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Die Wolfs-Anna

Unser Bündel auf dem Rücken, den Stock in der Hand, waren wir zu drei den ganzen Tag im Walde marschiert, – in jenem wunderschönen Walde von Tronçais, der sich zur Hälfte über das Gebiet von Saint-Amand und zur Hälfte über Nevers erstreckt. Das Dörfchen Vigne, das an den Ufern des Chers in einem Thalkessel liegt, der den Wald in zwei Hälften teilt, war an jenem Tage das Ziel unsrer Reise. Nachdem wir bei unserm alten Freunde, einem einfachen Landarzte, der zu gleicher Zeit zu fünf oder sechs Nachbardörfern gehörte, gespeist hatten, saßen wir träumend, mit der Pfeife im Munde, vor der Thüre. Über den bläulichen Baumkronen, die den Horizont begrenzten, kam langsam der Abend herauf. Schwalbenzüge durchkreuzten den Himmel. Aus einer kleinen Kirche, deren Turm über den Dächern hervorragte, hörte man von Zeit zu Zeit einige Töne des Ave Maria herüberschallen. In den Höfen bellten die Hunde und kläfften sich gegenseitig an .....

Aus einem Hause, das dem des Arztes benachbart war, kam eine noch junge Frau in einem roten Flanellrock und weißen Leinwandleibchen und ging auf das Ufer zu. Mit ihrer linken Hand preßte sie ein Wickelkind ans Herz; an der rechten hielt sie einen kleinen Jungen, der selbst wieder einen noch kleineren an der Hand führte. Beim Flusse angelangt, setzte sich das junge Weib auf einen großen Stein, und während die beiden Jungen sich hurtig entkleideten, ins Wasser stiegen und herumplätscherten und sich unter Lachen und Schreien bespritzten, öffnete sie ihr Leibchen und gab ihrem Jüngsten die Brust.

Einer von uns, der Maler war, machte die Bemerkung:

»Welch' schönes Bild! Das würde im Salon Aufsehen erregen. Was hat das Weib für eine prächtige Stellung und die Beleuchtung! Sehen Sie den roten Fleck in dieser blauen Landschaft!«

Hinter uns rief eine Stimme:

»Das ist die Wolfs-Anna, meine jungen Freunde.«

Es war unser Wirt, den eine Consultation im Hause zurückgehalten hatte, und der sich jetzt zu uns gesellte.

Und wie wir ihn fragten, wer denn diese Wolfs-Anna wäre, und woher sie ihren Beinamen hätte, erzählte er folgende Geschichte:

»Diese Wolfs-Anna, die mit ihrem eigentlichen Namen Frau Anna Grillet heißt und eine geborene Tournies ist, war vor zehn Jahren das schönste Mädchen um Tronçais herum. Heute haben die Feldarbeit und die Geburt von fünf Kindern sie alt und schwach gemacht. Trotzdem ist sie, wie ihr seht, für ihre dreißig Jahre noch immer schön.

Zur Zeit, als das Abenteuer spielte, dem sie ihren Beinamen verdankt, lebte sie bei ihren Eltern, die kleine Pächter in Rein-du-Bois, etwa fünfzehn Kilometer von hier, bei Lucry-Lévy waren. Trotz ihrer Armut war sie doch von vielen jungen Leuten umschwärmt, sogar auch von reichen. Sie machte indessen niemandem Versprechungen und begünstigte nur Lorenz Grillet. Auf diesen Jungen fiel ihre Wahl, als sie gemeinsam auf den Wiesen von Rein-du-Bois die Schafe weideten.

Lorenz Grillet war ein Findelkind, und sein einziger Reichtum waren seine beiden Hände. Annas Eltern dachten nicht daran, zwei Arme miteinander zu verbinden, besonders nicht damals, als das junge Mädchen noch von wohlhabenden Freiern begehrt wurde. Sie verboten daher ihrem Kinde den Umgang mit Lorenz. Aber deshalb lief die Kleine doch zu ihrem Geliebten, und da sie in demselben Flecken wohnten, von dem aus sie den Wald mit wenigen Schritten erreichten, so hatten sie natürlich jeden Augenblick eine Gelegenheit sich zu sehen. Als Vater und Mutter merkten, daß weder Scheltworte noch Schläge etwas ausrichteten, kamen sie zu einem großen Entschlüsse: Anna wurde nach Vigne in die Muster-Farm des Herrn Roger Duflos, der unser Abgeordneter ist, in Dienst gegeben.

Ihr glaubt vielleicht, nun hätten sich die beiden Verliebten nicht mehr gesehen? Da irrt Ihr Euch! Sie kamen jetzt des Nachts zusammen. Sie schliefen einfach nicht mehr. Bei dichtester Finsternis verließ jedes die Farm, in der es diente, und dann gingen sie sich auf einem Kreuzwege, der kürzer ist als die große Landstraße, entgegen. Und wenn sie sich getroffen hatten, blieben sie bis zum ersten Tagesdämmern in dem schützenden Walde beisammen.

Das war im Jahre 1879. Sommer und Herbst waren vorübergegangen; dann kam der Winter. Es war eine schreckliche Zeit. Der Cher trieb Eisschollen und schließlich fror er ganz zu. Die Wälder von Tronçais, die mit Schnee bedeckt waren, lagen verwüstet, wie die Trümmer eines Gebäudes, das unter einer Überlast zusammengebrochen ist. Alle Waldwege waren nach und nach unbenutzbar geworden. Der Wald war gänzlich verweht. Und wo Menschen nicht mehr hinkamen, stellten sich wieder Tiere ein. Was sich seit jenem schrecklichen Jahre nicht mehr ereignet hat, trat ein: Wir hatten Wölfe.

Jawohl, Wölfe meine jungen Freunde.

Sie kamen bis an die Farmen, die um Lucry-Lévy und Vigne zerstreut lagen. Sie drangen bis in die Straßen von Saint-Bonnet-le-Désert, ein Dorf, das einsam am Ufer eines Waldteiches lag. Man mußte ihnen förmliche Schlachten liefern, um sie zu vernichten. Auf den Kopf eines Wolfes war der Preis von fünfzig Franken gesetzt. Ich selbst habe dreie gesehen, außerordentlich große, die eines Morgens, als ich in meinem Wagen nach Saint-Amand fuhr, am andern Ufer des Cher herumstreiften.

»Aber weder der Winter, noch die Wölfe störten Anna und Lorenz in ihren nächtlichen Zusammenkünften.

Unter tausend Gefahren setzten sie ihre Exkursionen fort. Das ist ja die tote Zeit auf dem Lande, wenn der Landarbeiter feiert. Jede Nacht verließ Lorenz das Dorf, mit dem Gewehr unterm Arm und wagte sich getrost in den völlig finstern und schneeverwehten Wald. Und ebenso verließ Anna gegen neun Uhr Vigne. Dann trafen sie sich, etwa drei Kilometer von hier, bei einer Lichtung, die der Waldweg durchschneidet, und die man den »Hohlweg« nennt.

Eines Abends nun, als Lorenz Grillet zum Rendez-vous kam, glitt er auf dem hartgefrorenen Schnee aus und fiel so unglücklich, daß er sich das rechte Bein brach und die rechte Hand verstauchte. Anna versuchte ihn aufzuheben, aber es gelang ihr nicht. Sie konnte ihn nur bis zu einer dicken Ulme schleppen, an die sie ihren Geliebten, ihn mit ihrem eigenen Mantel zudeckend, anlehnte.

»Wart nur, mein armer Lorenz«, sprach sie zu ihm, »ich laufe nach Vigne zum Doktor, – der kommt und holt Dich mit seinem Wagen ab.«

Sie entfernte sich, aber kaum hatte sie die erste Wendung gemacht, als sie einen Flintenschuß und einen Schrei hörte: »Ha – loh!«

Sie lief sofort zurück und fand ihren Freund zitternd vor Schmerz und Furcht, die Hand auf sein an der Erde liegendes Gewehr gekrampft.

»Was hast Du denn, Lorenz, – hast Du geschossen?« fragte sie.

»Ja, ich war es«, antwortete er. »Ich habe ein Tier gesehen mit roten Augen, das einen scheußlichen Geruch ausströmte und so stark war wie ein großer Hund. Ich glaube, es war ein Wolf.«

»Und hast Du drauf geschossen?«

»Nein, ich kann wegen meines Armes die Flinte nicht aufheben. Ich habe bloß in die Erde geschossen, um ihm Angst zu machen. Und Du siehst, er ist fort.«

Anna dachte einen Augenblick nach.

»Ist er hier hergekommen?« fragte sie.

»Ich fürchte ja«, antwortete der junge Mann. »Du solltest hierbleiben, Anna, sonst werde ich von der Bestie gefressen.«

»Gut, dann bleibe ich«, sagte das junge Mädchen. »Gieb mir Deine Flinte.«

Sie nahm sie, entfernte aus dem Schaft die alte Patrone und ersetzte sie durch eine neue. Und alle beide warteten.

Eine Stunde verging, vielleicht auch zwei oder auch mehrere. Der Mond, den man noch nicht sehen konnte, war am Himmel aufgegangen, denn der Himmel strahlte im Zenith ein Licht zurück, das von Minute zu Minute stieg.

Lorenz hatte Fieber, er bebte und stöhnte und Anna, die vor Kälte erschauerte und immer noch an den Baum gelehnt stand, fing an, einzuschlummern.

Plötzlich ertönte ein Gebell, ein Heulen, wie es des Nachts die Hunde ausstoßen, die man eingeschlossen hat. In dem Dunkel, das sich unmerklich löste, sah man zwei durchdringende rote Augen. Das war der Wolf.

Lorenz wollte sich erheben und die Flinte ergreifen. Aber vor Schmerz aufschreiend sank er zurück.

Sie schulterte, zielte und drückte ab. Doch ein Ruck nach hinten brachte die Waffe aus der Richtung. Das Tier war nicht getroffen. Es floh aber sofort längs des Weges ... Kurze Zeit nachher hörte man es in einiger Entfernung heulen. Und das Geheul von andern gab die Antwort.

Der Mond stieg am Himmel empor und stand plötzlich im hellsten Licht über der düstern Masse des Dickichts. Und jetzt sahen Lorenz und Anna etwas Schreckliches: In Schußweite saßen fünf Wölfe auf ihren Hintern, wie Hunde quer über dem Weg; und einer, der am mutigsten war, wagte sich langsam vorwärts.

»Höre«, sagte Lorenz zu seinem Mädchen, »ziele auf den, der auf uns zukommt. Wenn Du ihn töten kannst, werden ihn die andern auffressen und sie werden uns dann in Frieden lassen.«

Der Wolf setzte seinen Marsch in kleinen Schritten fort. Man konnte jetzt seine blutigen Augen, seine vorstehenden Rücken- und Rumpfknochen, seine matte Farbe und seinen halbgeöffneten fauchenden Rachen erkennen.

»Leg den Kolben richtig an die Schulter«, sagte Lorenz. »Komm hier her!«

Der Schuß ging los, das Tier machte einen Sprung zur Seite und fiel ohne einen Laut tot zu Boden. Die ganze Bande riß im Galopp aus und verschwand im Gehölz.

»Anna, lauf schnell hin«, rief Lorenz, »schlepp' ihn auf den Weg weiter, so weit Du kommst. Noch ist die Gefahr nicht vorüber. Die andern werden in einiger Zeit zurückkommen.«

Sie ging, und er rief ihr noch nach:

»Du mußt der Bestie den Kopf abschneiden, so schnell als möglich.«

»Hast du ein Messer?« fragte Anna.

»Ja ... in meinem Gürtel.«

Es war ein richtiges Jägermesser mit kurzem Griff und breiter Klinge. Sie nahm es und lief auf das Tier zu. Dann machte sie sich daran, ihm die Gurgel abzuschneiden. Und während ihr das heiße Blut über die Hände, auf die Kleider lief und sogar ins Gesicht sprang, trennte sie den Kopf vom Rumpfe, der noch keuchte, und den sie so weit sie konnte durch eine auf dem Schnee schimmernde Lache zog. Dann kehrte sie mit dem blutigen und schmutzigen Kopf zurück.

Was Lorenz voraus gesehen hatte, geschah. Die zuerst durch den Tod ihres Gefährten aufgeschreckten Wölfe wurden durch den Blutgeruch zurückgelockt. Sie kamen alle fünf wieder. Im Mondschein, den der Schnee, wie in einem Feenmärchen widerstrahlte, erblickten die beiden jungen Leute die schreckliche Gruppe der Rücken an Rücken bei einander um die frische Beute gereihten Bestien, den Kadaver zerreißend, sich streitend und beißend, bis nichts mehr übrig blieb, nicht einmal ein Haarbüschel, ja nicht einmal ein Knochen.

Inzwischen fing dem jungen Mann sein Bein gräßlich an zu schmerzen. Anna, deren Nerven gänzlich erschöpft waren, kämpfte vergeblich gegen Ermüdung und gegen den Schlaf. Zweimal entglitt ihr das Gewehr, das sie in der Hand hielt .... Als die Wölfe ihr Mahl beendigt hatten, fingen sie wieder an, sich zu nähern. Das junge Mädchen schoß eine Kugel und dann zwei in den Haufen. ... Aber ihre erstarrten Finger zitterten. Sie konnte sich nicht mehr rühren. Bei jedem Schuß riß die Bande aus, lief etwa hundert Meter in kurzem Trapp den Weg entlang, blieb eine Zeitlang stehen und kam dann wieder zurück ...

Nun sahen die jungen Leute ein, daß es mit ihnen aus wäre und daß sie sterben müßten. Anna ließ den Arm sinken. Nicht einen Augenblick dachte sie daran, zu entfliehen und den Verwundeten zu verlassen. Sie legte sich an seine Seite, unter denselben Mantel, umarmte ihren Geliebten, lehnte ihr Haupt an seine Wange, und so erwarteten die Beiden, mit vor Kälte erstarrter Haut und im Fieber glühendem Blute, den Tod.

In ihren Hallucinationen sahen sie seltsame Bilder. Die süßen Sommernächte, wenn der Junilaub geschmückte Wald ihre friedlichen Zusammenkünfte begünstigte, schienen wieder gekommen zu sein. Aber dann waren es plötzlich die kahlen Sträucher und Äste, die von einem Scheine, der vom Schnee herkam, glänzten und alles belebte sich mit bewegten Gestalten, mit glühenden Augen und offenen Rachen, die sich vervielfältigten, sich näherten und sie verschlingen wollten.

Aber Anna und Lorenz blieben glücklich davor bewahrt, auf diese schreckliche Weise umzukommen. Die Vorsehung – ja, meine jungen Freunde, ich glaube an sie, – wollte, daß ich am nächsten Morgen in meinem Wagen von Saint-Bonnet-le-Désert, wo ich eine Entbindung gehabt hatte, zurückkam. Ich führte die Zügel, und mein Diener hielt die Flinte und beobachtete den Weg. Unsere Schellen jagten den Wölfen ohne Zweifel Furcht ein, denn wir sahen nicht einen einzigen. Bei der Ulme, an dessen Fuß die beiden Liebenden schliefen, machte meine Stute einen Sprung zur Seite, wodurch wir aufmerksam wurden. Ich sprang zur Erde und mit Hilfe meines Dieners hob ich die beiden armen Kinder auf, die steif und leblos waren. Wir legten sie aufs sorgfältigste nieder und hüllten sie in alle Decken, die wir hatten .... Auch den blutigen Wolfskopf nahmen wir mit.

Es war ungefähr sieben Uhr morgens, als wir in Digne ankamen. Der Tag stieg über's Land auf, das wie blankes Glas und wie weicher Sammet dalag. Die Pächter des Herrn Roger-Duflos und die Hälfte der Leute aus dem Flecken, die besorgt um das Verschwinden Annas waren, kamen uns entgegen.

In einer großen Küche, in der wir an jenem Abende vor einem flackernden Holzfeuer gespeist hatten, waren denn Lorenz und sein Mädchen endlich so weit aufgetaut, daß sie uns die Erlebnisse jener Nacht erzählen konnten.«

Einer von uns fragte:

»Und später, Doktor? Haben sie sich geheiratet?«

»Ja«, antwortete unser Wirt. »Die Ereignisse zeigen zuweilen den Willen der Vorsehung mit solcher Kraft, daß die, welche weniger klar sehen, davon überrascht sind. Nach dem Abenteuer mit dem Wolfe beschlossen Annas Eltern ihr Kind mit Lorenz Grillet zu verheiraten. Die Hochzeit fand im Frühjahr statt, und die fünfzig Franken, die sie als Preis erhielt, bestritten ihr Hochzeitskleid.«

... Der Doktor schwieg. Die Nacht war ganz hereingebrochen. Der dunkelblaue Himmel spiegelte seine ersten Sterne im Wasser. Die dichten, tintenschwarzen, unbeweglichen Sträucher glichen jetzt finstern Bergen, wir sahen, wie die Wolfs-Anna die beiden Jungen wieder ankleidete und mit ihrem Jüngsten, das eingeschlafen war, im Arme, nach Hause ging. Sie kam an uns vorüber und im Vorbeigehen lächelte sie dem Doktor zu. Der Doktor sagte: »Guten Abend, Anna!«

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