Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Motto: Ex antiquo novum.
In einer Zeit, da der Materialismus mit seiner Gefolgschaft, der Irreligiosität und dem Atheismus, sich neu hervorwagt, ja neue Wege und neue Gerechtsame sich zu verschaffen sucht; da andererseits im Lager des Theismus theologische und politische Ansichten zu neuem kirchlichen Hader und neuer Verwirrung Veranlassung geben; da im Allgemeinen vielfach nicht nur der kirchliche, sondern auch der religiöse Sinn sich zu verlieren droht: in einer solchen Zeit scheint es nicht unnütz, auf Leben, Charakter und Werk eines Mannes aufmerksam zu machen, der vor nun mehr als 200 Jahren in ähnlich bewegten und erregten kirchlichen sowie religiös-philosophischen Zeitverhältnissen lebend mit um so größerer Energie sich der Erforschung christlicher Religionswahrheiten und der Bethätigung christlicher Moralvorschriften hingab, je größer die geistigen Anlagen waren, die in ihn, und je schwerer die Leidensprüfungen waren, die auf ihn gelegt wurden. – Der Mann, der trotz oder vielleicht wegen seiner großartigen Geistesgaben nie nach Ruhm und Ehre geizte; der seit seinem 24. Jahre außer der Bibel und den christlichen Religionswahrheiten nichts für der Erforschung werth achtet; cf. Pasc. Leben, beschrieben von seiner Schwester Gilberta Perier. der als ein Haupterfordernis für jeden Menschen den Scepticismus empfiehlt, und den Atheismus » jusqu' à un certain degré« für ein Zeichen von Geistesstärke ansieht; der den sehnlichsten Wunsch hat an Geist eben so arm zu sein, wie am Herzen; der zu »behaupten wußte und zu zweifeln« cf. Pensées: VI, 1. und im Ganzen sich stets und ganz dem Größeren und Höheren zu unterwerfen: ein solcher Mann ist stets der Beachtung werth, zumal in einer Zeit, da ganze Generationen in frivol oberflächlichen Urtheilen erzogen werden, zumal in einer Zeit, da ähnlich große und gemäßigte Charaktere noth thäten. Dieser Mann war Blaise Pascal.
Blaise Pascal wurde am 19. Juni 1623 zu Clermont in der Auvergne geboren. Sein Vater war Stephan Pascal, zweiter Präsident bei der Cour des Aides; seine Mutter war Antonie geb. Begon. Es waren in der Familie sechs Kinder, von denen jedoch drei in ganz jungen Jahren starben; die überlebenden waren Gilberta, geb. 7. Jan. 1620, später vermählt mit dem Steuerrath Perier, gest. 1687 zu Paris: ihr verdanken wir eine Lebensbeschreibung von Bl. Pascal; – 2) Blaise, der nun einzige Sohn; und 3) Jacqueline, geb. zu Clermont 4. Octob. 1625, gestorben als Nonne von Port Royal 1661; »sie ist als die geistige Zwillingsschwester von Blaise zu betrachten«.
Schon im Jahre 1626 starb die Mutter der Kinder, und dadurch auch wohl mit veranlaßt, hauptsächlich aber um in der Hauptstadt, ungestört von lästigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, sich der Erziehung seiner Kinder widmen zu können, zog Stephan Pascal im Jahre 1631 nach Paris. Der damals acht Jahre alte Blaise Pascal hatte bereits zu verschiedenen Malen bedeutende geistige Anlagen gezeigt, und so widmete sich seiner Bildung der Vater mit besonderer Liebe und Sorgfalt. Er verfolgte dabei den Grundsatz, den Sohn nicht eher zu irgend einem Studium zuzulassen, als bis er seinen Jahren nach dazu befähigt schien: so wollte er ihm das Lateinische nicht vor seinem 12. Jahre lehren, und von Mathematik, deren Kenntnis der junge Blaise heiß ersehnte, durfte weder der Knabe selbst sprechen, noch in dessen Gegenwart gesprochen werden. Indessen übte er aber den Geist des Knaben an den verschiedensten Dingen, vor allen an einer Art von philosophischem Überblick über die Grundsätze und Regeln grammatischer Sprachbildung; aber sonst auch an realistisch-technischen Sachen. Dabei mag der Vater häufig durch die Fragen seines Sohnes in Verlegenheit gebracht sein, denn Gilberta berichtet, daß er stets nach Gründen gefragt, und gar leicht erkannt habe, wenn sie schwach gewesen, »wie denn immer und in allen Dingen die Wahrheit das einzige Ziel seines Geistes« gewesen sei. Indeß sollte es dem Vater nicht auf die Dauer gelingen, das Interesse seines Sohnes für Mathematik zurückzuhalten: seit dem 12. Jahre brach bei Blaise der Strom seines mathematischen Genius unwiderstehlich hervor. Der Vater hatte ihm einst auf seine Fragen die allgemeine Erklärung von Mathematik geben müssen: »es sei die Kunst rechte Figuren zu machen, und die Verhältnisse, die sie unter einander haben, zu finden«. Von hier aus arbeitete sich Blaise im Geheimen, denn sein Vater durfte nichts von dieser seiner Beschäftigung wissen, und völlig selbstständig weiter, bildete sich einen Satz nach dem andern und erfand sich seine eigenen technischen Ausdrücke: Stange = Linie, Rund = Kreis etc. Da überraschte ihn eines Tages sein Vater dabei, daß er »das zu beweisen suchte, was der Inhalt des 32. Satzes im ersten Buch des Euklides ist«; und auf Befragen des Vaters, eines »gelehrten Mathematikers«, stellte sich heraus, daß Blaise sich ein vollständiges System von auf einander folgenden, aus einander resultirenden Sätzen gemacht hatte. – Gilberta erzählt über diesen Vorfall: »man kann nicht sagen, wer am meisten erschrak: der Sohn, den Vater zu sehen, wegen des ausdrücklichen Verbotes, das er ausgesprochen: oder der Vater, den Sohn zu sehen mitten unter allen diesen Dingen.« –
Nebenbei ist zu bemerken, daß Bossut versichert: »dieses Factum beruhe auf Zeugnissen, die man nicht in Zweifel ziehen dürfe.«
Der Vater war »über die Größe und Macht dieses Genies« aufs höchste entzückt, theilte sich seinem gelehrten Freunde le Pailleur mit, und auf dessen Rath gab er nunmehr seinem Sohne das Studium der Mathematik frei, ja unterstützte und leitete dasselbe in Person. Blaise machte in Folge der Lectüre mathematischer Schriften, besonders des Euklides, den er ganz ohne Erklärung verstand, solche Fortschritte, daß er an den Versammlungen gelehrter Mathematiker in Paris regelmäßig theilnehmen durfte, und daß er in denselben »eben so sorgfältig über seine Meinung befragt wurde, wie alle anderen.« In seinem 16. Jahre (1639) verfaßte Pascal eine Schrift über die Kegelschnitte, »die für ein so geistreiches Werk angesehen wurde, daß man sagte: seit Archimedes hätte man nichts von der Bedeutung gesehen«. Diese Schrift setzte selbst Cartesius in Erstaunen, so zwar, daß er behauptete: es sei eine Arbeit der Lehrer Pascals; ein sechszehnjähriges Kind könne so etwas nicht schreiben. – Die gelehrten Freunde Pascals wünschten das Werk gedruckt zu sehen; da indeß Blaise »nie Leidenschaft für den Ruhm gehabt, so achtete er das nicht und das Werk ist nie gedruckt.« – Bei so angestrengten Studien eines so jungen Körpers konnte es indeß nicht fehlen, daß sich schädliche Einflüsse auf letzteren geltend machten, und »in der That begann Blaise's Gesundheit zu wanken, seit er das achtzehnte Jahr erreicht hatte.« Von da an bis zu seinem Tode im 39. Jahre ist Pascal niemals mehr ohne Krankheit und Schmerzen gewesen. – Im Anfang jedoch waren sie nicht so heftig, daß sie ihn in seinen Studien hinderten, und so »erfand er im Alter von 19 Jahren (1642) jene Rechenmaschine, mittelst welcher man alle Arten von Berechnungen – – selbst ohne eine Rechenregel zu wissen und zwar mit einer unfehlbaren Sicherheit machen konnte«. Pascal erhielt 1649 ein Patent darauf und sandte 1650 eine solche Maschine an die Königin Christine von Schweden »mit einem schönen Briefe edlen Selbstgefühls«. (Leibnitz hat später die Maschine zu vereinfachen gesucht und es auch vollbracht, da indessen die Herstellung kostspielig ist, so zieht man das Rechnen mit Logarithmen vor.) Im Jahre 1647 schrieb er, angeregt durch das Experiment des Toricelli, »neue Untersuchungen über das Leere« ( horror vacui), und dadurch, sowie durch Barometerbeobachtungen auf verschiedenen Höhen erhob Pascal die Vermuthung Toricelli's und Galilei's von der Schwere der Luft zur Gewißheit. – Um dieselbe Zeit etwa »führte,« wie Gilberta schreibt, »die Vorsehung Gottes eine Gelegenheit herbei, welche ihn nöthigte, erbauliche Schriften zu lesen«.
Die Gelegenheit war folgende: der Vater Pascal hatte sich durch einen Fall auf dem Eise den Fuß verrenkt und ließ sich nun von zwei geschickten Edelleuten: de la Bouteillerie und des Landes zu Rouen behandeln. Diese beiden waren von großer Frömmigkeit und durch sie angeregt entstand in der Familie Pascal der Wunsch, sich auch in der Religion eben so gut zu unterrichten. Sie begannen dazu geeignete Bücher zu lesen, besonders die Schriften von St. Cyran, von Jansen ( discours sur la réformation de l'homme intérieur) und von Dr. Arnauld. Diese Lectüre wirkte in hervorragender Weise auf Blaise Pascal, so daß er sich entschloß, dem ganz zu leben, was allein Noth thut. Gilberta sagt: »Gott erleuchtete ( éclaira) ihn durch diese Schriften so sehr, daß er vollkommen begriff, wie die christliche Religion uns verpflichtet, nur für Gott zu leben und keine andere Liebe zu haben als ihn«. Diese mit ungewöhnlicher Energie und mit der ganzen Kraft seines großen Geistes ergriffene Frömmigkeit machte Blaise zum Haupte und Leiter seiner Familie, denn sowohl sein Vater, wie besonders seine Schwester Jacqueline suchten mit aller Kraft ihm als ihrem Vorbilde nachzueifern und so wurde er, wie Gilberta sagt, in gewissem Sinne der Vater seines Vaters und seiner Schwester. In letzterer besonders, die im schönsten Jugendalter stehend sowohl durch ihre Schönheit wie durch ihre glänzenden Talente eine in jeder Beziehung ausgezeichnete Zukunft erwarten durfte, erregte Blaise einen solchen Eifer der Frömmigkeit, daß Jacqueline sehr bald alle weltlichen Aussichten und Verlockungen nicht achtend, sich allein der Bethätigung christlich frommer Aufgaben widmete. – Im Jahre 1649, also zwei Jahre nachdem Blaise zuerst den Werth eines erbaulich frommen Lebens erkannt hatte, hielt er in Port Royal seine erste klösterliche Retraite, um sich einmal eine Zeit lang ausschließlich andächtigen Betrachtungen hinzugeben. In demselben Jahre empfing er, was höchst interessant zu bemerken ist, einen Besuch von Cartesius; doch scheint derselbe durch bedeutende Gespräche nicht ausgezeichnet gewesen zu sein; sie sprachen über die Luftpumpe. – Das philosophische Verhältnis dieser beiden großen Zeitgenossen zu einander soll weiter unten betrachtet werden. – Im Jahre 1651 starb Pascals Vater; der Eindruck, den dieser Todesfall auf Blaise Pascal machte, wird bezeichnet durch den Art. XVIII der Pensées: pensées sur la mort; ein Auszug aus einem gleichzeitigen Briefe. Nur folgende wenige aus der reichen Fülle tiefer, herrlicher Gedanken seien aus diesem Art. hier angeführt: »Wir wissen, daß das Leben, zumal das der Christen ein beständiges Opfer ist. – – In Jesu Christo ist alles süß, selbst der Tod: deshalb hat er ja auch gelitten und ist gestorben, um Tod und Leiden zu heiligen. – – Laßt uns doch den Tod nicht mehr wie Heiden betrachten, sondern wie Christen, d. h. mit Hoffnung. – – Das ist der Grund, weshalb wir die Reliquien verehren und aus diesem sehr richtigen Grunde gab man einst den Todten die Hostie in den Mund. – – Man dürfte den Tod hassen, wenn er nicht anders eintreten könnte, als indem er eine heilige Seele von einem heiligen Körper trennte: aber man muß ihn lieben, wenn er eine heilige Seele von einem unreinen Körper befreit«. Alles gipfelt in dem zusammenfassenden, schönen Ausspruche: »so ist also der Tod die Vollendung der Glückseligkeit der Seele, und der Anfang der Glückseligkeit des Körpers«. – Seit dem Tode des Vaters gab sich Pascal rückhaltlos und im Übermaße seinen wissenschaftlichen Studien hin; und wenn zu Lebzeiten seines Vaters manche kleine Reisen und andere Familienvergnügungen seinem Körper Erholung und neue Kraft gewährt hatten, so machte sich jetzt, da alles dies fortfiel, sein übermäßiges Arbeiten sehr zum Nachtheil seiner Gesundheit geltend: die Leiden, die ihn schon seit seinem 18. Jahre plagten, verschlimmerten sich bedeutend. – Dazu kam noch, daß ihn seine jüngste Schwester, deren Gesellschaft ihm jetzt besonders lieb und trostreich war, verlassen wollte, und auch trotz aller Bemühungen Pascals sie zurückzuhalten, ihn wirklich verließ: sie wurde im Jahre 1653 Nonne zu Port Royal von Paris. Schon seit mehreren Jahren, noch zu Lebzeiten des Vaters, scheint dies ihr sehnlichster Wunsch gewesen zu sein: damals scheiterte die Verwirklichung an dem Widerstande des Vaters. Daß jetzt ihr Bruder der Realisirung ihres sehnlichsten Herzenswunsches entgegentritt, ist ihr sehr betrübend, und rührend ist es zu lesen, wie sie, nachdem sie ihn heimlich verlassen, ihn brieflich bittet: »Daher wende ich mich an Dich, als an den, welcher gewissermaßen Herr ist über das, was mit mir geschehen soll, um Dir zu sagen: nimm mir nicht, was Du nicht im Stande bist, mir zu geben. Denn ob sich gleich Gott Deiner bedient hat, für mich den Fortschritt der ersten Regungen seiner Gnade zu vermitteln, so weißt Du doch wohl, wie jede Liebe und alle Freude, welche Du am Guten hast, von ihm allein ausgeht; so daß Du wohl im Stande bist, die meinige zu stören, aber nicht, sie mir wieder zu schenken, wenn ich sie einmal durch Deinen Fehler verlieren sollte«. cf. Reuchlin: P.'s Leben p. 42. –
Pascal mußte sich in das fügen, was er nicht hindern durfte, und was er nicht ungeschehen machen konnte. – Gleichzeitig ungefähr verschlimmerte es sich mit Pascals Zustande so bedeutend, daß er auf Andringen seiner Ärzte und auf dringliches Verlangen seiner Verwandten sich genöthigt sah, seiner Gesundheit wegen die Studien etwas zu unterlassen und sich einem leichten, mäßig vergnügten Leben in der Welt hinzugeben. Nach dem Berichte Gilberta's ist dieser Entschluß ihrem Bruder sehr schwer geworden und er that es schließlich nur in dem Gedanken: »es sei seine Pflicht alles Mögliche zu thun, um seine Gesundheit wieder herzustellen, und ehrbare Vergnügungen könnten ihm nicht schaden«. – Dazu paßt es nicht, wenn Pascals jansenistischer Biograph uns meldet: »er habe sich ganz der Eitelkeit, dem Unnützen, dem Vergnügen und der Liebe zum Vergnügen ergeben« und wenn dies damit begründet wird, Pascal habe im Begriff gestanden, ein öffentliches Amt zu kaufen und zu heirathen. cf. R. p. 39. – Pascal trat in die Welt mit einer etwas melancholischen Laune, obgleich er eigentlich einen großen Fond von Heiterkeit besaß. »Er belebte die Unterhaltung durch leichte und geistreiche Scherze, die nie beleidigten; auch gefiel er durch seinen überlegenen Geist, der sich immer der Fassungskraft derer, mit denen er verkehrte, anzupassen wußte«. Indessen dauerte es nicht lange, so kehrte Pascal zu seiner strengen und einsamen Lebensweise zurück. Sehr fein, und vielleicht zutreffend ist hier die Bemerkung Reuchlins, cf. R. p. 48. der den Grund dafür darin sucht, daß, seitdem Jacqueline, die geistige Zwillingsschwester Pascals, sich ihrer persönlichen Freiheit begeben habe, auch sein Leben in der Welt gleichsam verfallen gewesen sei. In der gewöhnlichen jansenistischen Tradition indeß figurirt hier als Grund das Ereignis an der Brücke von Neuilly (1654) – von dem indessen die Familientradition und auch die Biographie Gilberta's schweigen – es war folgendes: Pascal machte wie gewöhnlich eine Spazierfahrt in einem Wagen mit vier Pferden; bei der Brücke von Neuilly, wo kein Geländer war, wurden die Pferde scheu und gingen durch; die beiden vorderen stürzten hinunter, da aber die Stränge rissen, so blieb der Wagen oben am Rande und Pascal war gerettet. Daß dies Ereignis auf Pascals Gemüth von großem Einfluß gewesen, läßt sich nicht verkennen, denn in späteren Jahren war es ihm oft so, als öffne sich an seiner linken Seite ein Abgrund, und er mußte, um dies Schreckgespenst zu entfernen, irgend etwas, etwa einen Stuhl, an seine linke Seite stellen. So groß indeß, wie die Philosophen des vorigen Jahrhunderts, denen es unbequem war, in Pascal einen gläubigen und frommen Christen sehen zu müssen, den Eindruck dieses Vorfalls auf Pascal annahmen, war derselbe nicht. Bezeichnend ist hier der Ausspruch von Voltaire; er sagte zu Condorcet: »Mein Freund, werden Sie nicht müde zu wiederholen, daß seit dem Unfalle auf der Brücke von Neuilly Pascals Gehirn in Unordnung gerathen war«. cf. R. p. 49. Dem gegenüber wendet Bossut mit Recht und sehr treffend ein: »Dieses System hat nur eine kleine Schwierigkeit: dieses 1654 verwirrte Gehirn brachte 1656 die Provinzial-Briefe hervor und 1658 die Lösung der Probleme über die Cykloide.« – Wie dem nun aber auch sei, sicher ist, daß Pascal sich, auch wohl mit in Folge der Bitten und dringenden Vorstellungen seiner Schwester Jacqueline, die ihm jetzt den Dienst vergalt, den er ihr ungefähr zehn Jahre zuvor geleistet hatte, gänzlich von der Welt zurück zog, um sich einzig und ausschließlich mit religiösen Betrachtungen und Studien zu beschäftigen. Er änderte, um alle Verbindungen abzubrechen, seinen Wohnsitz und »bezeugte seinen Willen, die Welt zu verlassen, so ernstlich, daß endlich die Welt ihn verließ«. Seine Leiden verschlimmerten sich um diese Zeit wieder und in der That ist sein Leben von jetzt an bis zu seinem Tode eigentlich nur ein großes Krankenlager. »Er gründete sein Leben in seiner Zurückgezogenheit auf die Maxime: Verzicht zu leisten auf alles Vergnügen und auf alles Überflüssige«, und so beharrte er bis an sein Ende. Er duldete z. B. in den letzten Jahren nicht, daß ihm irgend eine Dienstreichung geleistet werde, die er irgendwie nur selbst verrichten konnte. Von jetzt ab trat er in nähere Verbindung mit den Jansenisten in Port Royal und er hielt sich selbst häufig in Port Royal des Champs, oder auch in Port-Royal de Paris bei seiner Schwester auf. An ersterem Orte lebte er in regem geistigen Verkehr mit den übrigen Einsiedlern Duvergier, Arnauld, de Saci und Nicole. Im Jahre 1656 gab er sein großes Werk gegen die Jesuiten heraus unter dem Titel und Pseudonym: Les Provinciales ou lettres écrites par Louis de Montalte à un Provincial de ses amis et aux R. R. P. P. Jésuites sur la morale et la politique de ces pères. Über die classische Satire dieses Werkes, seine blitzartige Wirkung, und die immense Bedeutung desselben sowohl was die sprachlich-stilistische als die inhaltliche Seite anbelangt, dürfte es überflüssig sein, hier auch nur ein Wort zu verlieren. Es scheinen Pascal später sogar von Freunden Vorwürfe gemacht zu sein über die Schärfe dieser Schrift: Pascal selbst sagt darüber in den Pensées, Art. XVII, cf. überhaupt die ganze Nummer 78. 78: »Man hat mich gefragt, ob ich es nicht bereue, die Provinciales verfaßt zu haben. Darauf antworte ich, weit entfernt es zu bereuen, würde ich sie, wenn ich mich jetzt daran machte, noch weit schärfer gestalten«. Durch seine nähere Verbindung mit Port Royal wurde Pascal seit 1656 auch in die jansenistischen Händel und in den Streit mit dem Papste Alexander VII. verwickelt. Es würde zu weit führen, die Entstehung, den Verlauf und das Ende dieser unerquicklichen Streithändel hier des Näheren darzulegen; zudem dürften sie einigermaßen bekannt sein: es genüge hier die Bemerkung, daß von sämmtlichen Jansenisten Pascal der einzige war, der völlig consequent bei der Ansicht blieb, man dürfe sich dem Verlangen des Papstes gegen seine Überzeugung und sein Gewissen durchaus nicht unterwerfen. Hiedurch kam er sogar in gelinde Disharmonie mit den Bewohnern von Port Royal; doch scheint dieselbe von vorübergehender Art gewesen zu sein. – In dasselbe Jahr 1656 fällt noch ein Ereignis von Wichtigkeit, welches auf Pascal von bedeutendem Einfluß war: es war dies das Wunder, welches an seiner Nichte Marguerite Perier geschah. Diese litt schon seit mehreren Jahren an einer Thränenfistel, deren Heilung von den geschicktesten Ärzten und Chirurgen der Hauptstadt vergebens versucht war. Um die Zeit wurde in der Kirche von Port Royal de Paris ein Dorn aus der Dornenkrone Christi verehrt: auch Marguerite Perier war in der Kirche und »beim Anblick der kleinen Dulderin drückte die Vorsteherin der Kinder das kranke Auge auf die Reliquie, und wenige Stunden darauf hörte man die Kleine zu einer ihrer Schwestern sagen: »Mein Auge ist heil, ich fühle keine Schmerzen mehr.« – In der That verhielt es sich so; wie man nun auch über dies Wunder denken mag, Thatsache bleibt der bedeutende Eindruck dieses allgemein geglaubten Wunders auf Pascal: Zeugnis davon ist der Art. XVI: Pensées sur les miracles.
Bedeutsamer wird diese Sache noch durch eine Stelle aus einem Briefe Gilberta's an Fräulein von Roannes: »Bei dieser Gelegenheit trat sein ungemeines Verlangen hervor, an der Widerlegung der hauptsächlichsten, falschesten Raisonnements der Atheisten zu arbeiten«. – Ohne Zweifel ist hiemit der Zeitpunkt bezeichnet, wo Pascal begann seine Gedanken über die Religion, »Früchte nicht nur des Studiums und angestrengter Lectüre, sondern zugleich des Verkehrs und des Zwiegespräches über die höchsten Wahrheiten und Bedürfnisse des Menschen«, die er in den letzten drei Jahren gesammelt hatte, schriftlich zu fixiren. – Und wenn wir hiemit die Bemerkung Gilberta's vergleichen: »Das letzte Jahr, welches er arbeiten konnte, verwandte er ausschließlich hierzu«, so ist es wohl ziemlich bestimmt, daß damit das Jahr von Ostern 1657 (Beendigung der Provinciales) bis dahin 1658 bezeichnet ist, denn von diesem Zeitpunkte an war Pascal nicht mehr im Stande, regelrecht zu arbeiten. Wenn wir also lesen, daß Pascal selbst geäußert, er habe zur Vollendung des apologetischen Werkes, dessen Fragment uns in den Pensées vorliegt, zehn gesunde Jahre nöthig gehabt; Gott aber habe ihm nur vier kranke gegeben, so sind damit ohne Zweifel die Jahre 1654-1658 gemeint. Sein Hauptstudium in den letzten Jahren war die heilige Schrift: »er las sie so fleißig, daß er sie gutentheils auswendig wußte, und man ihm keine Stelle falsch citiren konnte; er wußte immer bestimmt zu sagen, ob etwas aus der Schrift sei oder nicht, und war immer im Stande die Stelle nachzuweisen«. – Seit dem Jahre 1658 begann das langsame Absterben; seine Leiden verdoppelten sich und dies begann mit einem heftigen Zahnweh, welches ihm durchaus den Schlaf raubte. In einer seiner schlaflosen Nächte kamen ihm zufällig einige Gedanken über das Problem der Roulette oder Cykloide: er verfolgte dieselben und in kurzer Zeit fand er die Lösung: ein neuer und letzter Beweis von der Größe seines mathematischen Genius. Er benutzte diese Lösung zu einem Preisausschreiben, auf den Rath seines Freundes, des Herzogs von Roannes. Da indeß keine richtige Lösung eingesandt wurde, so ließ Pascal von dem Preise, den er ausgesetzt hatte, seine eigene Arbeit veröffentlichen. – Pascals Leben in seinen letzten Jahren war, wie schon erwähnt, eine einzige, andauernde Krankheit, ein fortgesetztes Entsagen und Verzichten, und ein unaufhörliches Streben, alle Gedanken unausgesetzt auf Gott, das Göttliche und das Seelenheil zu richten. – Seine Krankheit bestand in beständiger Kolik, anhaltendem Kopfweh, Zahnweh, Schwindel etc. Er ertrug alles das mit bewunderungswürdiger Geduld, ja, in echt christlicher Weise pries er Gott für diese Krankheit, denn, sagte er, ich habe eingesehen, daß krank zu sein der wahre und richtige Zustand eines Christen ist; daß Gesundheit nur zu leicht von dem abzieht, was das alleinige Streben sein sollte. Seine großartige Geduld zeigte sich vor allen in der Beobachtung ermüdender und lästiger Kleinigkeiten: so konnte er einmal alle Flüssigkeiten nur tropfenweise und in lauem Zustande vertragen, und in dieser Weise mußte er die ekelerregendsten Medicinen zu sich nehmen; er that es lange Zeit hindurch ohne Widerwillen, ja mit Heiterkeit. – Seit er die Welt verlassen, verzichtete Pascal auf alle Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten: er bediente sich selbst, ja er nahm zu sich in sein Zimmer einen kranken Armen, den er nun selbst bediente und so gut pflegte, wie er selbst gepflegt wurde. Eine große Liebe zu den Armen bemächtigte sich seiner und er sagte einst zu seiner Schwester; »Ich wundere mich, daß ich, der ich doch die Armen liebe, so wenig für sie gethan habe«. Nichts desto weniger mußten seine Verwandten ihn am Geben verhindern, damit er nicht selbst verarme; er brachte dann aber alle Einreden zum Schweigen damit, daß er sagte: »Eins habe ich bemerkt, daß, wie arm auch ein Mensch sei, er bei seinem Tode immer etwas hinterläßt«. Trotz alledem und da sein einziges Streben darauf gerichtet war, Gott zu leben und Gott allein anzugehören, lebte Pascal in beständiger Furcht, daß ihn etwas in die Welt zurückziehen könne, und in diesem Sinne fürchtete er sich förmlich, gesund zu werden. Er besorgte stets, daß es etwas geben und ihm etwas begegnen möchte, woran er mit weltlicher Liebe sein Herz hänge, und welches ihn dann von seinem einzigen Streben abziehen müsse: so vermied er es ängstlich, seinen Verwandten irgendwie in Worten und Geberden seine Liebe zu bezeigen, obwohl er in Thaten und Handlungen der zärtlichste Bruder war. Aus demselben Grunde trug er auf bloßem Leibe einen Gürtel mit scharfen eisernen Stacheln: so wie nun im Gespräche irgend etwas seinen Geist, sein Gemüth zu fesseln, sein Wohlbehagen oder seine Eitelkeit und seine Weltliebe rege zu machen drohte, so brachte er sich durch einen Stoß mit dem Ellbogen gegen diesen Gürtel wieder in das richtige Geleise seiner Gedanken zurück. – Eine in falscher Richtung angewendete und auf unwerthe Kleinigkeiten verschwendete Energie, gleichwohl stets groß und bewunderungswürdig. – Wenn dieser Geist in protestantischer Würdigung, Schätzung und Auffassung der Welt und des weltlichen Lebens seine Kraft entfaltet hätte! – Wie weit Pascal durch sein Streben, nur für Gott und das Heil der Seele zu leben und alles andere im Verhältnisse dazu gering zu achten, geführt wurde, das beweist der Pergamentstreifen, der nach seinem Tode vorgefunden wurde und auf dem die Worte standen: » Il est faux que nous soyons dignes que les autres nous aiment: il est injuste, que nous le voulions«. cf. Pens. Art. XVII, 67. – cf. 49. – –
In solch hohen und edlen Bestrebungen sich unausgesetzt und ohne Ermattung bethätigend starb Pascal am 19. August 1662, in einem Alter von neununddreißig Jahren und zwei Monaten: seine letzten Worte waren: »Daß mich Gott nie verlassen möge!« – Pascals Leichnam wurde beigesetzt in der Kirche St. Etienne du Mont in Paris. Seine Schwester Gilberta und ihr Gemahl ließen ihm eine Grabtafel setzen; sie glauben dies besonders entschuldigen zu müssen, weil sie dem galt, »der sich der Armuth und Demuth befleißigt und erfreut habe«. – Eine andere, nicht ausgeführte Grabschrift giebt es: »dies war die in Port-Royal am wenigsten verdächtige Weise die Freunde zu loben«: darin heißt es von Pascal: » Hunc rhetores amant facundum, hunc scriptores norunt elegantem, hunc mathematici stupent profundum. Hunc philosophi quaerunt sapientem, hunc doctores laudant theologum. – – Quid plura viator, quem perdidimus? – Pascalem. Is Ludov. erat Montaltius. Heu! Satis dixi, urgent lacrimae.« –
Als die Feinde Port-Royals die Biographie Pascals zu veröffentlichen hintertrieben, gedachte man der Worte von Tacitus über die Ahnenbilder bei einem Leichenbegängnisse: » Praefulgebant Cassius et Brutus eo ipso quod eorum effigies non visebantur«.
Es erübrigt nun, um das Bild bei aller Kürze und Gedrängtheit doch einigermaßen zu vervollständigen, einen flüchtigen Abriß der Zeit, in welcher Pascal lebte, zu geben; diejenigen Zeitströmungen und Elemente zu skizziren, die auf Pascal von besonderem Einflusse waren, sowie auch die Grundlagen, Mittel und Ziele der Pascal'schen Apologetik mit wenigen Worten in das rechte Licht zu setzen.
Wir werden also hier die Zeit von 1623-1662, also rund die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts zu betrachten haben, wobei indeß kleine Grenzüberschreitungen im Interesse des Ganzen gestattet sein mögen.
Zunächst möge Manches, was anzuführen hier zu weit führen würde, durch den Laut der ausgesprochenen Zahlen gewirkt und ersetzt werden. Dadurch wird gewiß die Idee einer großen, gewaltigen, wilden und rohen, für Frankreich speciell glanzvollen und ruhmreichen Zeit geweckt: es war gewissermaßen eine gespaltene Zeit: eine absterbende und eine auflebende: auf den Trümmern der Ständeverfassung erhob sich die absolute Fürstenmacht; das Gebäude der katholischen Kirche wurde theilweise eingerissen und in neuen Formen und Gedanken wieder erbaut; die abgestorbenen Reste mittelalterlich-scholastischer Weisheit und Weltanschauung ragten ruinenhaft und doch noch immer lebendig und wirksam in diese Zeit hinein, und zugleich erhob sich aus und über der scholastischen Trümmerwelt eine neue kräftige Welt philosophischer Gestaltungen. – Die Zeit glich in der That einem ungeheuren Todtenfelde, aber in demselben lag der Keim einer neuen lebensvollen Welt, und aus diesem entsproßte die große Neuzeit der Philosophie. –
Wo war denn die mittelalterliche Scholastik geblieben und was war aus ihr geworden? – Niemals hat wohl eine wissenschaftliche Richtung, fast möchte ich sagen, Schule ein glänzenderes Fiasco gemacht, als die Scholastik: sie war ausgegangen von dem Gedanken die Übereinstimmung von Glauben und Wissen, von Theologie und Philosophie, von Praxis und Theorie zu beweisen, und war nach jahrhundertelanger Arbeit dahin gekommen, die Unvereinbarkeit dieser verschiedenen Gebiete bewiesen zu haben: bewiesen zu haben, daß dasselbe in der Theologie wahr, in der Philosophie aber falsch sein könne: bewiesen zu haben, daß es so, wie es in der Kirche factisch sei, nicht mehr bleiben könne, daß eine Reformation unbedingt nöthig sei: bewiesen zu haben, daß die ganze Scholastik auf eine falsche Voraussetzung aufgebaut, also im Schlusse vergeblich gewesen sei. – Einen größeren Zwiespalt kann man sich in der That kaum denken, und dem entsprach denn auch die säubernde, vernichtende, reformirende Explosion: ein Jahrhundert wird durch sie ausgefüllt. Wenn es erlaubt ist auf die Reformation einen Ausspruch Pascals anzuwenden, so möchte man sagen: »Jeder Fortschritt ist eine neue Art des Irrthums«; auch die Reformation war, wie alle Revolutionen, gewissermaßen radical: hatte die Scholastik die Vereinigung von Theologie und Philosophie als unvereinbar erwiesen, so warf man jetzt die Philosophie einfach bei Seite und behalf sich lediglich mit der Theologie. Selbst das Erhabenste hat seine Achillesferse, und selbst das größte Genie muß einseitig, oder respectvoller geredet, concentrirt sein. Wäre es nicht ein philosophischer Sansculottismus, so möchte ich hier den Satz anwenden: omnis determinatio est negatio. – Die Reformationszeit beschränkte sich auf die Theologie und negirte die Philosophie und in der That hat es wohl kein unphilosophischeres Jahrhundert gegeben als dieses. Das Genie läßt bei seinen auf das Ganze gerichteten Schöpfungen Lücken: Talente folgen nach und füllen aus; auf das sechszehnte Jahrhundert folgt das durchaus philosophische, in dieser Beziehung nachholende, ausbessernde siebzehnte Jahrhundert. – Die neue Philosophie nimmt zunächst ihren Ausgangspunkt in dem Endpunkte der Scholastik: hatte man dort mit dem Zwiespalt geschlossen, so fing man hier damit an. Die ganze Scholastik bewegt sich in dem Gegensatze von Nominalismus und Realismus: von Roscellin und Anselm, bis auf Occam und Gabriel Biel war das ihr Weg gewesen, hatte diesem Gegensatze alles Streiten und Kämpfen und Denken gegolten. Damals war die große und einzige Frage: ist das wirklich existirende wirklich, oder ist dieses nur eine flüchtige Krystallisation der Ideen, und die letzteren das eigentlich Wirkliche? Und nach der verschiedenen Beantwortung dieser Fragen gestaltete sich die ganze Weltanschauung, und wie total einander entgegengesetzt diese sein mußten, das läßt sich leicht einsehen. Diese verschiedenen Weltanschauungen blieben auch jetzt bestehen, aber die Probleme, als deren Folgen sie erscheinen, nahm man jetzt nicht mehr wie die Scholastik aus jenen unheilvollen Sätzen des Boethius, man bezeichnete sie nicht mehr mit den gegensätzlichen Worten Realismus und Nominalismus, sondern man ging durchaus noch einen Schritt weiter zurück: auf die griechische Philosophie und auf den Gegensatz von Materie und Geist. Jetzt hieß es also nicht mehr: das wirklich real existirende sind die Universalia, die Allgemeinbegriffe; oder: nein im Gegentheile es sind die Einzeldinge! – jetzt hieß es: das real existirende ist die Materie, oder das real existirende ist der Geist. Die innige Verwandtschaft beider Standpunkte liegt auf der Hand. Jetzt war der Gegensatz der zwischen Empirismus, der bald zum Sensualismus wurde, und philosophischem Rationalismus: beide gründeten sich auf die exacten mathematischen und Naturwissenschaften, aber sie unterschieden sich durch verschiedene Erklärung der Substanz: bei jenem war das Object der philosophischen Speculation die ausgedehnte Substanz, die Materie; bei diesem, wenn auch noch nicht bei Cartesius, so doch consequent bei Spinoza, die denkende Substanz, der Geist. Francis Baco von Verulam (1561-1626) und Hobbes (1588-1679) auf der einen, Cartesius (1596-1650) und Spinoza (1632-1677) auf der anderen Seite waren die zeit- und weltbewegenden Mächte. Und sie alle waren mehr oder weniger Zeitgenossen Pascals, ihre Bestrebungen, Ansichten und Absichten waren mehr oder weniger auch die Pascals. Auch Pascal war als genialer Mathematiker ein Empirist vom reinsten Wasser, ja in Folge dessen auch Skeptiker in der schärfsten und ausgebildetsten Weise; andererseits aber wußte Pascal seinen Skepticismus in den richtigen Grenzen zu halten und auf die richtigen Ziele und Zwecke hin anzuwenden, und der religiöse, ja mystische Zug, der in der rationalistischen Philosophie seiner Zeit lag, berührte Pascals Geist näher und verwandter. Auf Pascal speciell, der selbst sagt: »man muß die drei Eigenschaften haben: Mathematiker, Skeptiker und gläubiger Christ«, wie im allgemeinen auf die Zeitphilosophie kann man das Wort Bacos anwenden: » philosophia leviter gustata a Deo abducit, bene hausta ad Deum reducit.« – Und in der Tat, die Zeitphilosophie führte nicht sowohl in ihren Tiefen auf Gott zurück, als sie vielmehr von Gott ihren Ausgangspunkt nahm: er war gewissermaßen das A und O dieser Philosophie, denn wenn auch Cartesius die unmittelbare Gewißheit des Selbstbewußtseins als den archimedischen Punkt annimmt, von dem aus die Welt bewegt werden soll, so steht doch daneben unmittelbar die Gewißheit der absoluten Substanz, und die Grundpfeiler unserer ganzen Erkenntnis, ohne welche sie unmöglich wäre, sind die Wahrhaftigkeit und die Liebe Gottes. Von hier aus durch die Systeme Geulincx', dessen Occasionalismus alle Ereignisse und Bethätigungen des Lebens nur als Acte Gottes aufzufassen vermag, und Malebranche's hindurch, dessen Ansichten in dem Satze gipfeln: » nous voyons toutes les choses en dieu«, bis zu dem Systeme Spinoza's, in dem die einzige Substanz Gott ist, und in dem alle Erkenntnis zum amor intellectualis Dei geworden ist: bezeugt die Zeit in stufenweisem Fort- und Aufwärtsschreiten ihren tiefreligiösen, ja mystischen Zug. »Das Jahrhundert, welches das Princip der Subjektivität begründet hat, hat für das Recht und die Wahrheit des subjektiven Denkens die Quelle und die Bürgschaft in Gott gesucht. cf. Weingarten p. 54. Die Philosophie wird Erkenntnis Gottes, die Metaphysik wird religiös.« Und in der That, die Zeit war darnach angethan, religiöse Empfindungen und Gedanken hervorzurufen: es ist die Zeit, die zum ersten Male klar erkennt und ausspricht: scientia et potentia humana in idem coincidunt (Baco: nov. org.) und die »den Besitz der höchsten Macht für das oberste aller Güter erachtet.« cf. damit den Grundgedanken in dem »Faust« von Christ. Marlowe, c. 1590: Faust's Streben ist: Macht durch Wissen. Aber unter welchen Erschütterungen wird diese Macht erlangt, welch' tragisches Ende sehen die Zeitgenossen an den Machthabern!: Gustav Adolph fällt in der Schlacht; Wallenstein durch Meuchelmord; Gustav Adolph's Tochter, die »Königin von ungemessenem Ehrgeize und fürstlichem Selbstgefühle«, in der Verbannung; Karl I. stirbt von der Hand des Scharfrichters; in Frankreich die Gräuel des Bürgerkrieges: alles das predigt mit gewaltiger, prophetengleicher Eindringlichkeit die Wandelbarkeit und Kurzlebigkeit irdischer Größen. cf. I, Art. IX, § 38. »Solche Epochen sind die Saatzeiten der Religion. In ihnen machen sich auch ungesucht die Gedanken, die auf das Ende aller Dinge gehen, geltend; die Weltverachtung jansenistischer Askese erscheint doch als die höchste Macht auf Erden, und die Motive, von denen Pascals Apologie ihren Ausgang nahm, werden in den Gemüthern mächtig.« – Pascal lebte voll und lebendig mit seiner Zeit und alle die reichen Geistesströmungen, welche in derselben neu hervorsprudelten, nahm er in seinem großen Geiste befruchtend und schöpferisch auf, und wenn wir oben in dieser Zeit gewisse Anknüpfungspunkte an die abgestorbene Welt der Scholastik gefunden, so war Pascal in mehr als einem Sinne retrograd: er steht in gewisser Verwandtschaft mit den mittelalterlichen Mystikern: in ihm wird die Philosophie zur Religionsphilosophie; er nimmt die Gegensätze in sich auf, läßt sie beide in sich zu Recht bestehen, und, ohne sie organisch zu verschmelzen und auszusöhnen, hebt er sie gewissermaßen auf durch das Postulat des menschlichen, hilfe- und trostbedürftigen Herzens: über ihnen schwebt in ewiger, unveränderlicher Glorie, wie ein Friedensgruß und eine Friedensverkündigung von oben, das stetige, unabweisliche Streben des Menschen nach seliger Gottesgemeinschaft. Darnach muß man die Apologetik der Pensées beurtheilen: Pascal will keineswegs durch Beweise überführen, er will nicht belehren, sondern Liebe und Herzensneigung erwecken: échauffer, non instruire. I, Art. X, § 19. – Diese Art und Weise Pascals muß noch erklärt werden. Wenn Pascal all' die verschiedenen Auffassungen und Beurtheilungen des menschlichen Wesens, die in der Philosophie hervorgetreten sind, summarisch zusammenfassen und durch wenige Repräsentanten verdeutlichen will, so nennt er Montaigne und Epictet. Diesen, den römischen Sclaven und späteren Freigelassenen aus der Zeit Hadrians, als ein Beispiel und Beweis für die Kraft und Größe des Menschen, für alles das, was der Mensch in sittlicher Beziehung aus sich selbst vermöge, und für den berechtigten und doch falschen Stolz des Menschen auf seine Kraft und Größe; jenen, den geistreichen, genialen, bald ernsten bald frivolen Humanisten und Essaiisten aus dem Reformationsjahrhundert, als Beleg und Zeugnis für die Ohnmacht, Unwissenheit und Hilflosigkeit des Menschen, für den Zweifel an seinem Werthe, an alle dem, worauf der Mensch, besonders der religiöse Mensch, stets Ansprüche erhebt und erheben muß, für die Niedrigkeit und das Elend des Menschen. – Grandeur et misère: das sind die Ausgangspunkte der Apologetik Pascals: die einen erheben den Menschen bis zu den Göttern, die anderen erniedrigen ihn bis unter die Thiere, und beide mit gleichviel oder gleichwenig Recht: wo aber liegt nun die Wahrheit? Zwischen diesen beiden Abgründen wird der Mensch hin und her geschleudert: homme ne sait à quel rang se mettre: weder die Behauptung reiner Größe, noch die reiner Niedrigkeit entspricht seiner wahren Verfassung; er bewegt sich von einem Widerspruch zum andern, ohne Klarheit finden zu können jusqu'à ce qu'il comprenne qu'il est un monstre incompréhensible. Das ist der letzte Dienst, den die Wissenschaft dem Menschen leisten kann; er müßte verzweifeln, wenn nicht zugleich die Wissenschaft über sich hinauswiese auf die Religion. Wo aber nun die wahre Religion finden? Sicher da, wo jenes beides gelehrt und anerkannt wird, wo wir uns mit unserer Größe und unserem Elend wiederfinden und eine höhere Vereinigung und Versöhnung beider. »Nur das ist die wahre Religion, welche unsere wahre Natur erkannt hat. Denn die wahre Natur des Menschen, sein wahres Gut, die wahre Tugend und die wahre Religion sind Dinge, deren Erkenntnis von einander nicht zu trennen. Sie muß die Größe und die Niedrigkeit des Menschen erkannt haben, und den Grund von beiden. Welche andere als die christliche Religion hat alles dies erkannt?« cf. Pens. IV, 2. Das ist der Schluß, zu dem Pascal kommt und herrlich ist derselbe zusammengefaßt in den Worten: »Die Erkenntnis Gottes ohne die unseres Elends macht hochmüthig; die Erkenntnis unseres Elends ohne die Gottes führt zur Verzweiflung: Jesus Christus ist die Vermittlung, denn in ihm finden wir Gott und unser Elend«. – So hat Pascal alles ins Ethische umgesetzt: der Ausgangspunkt des Cartesius: »der Gegensatz von Geist und Körper« ist auch der Pascals: »Größe und Elend«; was aber dort abstracte philosophische Begriffe, das sind hier ethische Elemente. »Hatte die philosophische Betrachtungsweise des Cartesius das Cogito zu ihrem Ausgangspunkte genommen, so hat Pascal dem intellektuellen Element im Menschen das Gefühl gegenüber gestellt und darauf sein System gebaut: » Instinct et raison, marques de deux natures«. Bei Cartesius herrscht des Gesetz der Demonstration, bei Pascal das der Liebe, des Glaubens. »Pascals Apologie des Christenthums ist nur eine große Ahnung der Vereinigung von Wissen und Glauben, Philosophie und Religion.« –
Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um an Pascal wie besonders an seiner, leider Fragment gebliebenen, Apologie des Christenthums, den Pensées Interesse zu erwecken. – Noch einige Worte über die Pensées selbst. – So wie wir dieselben kennen, sind sie nicht das, was sie nach Pascals Willen sein sollten. Man erinnere sich daran, daß Pascal nur vier kranke Jahre zu verwenden hatte, und daß in diesen eigentlich nur die Gedanken und Materialien gesammelt werden konnten: die zusammenhängende Verarbeitung, insbesondere eine fertige Form konnte denselben von Pascal nicht mehr gegeben werden. So hat man denn die kleinen Zettel und Papierschnitzel, die man nach Pascals Tode zu Päckchen zusammengebunden vorfand, und auf denen diese bedeutenden Materialien niedergeschrieben waren, in einigermaßen passender Ordnung zusammengestellt und ihnen den Namen Pensées gegeben. Dieser Titel rührt nicht von Pascal her; vielmehr läßt sich aus verschiedenen Gründen mit einiger Sicherheit der Schluß ziehen, daß die von Pascal beabsichtigte Form die der Provinciales war, nämlich die Briefform. Indeß Pascal konnte sein Werk nicht mehr vollenden und wir müssen uns mit dem begnügen, was wir haben. Nach seinem Tode veranstalteten die erste Ausgabe seine Freunde Arnauld und Nicole, und wenn sie auch, besonders auf das Verlangen Gilberta Periers hin, genöthigt waren, den Text sehr pietätvoll zu behandeln, so bewog sie andererseits doch die Furcht vor den Jesuiten, die den Angriff der Provinciales nicht verschmerzen konnten, zu manchen verflachenden, anstoßfreien Correcturen. Diese Ausgabe war von 1678. Ein Jahrhundert später, als Voltaire und die Encyclopädisten Frankreich beherrschten, gab jener die Pensées nach einer geschmackvollen und geschickten Anordnung Condorcets heraus und begleitete dieselben mit frivolen Anmerkungen. Welcher Art dieselben gewesen, kann man aus Voltaires Urtheil über Pascal nach dem Vorfall an der Brücke von Neuilly bemessen. Ein Jahr später erschien zuerst eine Gesammtausgabe der Werke Pascals, 1779, besorgt durch den Abt Bossut: obgleich im wesentlichen nach der Ausgabe von 1678 gearbeitet, haben wir hier die Pensées doch vollständiger und in reinerer, ursprünglicherer Fassung. Ein Abdruck dieser Ausgabe ist die von Renouard. Eine vollständig kritisch genaue Ausgabe ist erst 1844 von Prosper Faugère besorgt: hier ist alles genau, wie Pascal es geschrieben; aber wenn an kritischer Genauigkeit dadurch viel gewonnen, so ist an Zusammenhang viel verloren: die Ausgabe erscheint wie ein Haufen zusammengebundener loser, fliegender Blätter: es ist ein Buch für den gelehrten Forscher, nicht für den Dilettanten; ein Buch zur Arbeit, nicht zur Lectüre. – Deshalb haben wir uns an die Ausgabe von Renouard gehalten: dem Gelehrten gegenüber ein Verbrechen, dem Leser gegenüber ein Verdienst. –
Pascals Pensées sind nicht für voraus fertige, decidirte Gottesläugner geschrieben, obgleich Pascal auch diese beschwört »etwas Mitleid mit sich selbst zu haben, und wenigstens zu versuchen, ob sie nicht Aufklärung finden können. Möchten sie doch einige Stunden, die sie sonst mit anderen unnützen Dingen hinbringen, auf die Lectüre dieses Buches verwenden: vielleicht finden sie darin etwas für sich, jedenfalls verlieren sie nicht viel«. – Sie sind geschrieben für diejenigen, »die mit völliger Aufrichtigkeit und wahrhafter Sehnsucht die Wahrheit zu erkennen wünschen«, und wenn Pascal sagt: »er hoffe, daß diese in dem Buche einige Befriedigung finden würden«, so können wir, die Worte Voltaire's ihres malitiösen und bissigen Charakters entkleidend, mit Fug und Recht behaupten: »Pascal bedient sich der Übermacht seines Genies, wie Könige ihrer Macht. Er unterdrückt und unterwirft alles durch die Gewalt seines Geistes«. Und gewiß jeder vorurtheilsfreie und einigermaßen religiöse Mensch wird sich Pascal gern unterwerfen und die Berechtigung des Wortes anerkennen: »Il n'y a que deux sortes de personnes qu'on puisse appeler raisonnables: ou ceux qui servent Dieu de tout leur coeur, parce qu'ils le connaissent; ou ceux qui le cherchent de tout leur coeur, parce qu'ils ne le connaissent pas encore.«
Mögen die letzteren in den Pensées suchen: sie werden finden!
Medingen, den 27. Januar 1881.