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Freund! Wenn ich jetzt zurücksehe und mich frage: Was habe ich denn eigentlich für das Wesen des menschlichen Unterrichts geleistet? – so finde ich: ich habe den höchsten, obersten Grundsatz des Unterrichts in der Anerkennung der Anschauung als dem absoluten Fundament aller Erkenntnis festgesetzt und mit Beseitigung aller einzelnen Lehren das Wesen der Lehre selbst und die Urform aufzufinden gesucht, durch welche die Ausbildung unsers Geschlechts durch die Natur selber bestimmt werden muß. Ich finde, daß ich das Ganze alles Unterrichts auf drei Elementarmittel zurückgeführt und die speziellen Mittel ausgeforscht habe, durch die es möglich gemacht werden konnte, die Resultate alles Unterrichts in diesen drei Fächern zur bestimmtesten Notwendigkeit zu erheben.
Ich finde endlich, daß ich diese drei Elementarmittel unter sich selbst in Harmonie gebracht und den Unterricht dadurch nicht nur vielseitiger und in allen drei Fächern mit sich selbst, sondern auch mit der menschlichen Natur übereinstimmend gemacht und dem Gange der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechtes an sich selbst näher gebracht.
Indem ich aber dieses tat, habe ich, ich konnte nicht anders, zugleich gefunden, daß das Unterrichtswesen unsers Weltteils, wie es jetzt öffentlich, allgemein für das Volk betrieben wird, die Anschauung ganz und gar nicht als den obersten Grundsatz des Unterrichts anerkennt, daß dasselbe von der Urform, inner welcher die Ausbildung unsers Geschlechts durch das Wesen unsrer Natur selber bestimmt wird, durchaus nicht die nötige Kunde nimmt; daß es vielmehr das Wesen aller Lehre dem Wirrwarr isolierter, einzelner Lehren aufopfert und mit Auftischung aller Arten von Brockenwahrheiten den Geist der Wahrheit selber tötet und die Kraft der Selbständigkeit, die auf ihr ruhet, im Menschengeschlecht auslöscht. Ich habe gefunden, und es lag mir offen am Tage, daß dieses Unterrichtswesen seine einzelne Mittel weder auf Elementargrundsätze noch auf Elementarformen zurückführt, daß es vielmehr durch Vernachlässigung der Anschauung als des absoluten Fundaments aller Erkenntnis sich selber außerstand setzt, durch irgendeines seiner Brockenmittel weder den Zweck des Unterrichts, deutliche Begriffe zu erzielen, noch auch die beschränkteren Resultate, die es selber bezweckt, zur unbedingten Notwendigkeit zu erheben.
Dieser bestimmte Zustand, in welchem unterrichtshalber in Europa wenigstens zehn Menschen gegen einen sich befinden, sowie der bestimmte Zustand des Unterrichts selber, den sie genießen, scheint beim ersten Anblick des Gegenstandes unglaublich; er ist aber nicht bloß historisch richtigSelbst der gute, schonende und das Positive im Zustande der Welt wie niemand verehrende Lavater kannte und gestand ein. Er antwortete auf die Anfrage, weiche einfache Elementarmittel für die Kunst, und besonders um die Anschauung aller Dinge zu berichtigen, an die Hand zu bringen, möglich sein: Er kenne keine, und es übersteige allen Glauben, wie fundamentlos die europäische Kunstbildung sei.
P.
Wie ein verheerender Strom, wenn er von einem eingestürzten Berg in seinem Lauf aufgehalten, eine neue Richtung nimmt und seine Verheerung von Jahren zu Jahren, von Menschenaltern zu Menschenaltern ausdehnt, also hat die europäische Volkskultur, nachdem sie einmal durch die vereinigte Wirkung dieser zwei sich selbst und dem sinnlichen Naturgang ihrer Folgen überlassenen Hauptereignisse das ebene Beet der Anschauung verlassen und eine allgemeine, fundamentlose Träumerrichtung genommen, ihre Menschenverheerung von Jahr zu Jahr und von Menschenalter zu Menschenalter weiter getrieben, bis sie uns endlich nach Jahrhunderten auf diesen Wegen zur Vollendung der allgemeinen Zungendrescherei unsers Wissens und durch diese zur Zungendrescherei des Unglaubens hingebracht, dessen tiefes Wort- und Traumverderben wahrlich auf keinen Fall geeignet ist, uns zur stillen Weisheit des Glaubens und der Liebe, sondern im Gegenteil zur Zungendrescherei des Schein- und Aberglaubens und seiner Lieblosigkeit und Verhärtung hinzuführen. Auf jeden Fall ist unwidersprechlich, daß das alles verschlingende Wort- und Bücherwesen unsrer Zeitkultur es dahin gebracht, daß wir es in keinem Stück mehr ausstehen mögen, länger zu bleiben, was wir sind.
Es konnte nicht anders kommen; da wir uns so lange durch eine so tief angelegte Kunst und durch noch tiefer angelegte Unterstützungsmittel unsrer Verirrungen dahin organisierten, unsern Erkenntnis- und Unterrichtsmitteln allgemein alle Anschauung und uns selbst alle Anschauungskraft zu rauben, so konnte der vergoldete Schwindelkopf unsrer Kultur unmöglich auf andere Füße zu stehen kommen, als diejenigen sind, auf denen er wirklich steht; es war anders unmöglich. Die angetriebenen Brockenmittel unsrer Kultur konnten in keinem ihrer Fächer den eigentlichen Zweck des öffentlichen Unterrichts, deutliche Begriffe und vollendete Fertigkeiten in dem, was dem Volk in allen diesen Fächern zu kennen und zu wissen wesentlich notwendig ist, erzielen. Auch die besten dieser Mittel, der Überfluß an arithmetischen, mathematischen und grammatikalischen Hilfsmitteln mußten unter diesen Umständen ihre Kraft verlieren, indem sie gänzlich ohne ähnliche Kunstmittel für das Fundament alles Unterrichts, die Anschauung, gelassen wurden; und so mußten auch diese, dem allgemeinen Fundament unsrer Erkenntnis, der Anschauung, nicht genug untergeordneten Unterrichtsmittel in Wort, Zahl und Form unser Zeitgeschlecht notwendig dahin verleiten, bloß oberflächlich, zwecklos und umgeben mit Abgründen des Irrtums und der Täuschung, in diesen Unterrichtsmitteln einseitig zu künsteln und uns durch diese Verkünstlung in unsern innersten Kräften zu schwächen, als diese Kräfte in uns selber zu stärken und zu bilden; wir wurden dadurch notwendig und vermöge eben der Kräfte und eben des Organismus, durch den uns die Kunst an der Hand der Natur zur Wahrheit und Weisheit erheben kann, zu Lügen und zur Torheit erniedriget und zu elenden, kraft- und anschauungslosen Wort- und Maulmenschen gestempelt.
Selber die Anschauungserkenntnisse unsers Standes und unserer Berufe, die uns auch bei aller Torheit unsers also durch Verkünstlung erniedrigten Benehmens noch übrig blieben, weil es keinem Irrtum der Kunst möglich ist, diese dem Menschengeschlechte jemals ganz zu entreißen, wurden in uns isoliert und dadurch einseitig, illusorisch, egoistisch und illiberal gemacht. Wir mußten, wir konnten bei einer solchen Führung nicht anders als für alle Wahrheit, die außer dem Kreise unsrer beschränkten und ungebildeten Anschauung lag, unempfänglich und gegen alles, was dieser einseitigen, illiberalen Anschauungsweise entgegen war, empört werden; wir mußten, wir konnten in diesem Zustande nicht anders als von Menschenalter zu Menschenalter in der Unnatürlichkeit unsrer Beschränkung und in der daraus entsprungenen Engherzigkeit, Selbstsucht, rechtlosen und rangsüchtigen Gewalttätigkeit, in der wir uns jetzt sehen, immer tiefer versinken.
So, lieber Geßner! und auf keine andere Weise erklärt es sich, wie wir im Laufe des verflossenen Jahrhunderts, das die Täuschung dieses Zustandes mit seinem letzten Viertel auf seine oberste Höhe getrieben, allgemein in den Träumer- oder vielmehr in den Rasereizustand einer fundamentlosen, aber wütenden Anmaßungssucht versunken, in der wir unsere also vereinzelten Wahrheitsansichten und Rechtsansprüche noch durch das gewaltsamste Regemachen unsrer wilden und blinden Naturgefühle uns selber vergifteten und dann dadurch von so vielen Seiten und auf so vielen Wegen zu einem vielköpfigen und uns untereinander allgemein befehlenden Geist des Sansculottismus herabsinken mußten, der die innere Desorganisation aller reinern Naturgefühle und aller auf ihnen ruhenden Humanitätsmittel und sogar die Auflösung aller Humanität in den Staatsformen selber zur unausweichlichen Folge hatte und haben mußte, welche dann später freilich auch die Auflösung einiger nicht humaner Staatsformen, aber auch dieses leider nicht zum Vorteil der Humanität bewirkte.
Das lieber Freund! ist die Skizze meiner Ansicht der neuesten Begebenheiten. So erkläre ich mir beides, die Robespierre'schen und die Pitt'schen Maßregeln; so das Benehmen der Räte und so das Benehmen des Volks. Und bei jeder einzelnen Ansicht komme ich auf die Behauptung zurück: daß die Lücken des europäischen Unterrichts oder vielmehr das künstliche Auf-den-Kopf-Stellen aller natürlichen Ansicht desselben diesen Weltteil dahin gebracht hat, wo er jetzt liegt, und daß kein Mittel gegen unsre schon geschehene und noch zu erwartende bürgerliche, sittliche und religiöse Überwälzungen möglich sei als die Rücklenkung von der Oberflächlichkeit, Lückenhaftigkeit und Schwindelköpferei unseres Volksunterrichtes zur Anerkennung, daß die Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntnis sei, mit andern Worten, daß jede Erkenntnis von der Anschauung ausgehen und auf sie müsse zurückgeführt werden können.