Johann Heinrich Pestalozzi
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Johann Heinrich Pestalozzi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Freund! Ich wußte vor etlich und zwanzig Jahren eigentlich noch nicht, wo es hinlangte, da ich folgende Stelle in der Vorrede zu Lienhard und Gertrud hinwarf: »Ich nehme keinen Teil an allem Streit der Menschen über ihre Meinungen; aber das, was sie fromm, brav, treu und bieder machen, was Liebe Gottes und Liebe des Nächsten in ihr Herz und Glück und Segen in ihr Haus bringen kann, das, meine ich, sei außer allem Streit und uns allen und für uns alle in unsre Herzen gelegt.«

Jetzt macht mich der Gang meiner Versuche einsehen, daß es von der Unterrichtsweise, nach deren Erkenntnis und Einführung ich hinstrebe, bestimmt wahr ist, ich nehme in derselben keinen Teil an allem Streite der Menschen. Als reines Entfaltungsmittel des ganzen Umfangs unsrer Kräfte und Anlagen dehnt sie in ihrem Wesen ihren Einfluß und ihre Wirkung keinen Schritt über das hinaus, was unwidersprechlich ist; als reines Entfaltungsmittel unserer Kräfte ist sie nicht Lehre von Wahrheiten, sie ist als solche Lehre der Wahrheit; sie ist nicht Kämpferin wider Irrtümer, sie ist innere Entfaltung der sittlichen und geistigen Kräfte, die dem Irrtum widerstehen; sie ist reine Führung zur Fähigkeit, Wahrheit und Irrtum zu erkennen. Das Wesen ihres Strebens geht einzig dahin, die gute Ausbildung dieser Fähigkeit psychologisch zu ergründen und im ganzen Umfange ihrer Bedürfnisse durchzusetzen. Freund! Ich sehe beides, wie weit diese Äußerung hinführt und wie weit ich davon entfernt bin, auch nur die Spuren der Mittel, durch die es möglich gemacht werden kann, zu diesem Ziele zu gelangen, in ihrem ganzen Umfange zu erkennen. Dennoch aber lebt der Glaube an die Möglichkeit der Erzielung dieses Zwecks unauslöschlich in meiner Seele. Aber wie, durch wen und wie bald meine diesfällige Ahnung in Erfüllung gehen könne und gehen werde, davon weiß ich freilich noch nichts. Es ist auch diesfalls keine Anmaßung in meiner Seele. Ich suchte bei allen meinen Bestrebungen, deren Resultate mich jetzt zu diesen Äußerungen führen, nichts anders als Vereinfachung und Erleichterung der Unterrichtsmittel des niedersten Volks, das ich durch die Folgen seiner diesfälligen Hintansetzung in meinen nächsten Umgebungen vielseitig unglücklich, unbefriedigt und gefährdet sah. Mein Herz mußte von Jugend auf zum Streben nach diesem Ziele hinlenken. Ich habe die Ursachen des sittlichen, geistigen und häuslichen Versinkens des Volks und sein damit innig verbundenes Leiden und Unrechtleiden von meiner Jugend auf, vielleicht wie wenige, in seiner wahren Gestalt zu erkennen Gelegenheit gehabt. Man darf mir es glauben, ich habe einiges Leiden und einiges Unrechtleiden des Volks selber mit ihm getragen. Ich sage das zur Entschuldigung der anscheinenden Kühnheit einiger meiner Äußerungen, denen im Innersten meiner Seele nur der Drang, dem Volke in den Quellen seines Zurückstehens und seiner daraus entsprungenen Leiden helfen zu wollen, und gar nicht die geringste Anmaßung, dieses tun zu können, zum Grund liegt. Ich bitte, alle meine diesfalls etwas kühn scheinenden Äußerungen in diesem Lichte ins Aug zu fassen. Wenn ich z. E. mit der größten Bestimmtheit ausspreche, die Entfaltung des ganzen Umfangs der menschlichen Kräfte geht von einem Organismus aus, dessen Resultat unbedingte Notwendigkeit ist, so sage ich um deswillen weder, daß ich der Gesetze dieses Organismus mir deutlich bewußt sei, noch daß ich sie in ihrem ganzen Umfang erkenne; und wenn ich sage, es gebe im Unterricht einen reinen Verstandesgang, so sage ich um deswillen nicht, ich habe die Gesetze dieses Gangs in ihrer hohen Vollendung dargelegt oder gar ausgeübt. Ich habe in der ganzen Darstellung meines Tuns weit mehr die Sicherheit meiner Grundsätze heiter zu machen gesucht als das höchst gehemmte Tun meiner schwindenden Individualität zum Maßstab dessen aufstellen wollen, was durch die vollendete Entwicklung dieser Grundsätze für das Menschengeschlecht herauskommen kann und herauskommen muß. Ich weiß das selbst nicht und fühle alle Tage mehr, wie sehr ich es nicht weiß.

Was in meiner ganzen Darstellung Theorie und Urteil ist, das ist unbedingt nichts anders als die Folge einer beschränkten und höchst mühseligen Empirik und, ich muß es hinzusetzen, eines seltenen Glückes. Ich soll und will es nicht verhehlen, wenn es dem von den brauchbaren oder auch nur gebrauchten Menschen so allgemein bis in sein graues Alter in allewege für unbrauchbar erklärten, schon längst zum armen Müdling versunkenen Manne nicht endlich noch gelungen wäre, Schulmeister werden zu können, und wenn Buß, Krüsi und Tobler seiner namenlosen Unbehilflichkeit in aller Kunst und in allen Fertigkeiten nicht mit einer Kraft zu Hilfe gekommen wären, die ich nie hätte hoffen dürfen, so wäre meine Theorie über diesen Gegenstand wie die Glut eines brennenden Gebirges, die nicht zum Ausbruch zu gelangen vermag, in meinen eigenen Eingeweiden wieder erloschen, und ich wäre wie ein träumender Tor, über den kein milderndes Urteil statthat, von den Guten nur mißkannt und von den Bösen nur verachtet ins Grab gesunken, und mein einziges Verdienst, mein Wille, mein unaufhaltsamer, nie gehemmter Wille für das Heil des Volks, die Anstrengungen meiner Tage, die Aufopferungen meines Lebens und der Mord meiner selbst wäre heute dem Gespötte von Buben preisgegeben, ohne daß ich einen Freund hätte, der es wagen dürfte, meinem verhöhnten Schatten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; ich hätte mir selbst nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen; ich hätte es nicht können, ich wäre wütend über mich selbst und verzweifelnd über das Elend, beides des Volks und der Meinigen, in die Grube gesunken. Freund! Und ich hätte in diesem Versinken einzig mir selbst noch die traurige Kraft erhalten, mich wegen meines Schicksals anklagen zu können – und ich hätte es getan, ich hätte nicht anders können, ich hätte die Schuld meines Verderbens nur mir allein beigemessen; das grause Bild meines Lebens wäre dann als ein ganzer einziger Schatten ohne einen mildernden Lichtstrahl vor meinen Augen gestanden.

Freund! Denke dir mein Herz, meine Verzweiflung und das Bild dieses Schattens und des Gedankens in meiner Zernichtung, ich hätte das Ziel meines Lebens selber zernichtet, und es ist wahr, ich hätte es wirklich durch meine Schuld in mir selbst verloren. Es ist Gott, der es mir wiedergegeben, nachdem ich es wirklich verloren hatte. Ich verfehlte es siebenundsiebenmal, selber wenn es schien, daß mir die Mittel dazu wie einem Kinde in die Hand gelegt wurden; ach! ich benahm mich so lange wie niemand, und es ging mir so lange, wie es niemand gegangen ist. Nicht bloß standen meinem Ziele seit meinen Kinderjahren der gänzliche Mangel an ausgebildeten, praktischen Fertigkeiten und ein rasendes Mißverhältnis zwischen dem Umfange meines Willens und den Schranken meiner Kräfte entgegen, ich wurde noch dazu mit jedem Jahre zu allem, was zur äußern Erreichung meines Ziels wesentlich notwendig schien, immer unfähiger.

Aber ist es meine Schuld, daß der Lauf eines immer und immer nur zertretenen Lebens mich schon seit langem in keinem Stücke mehr den Weg eines unzerrissenen Herzens gehen ließ? Ist es meine Schuld, daß die Aufmerksamkeiten der Glücklichen oder auch nur die der nicht Elenden schon seit langem in meiner Seele ausgeloschen sind wie die Spur einer in die Tiefe versunkenen Insel? Ist es meine Schuld, daß die Menschen um mich her, ach! schon so lange um mich und an mir nichts sahen als einen blutenden, zertretenen, auf die Straße hingeworfenen, sich selbst nicht mehr fühlenden Schädel – in welchem das Ziel des Lebens wie eine Ähre zwischen Dornen, Disteln und wässerigtem Schilfrohr nur langsam und immer und immer mit Gefahren des Todes und der Erstickung emporkeimte? Ist es meine Schuld, daß das Ziel meines Lebens jetzt in mir dasteht wie ein kahler Fels in den Fluten, von dem der ewige Anlauf des spülenden Wassers auch die letzte Spur der schönen Erde, die ihn ehmals bedeckte, weggeschwemmt hat?

Ja, Freund! es ist meine Schuld; ich fühle sie tief und beuge mich in den Staub, freilich nicht vor dem Urteil böser, mich wie ein aufgeregtes Wespennest umsummender Menschen, aber vor dem Bilde meiner selbst und der inneren Würde, zu der ich mich hätte erheben können, wenn ich mich mitten durch die ewige Nacht meines verlornen Lebens über mein Schicksal und über das Entsetzen von Tagen hätte emporheben können, in denen freilich alles, was die Menschennatur erheitert und erhebt, um mich her verschwunden und alles, alles, was sie verwirrt und entwürdiget, unaufhaltsam und ununterbrochen an mich andrängte und mit seiner ganzen Gewalt auf die Schwäche meines Herzens stürzte, das in meinem Kopfe kein Gegengewicht jener Eindrücke fand, die es zerrissen. Dennoch ist es meine Schuld, Freund! mein ganzes Unglück ist meine Schuld. Ich hätte es können, ich hätte es sollen, und ich möchte sagen, ich habe es wollen, – wenn ich das wollen heißen darf, was ich nicht ausführte; soviel ist indessen auch wahr, ich bin alt geworden, und das Elend meiner Tage hat mich dem Grabe nahe gebracht, ehe die gänzliche Zerrüttung meiner Nerven endlich mein Gleichgewicht vollends zertrümmert und die letzte Empörung meiner selbst endlich mich selbst mit dem Menschengeschlechte wegwerfen machte.

Freund! Ein Weib, größer als kein Mann, ein Weib, das durch ein Leben, dessen Unglück mein Elend aufwiegt, sich nur veredelte und nie entwürdigte, sah das Nahen der Wegwerfung meiner selbst seit langem und antwortete mir auf das Wort meiner Verwirrung: Es ist nichts daran gelegen! »O Pestalozzi, wenn der Mensch einmal dahin kommt, dieses Wort der Verzweiflung auszusprechen, so helf ihm dann Gott, er kann sich selbst nicht mehr helfen.«

Ich sah den Blick der Wehmut und der Sorge in ihren Augen, als sie das Wort der Warnung aussprach, und, Freund! wenn ich keine andre Schuld am endlichen Verschwinden meines bessern Selbst an mir hätte als die, daß ich dieses Wort hören und wieder vergessen konnte, meine Schuld wäre größer als die Schuld aller Menschen, die diese Tugend nie gesehen und dieses Wort nie gehört haben.

Freund, laß mich jetzt einen Augenblick mein Tun und mein Ziel vergessen, mich ganz dem Gefühle der Wehmut überlassen, die mich anwandelt, daß ich noch lebe und nicht mehr ich selbst bin. Ich habe alles verloren; ich habe mich selbst verloren; dennoch hast du, o Herr! die Wünsche meines Lebens in mir erhalten und das Ziel meiner Schmerzen nicht vor meinen Augen zertrümmert, wie du das Ziel von tausend Menschen, die sich ihre eigenen Wege verdarben, vor ihren und meinen Augen zertrümmert hast. Du hast das Werk meines Lebens mir mitten in meiner Zerstörung erhalten und mir in meinem hoffnungslos dahinschwindenden Alter noch eine Abendröte aufgehen lassen, deren lieblicher Anblick die Leiden meines Lebens aufwiegt. Herr! ich bin nicht wert der Barmherzigkeit und der Treue, die du mir erwiesen. Du, du allein hast dich des zertretenen Wurmes noch erbarmt; Du allein hast das zerknickte Rohr nicht zerbrochen; Du allein hast den glimmenden Docht nicht ausgelöscht und Dein Angesicht nicht bis an meinen Tod von dem Opfer weggewandt, das ich von Kindesbeinen an den Verlassenen im Lande habe bringen wollen und nie habe bringen können!Anmerkung zur neuen Ausgabe. Ich lese diesen vor zwanzig Jahren geschriebenen Brief mit inniger Wehmut. Er drückt das äußerste Versinken meiner selbst und meine Verzweiflung über den Gang meines Lebens und über die Zernichtung meiner Hoffnungen in einem Augenblick aus, in dem der Anfang einer neuen, lebendigen Laufbahn für meine Zwecke eben begann, und ich kann nicht sagen, wie sehr es mein Herz erhebt und den Eindruck der Gefühle, die mich vor so langem niederbogen und wieder aufrichteten, in mir selber wieder erneuert. Die Worte der Anklage gegen mich selbst erschüttern mein Innerstes, so wie die Milderung meiner Anklage dasselbe verwirren; aber ich möchte auf meine Knie fallen und anbeten, wenn ich diesen Brief in einem Augenblicke wieder lese, in dem ich nach abermals seither verflossenen zwanzig Jahren wieder den Anfang einer neuen, lebendig belebten Laufbahn für meine Zwecke beginne. Leser! Wie muß es mir zumut sein, da ich mich heute nach soviel verflossenen Jahren wieder auf dem nämlichen Punkte sehe, wo ich damals gestanden, und in Rücksicht auf meine Bestrebungen und Hoffnungen genau wiederholen muß, daß ich ohne einen beinahe an das Wunderbare grenzenden Beistand der Vorsehung und ohne Mitwirkung menschlicher Freundeskräfte, in denen ich beinahe Heldenkräfte der Menschennatur erkenne, unausweichlich wieder dahin gekommen wäre, daß die Anstrengung meiner Tage, die Hingebung meines Lebens und sogar die Aufopferung der Meinigen auch heute wieder dem Gespötte der blinden Menge preisgegeben worden wäre! Leser, wie muß mir zumut sein, wenn ich nach so vielen Jahren die Stelle wieder lese: »Freund! Denk' Dir mein Herz, meine Verzweiflung und das Bild dieses Schattens und des Gedankens in meiner Zernichtung, ich hätte das Ziel meines Lebens in mir selber zernichtet« – und denn, Leser! denk' Dir den Aufschwung meines Herzens zum Dank gegen Gott, daß er die Wünsche meines Lebens dennoch in mir selber erhalten und das Ziel meiner Schmerzen nicht gänzlich vor meinen Augen zertrümmert. Und doch, Leser! wenn auch dieses geschehen, wenn ich auch wirklich in meiner Lage zugrunde gegangen und nicht bloß der Verzweiflung nahe gebracht worden, sondern ihr wirklich gänzlich unterlegen wäre, so darf ich mir dennoch das Zeugnis geben, ich hätte heute wie damals in diesem Briefe meines Unglücks halber mich selber angeklagt und wäre schonend, verzeihend, dankend und liebend in die Grube gesunken. – Aber, Leser! wie muß es jetzo mein Herz erheben, wenn ich auch heute hinwieder wie vor zwanzig Jahren aussprechen kann: »Der Herr hat geholfen!« – Wie muß es mein Herz erheben, daß ich heute die Worte dieses Blatts wiederholen darf und wiederholen soll: »Du, o Herr! hast die Wünsche meines Lebens in mir erhalten und das Ziel meiner Schmerzen nicht vor meinen Augen zertrümmert, wie du das Ziel von tausend Menschen, die sich ihre eignen Wege verdarben, vor ihren und meinen Augen zertrümmert hast. Du hast das Werk meines Lebens mir mitten in meiner Zerstörung erhalten und mir in meinem hoffnungslos dahinschwindenden Alter noch eine Abendröte aufgehen lassen, deren lieblicher Anblick die Leiden meines Lebens aufwiegt. Herr! ich bin nicht wert der Barmherzigkeit und der Treue, die Du mir erwiesen. Du, Du allein hast Dich des zertretenen Wurmes noch erbarmt, Du allein hast das zerknickte Rohr nicht zerbrochen, Du allein hast den glimmenden Docht nicht ausgelöscht und Dein Angesicht nicht bis an meinen Tod von dem Opfer weggewandt, das ich von Kindesbeinen an den Verlassenen im Lande habe bringen wollen und nie habe bringen können! –

Leser! Du verzeihst mir die Wiederholung der nämlichen Worte auf dem nämlichen Blatt; aber der Drang meines Herzens erlaubt mir in Rücksicht auf das neue Gefühl meiner Rettung und meines Glückes nicht, bloß hinzuwirken, daß diese Gefühle in Worten, die ich vor zwanzig Jahren geschrieben, ausgedrückt und niedergelegt seien, ich muß sie als Gefühle der gegenwärtigen Stunde heute mit den Worten des heutigen. Tags niederlegen. Leser! Du verzeihst mir also diese Wiederholung, ich weiß es, gar gern.

P.


 << zurück weiter >>