leicht nicht wiederfinden.

»Hilf mir, o mein Gott!« murmelte er.

Mit gesenktem Kopfe setzte er sich träumend wieder in Marsch. Er träumte von einer Zukunft, wenn er die Soutane abgelegt hätte, wenn er mit einem Weibe auf das Land zurückgekehrt wäre und wenn sich die kleinen Kinder rings um den Tisch tummeln würden.

»Guten Tag, Herr Abbé!«

Er richtete den Blick in die Höhe, und vor ihm stand das Wächterhaus. Und baarhaupt, die Hände auf das Fensterbrett gestützt, lächelte ihn Marie, deren weiße Bluse nachlässig zugeknöpft war, vergnügt an.

»Guten Tag, mein Kind!« gab ihr der Abbé zurück.

»Der Papa ist wohl nicht drinnen?«

Diese Frage, die er jedesmal stellte, war seine ständige, wenn auch nicht sehr geschickte Priesterlist.

Marie blinzelte mit den Augen und antwortete:

»Nein, Herr Abbé, soll ich ihn suchen?«

Er errötete. Ohne etwas zu sagen, näherte er sich dem Fenster.

Dann ging sie wieder an ihr Plättbrett und wandte sich den Eisen zu, die auf dem Herde heiß wurden. Sie belustigte sich an der Furchtsamkeit des Abbés, der immer zu Anfange ihres Beisammenseins so verlegen war.

Er setzte sich auf die Steinbank und blickte sie lange an, ohne etwas zu sagen. Sie hingegen führte mit gleichmäßigen Bewegungen ihr Plätteisen über die Leinwand eines Hemdes; zuweilen drückte sie mit ihren Ellbogen darauf. Sie war hübsch, sehr blond, sehr voll und sehr rosig.

Nach einer Weile fand der Abbé folgende Worte:

»Und arbeiten Sie denn immer so?«

»Wie Sie sehen, Herr Abbé. Ich kann nicht spazieren gehen, wie andere Leute und dann – sie näherte dabei ihre Wange einem Eisen, das sie eben aus dem Herde genommen hatte, – ich glaube, da ich ganz allein bin, würde ich mich langweilen, wenn ich nicht arbeiten könnte.«

Von neuem, wie ein Schleier, breitete sich das Schweigen über die Beiden aus. Aus dem Dickicht, dicht bei dem Hause, trat ein Hase mit seinen langen beweglichen Ohren und seiner unruhigen spitzen Schnauze hervor. Und plötzlich, wie er sie bemerkte, riß er furchtsam aus, zeigte seinen weißen Hintern und seinen kurzen Schwanz, gab seiner Angst in zwei kurzen Lauten Ausdruck und verschwand.

»Sie werden eine gute Wirtin werden, Marie,« bemerkte der Abbé, »und wer Sie heiratet, wird glücklich sein.«

»Das wird ganz darauf ankommen,« meinte das junge Mädchen.

»Wie? worauf soll es denn ankommen?«

»Ja, das wird darauf ankommen. Er wird glücklich sein, wenn ich ihn sehr liebe. Wenn ich ihn aber nicht liebe, wird er nicht glücklich sein.«

Der Abbé mußte herzlich lachen.

Er fragte sie:

»Lieben Sie denn jetzt einen?«

Mit vergnügtem Gesichte, darüber sprechen zu können, antwortete sie:

»Augenblicklich? ... Ich weiß nicht, es kommt ja niemand hierher.«

Und Chabert nahm seinen ganzen Mut zusammen:

»Mich ... mich ... lieben Sie denn nicht mich ein wenig?« stammelte er mit vor Erregung stotternder Stimme.

»Sie, mein Herr Abbé? Aber gewiß, ich liebe Sie sehr.«

Sie stand jetzt ganz dicht am Fenster. Der Abbé, dem die Worte: »ich liebe Sie sehr« ... das Herz entzückten, ergriff die Hand des Mädchens, und da er es nicht wagte, ihr ins Gesicht zu blicken, sah er nur starr auf diese kleine, geliebte, rosige, schmale Hand.

Dann sprach er sehr schnell:

»Auch ich liebe Sie sehr ... ich liebe Sie allzu sehr ... ich liebe Sie mehr, als ich darf ... ich liebe Sie so sehr, daß ich darüber mein Gelübde vergesse ... Sehen Sie, seit ich Ihnen hier zuerst begegnet bin, war es geschehen. In der Kapelle ... im Speisesaal ... des Nachts im Schlafzimmer, überall denke ich nur an Sie. Ich habe kein Interesse mehr für meinen Beruf. Und es ist besser, reines Herzens ein einfacher Christ zu sein als ein unwürdiger Priester. Der heilige Paulus hat gesagt: Melius est ubere quam uri, – es ist besser ein Weib zu nehmen, als in Leidenschaft zu verbrennen. Wollen Sie mir folgen, mein Kind?«

Marie hatte ein gezwungenes Lächeln auf dem Gesichte. Die Worte, die sie eben gehört hatte, halb Liebeserklärung, halb Predigt, hatten ihr ein gemischtes Gefühl eingegeben, als hätte sie eine falsche Musik gehört ... Zugleich fand sie, daß der Abbé ein hübscher junger Mann sei und eine vornehme Art zu reden habe.

Er wiederholte ganz bleich und zitternd:

»Nun? ... reden Sie! Wollen Sie mir folgen?«

Sie löste sanft ihre Hand aus der seinigen und zog sie ein wenig zurück.

»Ihnen folgen, Herr Abbé? Aber ich kann ja nicht, was würde denn mein Vater dazu sagen?«

Und mit gesenktem Blicke fügte sie hinzu:

»Wir können uns ja auch ferner hier sehen. Niemand wird etwas davon erfahren.«

Der Abbé begriff nicht, was sie sagen wollte und drang weiter in sie.

»Marie ... ich bitte Sie, da Sie mich doch ein wenig lieben, kommen Sie doch mit mir! Sie sollen bei mir sein. Sie müssen Ihren Vater verlassen, und wir werden uns in meiner Heimat heiraten.«

Bei den Worten: »wir werden uns heiraten«, wandte das Mädchen, welches zu Boden blickte, den Kopf. Sie glaubte falsch gehört zu haben.

»Wir werden uns heiraten, sagen Sie?«

»Aber ja doch ... wollen Sie denn nicht meine Frau werden?«

Marie fing an zu lachen.

»O, Herr Abbé, Sie machen sich über mich lustig. Sehen Sie, man kann doch nicht die Frau eines Priesters sein.«

Das Gekrächz einer Elster ertönte in den Bäumen. Ein schwacher, heißer Wind spielte mit den Blättern.

Der Abbé rief:

»Aber ich bin ja kein Priester ... ich bin kein Priester ... ich bin noch Laie; ich bin Schüler ... Lektor ... d. h. ich habe noch kein Gelübde gethan, ich bin noch vollständig frei, – ich kann morgen heiraten, wenn ich Lust habe.«

Als Marie sah, daß er im Ernst sprach, wurde auch sie ernst. Sie schüttelte den Kopf und sagte:

»O, das verstehe ich alles nicht. Sie sind als Priester gekleidet, Sie haben eine Priestertonsur, Sie haben einen Priesterhut und ein Priesterbrevier, Sie wohnen in einem Priester-Seminar, Sie sind also ein Priester, wie die andern, und es ist ganz sicher, daß ich nicht einen Priester heiraten kann.«

Sie sagte das alles mit ärgerlicher, fast rauher Stimme ... Chabert ahnte, daß diese leichtsinnige Seele für ihn verloren war. Sein ganzer Traum zerplatzte wie eine Seifenblase. Er fühlte, wie ihm der Schweiß von der Schläfe perlte und stammelte:

»So wollen Sie also nicht?«

»Die Frau eines Priesters? O nein! und dann wird es ja auch mein Vater nicht zugeben. Übrigens bin ich auch noch gar nicht so weit; wenn ich morgen heiraten wollte, so könnte ich es, und ich brauchte keinen Priester.«

Sie nahm wieder ihr Plätteisen und führte es wütend über die Leinwand, als wenn man ihr eine Beleidigung zugefügt hätte. Plötzlich hörte sie ein Schluchzen. Der Abbé saß mit dem Kopf in den Händen, die Ellbogen auf den Zaun gestützt und weinte.

Sie war gerührt, denn sie war nicht bösartig. Sie näherte sich ihm, legte ihre Hand auf den Ärmel seiner Soutane und sagte:

»Sehen Sie, Herr Abbé ... man muß doch vernünftig sein ... Es braucht ja nichts geändert zu werden, Sie werden mich nächsten Mittwoch besuchen, wie vordem ... da giebt es doch nichts zu weinen.«

So sprach sie eine Zeitlang sanft auf ihn ein. Er weinte immer noch still vor sich hin; dann erhob er den Kopf und trocknete sich, ohne Marie anzublicken, die Augen ... Tiefe Seufzer erschütterten seine ganze Gestalt.

Dann hob er seinen Dreimaster auf, der zur Erde gefallen war, und sagte:

»Nun werde ich gehen ... Auf Wiedersehn!«

Er ging einige Schritte den Weg entlang, der zur Lichtung führte; aber Marie holte ihn ein und faßte ihn artig unter den Arm.

»Sie sind böse, Herr Abbé ... Sagen Sie mir das »Auf Wiedersehen« mit Ihrem gewöhnlichen Gesicht.«

Chabert blieb stehen und sah ihr ins Gesicht. Er umfaßte ihr Bild mit einem Blick: so jung, so begehrenswert, mit ihren grauen Augen, ihrem kirschroten Munde, ihren blonden Haaren und dem zarten Teint ihres Busens und Halses. Und all das, ihre ganze Jugend, ihre weibliche Anmut waren für ihn verloren. Der schwarze Rock, der ihm Brust und Lenden einzwängte, trennte sie von ihm fürs Leben; denn Marie wollte nicht seine Frau werden, und er wollte kein unsittliches Verhältnis.

Und dann kam eine plötzliche traurige und selbstlose, fast brüderliche Zärtlichkeit über ihn, in der sich Mitleid mit sich selbst und Kummer über die Trennung mischte.

Er hob Marie mit beiden Armen empor, drückte sie an sein Herz und legte seine Wange an die ihrige. –

... Da ertönten bekannte Stimmen durch den Wald:

»He! ... He! ...«

»Cha ... bert ...!«

Es waren Vergier und Orillard, die aus ihrem Schlaf erwacht waren und ihren Kameraden suchten.

Der Abbé ließ das junge Mädchen wieder sanft auf den Boden nieder und sagte:

»Leb wohl, mein Kind.«

Auch sie weinte und sagte:

»Leb wohl! ...«

Schnellen Schrittes entfernte er sich und sprang ins Dickicht. Damit man nicht sähe, woher er käme, machte er, als er die Lichtung erreicht hatte, noch einen Umweg. – – – – – – – –

Seite an Seite stiegen die drei Seminaristen der Niederung zu, wo die Bäume, Häuser und Kirchen wieder häufiger wurden, den Kiesweg hinunter, der vom Walde von Tronçais nach der Burg von Ursier führte. Ihre von den Dreimastern gekrönten Schatten liefen grade vor ihnen her und machten die Bewegungen ihres Marsches mit. Vergier und Orillard stritten sich mit Ausdrücken von Fuhrknechten um zehn Sous, die der eine dem andern geliehen hatte, dieser aber nicht zurückgeben wollte.

Chabert stieg ohne etwas zu reden den Abhang hinunter. Die noch immer sengende Sonne der fünften Stunde brannte ihm auf die Soutane. Und im Nacken brannte ihm der schwarze Rock den Rücken wund.

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