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Der Bettler

Es war eine kleine, ganz winzige, unbedeutende Geschichte, ja so winzig und unbedeutend, daß ich fürchte, ihr die zarte Eigenheit und leichte Anmut zu rauben, indem ich sie aufs Papier bringe. Als sie uns eines Abends mitten in dem Glanze eines reichen, modernen Hauses von der reizenden Heldin dieser Geschichte selbst erzählt wurde, – wie kam es da nur, daß sie uns einen so nachhaltigen Eindruck machte, daß sie in jenem Cercle zu einer klassischen Erzählung wurde, wie sie jede Gesellschaftsschicht als Erbteil empfängt und pflegt, weil sie auch in ihren Andeutungen von ihr verstanden wird. Vielleicht wurde sie nach all' den schmutzigen Ehegeschichten und Trivialitäten der Politik und Litteratur wie ein Lichtstrahl empfunden. Vielleicht aber auch, weil, wie gewisse Bewegungen und Stellungen einen weiblichen Körper unter dem Kleide verraten, zuweilen auch nur wenige ernste Worte genügen, die ein Weib gesprochen hat, um uns den ganzen Reichtum ihrer Seele ahnen zu lassen.

Man hatte von den geheimnisvollen Seelenvorgängen gesprochen, die heute von der Wissenschaft bereits klassifiziert und benannt sind, wovon sich wenige frei machen können, und unter dessen Bann wir alle stehen: die Einen, indem sie die Blumen einer Tapete oder die Bände einer Bibliothek zählen, kurz alles, was ihnen unter die Augen kommt, und das sich zusammen rechnen läßt; andere, indem sie beim Gange durch die Straße einen bestimmten Laternenpfahl zu erreichen suchen, ehe sie ein hinter ihnen fahrender Wagen eingeholt hat oder der letzte Ton einer schlagenden Uhr verklungen ist; andere wieder, indem sie jeden Abend vor dem Zubettegehen, sich erst abmühen, ihr Zimmer in Ordnung zu bringen oder alle Schränke und Koffer durchsuchen, – und wie all die Erkrankungen des modernen Geistes heißen mögen, die durch Generationen vererbt, schon ein wenig in Monomanie und Blödsinn übergehen, und die sich schließlich über die ganze alte Menschheit verbreitet haben. Und alle, alle gestehen wir schon unsere Schwächen, unsre lächerlichen Manieren ein, beruhigt durch die Geständnisse der andern, ja entzückt, sie den unsrigen ähnlich, ja noch schlimmer zu finden, als sie.

Eine junge Frau hatte noch nichts gesagt. Sie hörte uns zu; auf ihrem hübschen ländlichen Gesicht, das von schwarzen, sorgfältig gebundenen Bändern umrahmt war, lag etwas wie Überraschung.

Man fragte sie:

»Und Sie, gnädige Frau, haben Sie denn keine dieser modernen Schwächen, haben Sie nicht das kleinste nervöse Übel einzugestehen?«

Sie schien ernstlich in ihren Erinnerungen zu suchen.

Dann schüttelte sie den Kopf:

»Nein ..., nein ....«

Wir fühlten, daß sie die Wahrheit sagte. Das sah man auch, – dafür sprach ihre ruhige Gelassenheit, ihr Ruf als untadelhafte Gattin. Und sie war in den Kreis dieser Modepuppen gestellt, die eben ihre krankhaften Empfindungen eingestanden hatten.

Ohne Zweifel schrak ihre Bescheidenheit davor zurück, hier ihre völlige Unschuld zu zeigen, da doch alle bereits ihre Schwächen eingestanden hatten.

Sie besann sich noch einmal.

»Mein Gott ... ich kann ja nicht sagen, daß ich gewöhnlich die Droschkennummern summiere oder mir ein Verzeichnis aller meiner verschlossenen Gegenstände anfertige, ehe ich mich zu Bett lege ... Aber dennoch, einmal habe ich etwas gethan, das dem hinlänglich gleicht, von dem Sie reden, wenn ich Sie richtig verstanden habe ... infolge einer Eingebung, irgend einer Kraft, die unmittelbar zwingt, einen an sich gleichgültigen Akt zu vollziehen, auch wenn es das Leben kosten sollte ...«

Man verlangte die Geschichte zu hören, und sie erzählte sie sehr anmutig, aber mit einer Miene, als müßte sie sich selber anklagen, daß sie die Aufmerksamkeit der Andern auf ein so winziges Abenteuer gelenkt hatte:

»Ich will kurz erzählen, was mir passiert ist ... Es sind jetzt fünf oder sechs Tage her ... Ich war mit meinem Töchterchen Suzon ausgegangen. Sie kennen sie ja, sie ist jetzt acht Jahre alt. Ich führte sie in eine Gesellschaft, – denn diese große Dame hat schon ihre Gesellschaften. Da es schönes Wetter war gingen wir zu Fuß, und zwar durch die champs Elysées und die Boulevards nach der Rue Laffitte. Wir marschierten also munter los und plauderten miteinander, als plötzlich oben am Rondell ein noch ziemlich junger Krüppel vor uns hinkroch und ohne etwas zu sagen, die Hand ausstreckte ... In der Rechten hatte ich meinen Sonnenschirm und mit der linken hielt ich mein Kleid. Aufrichtig gestanden, fehlte es mir an Geduld stehen zu bleiben und mein Portemonnaie zu suchen .... Ich ging also vorüber, ohne dem Bettler etwas zu geben.

Wir beide, meine Suzon und ich, gingen die champs Elysées weiter hinunter. Die Kleine hatte plötzlich aufgehört zu schwatzen, und ich selbst, ohne recht zu wissen warum, hatte auch keine rechte Lust mehr dazu. Wir waren schon auf der place de la concorde angelangt und hatten noch immer, seitdem wir dem Bettler begegnet waren, kein Wort miteinander gesprochen. Nach und nach fühlte ich in mir eine gewisse Unruhe entstehen und wachsen, ein unheimliches Gefühl, als hätte ich eine Handlung unterlassen, die ich nicht mehr gut machen könnte, und wäre deshalb von einer unbestimmten Gefahr in Zukunft bedroht. Für gewöhnlich bemühe ich mich, so weit ich irgend kann, klar in mir zu sehen. Ich prüfte also mein Gewissen, indem wir gingen:

Ich habe doch eigentlich gar keinen so schlimmen Fehler gegen die Mildthätigkeit begangen, als ich dem Bettler nichts gab, sagte ich mir .... Ich habe ja niemals behauptet, daß ich allen gebe, die ich treffe. Ich werde dem nächsten um so reichlicher geben, und die Sache ist abgethan ....

Aber alle meine Gründe konnten mich selbst nicht überzeugen, und das unbehagliche Gefühl in mir wuchs und steigerte sich zu einer förmlichen Angst. Wohl zehn mal mag ich die Absicht gehabt haben, umzukehren und dahin zurückzugehen, wo wir dem Bettler begegnet waren. Werden Sie es glauben? Aber ein gewisser menschlicher Hochmut hielt mich ab, es in Gegenwart meines Kindes zu thun. Wir haben all unsern Wert verloren, wenn wir nur noch mit Rücksicht nach dem Urteil andrer handeln.

Wie waren fast am Ziele unseres Spazierganges und wollten eben über die Rue Laffitte gehen, als Suzon mich leise am Rock zog und zurückhielt.

»Mama!«

»Was willst Du denn, Liebchen?«

Sie richtete ihre großen blauen Augen auf mich und sagte ernst:

»Mama, warum hast Du dem Unglücklichen auf den champs Elysées denn nichts gegeben?«

Wie ich, hatte auch sie an nichts anderes gedacht seit jener Begegnung; ihr Herz hatte unter demselben Druck gestanden wie das meinige. Nur besser als ihre Mutter und auch aufrichtiger, gestand sie ihre Unruhe ganz einfach ein.

Ich zauderte nicht einen Augenblick.

»Du hast recht, mein Liebling,« sagte ich zu ihr.

Im Banne unserer fixen Idee waren wir schneller gegangen als gewöhnlich. Es blieben uns daher noch zwanzig Minuten bis zu Suzons Gesellschaftsstunde. Ich rief einen Wagen, stieg mit ihr ein, und der Kutscher, den eine reiche Belohnung zur Eile anspornte, fuhr nach den champs Elysées zurück.

Suzon und ich, wir hielten uns bei der Hand, und Sie dürfen es glauben, wir waren noch immer nicht ruhig. Wenn nun der Bettler schon fort ist? Wenn wir ihn nicht mehr wiederfinden können?

Beim Rondell angekommen, sprangen wir aus dem Wagen und durchsuchten die Allee. Aber kein Bettler war zu erblicken. Ich frage eine Stuhlvermieterin; sie erinnert sich ihn gesehen zu haben, aber es ist kein Bettler, sagte sie, der gewöhnlich hierher kommt. Sie weiß auch nicht, nach welcher Seite er gegangen ist. Die Zeit drängte, wir wollten umkehren, verzweifelt, wie wir waren, als plötzlich Suzon den Mann bemerkte, der hinter einem Baume auf seinen Hacken saß. Er schlief, seine Mütze zwischen den Knieen haltend, im Schatten.

Suzon ging auf den Zehen zu ihm und ließ eine kleine Goldmünze in seinen leeren Hut gleiten. Dann fuhren wir zur Rue Laffitte zurück.

Es war lächerlich, ich weiß es wohl, aber wir umarmten uns alle beide, als wären wir einer großen Gefahr entronnen ...

Die junge Frau schwieg, ganz verlegen, so lange von sich gesprochen zu haben, während alles ihr zuhörte.

Und uns, die wir andächtig gelauscht hatten, war es, als hätten wir eine ganz reine Luft eingeatmet und an derselben Quelle ganz frisches Wasser getrunken.

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