Johann Heinrich Pestalozzi
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Johann Heinrich Pestalozzi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Du hast nun Toblers und Krüsis Ansicht über meinen Gegenstand gelesen, jetzt sende ich dir noch die von Buß. Du weißt mein Urteil über die vergrabenen Kräfte in den untern Ständen. Welch ein Beleg ist Buß zu dieser Meinung! Was ist aus diesem Mann in sechs Monaten geworden! Zeige Wieland seinen Versuch zu einem Abc der Anschauung. Ich weiß, wie er sich für alles interessiert, was über den Gang der Entwicklung des Menschengeschlechts Licht gibt; er wird in diesem Versuch ganz gewiß einen auffallenden Beleg finden, wie vielseitig verwahrloste und weggeworfene Kräfte durch leichte Handbietung und Belebung benutzt und erhoben werden können.

Lieber Freund! Die Welt ist voll brauchbarer Menschen, aber leer an Leuten, die den brauchbaren Mann anstellen. In unserm Zeitalter verengert jeder seine Idee von der menschlichen Brauchbarkeit gern innerhalb seiner eigenen Haut oder dehnt sie höchstens über Menschen aus, die ihm so nahe liegen als sein Hemd.

Lieber Freund! Im Ernst, denk dir diese drei Männer, und was ich mit ihnen ausrichte. Ich wollte, du kenntest sie und ihren Lebensgang etwas ausführlicher. Buß sagt dir auf meine Bitten selbst etwas davon.

Toblers erste Erziehung war gänzliche Vernachlässigung. Im zweiundzwanzigsten Jahre fand er sich plötzlich wie durch ein Wunder in wissenschaftliche Systeme und besonders in das Erziehungsfach hineingeworfen. Er glaubte, sie zu verschlingen; aber jetzt sieht er – sie verschlangen ihn und brachten beim Vollgefühl der Unzulänglichkeit seiner Unterrichtsmittel ihn dennoch dahin, vertrauensvoll den Bücherweg zu befolgen, ohne sich den Weg der Anschauung, dessen Bedürfnis er ahnete, durch die Natur selbst zu bahnen. Er sieht die Gefahr, in der er war, sich in einem Meere von tausend und tausend einzeln vernünftigen Sachen zu verlieren, ohne jemals für Erziehung noch für Schulbildung Fundamente zu finden, deren Resultate nicht vernünftige Worte und vernünftige Bücher, sondern durch die gebildete Kraft der Vernunft vernünftige Menschen sein sollten, und er bedauert, daß er nicht in seinem zweiundzwanzigsten Jahre, wo der Bücherfleiß noch nicht einmal angefangen hatte an seiner Naturkraft zu nagen, die Bahn schon gefunden hat, die er jetzt im dreißigsten Jahre betritt. Er fühlt tief, was diese Zwischenepoche ihm geschadet, und es macht seinem Herzen und der Methode gleiche Ehre, daß er selbst sagt: unwissende und ununterrichtete Menschen haben es viel leichter, sich lückenlos an die Anfangspunkte derselben anzuketten und darin unverwirrt fortzuschreiten, als er. Indessen ist er seiner Überzeugung getreu, seine Talente sichern ihm seinen Gang. Wenn er sich durch die Schwierigkeiten der einfachen Anfänge durchgearbeitet haben wird, so werden diese und die Vorkenntnisse, die er damit verbindet, es ihm leicht machen, die Methode an die obern Punkte des Schulunterrichts anzuschließen, wozu wir bis jetzt noch nicht gekommen sind.

Krüsi kennst du und hast die Kraft gesehen, die er in seinem Fache zeigt. Sie ist außerordentlich. Wer ihn darin arbeiten sieht, erstaunt. Er besitzt in seinem Fache eine Selbständigkeit, die nur dem Manne nicht auffällt, der selbst keine hat, und doch war er, ehe er die Methode kannte außer seinem mechanischen Schulmeistertakte, in allen Fächern selbst weit hinter Buß zurück; und er sagt jetzt selbst: ohne Kenntnis der Methode hätte er es mit allem Streben nach Selbständigkeit nicht dahin gebracht, auf eigenen Füßen zu stehen, sondern wäre immer ein geleitetes und Leitung bedürfendes Unterwesen eines andern geblieben; und das ist so ganz wider seinen Appenzellergeist. Er hat einen Schulposten von 500 fl. ausgeschlagen und ist in der beschränktesten Lage seines jetzigen Verhältnisses geblieben, bloß, weil er dieses fühlte und einsah, daß er jetzt wohl Schulmeister, aber dann auch nie etwas anders und auch dieses nicht einmal für ihn befriedigend werden könnte. Es wundert dich nicht, wie er zu dieser Bestimmtheit gekommen ist; seine Einfachheit führte ihn dahin; er verlor sich ganz in der Methode; die Folgen sind natürlich, und es ist ganz wahr, was Tobler sagt: »sie war ihm genau darum leicht, weil er ohne Kunst war, und führte ihn bestimmt darum schnell, weil er nichts anders wußte, aber Kraft hatte.«

Freund! Habe ich nicht Ursache, auf die Erstlinge meiner Methode stolz zu sein? – Mögen die Menschen immer, wie du mir vor zwei Jahren sagtest, keinen Sinn für die einfachen, psychologischen Ideen haben, die ihr zum Grund liegen! Mögen nur ihre Früchte alle sein wie diese drei Erstlinge. Lies jetzt auch Buß' Ansicht und höre mich dann weiter.

»Mein Vater«, so erzählte Buß, »verwaltete im theologischen Stift in Tübingen einen Dienst und hatte darin freie Wohnung. Er schickte mich von meinem dritten bis ins dreizehnte Jahr in die lateinische Schule, wo ich lernte, was in diesem Alter darin gelehrt ward. Ich hielt mich in dieser Zeit außer der Schule meistens bei Studenten auf, die sich freuten, mit mir, einem äußerst muntern Knaben, ihr Spiel zu treiben. In meinem achten Jahr unterrichtete mich einer derselben im Klavierspielen; als er sich aber nach einem halben Jahre aus Tübingen entfernte, so hörte mein Unterricht darin auf, und ich war mir in diesem Fache ganz selbst überlassen. Stetes Anhalten und Angewöhnen zur Tätigkeit brachten mich bis in mein zwölftes Jahr so weit, selbst in diesem Fache einer Frau und einem Knaben mit dem besten Erfolg Unterricht geben zu können.

Im elften Jahre genoß ich auch den Unterricht im Zeichnen und setzte die Erlernung der griechischen und hebräischen Sprache, Logik und Rhetorik anhaltend fort. Der Zweck meiner Eltern war, mich den Studien zu widmen und zu dem Ende mich entweder der damals neu errichteten Akademie der schönen Künste und Wissenschaften in Stuttgart oder der Leitung der Professoren auf der Universität zu Tübingen zu übergeben.

In jene Akademie wurden bisher Menschen aus allen Ständen aufgenommen, teils gegen Bezahlung, teils auch unentgeltlich. Die Mittel meiner Eltern erlaubten es nicht, auch nur eine geringe Summe auf mich zu verwenden. Das Memorial wurde also in dieser Rücksicht auf eine unentgeltliche Aufnahme in die Akademie abgefaßt, kam aber mit abschlägiger Antwort, von Karl selbst unterzeichnet, wieder zurück. Dieses und die, soviel ich mich erinnere, fast gleichzeitige Bekanntmachung des Rescripts, das alle Söhne aus mittlerer und niederer Bürgerklasse von den Studien ausschloß, machte eine starke Wirkung auf mich. Meine jugendliche Munterkeit verlor sich jetzt plötzlich und mit ihr aller Mut für die Studien. Ich wandte meine Kräfte jetzt ganz ans Zeichnen; aber auch hierin wurde ich nach einem halben Jahre wieder unterbrochen, da mein Lehrer schlechter Handlungen wegen die Stadt verlassen mußte; und so war ich jetzt ohne alle Mittel und ohne Aussicht, mir selbst helfen zu können, und fand mich bald in der Notwendigkeit, mich in die Werkstätte eines Buchbinders aufdingen zu müssen.

Meine Stimmung war bis zur Gleichgültigkeit versunken. Ich nahm das Handwerk an, wie ich jedes andre angenommen hätte, um durch die Zerstreuung anhaltender Handarbeiten alles Andenken an meine Jugendträume in mir selbst auslöschen zu können. Ich konnte es nicht. Ich arbeitete, aber ich war unaussprechlich unbefriedigt und nährte heftige Gefühle wider das Unrecht einer Gewalt, die mich gegen die Gewohnheit der Vorzeit nur, weil ich aus den niedern Ständen war, von den Mitteln einer Bildung und von Hoffnungen und Aussichten ausschloß, die zu erreichen ich schon einen großen Teil meiner Jugendzeit verwandt hatte. Dennoch nährte ich mich mit der Hoffnung, mir durch mein Handwerk selbst Mittel anzubahnen, von der mich nicht befriedigenden Handarbeit wegzukommen und irgendwo nachzuholen, was ich notwendigerweise bei ihr verlieren mußte.

Ich machte Reisen; aber die Welt war mir zu eng. Ich wurde melancholisch, kränkelte, mußte wieder nach Hause, versuchte von neuem, meinem Berufe zu entsagen, und meinte, mit dem Wenigen von Musik, das ich noch konnte, in der Schweiz mein nötiges Auskommen zu finden.

Ich ging nach Basel und hoffte Gelegenheit zu finden, darin Unterricht geben zu können; aber meine vorige Lage brachte mir eine gewisse Schüchternheit bei, die mir alle ersten Schritte, die zum Geldverdienen führen, verdarb. Ich hatte nicht das Herz, von allem dem etwas zu sagen, was man sagen muß, um von den Leuten, wie sie sind, zu erhalten, was ich suchte. Ein Freund, der mich zufälligerweise in dieser Verlegenheit antraf, söhnte mich für den Augenblick mit meiner Buchbinderei aus; ich ging wieder in eine Werkstätte; aber träumte auch wieder von dem ersten Tage, an dem ich mich darin niedersetzte, von der Möglichkeit, mit Zeit und Gelegenheit etwas anderes für mich zu finden, ob ich gleich überzeugt war, daß ich in Musik und Zeichnen zu weit zurück sei, um mir dadurch eine sichere Selbständigkeit verschaffen zu können. Um Zeit zu gewinnen, mich hierin besser üben zu können, veränderte ich bald meinen ersten Platz, gewann dadurch wirklich zwei Stunden des Tages für mich und fand Bekanntschaften, die mir meine Übungen erleichterten.

Ich lernte unter andern auch Toblern kennen, der den Gram, der mich nagte, bald bemerkte und mich von meiner Lage loszureißen wünschte. Auch dachte er gerade an mich, als Krüsi zu ihm sagte, daß zu Pestalozzis neu zu organisierender Unterrichtsmethode ein Mensch erfordert würde, der Zeichnen und Musik verstünde.

Das Bewußtsein des Zurückstehens in meiner Bildung und in meinem Zeichnen und die Hoffnung, Gelegenheit zu finden, in beiden mich weiterbringen zu können, machten den Entschluß in mir reif, nach Burgdorf zu gehen, obschon ich von mehreren Leuten gewarnt wurde, in keine Verbindung mit Pestalozzi zu treten, indem er ein Halbnarr sei und niemals recht wisse, was er wolle»Ich finde natürlich, daß die öffentliche Äußerung dieses Teils meiner Ansicht unschicklich sei. Aber Pestalozzi wollte sie und forderte unbedingt freimütige Darstellung des Eindrucks, den er und alles auf mich gemacht habe.« . Man belegte diese Sage noch mit Verschiedenem: z. B. er sei einmal in mit Stroh gebundenen Schuhen nach Basel gekommen, weil er seine Schnallen einem Bettler vor dem Tore gegeben habe. Ich hatte Lienhard und Gertrud gelesen, glaubte also an die Schnallen, aber daß er ein Narr sei, das wollte mir nicht ein. Kurz – ich wollte es probieren. Ich kam nach Burgdorf. Seine erste Erscheinung ließ mich kaum staunen. Er kam mit ungebundenen Strümpfen, sichtbar staubig und wie durchaus zerstört mit Ziemssen, der eben auch ihn zu besuchen angekommen war, aus einem obern Zimmer zu mir herunter. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das ich in diesem Augenblick empfand; es näherte sich beinahe dem Mitleiden, das doch mit Erstaunen verbunden war. Pestalozzi – und was ich sah! – sein Wohlwollen, seine Freude über mich Unbekannten, seine Anmaßungslosigkeit, seine Einfachheit und die Zerstörung, in der er vor mir stand, alles riß mich in einem Augenblick hin. So sah ich noch keinen Menschen mein Herz suchen, aber so hat auch noch keiner mein Zutrauen gewonnen.

Am Morgen darauf kam ich in seine Schule und sah im Anfang wirklich nichts als eine anscheinende Unordnung und ein mir mißbehagendes Gewühl. Aber da die Wärme, mit welcher Ziemssen den Tag vorher von Pestalozzis Planen redete, meine Aufmerksamkeit schon zum voraus rege gemacht hatte, so setzte ich mich auch bald über diesen Eindruck hinaus, und es ging nicht lange, bis mir einige Vorzüge dieser Lehrart richtig auffielen. Doch glaubte ich im Anfang, das zu lange Verweilen auf einem Punkte halte die Kinder zu sehr auf; als ich aber die Vollkommenheit einsah, zu der er seine Kinder in den ersten Anfangspunkten ihrer Übungen brachte, erschien mir das Umherflattern und das Sprüngemachen, das mir der Unterrichtsgang meiner Jugend erlaubte, zum erstenmal in einem nachteiligen Lichte und erzeugte in mir den Gedanken, daß, wenn man mich in den ersten Anfangspunkten so lange und so fest angekettet hätte, ich dadurch in den Stand gekommen wäre, mir für das Weiterschreiten zu den höhern Punkten selbst helfen zu können und folglich mich aller Lebensübel und aller Melancholie zu überheben, in die ich mich jetzt gestürzt gesehen hatte.

Dieser Gedanke stimmt auch ganz mit Pestalozzis Grundsatz überein: die Menschen durch seine Methode dahin zu bringen, sich selbst helfen zu können, da ihnen, wie er sagt, auf Gottes Boden niemand hilft und niemand helfen kann. Es schauderte mir, als ich diese Stelle aus Lienhard und Gertrud das erstemal las. Aber es ist Erfahrung meines Lebens, daß dem Menschen auf Gottes Boden niemand hilft und niemand helfen kann, wenn er sich nicht selbst zu helfen vermag. Es war mir jetzt einleuchtend, die Lücken, die ich für meine Zwecke nicht ausfüllen konnte, hatten ihren Grund in der Kraftlosigkeit und Oberflächlichkeit, mit der ich das Kunstfach, in dem ich jetzt arbeiten sollte, erlernt, ohne daß ich mir in irgendetwas, das ich als von den Fundamenten der Kunst ausgehend erkannte, jemals dieser Fundamente selber bewußt war. Ich warf zwar meine Aufmerksamkeit mit Anstrengung auf das Fach, worin Pestalozzi jetzt Hilfe von mir suchte; aber doch konnte ich das Eigene seiner Ansicht im Zeichnen lange nicht begreifen und wußte im Anfang gar nicht, was er wollte, da er mir sagte: Linien, Winkel und Bogen seien das Fundament der Zeichenkunst. Um sich mir zu erklären, sagte er: der menschliche Geist müsse auch hierin von dunkeln Anschauungen zu deutlichen Begriffen erhoben werden. Aber ich konnte mir noch gar nicht vorstellen, wie dieses durch das Zeichnen geschehen sollte. Er sagte: dieses müsse durch die Abteilungen des Vierecks und des Bogens und durch die Sonderung ihrer Teile zu anschaubaren und vergleichbaren Einheiten erzielt werden. Ich versuchte diese Abteilungen und Vereinfachungen zu finden, aber ich kannte die Anfangspunkte des Einfachen nicht und fand mich bei meinen Bemühungen hierfür bald in einem Meere von einzelnen Figuren, die an sich zwar einfach waren, aber nichts weniger als die Regeln der Einfachheit, die Pestalozzi suchte, klar machten. Er konnte zum Unglück weder schreiben noch zeichnen, ob er gleich seine Kinder in beidem auf eine mir unbegreifliche Art weit gebracht hatte. Kurz – ich verstand ihn Monate nicht und wußte Monate nicht, was mit den Anfangslinien, die er mir vormalte, für seinen Zweck zu machen sei, bis ich endlich spürte, daß ich weniger wissen sollte, als ich wirklich wußte, oder wenigstens mein Wissen für einmal gleichsam aus mir selbst wegwerfen mußte, um auf die einfachen Punkte herabzusteigen, von denen ich jetzt wohl sah, daß sie seine Kraft waren, ob ich ihr gleich noch nicht folgen konnte. Es ward mir schwer. Endlich brachte mich die immer mehr gereifte Einsicht, wie weit es seine Kinder beim Ausharren auf seinen Anfangspunkten brachten, doch dahin, mit Gewalt in dem Innern meiner Ansicht der Gegenstände ganz auf diese Punkte herabzusteigen, von denen ich seine Kinder sich zu der Kraft erheben sah, die sie zeigten; sobald ich auf diesem Punkte stand, so war mein Versuch von einem Abc der Anschauung in ein paar Tagen vollendet.

Es stand da, und ich wußte noch nicht, was es war, aber die erste Anerkennung seines Wesens hatte auf mich die größte Wirkung. Ich wußte vorher nicht, daß die Kunst nur aus Linien bestehe.

Jetzt stand plötzlich alles, was ich sah, zwischen Linien, die ihren Umriß bestimmten. Ich hatte in meiner Vorstellung die Umrisse nie vom Gegenstand getrennt, jetzt rissen sie sich in meiner Einbildungskraft allgemein von ihm los und fielen in Ausmessungsformen, die jede Abweichung mir zwar haarscharf bestimmten; aber so wie ich im Anfang nur Gegenstände sah, sah ich jetzt nur Linien und glaubte, diese müßten mit den Kindern unbedingt und bis ans Ende ihres ganzen Umfangs zur Vollendung geübt werden, ehe man ihnen wirkliche Gegenstände zur Nachahmung oder auch nur zur Einsicht vorlegen dürfe. Aber Pestalozzi dachte diese Zeichnungsregeln in Verbindung mit seinem ganzen Zweck und in Verbindung mit der Natur, die keinen Teil der Kunst im menschlichen Geist getrennt stehen läßt. Er hatte zur Absicht, den Kindern von der Wiege auf eine gedoppelte Reihe von Figuren vorzulegen, teils im Buch für die erste Kindheit, teils in Belegen für seine Ausmessungsformen. Er wollte mit dem ersten der Natur nachhelfen und Sprach- und Sachkenntnis durch gereihete Darstellungen von der Natur selbst bei den Kindern so früh als möglich entwickeln und mit dem zweiten die Regeln der Kunst mit der Anschauung der Kunst vereinigen und das Bewußtsein der reinen Form und der Gegenstände, die darin paßten, durch ihre Nebeneinanderstellung im Geiste der Kinder gegenseitig unterstützen und endlich der Kunstkraft einen allmählichen, psychologischen Progressionsmarsch dadurch sichern, daß sie bei jeder Linie, die sie vollkommen zu zeichnen imstande sind, immediat auch Gegenstände der Anwendung finden, deren vollendet richtige Zeichnung wesentlich nichts anders als eine Wiederholung der Ausmessungsform, die ihnen geläufig war, sein sollte.

Ich fürchtete, die Kraft der Anschauung durch das Darlegen von Figuren bei den Kindern zu schwächen, aber Pestalozzi wollte keine unnatürliche Kraft, er sagte einmal: »Die Natur gibt dem Kinde keine Linien, sie gibt ihm nur Sachen, und die Linien müssen ihm nur darum gegeben werden, damit es die Sachen richtig anschaue, aber die Sachen müssen ihm nicht genommen werden, damit es die Linien allein sehe.« Und ein andermal kam er über die Gefahr der Wegwerfung der Natur um der Linien willen so in Eifer, daß er gerade heraussagte: »Bewahre mich Gott, um dieser Linien und um der ganzen Kunst willen den menschlichen Geist zu verschlingen und gegen die Anschauung der Natur zu verhärten, wie Götzenpriester ihn mit abergläubischen Lehren verschlingen und gegen die Anschauung der Natur verhärten.«

Ich merkte es endlich und fand im Plane beider Bücher völlige Übereinstimmung mit dem Gange der Natur und nur soviel Kunst, als notwendig ist, die Natur auf den menschlichen Geist also wirken zu machen, wie es die Entwicklung seiner Anlagen wesentlich erfordert.

Ich war vorher noch in einer Verlegenheit. Pestalozzi sagte mir, man müsse die Kinder diese Umrisse lesen lehren wie Worte und die einzelnen Abteilungen der Bögen und Winkel mit Buchstaben benennen, so daß ihre Zusammensetzung so deutlich ausgedrückt und auf Papier gebracht werden könne als irgendein Wort durch Zusammensetzung der Buchstaben. Diese Linien und Bögen sollten ein Abc der Anschauung und dadurch das Fundament einer Kunstsprache werden, durch die die Verschiedenheit aller Formen nicht bloß zum klarsten Bewußtsein gebracht, sondern sogar mit Worten haarscharf bestimmt werden könnte. Er ruhte nicht, bis ich ihn verstand. Ich sah, daß ich ihm Mühe machte; es tat mir leid, aber es war umsonst; ohne seine Geduld hätte es nichts aus unserm Abc der Anschauung gegeben.

Endlich gelang es. Ich fing mit dem Buchstaben A an; es war, was er wollte, und nun fiel eins aus dem andern, daß ich sozusagen keine Mühe mehr hatte. Die Sache war eigentlich in den vollendeten Zeichnungen schon fertig, aber die Schwierigkeit war, daß ich mich über das, was ich wirklich wußte, nicht einmal ausdrücken konnte und sogar die Ausdrücke anderer darüber nicht verstand.

Es ist aber auch eine von den wesentlichsten Folgen der Methode, daß durch dieselbe diesem Übel abgeholfen werden soll. Die Sprachkunst wird in derselben allgemein an das Wissen, das uns Natur und Kunst gibt, festgebunden, und die Kinder kommen dahin, sich mit jedem Schritte ihrer Erkenntnisse über denselben bestimmt ausdrücken zu können.

Es war unter uns Lehrern eine allgemeine Bemerkung, daß wir nicht auf diesem Punkte stehen, uns selbst über Sachen, die wir mit unbedingter Umfassung kennen, bestimmt und genau ausdrücken zu können. Auch Pestalozzi ward es sehr schwer, in der Darlegung seiner Ansichten über Erziehungszwecke immer die Worte zu finden, die das, was er sagen wollte, bestimmt ausdrückten.

Dieser Mangel an bestimmter Sprache war es auch eigentlich, warum ich in meinem Fache so lange im Dunkeln herumtappte und Pestalozzis Grundsätze hierüber nicht einsah und nicht einsehen konnte.

Nachdem ich aber diese Schwierigkeiten überstanden hatte, fand ich mich in allen Rücksichten bald am Ziele und erkannte mit jedem Tage mehr die Vorteile der Methode und sah vorzüglich ein, wie das Abc der Anschauung durch die bestimmte Sprache, die es den Kindern über die Gegenstände der Anschauung und der Kunst gibt, bei ihnen in eben dem Maße ein weit genaueres Richtigkeits- und Verhältnisgefühl erzeugen müsse und überhaupt, wie Menschen, die der Sprache halber in Rücksicht auf ihren Umfang mit einiger Kunst und Sorgfalt geführt worden sind, selber durch die bloße richtige Kenntnis der Namen der Gegenstände dahin kommen, diese selber leichter und mit mehr Bestimmtheit zu unterscheiden und zu einem festern Bewußtsein ihrer Unterscheidungszeichen sicherer gelangen müssen, als es denjenigen, die nicht so geführt werden, jemals möglich werden kann. Die Erfahrung bestätigte meine Ahnung, die ich hierüber hatte. Kinder beurteilten diese Unterscheidungsabteilungen, wo sie sie antrafen, richtiger als Männer, die das Zeichnen und Ausmessen von Jugend auf trieben, und der Fortschritt dieser ihrer Kraft war bei vielen so stark, daß er sich gar nicht mit den gewöhnlichen Fortschritten, die Kinder in diesen Fächern machen, vergleichen ließ.

Und ob ich gleich die ganze Methode nur durch das Medium meines Faches, und in der beschränkten Wirkung, die sie auf dasselbe hatte, ins Auge faßte, so kam ich durch die Anstrengung und Sorgfalt, mit der ich bei aller dieser Beschränkung darin arbeitete, dennoch Schritt vor Schritt dahin, die Ähnlichkeit ihrer Wirkung auch auf andere Fächer nicht nur zu ahnen, sondern allmählich selber einzusehn und zu begreifen; und so kam ich jetzt am beschränkten Faden meines Unterrichtsfaches, im Zeichnen, dahin, einzusehen, wie es möglich sei, durch die Psychologie der Sprachkunst, durch das allmähliche Schreiten der Unterrichtsmittel vom Schall zum Wort und vom Wort zur Sprache ebenso auf die Anbahnung deutlicher Begriffe zu wirken wie durch das Fortschreiten von Linien zu Winkeln zu Formen und von Formen zu bestimmten Gegenständen. Ich begriff jetzt den nämlichen Gang im Rechnen. Ich hatte bisher eine jede Zahl ohne bestimmtes Bewußtsein ihres eigentlichen Wertes oder Inhalts völlig nur als eine für sich selbst bestehende Einzelheit ins Aug gefaßt, wie ich ehemals die Gegenstände der Kunst ohne gesondertes Bewußtsein ihres bestimmten Umrisses und ihrer Verhältnisse, das ist ihres Inhalts ansah. Jetzt war ich mir jede Zahl in meiner Vorstellung als des Ganzen ihres bestimmten Inhalts sinnlich bewußt, und ich erkannte dadurch auch in diesem Fache den Fortschritt, den die Kinder bei dieser Führung genossen, und sah zugleich, wie wesentlich es für jedes Fach der Kunst ist, daß der Unterricht über denselben gemeinsam von Zahl, Form und Wort ausgehe. So wie ich das Stillstehen meines Faches durch Mangel an Sprache erkannte, so erkannte ich jetzt das Lückenhafte desselben bei dem Mangel des Rechnens. Ich sah nämlich in jeder Form, daß das Kind die Sonderungsteile desselben sich nicht vorstellen kann, ohne sie zählen zu können, ebenso daß, wenn es sich nicht bestimmt bewußt ist, daß z. B. die Zahl 4 aus vier Einheiten zusammengesetzt ist, es auch nicht begreifen kann, wie die einzelne Figur in vier Abteilungen geteilt werden kann.

So entwickelte sich aus der Klarheit, zu der mich mein Fach mit jedem Tag jetzt soviel als durch mich selber weiterbrachte, die Überzeugung, daß die Methode die Kraft, sich in jedem Fache durch sich selber weiterzuhelfen, durch ihren Einfluß auf den menschlichen Geist bei den Kindern allgemein erzeuge und sichere und an sich selber wesentlich ein Schwungrad sei, das nur angelassen werden müsse, um seinen weitern Lauf durch sich selber zu finden. Ich fand es nicht allein so. Hundert Menschen kamen, sahen und sagten: Das kann nicht fehlen. Bauern und Bauernweiber sagten: Das kann ich ja mit meinem Kind daheim treiben. Und sie hatten recht.

Die ganze Methode ist für einen jeden ein Spiel, sobald er den Faden ihrer Anfangspunkte in die Hand kriegt, der ihn sichert, sich nicht mehr in die Abwege zu verirren, welche die Kunst dem menschlichen Geschlecht allein schwer machen, indem sie ihn von dem festen Boden, auf dem ihre Fundamente allein zu ruhen vermögen, von der Natur selbst, abführen. Diese fordert durchaus nichts von uns, das uns nicht leicht wird, wenn wir es auf dem rechten Weg und nur an ihrer Hand suchen.

Ich habe noch dieses einzige hinzuzusetzen: Die Kenntnis der Methode hat die Heiterkeit und Kraft meiner Jugend größtenteils wieder in mir hergestellt und Hoffnungen für mich und das menschliche Geschlecht wieder belebt, die ich seit langem und bis auf diese Zeit für Träume achtete und gegen alles Schlagen meines Herzens von mir selbst wegwarf.«


 << zurück weiter >>