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Blaise Pascal's Gedanken.

Erste Abtheilung.
Gedanken über Philosophie, Moral und schöne Wissenschaften.

Erster Artikel.
Von der Autorität in philosophischen Dingen.

Die Achtung, welche man dem Alterthum entgegenbringt, ist heutzutage in Dingen, wo sie am wenigsten gelten sollte, so hoch gestiegen, daß man all' seine Gedanken zu Orakeln und selbst seine Unklarheiten zu Mysterien macht, daß es nicht mehr ohne Gefahr ist, neue Ansichten aufzustellen, und daß der Text eines Autors genügt, um die stärksten Vernunftgründe hinfällig zu machen. Meine Absicht ist nun nicht, einen Fehler durch einen andern zu verbessern und die Alten nichts zu achten, weil man sie zu hoch geachtet hat; ich beanspruche auch nicht ihr Ansehen zu verbannen und die Vernunftüberlegung allein auf den Schild zu erheben, obgleich andere gern ihr Ansehn allein zum Schaden der Vernunftüberlegung zur Geltung bringen möchten. Aber man muß in Betracht ziehen, daß bei den Dingen, deren Erkenntnis wir erstreben, die einen allein vom Gedächtnis abhängen und rein historisch sind, ihr einziger Zweck also die Wissenschaft ist von dem, was die Autoren geschrieben haben; daß dagegen die andern allein von der Vernunftüberlegung abhängen und durchaus dogmatisch sind, da sie das Streben nach Enthüllung der verborgenen Wahrheiten zum Zweck haben. Diese Entscheidung muß dazu dienen, die weitgehende Achtung vor den Alten auf ihr richtiges Maß zu bringen.

In den Dingen, wo man allein wissen will, was die Autoren geschrieben haben, wie in der Geschichte, in der Geographie, in den Sprachen, in der Theologie; ferner in all' denen, die auf dem Grunde des einfachen Factums oder der sei es göttlichen, sei es menschlichen Institution beruhen, muß man nothwendig auf ihre Bücher zurückgreifen, denn in ihnen ist alles, was man davon wissen kann, enthalten: woraus mit Klarheit folgt, daß man von ihnen eine vollständige Kenntnis haben kann, und daß es unmöglich ist, ihnen etwas hinzuzufügen. Ebenso wenn es sich fragt zu wissen, wer der erste König der Franzosen gewesen, durch welchen Ort die Geographen den ersten Meridian legen, welche Worte in einer todten Sprache gebräuchlich sind: welche anderen Mittel als die Bücher haben wir, dies und alle Dinge dieser Art zu erfahren? Und wer wird dem, was sie uns lehren, etwas neues hinzufügen können, da man eben nur das wissen will, was sie enthalten? Allein die Autorität kann uns in diesem Punkte aufklären. Wo aber diese Autorität ihre Hauptstärke hat, das ist in der Theologie, weil sie dort von der Wahrheit untrennbar ist und wir die letztere nur durch erstere erkennen: so daß es, um von Dingen, die der Vernunft am unbegreifbarsten sind, völlige Gewißheit zu geben, genügt, sie in den heiligen Büchern nachzuweisen; wie es auch, um die Ungewißheit der wahrscheinlichsten Dinge darzuthun, allein nöthig ist zu zeigen, daß sie nicht darin enthalten sind; denn die Principien der Theologie gehen über Natur und Vernunft hinaus, und da der Geist des Menschen zu schwach ist aus eigenen Kräften dahin zu gelangen, so könnte er nicht zu diesen erhabenen Einsichten kommen, wenn er nicht durch eine allmächtige und übernatürliche Kraft dahin getragen würde.

Anders steht es mit Gegenständen, welche in das Gebiet der Beobachtung oder der Vernunftüberlegung gehören. Die Autorität ist hier unnütz, die Vernunft allein hat Erkenntniskraft; sie haben ihre gesonderten Rechte. Vorher hatte die eine alles Vorrecht; hier ist an der andern die Reihe zu herrschen. Und wie die Gegenstände dieses Gebietes im Verhältnis stehen zu der Tragweite des Geistes, so hat er auch eine unbeschränkte Freiheit, sich darin auszudehnen: seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit erzeugt beständig, und seine Erfindungen können allzumal ohne Ende und ohne Unterbrechung sein.

Auf diese Weise müssen die Geometrie, die Arithmetik, die Musik, die Physik, die Medicin, die Architektur und alle Wissenschaften, die der Erfahrung und der Vernunftüberlegung unterliegen, erweitert werden, um zur Vollendung zu gelangen. Die Alten haben sie durch ihre Vorgänger nur aus dem Groben herausgearbeitet vorgefunden: wir werden sie unseren Nachkommen in einem vollendeteren Zustande hinterlassen, als wir sie selbst überkommen haben. Wie ihre Vollendung abhängt von Zeit und Mühe, so ist es klar, daß, obwohl unsere Mühe und unsere Zeit uns weniger erworben haben würde, als ihre von den unsern getrennten Arbeiten, nichtsdestoweniger beide mit einander vereinigt mehr Kraft haben müssen als jedes für sich.

Die Aufklärung dieser Unterscheidung muß uns die Verblendung derjenigen beklagen lassen, welche die Autorität allein in physikalischen Dingen als Beweis beibringen, statt der Vernunftüberlegung oder der Erfahrungen; und uns vor der Bosheit anderer erschrecken lassen, welche in der Theologie nur Vernunftüberlegung anwenden, statt der Autorität der Schrift und der Väter. Man muß den Muth der Furchtsamen aufrichten, welche in der Physik nichts zu erfinden wagen, und die Unverschämtheit jener Verwegenen beschämen, welche in der Theologie neues aufbringen.

Indeß ist das Leiden des Jahrhunderts das, daß man in der Theologie viel neue Meinungen erblickt, unbekannt dem ganzen Alterthum, aufrecht erhalten mit Hartnäckigkeit, und aufgenommen mit Beifall; während diejenigen, welche man, wenn auch in geringer Zahl, in der Physik hervorbringt, scheinbar als falsch überführt werden müssen, so bald sie auch nur im geringsten den hergebrachten Meinungen widersprechen: gerade als ob die Achtung für die alten Philosophen Pflicht, diejenige aber für die älteren Väter nur Schicklichkeit sei.

Ich überlasse urtheilsfähigen Personen die Wichtigkeit dieses Mißbrauchs, welcher die Ordnung der Wissenschaften in so ungerechter Weise umstößt, zu bemerken; und ich glaube, daß es wenige giebt, die nicht wünschen, daß unsere Untersuchungen eine andere Richtung einschlagen, zumal neue Erfindungen unfehlbar Irrthümer sind in theologischen Dingen, die man indeß ungestraft profaniert, während sie dagegen unumgänglich nöthig sind zur Vollendung so vieler anderer Gegenstände untergeordneter Art, welche man gleichwohl nicht anzutasten wagt.

Theilen wir mit mehr Gerechtigkeit unsern Glauben und unser Mißtrauen, und begrenzen wir die Achtung, welche wir für die Alten hegen. Wie die Vernunft sie erzeugt hat, so muß sie dieselbe auch bemessen; und erwägen wir doch, daß, wenn sie so zurückhaltend geblieben wären, daß sie nichts den ererbten Kenntnissen hätten hinzuzufügen gewagt, oder wenn die Wissenschaften ihrer Zeit dieselbe Schwierigkeit gemacht hatten, dargebotene Neuerungen aufzunehmen, sie sich selbst und ihre Nachkommenschaft der Früchte ihrer Erfindungen beraubt hätten.

Wie sie sich der ihnen hinterlassenen nur als Mittel zu neuen zu gelangen bedient haben, und wie diese glückliche Kühnheit ihnen den Weg gebahnt zu großen Dingen, so müssen auch wir diejenigen, welche sie uns erworben haben ebenso gebrauchen und sie nach ihrem Beispiel als Mittel nicht als Zweck unserer Studien benutzen und so durch Nachahmung ihrer Handlungsweise sie zu überflügeln suchen. Denn was giebt es Verkehrteres, als unsere Vorfahren mit mehr Scheu zu behandeln, als sie selbst den ihrigen erwiesen haben, und für sie jene unglaubliche Achtung zu hegen, welche sie nicht anders um uns verdient haben, als weil sie nicht die gleiche gehabt haben für diejenigen, die vor ihnen den gleichen Vorzug hatten?

Die Geheimnisse der Natur sind verborgen; zwar ist sie stets geschäftig, aber man bemerkt nicht stets ihre Wirkungen: die Zeit enthüllt sie von Periode zu Periode; und obgleich stets in sich selbst die gleiche, ist sie nicht stets gleicherweise erkannt. Die Erfahrungen, welche uns Einsichten in ihr Inneres eröffnen, vermehren sich beständig; und wie sie die einzigen Principien der Physik sind, so mehren sich in gleichem Maße die Folgerungen.

Auf diese Weise kann man heutzutage andere Überzeugungen und neue Meinungen haben, ohne Mißachtung oder Undankbarkeit gegen die Alten, da ja die ersten Erkenntnisse, welche sie uns überliefert haben, als Staffeln zu den unsrigen gedient haben; weil hinsichtlich unserer Vorzüge wir ihnen die Gewalt, welche wir über sie haben, schuldig sind; weil, da sie sich bis zu einer gewissen Stufe erhoben und uns dahin getragen haben, die geringste Anstrengung uns höher steigen läßt, und mit geringerer Mühe und geringerem Ruhme sehen wir uns über ihnen. Von hier aus können wir Dinge entdecken, welche ihnen zu bemerken unmöglich war. Unser Blick hat mehr Weite; und obgleich sie eben so gut wie wir alles das kannten, was sie von der Natur wahrnehmen konnten, so kannten sie doch nicht so viel davon und wir sehen mehr als sie.

Sonderbar aber, wie man ihre Überzeugungen ehrt. Man begeht ein Verbrechen, wenn man ihnen widerspricht, und eine Frevelthat, wenn man nicht bei ihnen stehen bleibt, als wenn sie keine Wahrheiten zu erkennen übrig gelassen hätten.

Heißt das nicht die menschliche Vernunft unwürdig behandeln und sie dem Instinkt der Thiere gleichsetzen, da man den Grundunterschied aufhebt, der darin besteht, daß sich die Ergebnisse der Vernunftüberlegung unablässig vermehren: während der Instinkt stets aus derselben Stufe stehen bleibt? Die Zellen der Bienen waren vor tausend Jahren ebenso genau abgemessen als heute, und eine jede von ihnen bildet ihr Sechseck das erste Mal ebenso vollkommen, wie das letzte Mal. Ebenso verhält es sich mit allem, was die Thiere aus diesem geheimen Triebe hervorbringen. Die Natur unterweist sie nach Maßgabe der drängenden Nothwendigkeit; aber dies hinfällige Wissen verliert sich mit dem jeweiligen Bedürfnis darnach: wie sie es ohne Arbeit empfangen, so haben sie auch nicht das Glück es zu bewahren; und so oft es ihnen gegeben wird, ist es ihnen neu, denn die Natur, die nur den Zweck hat, die Thiere auf einem begrenzten Grade von Vollendung zu erhalten, flößt ihnen dieses rein nothwendige und stets gleiche Wissen ein, aus Furcht, sie möchten dem Untergang anheimfallen, und erlaubt ihnen nicht neues hinzuzuthun, aus Furcht, sie möchten die ihnen gezogenen Grenzen überschreiten.

Nicht so verhält es sich mit dem Menschen, der nur für die Unendlichkeit geschaffen ist. Er ist unwissend in dem frühesten Alter seines Lebens; aber er unterrichtet sich unablässig im weiteren Verlauf: denn er zieht Nutzen nicht nur aus seiner eigenen Erfahrung, sondern auch aus der seiner Vorfahren, weil er die einmal erworbenen Kenntnisse stets in seinem Gedächtnis bewahrt, und weil die der Alten ihm stets in den Büchern, die sie darüber hinterlassen haben, gegenwärtig sind. Und wie er diese Kenntnisse bewahrt, so kann er sie auch leicht vermehren; so daß die Menschen heutzutage in gewisser Weise in dem Zustand sind, in welchem sich jene alten Philosophen befinden würden, wenn sie bis auf die Gegenwart hätten leben können, indem sie dann den Kenntnissen, die sie besaßen, diejenigen hinzugefügt hätten, welche ihre Studien durch die Gunst so vieler Jahrhunderte hätten erwerben können. So kommt es, daß durch ein besonderes Vorrecht nicht nur jeder einzelne Mensch von Tag zu Tag in den Wissenschaften fortschreitet, sondern daß auch die ganze Menschheit darin beständig zunimmt in demselben Maße, wie das Universum an Alter zunimmt, denn in der Aufeinanderfolge der Menschen findet dasselbe statt, wie in den verschiedenen Lebensaltern eines einzelnen. So kann man die ganze Kette der Menschen in dem Verlauf so vieler Jahrhunderte betrachten wie einen einzigen Menschen, der immer da ist und der beständig lernt: daraus sieht man, mit wie viel Ungerechtigkeit wir das Alterthum in seinen Philosophen achten; denn wer sieht nicht ein, daß, wie das Alter am weitesten von der Kindheit entfernt ist, man das Alter jenes universalen Menschen nicht in der Zeit nahe seiner Geburt suchen muß, sondern in denen, welche davon am weitesten entfernt sind?

Die, welche wir die Alten nennen, waren wahrhaft neu in allen Dingen und bildeten recht eigentlich die Kindheit der Menschen; und wie wir mit ihren Kenntnissen die Erfahrung der auf sie folgenden Jahrhunderte verbunden haben, so kann man in uns jenes Alterthum finden, welches wir in ihnen verehren. Man muß sie bewundern ob der Folgerungen, welche sie so wohl aus den wenigen Grundsätzen, die sie hatten, gezogen haben, und man muß sie entschuldigen wegen derjenigen, wo ihnen mehr das Glück der Erfahrung, als die Kraft der Vernunftüberlegung gefehlt hat.

Denn waren sie z. B. nicht entschuldbar in dem Gedanken, den sie von der Milchstraße hatten, als die Schwäche ihrer Augen noch nicht die Unterstützung der Kunst gefunden und sie so jene Farbe aus einer größeren Dichtigkeit des Himmels an dieser Stelle, die dann das Licht kräftiger zurückwürfe, ableiteten? Aber wären wir nicht unentschuldbar, wenn wir in demselben Gedanken verharrten auch jetzt noch, wo wir unterstützt von dem Vortheil, den das Fernrohr bietet, dort eine Unendlichkeit kleiner Sterne entdeckt haben, deren reichlicherer Glanz uns den wahren Grund jener Weiße hat erkennen lassen?

Hatten sie nicht auch Grund zu behaupten, daß alle vergänglichen Körper in die Sphäre des Mondhimmels eingeschlossen seien, da sie im Laufe so vieler Jahrhunderte noch weder Vergehen noch Entstehen außerhalb dieses Raumes beobachtet hatten? Aber müssen wir nicht das Gegentheil versichern, da die ganze Welt deutlich die Kometen hat aufflammen und weit jenseits unserer Sphäre hat verschwinden sehen?

Ebenso hatten sie in der Frage nach dem leeren Raume Recht zu behaupten, daß die Natur einen solchen durchaus nicht dulde; denn alle ihre Erfahrungen hatten ihnen stets gezeigt, daß sie denselben verabscheut und nicht dulden kann. Aber wenn die neuen Erfahrungen ihnen bekannt gewesen wären, hätten sie vielleicht Veranlassung gefunden zu bejahen, was sie Veranlassung fanden zu verneinen, aus dem Grunde, weil der leere Raum noch nicht sichtbar geworden war. Auch haben sie in dem Urtheil, welches sie abgaben, daß die Natur durchaus keinen leeren Raum dulde, nicht anders von der Natur zu sprechen gewußt, als in dem Zustande, in welchem sie dieselbe kannten; denn um es im allgemeinen zu behaupten, wäre es nicht genug sie an hundert oder tausend oder jeder andern beliebig großen Anzahl Orten beständig gesehn zu haben; denn bliebe auch nur ein einziger Fall zu prüfen übrig, dieser eine Fall genügte, eine allgemeine Entscheidung zu verhindern. In der That, man kann in allen Dingen, deren Gewißheit auf der Erfahrung beruht, nicht auf Beweisführung, eine universelle Behauptung nicht anders machen, als durch allgemeine Aufzählung aller Theile und aller verschiedenen Fälle.

Ebenso, wenn wir den Diamanten den härtesten aller Körper nennen, so meinen wir das von allen Körpern, die wir kennen, und wir können und dürfen darunter nicht die mitrechnen, welche wir noch gar nicht kennen; und wenn wir das Gold den schwersten aller Körper nennen, so wären wir sehr verwegen in diese allgemeine Aufstellung alle die mit einzurechnen, die noch gar nicht in unserer Kenntnis sich befinden, obwohl es nicht unmöglich wäre, daß sie sich in der Natur vorfänden.

So können wir, ohne den Alten zu widersprechen, das Gegentheil von dem behaupten, was sie sagen; und welche Gestalt schließlich auch dies Alterthum haben mag, die Wahrheit, selbst wenn sie neuerdings entdeckt ist, muß stets den Vorrang haben, zumal sie stets älter ist als alle Meinungen, die man darüber gehabt hat, und da es ein grobes Verkennen der Natur wäre, wollte man glauben sie habe zu jener Zeit angefangen zu existiren, als sie anfing erkannt zu werden.


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