Johann Heinrich Pestalozzi
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Johann Heinrich Pestalozzi

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VI.

Freund! Du siehst doch wenigstens die Mühe, die ich mir gebe, die Theorie meines Ganges klarzumachen. Laß mir diese Mühe zu einer Art von Entschuldigung gelten, wenn du fühlst, wie wenig es mir gelungen. Ich bin für das eigentliche Philosophieren im wahren Sinn des Wortes schon seit meinen zwanziger Jahren zugrunde gerichtet; zum Glück brauchte ich zur praktischen Ausübung meines Planes keine Art von derjenigen Philosophie, die mir so mühselig vorkommt. Ich lebte auf jedem Punkte, auf dem ich stand, bis zur höchsten Spannung meiner Nerven im Kreise, in dem ich wirkte; wußte, was ich wollte; sorgte nicht für den morgenden Tag und fühlte in Rücksicht auf die Gegenstände, die mich vorzüglich interessierten, so ziemlich in jedem Augenblick, was derselbe wesentlich bedurfte. Und wenn meine Einbildungskraft mich heute um hundert Schritte weitertrieb, als ich festen Boden fand, so ging ich morgen diese hundert Schritte wieder zurück. Das begegnete mir tausendundtausendmal. Tausendundtausendmal glaubte ich mich meinem Ziele näher, fand dann wieder plötzlich, daß dieses vermeinte Ziel nur ein neuer Berg ist, an den ich stoße. So ging es mir, besonders da mir die Grundsätze und Gesetze des physischen Mechanismus anfingen klarer zu werden; ich meinte jetzt sogleich, es fodere nun nichts mehr, als dieselbe einfach auf die Unterrichtsfächer, welche die Erfahrung von Jahrtausenden dem Menschengeschlecht zur Entwicklung seiner Anlagen an die Hand gegeben, und die ich als die Elemente aller Kunst und alles Wissens ansah, auf Schreiben, Lesen, Rechnen usw. anzuwenden.

Aber so wie ich dieses versuchte, entwickelte sich allmählich eine durch sich immer mehrende Erfahrung begründete Überzeugung, daß diese Unterrichtsfächer gar nicht als die Elemente der Kunst und des Unterrichts können angesehen werden, daß sie im Gegenteil weit allgemeinern Ansichten des Gegenstandes untergeordnet werden müssen. Aber das Gefühl dieser für den Unterricht so wichtigen Wahrheit, die sich durch Bearbeitung dieser Fächer in mir entwickelte, erschien mir lange nur in isolierten Gesichtspunkten und immer nur in Verbindung mit dem einzelnen Fache, mit dem jede einzelne Erfahrung zusammenhing.

So fand ich im Lesenlehren die Notwendigkeit seiner Unterordnung unter das Redenkönnen; und in den Anstrengungen für die Mittel, die Kinder reden zu lehren, den Grundsatz: diese Kunst an die Reihenfolgen zu ketten, mit der die Natur vom Schall zum Wort und von diesem nur allmählich zur Sprache emporschreitet.

So fand ich hinwieder in den Bemühungen, schreiben zu lehren, das Bedürfnis der Unterordnung dieser Kunst unter das Zeichnen und in den Bemühungen, Zeichnen zu lehren, die Ankettung und Unterordnung dieser Kunst unter diejenigen des Messens. Sogar das Buchstabierenlehren entwickelte in mir das Bedürfnis von dem Buche für die erste Kindheit, durch welches ich mir die Realkenntnis drei- und vierjähriger Kinder weit über die Kenntnis von sieben- und achtjährigen Schulkindern zu erheben getraue. Aber diese Erfahrungen, die mich freilich praktisch zu bestimmten, einzelnen Hilfsmitteln des Unterrichts hinführten, ließen mich doch fühlen, daß ich meinen Gegenstand noch nicht in seiner wahren Umfassung und innern Tiefe kenne.

Ich suchte lange einen allgemeinen psychologischen Ursprung aller dieser Kunstmittel des Unterrichts, indem ich überzeugt war, daß es nur dadurch möglich sei, die Form aufzufinden, worin die Ausbildung der Menschheit durch das Wesen der Natur selbst bestimmt wird; offenbar war: diese Form ist in der allgemeinen Einrichtung unsers Geistes begründet, vermöge welcher unser Verstand die Eindrücke, welche die Sinnlichkeit von der Natur empfängt, in seiner Vorstellung zur Einheit, d. i. zu einem Begriff auffaßt und diesen Begriff dann allmählich zur Deutlichkeit entwickelt.

Jede Linie, jedes Maß, jedes Wort, sagte ich zu mir selbst, ist ein Resultat des Verstandes, das von gereiften Anschauungen erzeugt wird und als Mittel zur progressiven Verdeutlichung unserer Begriffe muß angesehen werden. Auch ist aller Unterricht in seinem Wesen nichts anders als dieses; seine Grundsätze müssen deshalb von der unwandelbaren Urform der menschlichen Geistesentwicklung abstrahiert werden.

Es kommt daher alles auf die genaueste Kenntnis dieser Urform an. Ich faßte deswegen die Anfangspunkte, aus denen diese abstrahiert werden muß, immer und immer wieder von neuem ins Auge.

Die Welt, sagte ich in diesen träumenden Selbstgesprächen zu mir selber, liegt uns als ein ineinanderfließendes Meer verwirrter Anschauungen vor Augen; die Sache des Unterrichts und der Kunst ist es, wenn durch sie unsere an der Hand der bloßen Natur für uns nicht rasch genug fortrückende Ausbildung wahrhaft und ohne Nachteil für uns vergeschwindert werden soll, daß sie die Verwirrung, die in dieser Anschauung liegt, aufhebe, die Gegenstände unter sich sondere, die ähnlichen und zusammengehörigen in ihrer Vorstellung wieder vereinige, sie alle uns dadurch klarmache und nach vollendeter Klarheit derselben in uns zu deutlichen Begriffen erhebe. Und dieses tut sie, indem sie uns die ineinanderfließenden, verwirrten Anschauungen einzeln vergegenwärtigt, dann uns diese vereinzelten Anschauungen in verschiedenen wandelbaren Zuständen vor Augen stellt und endlich dieselben mit dem ganzen Kreis unseres übrigen Wissens in Verbindung bringt.

Also geht unsere Erkenntnis von Verwirrung zur Bestimmtheit, von Bestimmtheit zur Klarheit und von Klarheit zur Deutlichkeit hinüber.

Aber die Natur hält sich in ihrem Fortschritte zu dieser Entwicklung beständig an dem großen Gesetze, das die Klarheit meiner Erkenntnis von der Nähe oder Ferne der Gegenstände, die meine Sinne berühren, abhängig macht. Alles, was dich immer umgibt, kommt deinen Sinnen ceteris paribus in dem Grade verwirrt vor und ist dir in dem Grade schwer, dir selbst klar und deutlich zu machen, als es von deinen Sinnen entfernt ist; im Gegenteil, alles kommt dir in dem Grade bestimmt vor und ist in dem Grade leicht, klar und dir deutlich zu machen, als es deinen fünf Sinnen nahe liegt.

Du bist als physisch-lebendiges Wesen selbst nichts anders als deine fünf Sinne; folglich muß die Klarheit oder Dunkelheit deiner Begriffe absolut und wesentlich von der Nähe oder Ferne herrühren, nach welchen alle äußeren Gegenstände diese fünf Sinne, d. i. dich selber oder den Mittelpunkt, in dem sich deine Vorstellungen in dir selbst vereinigen, berühren.

Dieser Mittelpunkt aller deiner Anschauungen, du selbst, bist dir selbst ein Vorwurf deiner Anschauung; alles, was du selbst bist, ist dir leichter klar und deutlich zu machen als alles, was außer dir ist; alles, was du von dir selbst fühlst, ist an sich selbst eine bestimmte Anschauung; nur was außer dir ist, kann eine verwirrte Anschauung für dich sein; folglich ist der Gang deiner Erkenntnisse, sofern er dich selber berührt, eine Stufe kürzer, als insofern er von irgendetwas außer dir ausgeht. Alles, was du von dir selbst bewußt bist, dessen bist du dir bestimmt bewußt; alles, was du selbst kennst, das ist in dir selbst und an sich durch dich selbst bestimmt; folglich öffnet sich der Weg zu deutlichen Begriffen auf dieser Bahn leichter und sicherer als auf irgendeiner andern, und unter allem, was klar ist, kann jetzt klarer nichts sein als die Klarheit des Grundsatzes: die Kenntnis der Wahrheit geht bei dem Menschen von der Kenntnis seiner selbst aus.

Freund! So wirbelten sich die lebendigen, aber dunkeln Ideen von den Elementen des Unterrichts lange in meiner Seele, und so schilderte ich sie in meinem Berichte, ohne daß ich auch damals noch einen lückenlosen Zusammenhang zwischen ihnen und den Gesetzen des physischen Mechanismus entdecken konnte, und ohne daß ich imstande war, die Anfangspunkte mit Sicherheit zu bestimmen, von denen die Reihenfolgen unserer Kunstansichten oder vielmehr die Form ausgehen sollte, in welcher es möglich wäre, die Ausbildung der Menschheit durch das Wesen ihrer Natur selber zu bestimmen, bis endlich, und das noch vor kurzem, wie ein Deus ex machina der Gedanke: die Mittel der Verdeutlichung aller unserer Anschauungserkenntnisse gehen von Zahl, Form und Sprache aus – mir plötzlich über das, was ich suchte, ein neues Licht zu geben schien.

Ich warf einmal im langen Streben nach meinem Ziele oder vielmehr im schweifenden Herumträumen über diesen Gegenstand mein Augenmerk ganz einfach auf die Art und Weise, wie sich ein gebildeter Mensch in jedem einzelnen Falle benimmt und benehmen muß, wenn er irgendeinen Gegenstand, der ihm verwirrt und dunkel vor Augen gebracht wird, gehörig auseinandersetzen und sich allmählich klarmachen will.

Er wird in diesem Fall allemal sein Augenmerk auf folgende drei Gesichtspunkte werfen und werfen müssen:

  1. Wieviel und wievielerlei Gegenstände vor seinen Augen schweben;
  2. wie sie aussehen; was ihre Form und ihr Umriß sei;
  3. wie sie heißen; wie er sich einen jeden durch einen Laut, durch ein Wort vergegenwärtigen könne.

Der Erfolg dieses Tuns aber setzt bei einem solchen Mann offenbar folgende gebildete Kräfte voraus:

  1. Die Kraft, ungleiche Gegenstände der Form nach ins Aug zu fassen und sich ihren Inhalt zu vergegenwärtigen.
  2. Diejenige, diese Gegenstände der Zahl nach zu sondern und sich als Einheit oder als Vielheit bestimmt zu vergegenwärtigen.
  3. Diejenige, um sich die Vergegenwärtigung eines Gegenstandes nach Zahl und Form durch die Sprache zu verdoppeln und unvergeßlich zu machen.

Ich urteilte also: Zahl, Form und Sprache sind gemeinsam die Elementarmittel des Unterrichts, indem sich die ganze Summe aller äußern Eigenschaften eines Gegenstandes im Kreise seines Umrisses und im Verhältnis seiner Zahl vereinigen und durch Sprache meinem Bewußtsein eigen gemacht werden. Die Kunst muß es also zum unwandelbaren Gesetz ihrer Bildung machen, von diesem dreifachen Fundamente auszugehen und dahin zu wirken:

  1. Die Kinder zu lehren, jeden Gegenstand, der ihnen zum Bewußtsein gebracht ist, als Einheit, d. i. von denen gesondert, mit denen er verbunden scheint, ins Auge zu fassen.
  2. Sie die Form eines jeden Gegenstandes, d. i. sein Maß und sein Verhältnis kennen zu lehren.
  3. Sie so früh als möglich mit dem ganzen Umfang der Worte und Namen aller von ihnen erkannten Gegenstände bekannt zu machen.

Und so wie der Kinderunterricht von diesen drei Elementarpunkten ausgehen soll, so ist hinwieder offenbar, daß die ersten Bemühungen der Kunst dahin gerichtet sein müssen, die Grundkräfte des Zählens, Messens und Redens, deren gute Beschaffenheit der richtigen Erkenntnis aller Anschauungsgegenstände zum Grunde liegen, mit der höchsten psychologischen Kunst zu bilden, zu stärken und kraftvoll zu machen und folglich die Mittel der Entfaltung und Bildung dieser drei Kräfte zur höchsten Einfachheit, zur höchsten Konsequenz und zur höchsten Übereinstimmung unter sich selbst zu bringen.

Die einzige Schwierigkeit, die mir bei der Anerkennung dieser drei Elementarpunkte noch auffiel, war die Frage: warum sind alle Beschaffenheiten der Dinge, welche uns durch die fünf Sinne bekannt werden, nicht ebenso Elementarpunkte unserer Erkenntnis wie Zahl, Form und Namen? Aber ich fand bald: alle mögliche Gegenstände haben unbedingt Zahl, Form und Namen, die übrigen Eigenschaften aber, die durch die fünf Sinne erkannt werden, besitzt kein Gegenstand so mit allen andern gemein, sondern nur mit dem einen diese, mit dem andern jene. Ich fand also zwischen Zahl, Form und Namen aller Dinge und ihren übrigen Beschaffenheiten einen wesentlichen und bestimmt den Unterschied, daß ich keine anderen Beschaffenheiten der Dinge als Elementarpunkte der menschlichen Erkenntnis ansehen konnte; hingegen fand ich ebenso bald bestimmt, daß alle übrigen Beschaffenheiten der Dinge, die durch unsere fünf Sinne erkannt werden, sich unmittelbar an diese Elementarpunkte der menschlichen Erkenntnisse anschließen lassen; daß folglich beim Unterrichte der Kinder die Kenntnis aller übrigen Qualitäten der Gegenstände an die Vorkenntnis von Form, Zahl und Namen unmittelbar angekettet werden müsse. Ich sah jetzt, durch das Bewußtsein von der Einheit, Form und Namen eines Gegenstandes wird meine Erkenntnis von ihm eine bestimmte Erkenntnis; durch allmähliche Erkenntnis aller seiner übrigen Eigenschaften wird sie in mir eine klare Erkenntnis; durch das Bewußtsein des Zusammenhangs aller seiner Kennzeichen wird sie eine deutliche Erkenntnis.

Und nun ging ich weiter und fand, daß unsere ganze Erkenntnis aus drei Elementarkräften entquillt.

  1. Aus der Schallkraft, aus der die Sprachfähigkeit entspringt;
  2. aus der unbestimmten, bloß sinnlichen Vorstellungskraft, aus welcher das Bewußtsein aller Formen entspringt;
  3. aus der bestimmten, nicht mehr bloß sinnlichen Vorstellungskraft, aus welcher das Bewußtsein der Einheit und mit ihr die Zählungs- und Rechnungsfähigkeit hergeleitet werden muß.

Ich urteilte also, die Kunstbildung unseres Geschlechts müsse an die ersten und einfachsten Resultate dieser drei Grundkräfte, an Schall, Form und Zahl angekettet werden, und der Unterricht über einzelne Teile könne und werde niemals zu einem unsere Natur in ihrem ganzen Umfange befriedigenden Erfolge hinlenken, wenn diese drei einfachen Resultate unserer Grundkräfte nicht als die gemeinsamen, von der Natur selbst anerkannten Anfangspunkte alles Unterrichts anerkannt und im Gefolg dieser Anerkennung in Formen eingelenkt werden, die allgemein und harmonisch von den ersten Resultaten dieser drei Elementarkräfte unserer Natur ausgehen und wesentlich und sicher dahin wirken, den Fortschritt des Unterrichts bis zu seiner Vollendung in die Schranken einer lückenlosen, diese Elementarkräfte gemeinsam und im Gleichgewichte beschäftigenden Progression zu lenken, als wodurch es wesentlich und allein möglich gemacht wird, uns in allen diesen drei Fächern gleichförmig von dunkeln Anschauungen zu bestimmten, von bestimmten Anschauungen zu klaren Vorstellungen und von klaren Vorstellungen zu deutlichen Begriffen zu führen.

Dadurch finde ich denn endlich die Kunst mit der Natur oder vielmehr mit der Urform, womit uns diese die Gegenstände der Welt allgemein verdeutlicht, wesentlich und innigst vereinigt, und hiemit das Problem: einen allgemeinen Ursprung aller Kunstmittel des Unterrichtes und mit ihm die Form aufzufinden, in welcher die Ausbildung unsers Geschlechts durch das Wesen unserer Natur selber bestimmt werden könnte, aufgelöst und die Schwierigkeiten gehoben, die mechanischen Gesetze, die ich für die Fundamente des menschlichen Unterrichts anerkenne, auf die Unterrichtsform, welche die Erfahrung von Jahrtausenden dem Menschengeschlechte zur Entwicklung seiner selbst an die Hand gegeben, auf Schreiben, Rechnen, Lesen usw. anzuwenden.


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