Johann Heinrich Pestalozzi
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Johann Heinrich Pestalozzi

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IX.

Freund! Wenn ich jetzt zurücksehe und mich frage: Was habe ich denn eigentlich für das Wesen des menschlichen Unterrichts geleistet? – so finde ich: ich habe den höchsten, obersten Grundsatz des Unterrichts in der Anerkennung der Anschauung als dem absoluten Fundament aller Erkenntnis festgesetzt und mit Beseitigung aller einzelnen Lehren das Wesen der Lehre selbst und die Urform aufzufinden gesucht, durch welche die Ausbildung unsers Geschlechts durch die Natur selber bestimmt werden muß. Ich finde, daß ich das Ganze alles Unterrichts auf drei Elementarmittel zurückgeführt und die speziellen Mittel ausgeforscht habe, durch die es möglich gemacht werden konnte, die Resultate alles Unterrichts in diesen drei Fächern zur bestimmtesten Notwendigkeit zu erheben.

Ich finde endlich, daß ich diese drei Elementarmittel unter sich selbst in Harmonie gebracht und den Unterricht dadurch nicht nur vielseitiger und in allen drei Fächern mit sich selbst, sondern auch mit der menschlichen Natur übereinstimmend gemacht und dem Gange der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechtes an sich selbst näher gebracht.

Indem ich aber dieses tat, habe ich, ich konnte nicht anders, zugleich gefunden, daß das Unterrichtswesen unsers Weltteils, wie es jetzt öffentlich, allgemein für das Volk betrieben wird, die Anschauung ganz und gar nicht als den obersten Grundsatz des Unterrichts anerkennt, daß dasselbe von der Urform, inner welcher die Ausbildung unsers Geschlechts durch das Wesen unsrer Natur selber bestimmt wird, durchaus nicht die nötige Kunde nimmt; daß es vielmehr das Wesen aller Lehre dem Wirrwarr isolierter, einzelner Lehren aufopfert und mit Auftischung aller Arten von Brockenwahrheiten den Geist der Wahrheit selber tötet und die Kraft der Selbständigkeit, die auf ihr ruhet, im Menschengeschlecht auslöscht. Ich habe gefunden, und es lag mir offen am Tage, daß dieses Unterrichtswesen seine einzelne Mittel weder auf Elementargrundsätze noch auf Elementarformen zurückführt, daß es vielmehr durch Vernachlässigung der Anschauung als des absoluten Fundaments aller Erkenntnis sich selber außerstand setzt, durch irgendeines seiner Brockenmittel weder den Zweck des Unterrichts, deutliche Begriffe zu erzielen, noch auch die beschränkteren Resultate, die es selber bezweckt, zur unbedingten Notwendigkeit zu erheben.

Dieser bestimmte Zustand, in welchem unterrichtshalber in Europa wenigstens zehn Menschen gegen einen sich befinden, sowie der bestimmte Zustand des Unterrichts selber, den sie genießen, scheint beim ersten Anblick des Gegenstandes unglaublich; er ist aber nicht bloß historisch richtigSelbst der gute, schonende und das Positive im Zustande der Welt wie niemand verehrende Lavater kannte und gestand ein. Er antwortete auf die Anfrage, weiche einfache Elementarmittel für die Kunst, und besonders um die Anschauung aller Dinge zu berichtigen, an die Hand zu bringen, möglich sein: Er kenne keine, und es übersteige allen Glauben, wie fundamentlos die europäische Kunstbildung sei.

P.

, er ist auch psychologisch notwendig; es konnte nicht anders kommen, Europa mußte seines Volksunterrichts wegen in den Irrtum oder vielmehr in den Wahnsinn sinken, dem es wirklich unterlag. Es erhob sich auf der einen Seite zu einer riesenmäßigen Höhe einzelner Kenntnisse und Künste und verlor auf der andern Seite alle Fundamente der Naturführung für sein ganzes Geschlecht. So hoch stand auf der einen Seite noch kein Weltteil, aber auch so tief ist auf der andern Seite noch keiner versunken; er grenzt mit dem goldenen Haupt seiner einzelnen Kenntnisse und Künste wie das Bild des Propheten bis an die Wolken; aber der Volksunterricht, der das Fundament dieses goldenen Kopfes sein sollte, ist dagegen allenthalben, wie die Füße dieses gigantischen Bildes, der elendeste, zerbrechlichste, nichtswürdigste Kot. Dieses für den menschlichen Geist zerstörende Mißverhältnis zwischen den Vorzügen des obersten und den Elendigkeiten des untersten oder vielmehr der Anfangspunkt, von dem dieses stoßende Mißverhältnis der Kultur unsers Weltteils sich herschreibt, ist die Erfindung der Buchdruckerkunst. Der Weltteil ist in seinem ersten Erstaunen über ihren so neuen als unermeßlichen Einfluß auf die Erleichterung der Wortkenntnisse mit einer Art von Schwindel- und Scharlatan-Vertrauen über die Allgemeinheit seiner Wirkung befallen worden. Das war in den ersten Menschenaltern nach dieser Erfindung natürlich; aber daß der Weltteil nach so vielen Jahrhunderten und noch jetzt in diesem Schwindel lebt und ihn zu einem Leib und Geist zerstörenden Nervenfieber hat anwachsen lassen, ohne daß er sich krank fühlt, das hätte freilich keinem Weltteil begegnen können als unserm. – Es braucht aber auch einen Nebeneinfluß von einwirkenden Kapuziner-, Feudal-, Jesuiten- und Kabinett-Systemen, um durch diese Kunst einen Erfolg hervorzubringen, den sie in Europa hatte. Aber mit diesen Nebenumständen ist es dann freilich nicht nur begreiflich, wie sie dahin gekommen, endlich einen positiven Zustand unsrer Künste und einen positiven Zustand des Volksunterrichts nebeneinanderzustellen, wie sie beide nebeneinandergestellt hat, sondern es ist sogar heiter, daß sie unter gegebenen Umständen keine geringere Kunst, aber auch keinen bessern Unterricht hat hervorbringen können, als sie wirklich hervorgebracht hat. Es ist ganz heiter, wie sie dahin hat kommen müssen, dem Weltteil seine fünf Sinne ohne Maß zu verengen und besonders das allgemeinere Werkzeug der Anschauung, die Augen, auf das vergötterte Heiligtum der neuen Erkenntnis, auf die Buchstaben und Bücher so einzuschränken, daß ich bald sagen möchte, sie hat dahin kommen müssen, dieses allgemeinere Werkzeug unserer Erkenntnis zu bloßen Buchstabenaugen und uns selbst zu bloßen Buchstabenmenschen zu machen. Die Reformation hat bei der Abschwächung ihres eigenen Geistes und bei der daraus notwendig erfolgten Vergötterung ihrer toten Formen und Meinungen vollendet, was die Buchdruckerkunst angefangen, indem sie, ohne der öffentlichen Dummheit einer Mönchs- und Feudalwelt wirklich genugsam ans Herz zu greifen, ihr den Mund noch allgemein über Abstraktionsbegriffe geöffnet, die die innere Verhärtung der Welt im Buchstabenwesen noch vergrößerte und auf den Punkt brachte, daß die Irrtümer dieses Zustandes sich nicht durch den Vorschritt der Wahrheit, der Liebe und des Glaubens auflösten, sondern im Gegenteil durch noch gefährlichere Irrtümer des Unglaubens, der Lieblosigkeit und der Rechtlosigkeit noch verstärkten, indem sie sich aufzulösen schienen.

Wie ein verheerender Strom, wenn er von einem eingestürzten Berg in seinem Lauf aufgehalten, eine neue Richtung nimmt und seine Verheerung von Jahren zu Jahren, von Menschenaltern zu Menschenaltern ausdehnt, also hat die europäische Volkskultur, nachdem sie einmal durch die vereinigte Wirkung dieser zwei sich selbst und dem sinnlichen Naturgang ihrer Folgen überlassenen Hauptereignisse das ebene Beet der Anschauung verlassen und eine allgemeine, fundamentlose Träumerrichtung genommen, ihre Menschenverheerung von Jahr zu Jahr und von Menschenalter zu Menschenalter weiter getrieben, bis sie uns endlich nach Jahrhunderten auf diesen Wegen zur Vollendung der allgemeinen Zungendrescherei unsers Wissens und durch diese zur Zungendrescherei des Unglaubens hingebracht, dessen tiefes Wort- und Traumverderben wahrlich auf keinen Fall geeignet ist, uns zur stillen Weisheit des Glaubens und der Liebe, sondern im Gegenteil zur Zungendrescherei des Schein- und Aberglaubens und seiner Lieblosigkeit und Verhärtung hinzuführen. Auf jeden Fall ist unwidersprechlich, daß das alles verschlingende Wort- und Bücherwesen unsrer Zeitkultur es dahin gebracht, daß wir es in keinem Stück mehr ausstehen mögen, länger zu bleiben, was wir sind.

Es konnte nicht anders kommen; da wir uns so lange durch eine so tief angelegte Kunst und durch noch tiefer angelegte Unterstützungsmittel unsrer Verirrungen dahin organisierten, unsern Erkenntnis- und Unterrichtsmitteln allgemein alle Anschauung und uns selbst alle Anschauungskraft zu rauben, so konnte der vergoldete Schwindelkopf unsrer Kultur unmöglich auf andere Füße zu stehen kommen, als diejenigen sind, auf denen er wirklich steht; es war anders unmöglich. Die angetriebenen Brockenmittel unsrer Kultur konnten in keinem ihrer Fächer den eigentlichen Zweck des öffentlichen Unterrichts, deutliche Begriffe und vollendete Fertigkeiten in dem, was dem Volk in allen diesen Fächern zu kennen und zu wissen wesentlich notwendig ist, erzielen. Auch die besten dieser Mittel, der Überfluß an arithmetischen, mathematischen und grammatikalischen Hilfsmitteln mußten unter diesen Umständen ihre Kraft verlieren, indem sie gänzlich ohne ähnliche Kunstmittel für das Fundament alles Unterrichts, die Anschauung, gelassen wurden; und so mußten auch diese, dem allgemeinen Fundament unsrer Erkenntnis, der Anschauung, nicht genug untergeordneten Unterrichtsmittel in Wort, Zahl und Form unser Zeitgeschlecht notwendig dahin verleiten, bloß oberflächlich, zwecklos und umgeben mit Abgründen des Irrtums und der Täuschung, in diesen Unterrichtsmitteln einseitig zu künsteln und uns durch diese Verkünstlung in unsern innersten Kräften zu schwächen, als diese Kräfte in uns selber zu stärken und zu bilden; wir wurden dadurch notwendig und vermöge eben der Kräfte und eben des Organismus, durch den uns die Kunst an der Hand der Natur zur Wahrheit und Weisheit erheben kann, zu Lügen und zur Torheit erniedriget und zu elenden, kraft- und anschauungslosen Wort- und Maulmenschen gestempelt.

Selber die Anschauungserkenntnisse unsers Standes und unserer Berufe, die uns auch bei aller Torheit unsers also durch Verkünstlung erniedrigten Benehmens noch übrig blieben, weil es keinem Irrtum der Kunst möglich ist, diese dem Menschengeschlechte jemals ganz zu entreißen, wurden in uns isoliert und dadurch einseitig, illusorisch, egoistisch und illiberal gemacht. Wir mußten, wir konnten bei einer solchen Führung nicht anders als für alle Wahrheit, die außer dem Kreise unsrer beschränkten und ungebildeten Anschauung lag, unempfänglich und gegen alles, was dieser einseitigen, illiberalen Anschauungsweise entgegen war, empört werden; wir mußten, wir konnten in diesem Zustande nicht anders als von Menschenalter zu Menschenalter in der Unnatürlichkeit unsrer Beschränkung und in der daraus entsprungenen Engherzigkeit, Selbstsucht, rechtlosen und rangsüchtigen Gewalttätigkeit, in der wir uns jetzt sehen, immer tiefer versinken.

So, lieber Geßner! und auf keine andere Weise erklärt es sich, wie wir im Laufe des verflossenen Jahrhunderts, das die Täuschung dieses Zustandes mit seinem letzten Viertel auf seine oberste Höhe getrieben, allgemein in den Träumer- oder vielmehr in den Rasereizustand einer fundamentlosen, aber wütenden Anmaßungssucht versunken, in der wir unsere also vereinzelten Wahrheitsansichten und Rechtsansprüche noch durch das gewaltsamste Regemachen unsrer wilden und blinden Naturgefühle uns selber vergifteten und dann dadurch von so vielen Seiten und auf so vielen Wegen zu einem vielköpfigen und uns untereinander allgemein befehlenden Geist des Sansculottismus herabsinken mußten, der die innere Desorganisation aller reinern Naturgefühle und aller auf ihnen ruhenden Humanitätsmittel und sogar die Auflösung aller Humanität in den Staatsformen selber zur unausweichlichen Folge hatte und haben mußte, welche dann später freilich auch die Auflösung einiger nicht humaner Staatsformen, aber auch dieses leider nicht zum Vorteil der Humanität bewirkte.

Das lieber Freund! ist die Skizze meiner Ansicht der neuesten Begebenheiten. So erkläre ich mir beides, die Robespierre'schen und die Pitt'schen Maßregeln; so das Benehmen der Räte und so das Benehmen des Volks. Und bei jeder einzelnen Ansicht komme ich auf die Behauptung zurück: daß die Lücken des europäischen Unterrichts oder vielmehr das künstliche Auf-den-Kopf-Stellen aller natürlichen Ansicht desselben diesen Weltteil dahin gebracht hat, wo er jetzt liegt, und daß kein Mittel gegen unsre schon geschehene und noch zu erwartende bürgerliche, sittliche und religiöse Überwälzungen möglich sei als die Rücklenkung von der Oberflächlichkeit, Lückenhaftigkeit und Schwindelköpferei unseres Volksunterrichtes zur Anerkennung, daß die Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntnis sei, mit andern Worten, daß jede Erkenntnis von der Anschauung ausgehen und auf sie müsse zurückgeführt werden können.


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