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Ach, wie hatte sie geweint, als ihr Geliebter Paul Joyaux sie verlassen hatte; er mußte sich ja nun, da er eben seinen Doktor gemacht hatte, in der Provinz verheiraten. Arme kleine Claire! Sie liebte ihn aufrichtig, ihm verdankte sie ja ihre Befreiung aus der Arbeiterstube, wo er sie als eine arme Stepperin kennen gelernt. Er hatte sie in seine vornehme Wohnung geführt, wo er sogar eine Wirtschafterin zur Bedienung für sie hielt. Ihm dankte sie ihre ersten Leidenschaften als Weib: Paul hatte sie »sozusagen« als Jungfrau besessen (das Wort stammte von ihr), sie hatte nämlich bisher nur die rohen Zudringlichkeiten eines alten Gecken erfahren. Ihn liebte sie, und die achtzehn Monate, die sie gemeinsam mit ihm verbrachte, verflossen ihr wie ein schöner, nur allzu kurzer Traum, ein heiterer und zärtlicher Traum, wie er in den Seelen sehr junger verliebter Leute aufblüht, wenn sich ihre Herzen gefunden haben. Und sie war ihm auch durchaus treu. Höchstens drei oder viermal, daß ein anderer mit ihr das kleine Mahagonibett teilte; aber es geschah immer nur während der Ferien, wenn Paul bei seiner Familie war; und diese Zeit, wie sie entschlossen zu sich sagte, »zählte ja gar nicht mit«.
Wiewohl sie diese Trennung vorausgesehen hatten, denn Paul war schon seit seiner Jugend verlobt, vergoß sie doch viele Thränen dabei. Während er seinen Reisekoffer packte, schluchzte Claire heftig. Jedes Kleidungsstück, all die Kleinigkeiten, die sie vorher an ihm oder in seinen Händen gesehen hatte, und die jetzt zerstreut im Zimmer umher lagen, alle jene Toilettengegenstände, die er an seinem Leibe trug, schienen ihr wie durch ein Zauberband ans Herz gewachsen zu sein. Nur mit Gewalt konnte sie sich losreißen; der Abschied von all' den Nichtigkeiten verwundete sie tief. Besonders die Nachthemden Pauls, die geliebten seidenen Hemden, die sie so oft unter Liebkosungen zerknittert hatte, wurden von ihren Thränen benetzt. Er besaß sechs davon. Vier waren sauber, und die beiden andern wurden zur Seite gelegt, weil sie zum Reinigen gegeben werden mußten.
»Möchtest Du mir nicht einen Gefallen thun?« fragte Claire.
»Aber was Du nur willst!« antwortete der Student.
»So laß mir diese beiden Nachthemden ...«
»Was willst Du denn damit?«
»Ich will sie nur haben. Ich werde sie nachts unter mein Kopfkissen legen, wenn Du nicht mehr bei mir bist ... Und dann ... vielleicht träume ich, daß ich Dich noch habe.«
Er lächelte und that ihr den Willen. Sie wünschte, daß er sie noch die paar Nächte, die sie gemeinsam verbrachten, abwechselnd tragen sollte. –
Als alles erledigt, Paul fort und Claire wieder in ihrer Wohnung war, lebte sie eine Zeit lang gedankenlos mit ödem Kopfe und traurigem Herzen. Sie aß kaum und antwortete der Wirtschafterin nicht, die sie zuweilen zu trösten versuchte; sie hatte nur Interesse für das Bett, das ihr geblieben war, für das Kopfkissen und für die Hemden »ihres geliebten Freundes«, die sie mit Küssen bedeckte. Sie bewahrten noch mit dem zarten Geruche des Parfüms, dessen er sich bedient, den Duft des Körpers, der in ihnen geatmet hatte. Wenn sie die Augen schloß, konnte sie sich bisweilen vorstellen, daß sie Paul selber küßte. Aber nach und nach verschwand aus dem Gewebe dieses gewisse Etwas, das unbestimmt und nicht auszudrücken ist, weil es einen Hauch der Persönlichkeit jedes menschlichen Wesens ausmacht. Es blieb nur noch der gewöhnliche Geruch von Wäsche, die lange getragen wurde. Claire strengte sich eine Zeit lang hartnäckig an, in den Falten der Seide das lebendige Andenken des Entfernten wieder zu finden. Doch mit einem Male waren ihr diese leeren und zerknitterten Hemden tote Gegenstände. Sie trennte sich mit einem gewissen Schauder von ihnen und versteckte sie in einem Winkel ihres Spiegelschrankes.
Die Wirtschafterin nahm sie daraus fort, ließ sie reinigen und legte sie ganz sauber und sorgfältig gefaltet wieder an ihren Platz. Als Claire sie so sah, war sie anfangs stutzig und wußte nicht recht, ob es ihr Vergnügen oder Ärger bereitete.
Schließlich sagte sie:
»Du hast recht gethan, ich konnte doch nicht ewig diese schmutzigen Hemden aufbewahren. Und dann, ob gereinigt oder nicht, es bleiben doch immer die Hemden Pauls.« –
Tage, Wochen und Monate vergingen. Der heftige Schmerz der Trennungsstunde hatte sich allmählich in eine dumpfe und gleichmäßige Trauer verwandelt. Andere Beschäftigungen sollten bald diese harmlose Seele zerstreuen, in der nicht viele Empfindungen zu gleicher Zeit Platz fanden. Paul hatte ihr bei seiner Abreise eine große Summe Geldes hinterlassen, die bis jetzt ausgereicht hatte. Aber da Claire immer ausgab ohne einzunehmen, so hatte sie bald alles ausgegeben. Arbeit zu suchen, in ein Geschäft einzutreten, war ihr nicht einen Augenblick in den Sinn gekommen. Sie nahm die aufdringlichen Anerbietungen eines alten Herrn, eines Hypothekenbesitzers an, der in ihrem Stadtteile wohnte, ihr öfter gefolgt war und ihr auf die höflichste Weise schriftlich seine Anträge gemacht hatte.
Dieser pensionierte Beamte, dieser Greis mit dem Silberhaar, der sich ganz schwarz kleidete und nur blendend weiße Wäsche und eine weiße Krawatte trug (die ganze Erscheinung in Schwarz und Weiß), erschien Claire »ernst« genug, um Pauls Nachfolger zu werden; denn immer gedachte sie seiner noch mit glühender Liebe. Einige Monate lebte sie ruhig mit dem Alten. Aber im Frühling gab sie ihm den Abschied, denn sie hatte sich plötzlich in einen Schauspieler vom Ambigu-Theater verliebt. Er hieß Merxens und hatte sie durch seine Vornehmheit bezaubert. Mit einem Male hatte sie Paul vergessen, sandte dem Schauspieler Sträuße und schrieb ihm Liebesbriefe. Er gestattete ihr, ihn eines Abends nach der Vorstellung abzuholen ... sie nahm ihn mit sich in ihre Wohnung, ganz ergriffen von jener seltsamen Erregung, die sich der Frauen bemächtigt, wenn sie mit Leuten vom Theater in Berührung kommen. Er speiste mit gutem Appetit. Als sie sich zu Bette legen wollten, fragte er sie:
»Hast Du nicht ein Nachthemd für mich, mein Kind?«
Sie schwieg, denn sie schwankte noch zwischen der Furcht, dem neuen Liebhaber zu mißfallen und der noch nicht abgestorbenen Verehrung für den alten.
Sie rief ihre Wirtschafterin.
»Adele!«
»Mademoiselle?«
»Sehen Sie doch zu, ob Sie nicht ein Nachthemd für den Herrn finden.«
»Jawohl, Mademoiselle.«
Und einen Augenblick später kam Adele vorsichtig mit einem der Hemden Pauls an.
Merxens glaubte es seiner Würde schuldig zu sein, daß er es vorerst genau betrachtete; er furchte die Stirn, wies mit dem Finger auf das zusammengefaltete Hemd und sagte mit hochmütiger Miene:
»Wem hat denn diese Wäsche vorher gehört?«
Claire erwiderte mit jener Lust an der Lüge, die den Mädchen eigen ist, welche dem Pariser Pflaster entstammen:
»Meinem Bruder ... meinem Bruder Ludwig, der in diesem Jahre gestorben ist; er war bei der Telegraphie angestellt.«
Und der Schauspieler, der das Hemd anzog, seufzte mit verhaltenem Mitleid:
... Dieses Verhältnis dauerte nur kurze Zeit; der Schauspieler war gemein und ein Säufer. Er verließ seine neue Maitresse, sobald ihr nichts mehr blieb von den Ersparnissen, die sie im Winter zurückgelegt hatte. Dann begann für Claire eine schwere Zeit der Arbeit, ohne Genuß und ohne Vergnügen, mit Sorgen und Mangel. Pauls Hemden bekleideten während dieser schweren Nächte Einen nach dem Anderen, Männer, die oft nur für eine einzige Nacht bei ihr einkehrten. Denn der Wirtschafterin war es nun zur Gewohnheit geworden, Abend für Abend eines derselben halb versteckt neben dasjenige Claras aufs Bett zu legen. Unter solchen Strapazen nutzten sie sich bald ab. Man respektierte sie auch kaum mehr, und dann legte man sie beiseite. Später brachte man das eine von ihnen gänzlich außer Gebrauch und ersetzte es durch ein feines Leinenhemd, das solider und weniger kostbar war. Auch dieses ungleiche Paar wurde in der Folge in der Haushaltung mit dem Namen »die Hemden Pauls« bezeichnet ... Schließlich mußte man ein zweites Leinenhemd kaufen. Die Seide der Hemden, die nun ersetzt waren, wurde von Adele zu Putzlappen für Reinhaltung der Spiegel, der Nippes und der feinen Möbeln benutzt. Aber die Hemden, die derweil in Gebrauch gekommen, waren für Claire und Adele deshalb nicht weniger »die Hemden Pauls. –«
... Drei Jahre waren seit der Abreise des Mediziners vergangen, – drei Jahre, in denen das launische Glück Claire abwechselnd begünstigt und mißhandelt hatte. Da stand sie einmal an einem Januar-Abende an der Ecke der Rue Le Peletier und des Boulevards plötzlich einem Manne gegenüber, ... sie hob die Augen.
»Paul!«
»Claire!«
Sie riefen ihre Namen zu gleicher Zeit, beide von derselben unmittelbaren Freude ergriffen. Sie nahmen sich bei den Händen, umschlossen sich innig und waren nicht fähig ein Wort hervorzubringen. Denn es war die eigene Jugend, die plötzlich vor beiden auftauchte, an der Straßenecke; jeder erkannte sie in den Augen des andern.
Als sie sich beruhigt hatten, gingen sie nebeneinander, Hand in Hand, und tauschten allerlei Fragen aus. Claire sagte, daß sie immer noch an ihren Paul dächte, sie erzählte ihm, daß sie ihre Wohnung gewechselt, aber ihre Wirtschafterin behalten habe. Paul erklärte ihr, daß er glücklicher Ehemann sei, und daß er eine Tochter habe, daß seine Geschäfte gut gingen, aber daß er seine Claire deshalb niemals vergessen hätte.
»Kommst Du auf lange Zeit nach Paris?« fragte ihn das Mädchen.
»Auf acht Tage. Ich will elektrisch-therapeutischen Untersuchungen beiwohnen ...«
Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu:
»Und Du? ... bist Du frei? ...«
Sie antwortete freudig, diesmal glücklich über ihre Vereinsamung:
»Jawohl ... ganz frei. Ich hoffe, daß Du bei mir wohnen wirst.«
Das war somit erledigt. Sie speisten gemeinsam, nahmen am Abend eine Parterreloge in einem kleinen Theater; sie sprachen wenig, aber betrachteten sich viel. Paul war etwas dick geworden, doch sein Gesicht hatte sich nicht verändert. Claires Taint hatte etwas Fahles bekommen, aber ihre Figur schien noch schöner geworden, ihr Busen noch üppiger zu sein ... Und als sie sich erst wieder recht miteinander vertraut gemacht, konnten sie das Erinnerungsbild von früher schon nicht mehr von ihrem jetzigen Aussehen unterscheiden.
Sie warteten das Ende des Schauspiels nicht ab, sondern gingen schon vor Mitternacht heim, um sich zu Bett zu legen, von der Sehnsucht nach Küssen gepackt, wie in der Zeit ihrer ersten Liebe. Claire entkleidete sich hurtig ... Paul rauchte, während er sie betrachtete, eine Cigarette. Dann fuhr ihm plötzlich eine Erinnerung durch den Sinn.
»Und was ist aus meinen Hemden geworden?«
Claire erwiderte ganz treuherzig:
»Ich habe sie immer noch ...«
Dann aber fiel es ihr beklemmend ein, daß »die Hemden Pauls« ja nur ein leerer Begriff war, daß es der ständige Name für eine Sache geblieben, die schon sehr oft gewechselt hatte ... Sie wurde dunkelrot.
Paul näherte sich ihr:
»Wo sind sie?«
Sie wendete die Augen, zeigte das Leinwandhemd, das auf dem Bette lag und sagte:
»Das ist das eine.«
Der Mediziner wollte antworten: »Aber nein! ... Die meinigen waren ja Seide ....« Doch als er reden wollte, bemerkte er, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und Thränen an ihren Wimpern perlten.
Und er begriff, was diese Lüge verbarg: all das Elend, all die verschwiegenen Demütigungen, denen sie sich in den Jahren seiner Abwesenheit ohne Widerstand unterworfen hatte.
Und auf das Tiefste ergriffen, sagte er:
»Ja richtig ... ich erkenne sie wieder.«