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Landgerichtsrat Dr. Dickmann seufzt. Die Uhr im Verhandlungssaal zeigt drei. Und zwei Verhandlungen stehen heute noch an.
»Ich kann nicht mehr«, denkt er verzweifelt und faßt sich mit Daumen und Zeigefinger in die Augenwinkel. Seit neun Uhr sitzt er ununterbrochen hier. Sechs Stunden lang eine Zeugenvernehmung nach der anderen.
»Ich lasse vor Verhandlung der nächsten Sache eine Pause von einer halben Stunde eintreten«, sagt er laut. Steht brüsk auf und verläßt den Sitzungssaal. Die beiden Schöffen sehen ihm erstaunt nach.
In seinem Zimmer läßt er sich schwer auf einen Stuhl fallen. Selbst die Zigarette schmeckt nicht mehr. Kaputt ist er, fertig, erledigt. Aufhängen sollte er sich. »Ich kann nicht mehr.« Er schüttelt verzweifelt den Kopf. Das kann auf die Dauer auch den ruhigsten Menschen verrückt machen: sechs Stunden Verhandlung, ganz ungeklärte Sache. Und nun fangen die beiden Schöffen auch noch an, Schwierigkeiten zu machen!
Eben hat Dickmann einen Angeklagten freisprechen müssen. Vom Einzelrichter war der Mann wegen schweren Diebstahls im Rückfalle zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden, und bestimmt hatte er das verdient. Aber die Beweise waren so dünn, so verworren, die Zeugenaussagen so trostlos ungenau. Da hat er den Mann eben freisprechen müssen. Es ist ein widerwärtiges Gefühl, diese Befürchtung, einen notorischen Spitzbuben in allen Ehren dem Leben wiedergegeben zu haben. Aber diese Schöffen!
Der eine geht ja. Anständiger, einfacher Mann. Bürogehilfe in einer großen Fabrik. Aber der andere! Ekelhafter Kerl. Ein Werkzeugschlosser. Richtiger Klugscheißer. Fragt bei jedem Dreck wieso und warum. Läßt sich nicht überzeugen und hat nun richtig auch den anderen Schöffen verrückt gemacht. Landgerichtsrat Dr. Dickmann ist heute von zwei Schöffen überstimmt worden. Das macht wirklich keinen Spaß. Man kommt sich so blamiert vor!
Kopfschmerzen, Müdigkeit. Keine Lust.
Wozu denn eigentlich dieses ganze Theater? Morgens steht man auf, geht auf den Lokus, mittags ißt man, abends geht man schlafen. Tagsüber verurteilt man kleine Schächer. Und das geht immer so weiter. Das nennt sich Leben! Lohnt sich denn das?
»Ich kann nicht mehr.«
Wozu jeden Tag Akten wälzen, Urteile sprechen? Staatsautorität, Sicherung der Gesellschaft, Gerechtigkeit, – was geht ihn das an? Schlafen gehen, tagelang schlafen, garnicht wieder aufwachen ...
Der Landgerichtsrat Dr. Dickmann legt den Kopf auf den Tisch. Er schließt die Augen. Dann lächelt er. Von irgendwoher hört er Musik, sanfte, gleitende Töne, einen Bachchoral: »Liebster Herr Jesu, wo bleibst du so lange. Komm doch, mir wird hier auf Erden so bange. So bange ...«
Das geht nicht. Du bist hier im Kriminalgericht und nicht in der Kirche!
Ein hastiger Blick auf die Uhr. Höchste Zeit. Dickmann rafft sich zusammen. Im Beratungszimmer stehen die Schöffen, der Unsympathische und der Stille.
»Die nächste Sache!«
Wenn nur diese Müdigkeit nicht wäre!
Das ist also der Angeklagte Kazmierziak. Dickmann mustert ihn kurz. Widerwärtig sieht der Kerl aus.
Die Akten. Dickmann erläutert den beiden Schöffen den Fall: »Der Angeklagte ist wegen Bettelns vom Schnellgericht zu vier Wochen Haft verurteilt. Außerdem ist auf Überweisung an die Landespolizeibehörde erkannt worden. Sie sind jetzt schon im Arbeitshaus, Angeklagter?«
Der Angeklagte nickt.
Wie oft Dickmann einen solchen Fall erlebt hat! Manchmal hat er in Pörgelau an einem einzigen Tag gleich drei oder vier solche Burschen verurteilt.
Vorstrafenregister. Der Mann ist wegen Bettelns und Obdachlosigkeit nicht weniger als vier-, sechs-, siebenmal vorbestraft. Eine Unverschämtheit von dem Kerl, daß er überhaupt noch wagt, Berufung einzulegen.
Dickmann sieht den Angeklagten feindselig an. Und wegen so eines Landstreichers muß man hier Stunden und Stunden sitzen.
»Sie haben also Berufung eingelegt.« Dickmann spürt selbst, daß sein Ton vielleicht ein wenig zu schroff ist. Aber da soll man auch die Ruhe behalten. »Worauf stützen Sie die Berufung?«
Der Angeklagte schielt von unten her scheu zu seinem Richter hinauf und schweigt.
Dickmanns Nerven zittern. Ruhe! Ruhe! Der Mann versteht vielleicht nicht. »Sie haben Berufung eingelegt gegen das Urteil, das Sie zu vier Wochen Haft und Überweisung an die Landespolizeibehörde verurteilt hat. Glauben Sie denn, daß Sie damit Glück haben werden?«
Kazmierziak schweigt.
»Sie sind siebenmal wegen Bettelns vorbestraft, einmal haben Sie sogar schon ein Jahr lang im Arbeitshaus gesessen. Hören Sie mal, ich finde, da sind vier Wochen Haft und ein Jahr Arbeitshaus wirklich eine recht milde Strafe. Worauf stützen Sie denn Ihre Berufung?«
»Ich wollte bitten ...«
»Sprechen Sie doch lauter, Angeklagter! Ich muß hier auch den ganzen Tag laut und deutlich reden, da ist es doch wohl nicht zuviel von Ihnen verlangt, wenn ... Also was wollen Sie?«
»Ich wollte bitten, daß ich nicht ins Arbeitshaus komme.«
Wenn der Kerl doch bloß laut sprechen möchte! Ist ja nicht auszuhalten, dieses Gemuschel!
»Also Sie wollen Ihre Berufung auf das Strafmaß beschränken. Denn daß Sie gebettelt haben, das wollen Sie doch wohl nicht bestreiten. Und warum wollen Sie nun nicht ins Arbeitshaus?«
Dickmann merkt, daß das eine dumme Frage ist. Er ärgert sich über sich selbst. Und weil der Angeklagte auf diese dumme Frage keine Antwort findet, schreit er ihn an: »Herrgott, Mensch, nu reden Sie doch! Sie können doch nicht einfach was ausfressen und hinterher sagen: ich möchte nicht bestraft werden. Sie müssen doch irgendeinen Grund haben!«
»Ich habe eine vierundsiebzigjährige Mutter zu ernähren.«
»Was haben Sie? Zu ernähren? Na, ist doch ... Wovon ernähren Sie sie denn, was? Vom Betteln, nicht wahr?«
»Ich kann doch nicht dafür. Ich habe mir im Feld ein Magenleiden zugezogen. Ich soll Kalbfleisch essen, sagt der Doktor. Meine Mutter ist andauernd krank. Wir haben beide zusammen sechzig Mark im Monat Unterstützung. Davon gehen allein vierundzwanzig Mark für die Miete ab ...«
»Deswegen brauchen Sie doch nicht zu betteln. Sie sagen, Sie sind im Felde krank geworden, beziehen Sie denn da nicht eine Invalidenrente?«
»Das Versorgungsgericht hat meine Ansprüche abgelehnt. Sie sagen, ich kann mir ja die Krankheit erst später geholt haben.«
»Wenn das Versorgungsgericht Ihre Ansprüche abgewiesen hat, dann wird es wohl seine Gründe gehabt haben.«
»Und Arbeit kriege ich nicht. Ich habe mich andauernd bemüht.«
Dickmann fühlt, wie die Sache ihm entgleitet. Ruhig, ruhig! »Na, es finden doch andere Leute Arbeit.«
Kazmierziak hebt den Kopf ... Seine Brust hebt sich schwer: »Herr Rat, das kann Ihnen genau so gehen ...«
Dickmann kreischt: »Lassen Sie gefälligst meine Person aus dem Spiel, ja? Ich arbeite, Angeklagter! Ich arbeite, und Sie betteln.«
»Aber wat soll ick denn machen! Ick kann doch nich einfach verrecken, bloß weil det Betteln verboten ist!«
»Reden Sie in anständigem Ton, ja? In Berlin ist noch kein Mensch verhungert.«
»Keen Mensch? Jeden Tag verrecken sie wie die Fliegen ... Sie wissen das bloß nich, Herr Rat.«
Dickmanns Hand krampft sich um den Bleistift. Ich kann nicht mehr. »Wir sind nicht dazu hier, uns zu unterhalten«, sagt er matt. »Haben Sie sonst noch etwas zu bemerken, Angeklagter? Nein. Herr Staatsanwalt!«
Der junge Assessor, der den Staatsanwalt vertritt, erhebt sich:
»Angesichts der Vorstrafen des Angeklagten scheint das Urteil der Vorinstanz durchaus angemessen. Die Beweisaufnahme hat nichts ergeben, was eine andere Beurteilung der Sachlage erforderlich machen könnte. Ich bitte daher, die Berufung zu verwerfen.«
Gott sei Dank. Kurz und schmerzlos. Dickmann schielt auf die Uhr: »Angeklagter, haben Sie noch etwas zu bemerken? Wir werden beraten.«
Den beiden Schöffen vorauf geht Dickmann ins Beratungszimmer und beginnt sein Referat: »Meine Herren, ich glaube, diesmal können wir uns eine lange Beratung sparen. Sie haben gehört, daß der Angeklagte siebenmal einschlägig vorbestraft ist. Die Überweisung ins Arbeitshaus scheint demnach durchaus angemessen. Ist ja schließlich für den Mann auch das beste. Wir sind nicht nur dazu da, Verbrechen zu bestrafen, wir müssen sie auch verhindern. Sehen Sie, der Angeklagte würde in der Freiheit sofort wieder rückfällig werden. Da tut man dem Mann ja geradezu einen Gefallen, wenn man ihn im Arbeitshaus interniert. Die Überweisung an die Landespolizeibehörde, die Internierung im Arbeitshaus also, gilt nicht als Strafe, sondern als korrektionelle Nachhaft. Auf diese Nachhaft kann erkannt werden bei den Vergehen des Bettelns, der Obdachlosigkeit und der Landstreicherei, sowie bei den Verbrechen des Glücksspiels und der Zuhälterei. Soweit die Rechtslage. Ich bin der Ansicht, die Berufung des Angeklagten müsse verworfen werden.«
Die beiden Schöffen schweigen. Endlich sagt der eine von ihnen, der Bürogehilfe, nachdenklich und schwer: »Ja, aber der Mann sagt doch, er muß seine Mutter ernähren. Was wird denn aus der alten Frau, wenn der Sohn im Arbeitshaus sitzt?«
Dickmann muß sich sehr zusammennehmen. Jetzt fängt das schon wieder an. Er lächelt mühsam: »Ich vermute, der alten Dame wird es nie so gut gehen, wie wenn sie ihren Sohn los ist. Außerdem ist das aber nicht unsere Sache, sondern die der Wohlfahrtsbehörden. Die werden sich des Falles schon annehmen. Noch etwas?«
Der Bürogehilfe zuckt qualvoll die Achseln: »Aber wenn der Mann nun wirklich bloß sechzig Mark im Monat hat, und er ist krank, und seine Mutter ist krank, – davon können die Leute doch gar nicht leben?«
Der Arbeiter sekundiert ihm bitter: »Verurteilt kann so ein Mann wohl werden, aber was aus ihm wird, das ist dem Staat egal.«
Dickmann erhebt sich: »Herr Schöffe, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß diese Bemerkungen hier nicht zur Sache gehören. Das Gesetz schreibt vor, daß Betteln bestraft werden muß, und weder Sie noch ich können einfach das Strafgesetzbuch außer Kraft setzen. Wir haben nur darüber zu befinden, ob der Berufung stattgegeben werden soll oder nicht. Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, einen solchen Menschen freizusprechen.«
»Dann ist das Gesetz eben sehr schlecht«, sagt der Arbeiter brummend.
»Ihre Privatmeinung kann hier nicht ausschlaggebend sein«, bemerkt Dickmann kühl. »Außerdem bin ich fest davon überzeugt, daß der Angeklagte in bezug auf seine Geldverhältnisse die Unwahrheit sagt.«
Der Bürogehilfe windet sich immer noch: »Können Sie denn nicht wenigstens in das Urteil hineinbringen, daß sich das Wohlfahrtsamt um die Mutter bekümmern soll?«
»Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr«, repetiert es in Dickmanns Hirn dumpf. »Das ist nicht Aufgabe des Gerichts«, sagt er so freundlich wie es ihm noch möglich ist. Wenn doch dieser Tag erst ein Ende hätte! Schlafen, schlafen!
»Aber es ist doch eine Ungerechtigkeit, so einen armen Teufel ins Arbeitshaus zu stecken. Der Mann würde sicher arbeiten, wenn es nur Arbeit gäbe.« Der Arbeiter wird schon wieder aufsässig!
Dickmann geht mit einigen großen Schritten im Beratungszimmer auf und ab. »Meine Herren,« sagt er energisch, »wir haben uns einzig und allein nach dem Gesetz zu richten. Das ergangene Urteil steht durchaus im Einklang mit dem Gesetz und mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Hier habe ich gerade so einen Fall.«
Dickman greift nach einem Heft, das auf dem Tisch liegt: »Hier: Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts. Es handelt sich um einen Kriegsverletzten, der ebenfalls wiederholt wegen Obdachlosigkeit und Bettelns bestraft worden ist. Hier steht: Für die Verhängung der korrektionellen Nachhaft und Überweisung ins Arbeitshaus, gleichgültig ob diese als polizeiliche Sicherungsmaßregel oder als Nebenstrafe angesehen worden ist, sind in erster Linie die Vorstrafen des Angeklagten maßgebend. Rechtfertigte schon dieser Sachverhalt die Befürchtung, daß sich der Beschwerdeführer demnächst erneut der nämlichen Übertretung schuldig machen werde, so wird diese noch weiter gestützt durch den Umstand, daß ihn die erlittene Kriegsverletzung an der Übernahme schwerer Arbeit überhaupt hindert. Mit der Verhängung der Überweisung an die Landespolizeibehörde ist mithin der Zweck erstrebt worden, den Beschwerdeführer von einer Wiederholung der Straftat abzuhalten und den alsbaldigen Wiedereintritt einer Lage auszuscheiden, die die Voraussetzung für die erneute Begehung der Übertretung abgeben würde. Die Maßregel dient mithin in gleicher Weise der Abschreckung, Besserung und Sicherung.«
Dickmann legt das Heft triumphierend auf den Tisch: »Hanseatisches Oberlandesgericht!« sagt er mit Nachdruck. »Vier Oberlandesgerichtsräte und ein Senatspräsident am Oberlandesgericht! Ich denke, Ihre Zweifel werden jetzt beseitigt sein.«
Die beiden Schöffen schweigen.
»Also stimmen Sie zu, die Berufung zu verwerfen?«
Der Arbeiter nickt mürrisch: »Dann machen Sie, was Sie wollen.«
Ruhig, ruhig! Dickmann sagt: »Das ist unzulässig, Sie dürfen sich der Stimme nicht enthalten.«
»Also gut: die Berufung soll verworfen werden.«
Der andere Schöffe nickt stumm, und Dickmann atmet auf.
Ein paar Minuten später sitzt er auf seinem Stuhl: »Im Namen des Volkes! Die Berufung des Angeklagten wird verworfen!«
Worte stolpern müde über seine Lippen. Die juristischen Phrasen, die er eben aus dem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vorgelesen hat, haften noch in seinem Gedächtnis. Er spricht sie aus und zwingt sich, dabei an den vorliegenden Fall zu denken, an den Angeklagten Kazmierziak, der dort mit geducktem, breitem Nacken in der Anklagebank steht und dem Richter so merkwürdig starr und stier ins Gesicht sieht.
»... die Verhängung der Überweisung an die Landespolizeibehörde begegnet daher rechtlich keinerlei Bedenken.«
Adam Kazmierziak, vier Jahre Krieg! Der Dank des Vaterlands ist dir gewiß ...
Die Uhr zeigt auf vier. Wie lange soll das denn heute noch dauern!
Der nächste Fall. Zeugen, vier, fünf, acht. Die Angeklagte: ein Dienstmädchen, das seine Herrschaft bestohlen hat, und das vom Amtsgericht zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden ist. Sie beteuert auch vor der Berufungskammer ihre Unschuld. Dickmann stöhnt tief auf: nun muß er wieder stundenlang Zeugen vernehmen. Und es bleibt doch bei den vier Monaten. Die Berufung der Angeklagten wird verworfen.
Gegen sechs Uhr endlich geht er über den Korridor. Die beiden Schöffen haben keine Schwierigkeiten mehr gemacht. Sie waren müde zum Umfallen, hörten kaum noch hin, wenn Dickmann etwas sagte ...
In Hut und Mantel begegnet ihm ein älterer Herr. Dickmann grüßt höflich: Landgerichtsrat Wehmeyer. Sein faltiges Greisengesicht ist bleich und freundlich.
Dickmann nickt erschöpft: »Seit heute morgen um neun.«
Wehmeyer sieht ihn freundlich an: »Sie sehen sehr müde aus, mein Lieber. Sie müßten mal ausspannen, glaube ich. Sie nehmen sich zuviel vor. Das ist nicht gut.«
In Dickmann zittert noch die Erregung des Sitzungstages nach. Er hebt den Kopf und fragt mißtrauisch: »Gut für wen? Meinen Sie für mich, oder für meine Urteile?«
Wehmeyer schüttelt lächelnd den Kopf: »Sie sollten wirklich ausspannen.« Dann faßt er den jüngeren Kollegen unter den Arm, und die beiden Richter gehen zusammen durch den Tiergarten. Wehmeyer lächelt: »Schönes Wetter heute. Frische Luft tut uns beiden gut.«
Dickmann ist dem alten Herrn dankbar, einfach für sein Dasein. Wehmeyer ist so ruhig, so weise. Dickmann hat ganz vergessen, daß er sich früher im Kollegenkreise öfter über den alten Herrn lustig gemacht hat. Der Landgerichtsrat Wehmeyer hat die merkwürdige Angewohnheit, sich mit einem milden Lächeln über mancherlei hinwegzusetzen, was anderen Richtern ein Gegenstand höchster Entrüstung ist. Hinterhältige Zeugenaussagen, Schwindelmanöver des Angeklagten, – Wehmeyer pflegt zu lächeln. Er nimmt alles nicht mehr so ganz ernst. Er ist ein alter Mann, hat viel gesehen und viel erlebt ...
Dickmann erzählt ihm von den Fällen des Tages: »Ich habe den Mann freigesprochen. Das Amtsgericht Neukölln, Amtsgerichtsrat Wildenhain, hatte ihn kaltlächelnd zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt.«
Wehmeyer lächelt milde. Er macht eine abwehrende Handbewegung: »Qu'est-ce que c'est que la justice?« murmelt er leise. »Wie schön, daß es einem doch von Zeit zu Zeit vergönnt ist, einen Irrtum wieder gutzumachen. Finden Sie nicht auch?«
Dickmann nickt mechanisch. Qu'est ce que c'est que la justice? Es ist eine fragwürdige Sache um die Gerechtigkeit. Da ist der Arbeiter Kazmierziak, Korrigend des Arbeitshauses der Stadt Berlin. Siebenmal wegen Bettelns vorbestraft. Hat eine Mutter von vierundsiebzig Jahren. Sechzig Mark im Monat. Vierundzwanzig Mark Miete, von dem Rest leben zwei kranke Menschen und sollen sich pflegen. Jetzt sitzt der Mann in Rummelsburg. Rechtens. Im Namen des Volkes!
Wehmeyer nickt trübe: »Ja ja, der Paragraph 361! Keine große Sache. Es gibt Schlimmeres. Aber mir ist immer sehr unbehaglich zumute, wenn ich einen Angeklagten ins Arbeitshaus schicken soll.«
Wieso? Ist doch sehr gut, daß die Leute da arbeiten lernen. Gerade jetzt, in dieser schweren Zeit: Tributlasten, nur ernste und fleißige Arbeit kann Deutschland wieder hochbringen. Und außerdem ist das Arbeitshaus doch so ein Mittelding zwischen einem Gefängnis und einer Wohltätigkeitsanstalt ...
»Haben Sie sich schon einmal ein Arbeitshaus angesehen?« fragt Wehmeyer vorsichtig. »Sie sollten es tun. Ich kenne manche jüngere Kollegen, die noch niemals in einem Gefängnis gewesen sind. Es sagt sich so leicht: drei Monate Gefängnis. Aber wer von uns weiß denn, was drei Monate Gefängnis sind? Für den einen eine Kleinigkeit, der andere zerbricht daran und wird untauglich für sein ganzes ferneres Leben. Ein Jahr Arbeitshaus, – gewiß, es gibt Schlimmeres, aber Sie sollten sich vielleicht doch einmal ein Arbeitshaus ansehen.«
Sie gehen durch den Tiergarten. Der Boden duftet schwer und feucht. Ratten rascheln durch das dürre Laub, und der Straßenlärm klingt fern.
... sich einmal doch ein Arbeitshaus ansehen. Und dann? Wozu das alles? Vögel, feuchter Boden, Bachchoräle. Ich kann nicht mehr ... Dickmann, du bist furchtbar müde. Es ist alles so sinnlos. Was redet der alte Mann da? Wozu noch mehr sehen? Friedrich Mehnerts Kopf rollte in den Korb, eine halbe Stunde Spaziergang im Hof, der Kübel in der Ecke stinkt ... »Liebster Herr Jesu, wo bleibst du so lange!«
Wehmeyer legt ihm vorsichtig die Hand auf den Arm, weckt ihn sehr zart aus seinem Brüten: »Sie sollten wirklich einmal ausspannen, Herr Kollege ...«
Zuhause legt sich Dickmann gleich nach dem Essen schlafen. Wozu lebt man eigentlich? Sinnlos, sinnlos. Schlafen müßte man.
Aber Dickmann kann nicht schlafen. Edith hat Besuch. Aus dem Salon tönen durch mehrere geschlossene Türen hindurch Grammophonklänge. Immer diese blöden amerikanischen Schlager. Da, man hört es ganz deutlich: »Yes Sir, that's my baby, I wonder, where my baby is to night ...«. Wenn das der Vater noch erlebt hätte! In seinem Hause Negermusik! Was das für eine Zeit ist! Natürlich liegt es nur an Ediths Gästen, daß Dickmann nicht schlafen kann. Oder doch nicht? Warum muß er fortwährend an Adam Kazmierziak denken?
Dickmann versteht sich selbst nicht. Was ist nun schon an diesem Fall! So belanglos wie nur irgendeiner. Dickmann hat den doppelten Lustmörder Friedrich Mehnert zum Tode verurteilt. Jahrhunderte von Gefängnis und Zuchthausstrafen sind unter seiner Mitwirkung verhängt worden, und jetzt kann er vor bitteren Zweifeln nicht schlafen, weil er vielleicht dem Arbeitslosen Kazmierziak Unrecht getan hat. Vier Wochen Haft und ein Jahr Arbeitshaus! Lächerlich.
Dickmann ist sich des durchaus Ungehörigen seiner Gedanken bewußt. Es geht wirklich nicht, daß man bei jedem Paragraphen des Strafgesetzbuchs die Frage nach seiner Existenzberechtigung oder seiner Gerechtigkeit stellt. Menschen, die mehrmals wegen Bettelns verurteilt werden, sind Faulpelze, asoziale Menschen. Man muß die Gesellschaft vor ihnen schützen. Wie lästig das ist, wenn andauernd Bettler an der Wohnungstür klingeln. Und abgesehen davon: der Gedanke an die Wohltätigkeit fremder Leute enthebt den Bettler von dem Gefühl der Verantwortlichkeit für sein eigenes Dasein, ohne das ein geordnetes Staatswesen nicht bestehen kann.
Es gibt wirklich wichtigere Dinge als die Frage, ob Adam Kazmierziak Unrecht geschehen ist. Um den ist es bestimmt nicht schade. Wenn ein einzelner Mensch an der Gerechtigkeit verzweifelt, – die Gerechtigkeit lebt trotzdem weiter. Angesichts der immer weiter um sich greifenden Seuche der Bettelei, der Rentenpsychose, die weite Teile unseres Volkes vergiftet, muß ein Exempel statuiert werden. Es ist vielleicht das einzige objektive Verdienst Adam Kazmierziaks, daß er ein Opfer der Idee der Staatsautorität und Volksmoral geworden ist. Soll sich damit abfinden.
Aber Dickmann kann trotzdem nicht schlafen. Immer wieder hakt sich ein bohrender Gedanke in ihm fest, reißt ihn aus dem Hindämmern auf und zwingt zu Entscheidungen.
Sein einziges Verdienst? Der Mann ist im Felde gewesen. Das geht zweifelsfrei aus den Akten hervor. Er will sich dabei ein Magenleiden zugezogen haben. Ist gewissermaßen Kriegsinvalide, wie jener Mann, den das Hanseatische Oberlandesgericht als zu Recht ins Arbeitshaus überwiesen bezeichnete. »Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiß!« Unsereiner kriegt Orden und Ehrenzeichen, ist angesehen und geehrt, die anderen kommen ins Arbeitshaus. Qu'est-ce que c'est que la justice?
Unsinn. Man müßte sich zunächst erst mal über die Praxis der Versorgungsgerichte informieren. Man müßte feststellen, ob es tatsächlich möglich ist, daß Kriegsverletzte keine Rente bekommen. Das wäre natürlich eine Schweinerei. Dickmann würde das aufs schärfste mißbilligen. Kann ja mal vorkommen, daß im Drange der Geschäfte ein nicht ganz einwandfreies Urteil ergeht. Weiß man ja. Was sagt man nicht alles der deutschen Strafrechtspflege nach: Vertrauenskrise der Justiz. Na ja, – Jakubowski, Ebersberger, Leister, Bullerjahn, die Brüder Schmidt aus Oldenburg, der Hilfsgendarm Dujardin ... Kunstfehler kommen überall vor.
Dickmann fährt auf. Er knipst das Licht an. Sein Herz klopft. Er atmet schnell. Dieses Gefühl! Dieses mordende, würgende Gefühl. Menschen werden unschuldig zum Tode verurteilt, hingerichtet, verfaulen im Zuchthaus. »Im Namen des Volkes!« Die Spruchpraxis des Reichsgerichts in Kommunistenprozessen, Hochverrat, Landesverrat ... Als ob man auf Morast ausglitte. Als ob einem hinterlistig der Stuhl weggezogen würde, auf dem man sitzt. Man hängt in der Luft. Man greift nach einem Strohhalm. Man stolpert über einen Strohhalm.
Der Fall des widerwärtigen Bettlers Adam Kazmierziak schwillt an wie eine Lawine. Hinter jeder Minute dieser Nacht grinsen die erloschenen Augen des Arbeitshäuslers. Adam Kazmierziak wächst ins Kosmische, riesig, dunkel, drohend, gewalttätig ...
Weg damit! Gerechtigkeit, Staatsidee, Sicherung der Gesellschaft ...
Dieser Gesellschaft? Dieser Nordens, die ihren Frauen Hausfreunde halten, dieser Barnims, die auf ihre Tagelöhner schießen, dieser Rodebachs, die gar nicht wissen wollen, was sie tun, Sicherung dieses wimmelnden, tausendfüßigen Gewürms von Prozeßparteien, die die Maschine der Gerechtigkeit in Gang halten? Um nichts! Um Geld, Geld, Geld! Die einen wollen es haben, und die anderen geben es nicht her.
Gerechtigkeit!
Der Landgerichtsrat Dr. Friedrich Wilhelm Dickmann sitzt aufrecht im Bett. Seine Augen starren in das Halbdunkel des Zimmers. Wenn man weinen könnte! Aber ein Landgerichtsrat weint nicht. Damit ist auch nichts geholfen.
Er steht auf und geht ins Badezimmer. Er horcht auf dem Korridor vorsichtig um sich. Wie ein Verbrecher kommt er sich vor. Im Medizinschrank im Badezimmer muß noch eine Glasröhre mit Veronaltabletten liegen. Man muß doch schlafen. Er findet das Medikament und stürzt in sein Schlafzimmer zurück. Sorgfältig nimmt er zwei Tabletten heraus, schluckt sie, trinkt Wasser nach und legt sich aufatmend wieder zu Bett.
Er lächelt. Jetzt wird er schlafen können. Braucht nicht mehr an Adam Kazmierziak zu denken. Aber Dickmann wird den Fall prüfen. Er wird der Sache nachgehen, unbestechlich, eisern gerecht. Er wird sehen, ob dem Mann Unrecht geschehen ist. Recht muß doch Recht bleiben ...
Und mit diesem tröstlichen Gedanken, der ein sanftes, kindliches Lächeln über sein Gesicht ausbreitet, schläft er ein, die Hände gefaltet. Von drüben her klingt noch immer das Grammophon: »Ich hab in Pichelsdorf nen kleinen Sommergarten, da will ich nächsten Sonntag heftig auf dich warten. Da blühen Veilchen und Gurken und Sellerie ...«
Recht muß doch Recht bleiben. Der Landgerichtsrat Dr. Friedrich Wilhelm Dickmann wird nicht über den Strohhalm stolpern, der Adam Kazmierziak heißt.
Aber mit den beiden Veronaltabletten ist der Fall doch nicht erledigt. Dickmann hält Wort. Er geht der Sache nach. Was ist mit dem Dank des Vaterlandes, dieser glatten Selbstverständlichkeit? Ist es möglich, daß die Versorgungsämter Kriegsverletzten keine Rente bewilligen?
In der Gerichtsbibliothek findet Dickmann bald eine Statistik der Versorgungsgerichtsbarkeit. Achtzig Prozent aller Versorgungsansprüche werden bereits in der ersten Instanz abgewiesen. Achtzig Prozent!
Deutschland ist ein armes Land. Man muß sparen. Und die Menschen sind oft so habgierig ...
Spruchpraxis des Reichsversorgungsgerichts ... Dickmann fröstelt. Mein Gott, das hat er nicht gewußt. Hier: ein Versorgungsamt hat die Rente eines Schwerkriegsbeschädigten gekürzt. Von fünfzig auf dreißig Prozent. Beschwerdeweg, Urteil: »Der Beschwerdeführer hat zwar einen Arm im Kriege verloren, aber durch zehnjährige Gewöhnung an diesen Zustand ist eine so weitgehende Besserung in den Arbeitsmöglichkeiten des Beschwerdeführers eingetreten, daß eine Kürzung der Rente rechtlichen Bedenken nicht begegnet.«
»Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Reichsversorgungsgerichts«, Band IV, Seite 232. Dickmann liest, ungläubig, kopfschüttelnd: »... der dem Bauer durch seine Tötung verursachte Schaden beruht auf eigenem Verschulden. Der Rentenanspruch seiner Witwe ist zurückzuweisen. Die Teilnahme an der Abwehr des Kapp-Putschs ist eigenes Verschulden ...«
Obwohl die rechtmäßige Regierung zu dieser Abwehr aufgefordert hat?
Hier: »Malaria keine Dienstbeschädigung.« »Durch den fortwährenden Genuß von Tabak ist der Beschwerdeführer selbst schuld an der Verschlimmerung seiner Krankheit ...«
Der Landgerichtsrat Dr. Friedrich Wilhelm Dickmann läßt nicht locker. Finster, entschlossen, unerschütterlich geht er dem Fall des Adam Kazmierziak nach. Arbeitshaus? Was ist ein Arbeitshaus? Der Richter, der schon einige Dutzende von Landstreichern und Bettlern zur korrektionellen Nachhaft verurteilte, hat von dieser Einrichtung nur sehr verschwommene Vorstellungen. Asoziale Menschen, notorische Faulpelze, Abschaum der Menschheit, – im Arbeitshaus werden sie zu brauchbaren Gliedern der Gesellschaft erzogen. Das ist das ethische Motiv der Bestimmung, die das Betteln bestraft.
Der Landgerichtsrat Dickmann schenkt sich nichts. Er hat allzulange die Augen geschlossen, wenn sein Gerechtigkeitssinn sich empören wollte und ist immer wieder mit einem höflichen Achselzucken vor dem Zwang zurückgewichen, Rechenschaft abzulegen von seinem Tun. Das geht nun nicht mehr.
Dickmann will ein Arbeitshaus besichtigen. Es ist ein langer Weg, ehe er die Erlaubnis dazu bekommt. Er muß trotz seines Berufs erst ein förmliches Gesuch an das Landeswohlfahrts- und Jugendamt richten.
Eines Tages geht Dickmann eine lange, trübe Vorstadtstraße im Osten Berlins entlang. Ein bedrückendes Gewirr von schwarzen Plankenzäunen, von Fabrikmauern, Eisenbahnübergängen und schmutzigen Wegen, die sich im Gestrüpp von Schrebergärten und Schuttabladeplätzen verlieren.
Das Pflaster ist unvollständig. Große Lücken klaffen zwischen den Steinen, und trübes Wasser steht darin. Es lohnt sich nicht, die Schäden zu beheben. Hier draußen stirbt die Stadt. Hochspannungsdrähte und Straßenbahnschienen täuschen noch eine kleine Weile wirkliches Leben vor. Irgendwo schwefeln Fabriken. Ruß und Staub liegt auf den absterbenden Blättern der Bäume und Sträucher.
Dickmann sieht nicht nach rechts, nicht nach links. Geradeaus geht sein Weg. Pfeilgerade und unerbittlich auf die Frage los, ob dem Adam Kazmierziak Unrecht geschehen ist. Ob ein Gesetz ungerecht ist, ein Gesetz, nach dem Dickmann Dutzende von Menschen verurteilt hat, ohne mit der Wimper zu zucken. Man muß das feststellen.
Da ist das Ziel: rote Gebäude, hohe Mauern, dahinter der spitze Turm einer Kirche, Schornsteine ...
Dickmann verbeugt sich korrekt. Seine Stimme spricht gleichgültige Worte: »Sie verstehen, Herr Direktor: im Grunde ist das ja eine ganze winzige Kleinigkeit im Getriebe der Strafrechtspflege. Aber ich stehe nun einmal auf dem Standpunkt, der Richter müsse auch die scheinbar nebensächlichsten Details aus näherer Anschauung kennen. Sie verstehen, – eine vielleicht übertriebene Gewissenhaftigkeit. Aber ich halte sie für meine Pflicht ...«
Der Direktor des Arbeitshauses verbeugt sich stumm, wie um anzudeuten, daß er in dieser Gewissenhaftigkeit einen Vorzug erblicke. Dann bekundet er seine Freude, den Herrn Landgerichtsrat über Grundlage und Praxis des Arbeitshauswesens aufklären zu dürfen:
»Ich kann nach einer fast dreißigjährigen Praxis wohl von mir sagen, daß mir die hier in Frage kommenden Probleme einigermaßen geläufig sind. Also, ehe wir uns die Anstalt ansehen: was wünschen Sie zu wissen?«
Dickmann hüstelt entschlossen. Er schenkt sich nichts: »Sie haben in der Hauptsache Bettler hier? So, zu neunundneunzig Prozent. Halten Sie es für möglich, Herr Direktor, daß diese Leute tatsächlich nur durch die bittere Not zum Betteln gedrängt worden sind?«
Der Direktor zuckt die Achseln: »Zum bloßen Spaß bettelt niemand.«
»Aber aus Arbeitsscheu?«
»Natürlich, das kommt auch vor. Schwer zu unterscheiden. Die Leute werden mit der Zeit ja alle geistig minderwertig, lebensuntauglich.«
»Was kann man sich von der Erziehungsarbeit im Arbeitshaus versprechen?«
»Nichts«, sagt der Direktor schlicht. »Die Leute, die wir einmal hier haben, kommen immer wieder. Wir entlassen sie, draußen finden sie keine Arbeit. Wer hat denn heute Arbeit! Ansprüche auf Unterstützung können die Leute nicht durchsetzen, verhungern wollen sie nicht, also fangen sie eben wieder an zu betteln, werden verurteilt und kommen wieder ins Arbeitshaus.«
Dickmann schweigt. Dann äußert er energisch, aber gleichgültig und mit einer Art freimütiger Heiterkeit: »Ich habe da einen bestimmten Fall im Auge. Kazmierziak heißt der Mann. Halten Sie es für möglich, daß der Mann, obwohl er an einer im Feld erworbenen Krankheit leidet, keine Rente bekommt? Daß er und seine kranke Mutter von sechzig Mark im Monat leben müssen?«
Dickmann beugt sich etwas vor. Was wird der Direktor sagen? Dickmann tut alles, was er kann. Er schenkt sich nichts. Keine Ausflüchte mehr. Geradeswegs auf die Frage los: ist Adam Kazmierziak Unrecht geschehen?
Der Direktor zuckt die Achseln: »Wir haben mehrere Korrigenden, die objektiv arbeitsunfähig sind. Die Frage der Kriegsverletzung ist nicht immer leicht zu klären. Sie wissen: die Versorgungsbehörden können auch nicht immer so, wie sie vielleicht gerne möchten. Es kommt oft vor, daß Leute keine Rente bekommen, wenn sich ihre Kriegsbeschädigung erst nach Jahren herausgestellt hat. Und diese einfachen Leute haben in der Regel nicht die Möglichkeit, ihre Rentenansprüche mit der nötigen Energie zu verfechten. Das dauert alles so lange. Und in der Zwischenzeit fangen sie eben an zu betteln ...«
Dickmann geht schweigend neben dem Direktor her. Der ist ein großer alter Mann mit einem frischen, roten Gesicht. Hellblaue Augen, aus denen eine Art energischer Güte spricht. Keine Sorgen hat er, keine Skrupel. Ist alles ganz einfach. Man tut den Leuten einen Gefallen, wenn man sie ins Arbeitshaus steckt. Wo sollen sie denn sonst hin? Hier haben sie wenigstens ihr warmes Bett und ihr gutes Essen. Das Ganze ist so ein Mittelding zwischen Gefängnis und Wohltätigkeitsanstalt. Freilich, arbeiten müssen die Leute. Und wer nicht arbeiten will, für den gibt es Arrest.
Hinten auf dem Hof steht so ein Gebäude. Vergitterte Fenster. »Jaja, ein richtiges kleines Gefängnis.« Arrest bis zu vier Wochen. Kommt aber nicht oft vor.
In ganz Deutschland sind es wohl an die zehntausend Menschen, die in den Arbeitshäusern sitzen. Asoziale Elemente. Die Gesellschaft kann nichts mit ihnen anfangen.
»Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit hat einen großen Teil unserer Arbeit sinnlos gemacht. Die Leute, die hier mal wieder arbeiten gelernt haben, können draußen beim besten Willen keine Arbeit finden. Ist ja traurig, aber wie gesagt: man tut den Leuten eigentlich einen Gefallen, wenn man sie ins Arbeitshaus steckt. Wo sollen die armen Kerle denn sonst hin?«
Dickmann schweigt. Er ist wie betäubt. Dann werden also Menschen bestraft nur dafür, daß sie nicht verhungern wollen? Weil sie keine Arbeit haben? Nur deswegen, weil sie arm sind? Lebensunfähig, geistig minderwertig? Werden zu asozialen Menschen gestempelt ohne ihre Schuld? Warum kümmert sich der Staat nicht um ausreichende Arbeitsmöglichkeiten? Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf Arbeit? Reichsverfassung, Grundrechte der Deutschen.
Dickmanns Gedanken laufen automatisch ihre Bahnen. Vielleicht sind es gar nicht Dickmanns Gedanken? Ist es nicht überhaupt sinnlos, sich über eine so nebensächliche Sache wie die Verurteilung eines bettelnden Kriegsverletzten derartig aufzuregen?
Das hieße ja, über einen Strohhalm stolpern!
Dickmann hat es doch eben gehört: dies hier ist eine Art strenge Wohltätigkeitsanstalt. Hinten steht das Arresthaus, Zellen, Gitter, Kübel, auch eine Vorrichtung zum Verdunkeln der Fenster gibt es da.
Dickmann hat einen Menschen dazu verurteilt, Wohltaten anzunehmen. Das ist alles. Das ist der tiefere Sinn des Betteleiparagraphen: der Staat und seine Gerechtigkeit zwingen die Bettler durch die Strafgewalt zu ihrem Glück. Denn sonst, – wenn man das nicht so ansehen will, könnte denn sonst ein Mann bestraft werden, weil er nicht verhungern will?
»Wie stehen Sie zu dem Betteleiparagraphen?« fragt der Landgerichtsrat plötzlich den Direktor des Arbeitshauses.
Der Direktor hebt die Augenbrauen. Das versteht er nicht. Was soll das heißen? »Ist ja doch Gesetz ...«
Richtig! Das hat Dickmann vergessen. Das ist Gesetz und darum gut. Er verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln. Dann sagt er sehr ernst: »Verzeihung!« Und der Direktor hat noch nie einen so merkwürdigen Richter gesehen ...
Dabei gehen sie nebeneinander über Höfe, durch Arbeitssäle, Krankenzimmer. Eine Tür wird aufgeschlossen: in einem großen, niedrigen Raum sitzen hunderte von Menschen. Dickmann bleibt an der Tür stehen. Er will die Korrigenden nicht in ihrer Mittagspause stören.
Da sitzen sie, in schmutziges Braun gekleidet, stumpf, schweigend. Fahle Gesichter, erloschene Augen. Müde und jämmerlich.
Hin und wieder ist ein jüngeres Gesicht darunter. Hier humpelt einer an einer Krücke, der dort hat einen verkrüppelten Arm. Sie drücken sich scheu an den Aufsehern vorbei. Ihre geduckte, demütige Haltung zeigt an, daß sie längst zerbrochen sind.
Hier sitzen sie, verbraucht, hoffnungslos. Der Kreislauf ihres Lebens berührt immer wieder einmal diese dumpfen Räume, führt sie immer wieder ins Arbeitshaus. Ausgespien sind sie. Schädlinge. Schönheitsfehler am Leibe der Gesellschaft. Und wie man eine häßliche Krankheit verbirgt vor den Augen der Welt, so versteckt man diese in den Kellergewölben der Arbeitshäuser.
Ihr laßt den Armen schuldig werden ... Und die Gerechtigkeit?
Dickmann blickt starr auf diese menschlichen Trümmer. Wo ist ihre Schuld? Wo? Er sucht nach dem Gesicht des Adam Kazmierziak, aber er findet es nicht. Er hat ja auch längst vergessen, wie der Mann aussah.
»Auf Wiedersehen, Herr Landgerichtsrat. Hat mich sehr gefreut.«
»Vielen Dank für Ihre Liebenswürdigkeit, Herr Direktor.«
Vorstadtstraßen. Nebliger Nachmittag. Schmutz, Rauch und Staub. Dickmann wird doch nicht über einen Strohhalm stolpern?
Die Mittagspause wird jetzt vorbei sein. Die Korrigenden arbeiten wieder. Auch der mit der Krücke. Auch der mit dem verkrüppelten Arm. Arbeiten neun Stunden, zehn Stunden. Und in dieser Zeit verdienen sie drei Pfennig, fünf Pfennig, sieben Pfennig. Macht neunzig Pfennig im Monat. Oder eine Mark fünfzig. Was soll man auch mit solchen Leuten machen? Betteln darf man nun einmal nicht. Das ist verboten. Ist Gesetz, und das Gesetz hat recht.
Ein für diese Stadtgegend unpassend korrekt gekleideter Herr geht – fast ein Automat – der Stadt zu. Es scheint, als versage der Mechanismus manchmal, dann bleibt der Herr stehen.
Da ist eine Kneipe. Bier, Schnaps. Gott sei Dank, nicht mehr denken müssen. Gescheuerte Fichtentische. Pappteller. Ein elektrisches Klavier in der Ecke. Plakate: »Melde-Korn«. »Das gute Riebeck-Bier.«
Der Herr mit den Schmissen erregt Aufsehen: »Eine Molle und einen großen Kognak.«
Ich kann nicht mehr!
Adam Kazmierziak!
Der Strohhalm!!
Dickmann spürt ein schmerzhaftes Ziehen im Kopf. Seine Lippen zittern.
Friedrich Mehnerts Kopf rollte in den Korb. Wie der Pfarrer schrie! Jakubowski ist tot. Selbstverständlich! Die Gesellschaft muß geschützt werden. Melde-Korn, das gute Riebeck-Bier.
Nicht mehr denken müssen ...
Wie das gut tut! Wie plötzlich alle Schatten schweigen. Wie weich man wird, wie leicht: »Herr Wirt, noch 'ne Molle.«
»Rebenwein und Gerstensaft lieben wir ja alle, ja alle, ja alle, darum laßt mit Jugendkraft schäumen die Pokale, Pokale, Pokale. Bruder Deine Liebste heißt?«
Das ist überhaupt zum Lachen. Das ist ein ganz kolossaler Witz. Dickmann ist verrückt, daß er das ernst nimmt. Lustig, lustig! Die Gesellschaft muß geschützt werden, und weil der Gesellschaft die schlotternde Angst in den Knochen sitzt, darum gibt es Landgerichtsräte.
Pst! Das darf man nicht laut sagen. Wir sagen überhaupt nicht »die Gesellschaft«, – wir sagen »Gerechtigkeit.« Gesellschaft? Das ist doch kein ethisches Prinzip. Diese Gesellschaft jedenfalls nicht, die Adam Kazmierziak ins Arbeitshaus steckt. Na ja, der Mann ist unbequem. Überhaupt ekelhaft, diese Bettler, die einem mit ihrem unverschämten Geklingel den Mittagsschlaf stören. Wie sagt doch Schiller? Morde nicht den Schlaf!
Den Schlaf. Die Gesellschaft auch nicht. Schlaf – Gesellschaft, – die Gesellschaft muß schlafen. Der Staat muß schlafen. Denn wenn der Staat nicht schliefe, wenn die Gesellschaft eines Tages aufwachte, dann würde sie sehen, wie ungerecht sie ist. Das darf nicht sein. Und darum brauchen wir die Gerechtigkeit.
Und außerdem, – wo bliebe sonst die Sicherung des Bestehenden. Herr Wirt, geben Sie zu, daß das Bestehende wert und würdig ist, gesichert zu werden? Nein, das können Sie nicht, denn Adam Kazmierziak sitzt im Arbeitshaus, und Jakubowski ist tot. Das hat damit gar nichts zu tun! Bedauerliche Kunstfehler kommen immer vor. Das oberste deutsche Gericht, Senatspräsident Niedner, setzt die Strafprozeßordnung außer Kraft. Richtig! Untersuchungsgefangene müssen schikaniert werden! Der Wortlaut des Gesetzes? Ein Kunstfehler!
Ruhe, Ruhe. Alles halb so schlimm, Dickmann. Du bist der Schlimmste nicht. Der Landgerichtsrat Dr. Friedrich Wilhelm Dickmann, der Gerichtsvollzieher, der Abdecker, der Schupomann an der Ecke, der Wäschereibesitzer Schmidtke aus Magdeburg, – alles dasselbe. Nicht doch: Dickmann schlägt nicht mit Gummiknüppeln, er schießt nicht, er macht sich nicht die Hände schmutzig. Er legt nur das Recht aus. Immer korrekt. Er spricht Recht, damit die Gesellschaft schlafen kann. Na also!
»Eine Molle und einen Kognak!«
Hat doch keinen Zweck, immer in demselben Dreck herumzustochern.
Dickmann schließt die Augen. Das schlaffe Greisengesicht Wehmeyers erscheint vor ihm. Er hört die langsamen Worte: »... dafür sorgen, daß die Welt besser wird, die Menschen milder, hilfreicher, gütiger ...«
Und dafür sitzt Wehmeyer nun im Gefängnis ... Pardon: sitzt dieser Kazmierziak und anderes unbrauchbares Volk im Gefängnis?
Ja, ja, die Mühle der Gerechtigkeit mahlt. Dafür gibt es Strafgesetzbücher und Landgerichtsdirektoren ...
Der Wirt hinter der Theke sieht unruhig auf seinen seltsamen Gast. Wie der Mann lacht! Mit dem ist es nicht richtig. Außerdem: was hat ein feiner Herr mit Schmissen in einer Kutscherkneipe in Lichtenberg verloren? Man muß aufpassen, daß da kein Unglück geschieht. Ob der Mann überhaupt Geld hat? Der Wirt zählt umständlich nach: drei Mark achtzig, vier Mark fünfundvierzig, – mein Gott, was säuft der sich zusammen! Dunkel ist es auch schon. Gleich werden die Stammgäste kommen.
»Wollen Sie nicht vielleicht nach Hause gehen, Herr? Ich glaube ...«
Dickmann lächelt freundlich: »Qu'est-ce que c'est que la justice?«
»Macht acht fünfundvierzig.«
Der Wirt hilft ihm aufstehen. Dickmanns Mantel steht offen, der Hut sitzt schief.
Irgendwo heult eine Stimme in langgezogenen Tönen immer die gleiche stumpfsinnige Melodie. Oft wird sie kurz überschrieen von einem grellen Lachen. Näher tönt ein betäubendes Murmeln.
Er schlägt die Augen auf. Die Fremdheit der Umgebung erfüllt ihn mit matter, schmerzender Verwunderung. Seine Glieder brennen in einem kalten Fieber. Die Haut seiner Beine zittert unaufhörlich. Ein bitteres und doch fades Ziehen in der Rachenhöhle zwingt zu schwachem Räuspern.
Stöhnend wälzt er sich auf die andere Seite und zieht fröstelnd die unangenehm rauhe Bettdecke bis zum Kinn hinauf.
Dann schreckt er unter dem schneidenden Gefühl drohender Gefahr zusammen.
Auf seinem Bettrand sitzt ein Mensch: ein großer Kerl mit struppigem schwarzen Schnauzbart. Er hat nichts an als ein kurzes Leinenhemd, unter dem seine haarigen dürren Beine hervorsehen. Unausgesetzt reibt er sich mit der Faust den Hinterkopf.
Der Mann im Bett starrt ihn mit ungläubigen Augen an. Er macht eine scheuchende Handbewegung, dann beugt er sich vor. Wie sein ausgestreckter Zeigefinger die Brust des Fremden berührt, und der letzte Zweifel an der Körperlichkeit der Erscheinung geschwunden ist, schreit er entsetzt.
Der andere sieht sich vorsichtig um. Sein Schnurrbart sträubt sich zu einem pfiffigen Grinsen. Während er sich ausdrucksvoll mit der Faust vor die Brust klopft, streckt er eine Hand weit von sich, wie um einen unberufenen Lauscher fernzuhalten, und flüstert geheimnisvoll:
»Ick bin ja nich mehr da. Ick bin ja nich mehr da!« Und dabei schlägt er sich auf die dürren Schenkel und sieht den Mann im Bett mit offenkundigem Triumph an.
Der Schnauzbärtige grunzt befriedigt: »Ick bin schon letzten Sonntag entlassen. Ick bin schon in Tempelhof, und die Affen hier wissen det noch janich. Die denken, ick bin immer noch hier!« Er bricht in ein hemmungsloses Wiehern aus, bis ein Krankenpfleger erscheint und den unausgesetzt vor sich hin kichernden Mann wegführt. Kopfschüttelnd und grinsend, mit kurzen Schritten, die Knie weit herausgedrückt, patscht der Idiot neben dem Wärter her.
Der Mann im Bett greift sich mit beiden Händen an den Kopf. Fiebernd vor Aufregung und Anstrengung versucht er, in den irrsinnigen Rundlauf seiner Gedanken einzugreifen. Vergebens. Die Gedanken sind alle auf einmal da, wollen alle auf einmal gedacht werden. Stoßen sich, drängen, wirbeln.
Er läßt den Kopf müde zurücksinken, und aus versteckten Winkeln steigt die Angst auf, die lähmende, krallende Angst. Zieht seinen Körper zusammen und preßt dumpfe Laute aus seiner trockenen Kehle. Bis sich schließlich der Krampf in einem lautlosen, kindlichen Weinen löst. Und allmählich erstarrt alles in dem Gefühl unendlicher Leere. Dickmann ist wieder eingeschlafen.
Ein unsanftes Rütteln der Schulter weckt ihn. Ein hochgewachsener Herr in weißem Leinenkittel steht am Bett, und wie Dickmann sich aufrichtet, fährt der Arzt mit gespieltem Entsetzen zurück: »Puh! Sie stinken ja immer noch nach Schnaps!«
Der Landgerichtsrat Dickmann will mit einem Fluch aus dem Bett fahren. Aber er ist so müde, so müde. Und nun geht alles wieder von vorn an: die Gerechtigkeit, das Gericht, Akten, Arbeit, Nachdenken ...
Der Professor sitzt an seinem Bett und fühlt ihm den Puls. Ein hinter ihm stehender jüngerer Arzt hat ihm einige aufklärende Bemerkungen zugeflüstert, und der ältere ist jetzt plötzlich sehr höflich, sehr ruhig. Er spricht mit einer milden und energischen Stimme herzliche Worte, von denen Dickmann nur die Hälfte versteht: »Ich kann Sie doch nicht ohne weiteres für einen schweren Alkoholiker halten, Herr Landgerichtsrat. Schlimm genug, daß Sie uns beinahe abgerutscht wären. Man hat Sie von der Rettungswache hier eingeliefert. Waren beim besten Willen nicht wieder wachzukriegen. Liegen nun schon anderthalb Tage hier im Schlaf. Sehen Sie, es ist das Beste für Sie, wenn Sie sich hier in aller Ruhe pflegen lassen. Da sitzt bei Ihnen ein psychisches Moment, das müssen wir feststellen. Sie haben irgendeinen schweren Kollaps erlitten. Ein seelisches Trauma sozusagen. Ihre Alkoholvergiftung ist wohl erst der Schlußpunkt einer Reihe von anderen Krankheitserscheinungen gewesen, die wir noch nicht kennen. Wie?«
Der Professor sieht sich nach seinem Assistenten um: »Was hat er gesagt?«
Der Arzt verbeugt sich eilfertig: »Die Gerechtigkeit, Herr Professor.«
Der Professor nickt: »Phänomenale Depression!« murmelt er anerkennend. Dann tätschelt er väterlich Dickmanns Hand. »Ja ja, die Gerechtigkeit! Kommt alles in Ordnung, wird alles gut. Die Sache mit der Gerechtigkeit werden wir auch schon erledigen. Wär' ja noch schöner. Sie sind vor die rechte Schmiede gekommen, verehrter Herr. Ruhe, Ruhe und Pflege. Bißchen überarbeitet. Kleiner Nervenzusammenbruch, Suff, Alkoholvergiftung, – ist alles man halb so wild. Kommt alle Tage vor ...«
Der Professor redet und redet. Wenn er Dickmann doch nur zufrieden ließe! Er ist so laut, so gewalttätig. So herzlich und beleidigend vertraulich. Aber Dickmann ist zu schwach, um etwas zu sagen. Er hört nur noch mit halbem Ohr, was der Arzt sagt:
»Urlaubsgesuch ... Überarbeitung ... paar Wochen Ruhe. Erst pflegen wir Sie hier gesund, und dann sollen Sie mal sehen. Dann gehen Sie mit Ihrer verehrten Frau Mutter ein paar Wochen irgendwohin, wo es gut und teuer ist. Und dann geht es mit Herzenslust wieder an die Arbeit ...«
»Ich bin gar nicht krank«, will Dickmann sagen. Aber er sagt es nicht. Denn er muß doch wohl krank sein.
Er ist aus der Aufnahmeabteilung der psychiatrischen Klinik in ein ruhiges sauberes Zimmer gelegt worden. Zweimal am Tage kommen die Ärzte und unterhalten sich mit ihm, erkundigen sich nach seinem Schlaf und wollen wissen, ob ihm das Essen schmeckt. Eine freundliche junge Krankenschwester schüttelt ihm die Kissen auf, lächelt ihn lieblich an und sagt »Herr Rat« zu ihm. Jeden Tag sitzt an seinem Bett ein vierschrötiger Arzt, erzählt ihm Witze von fragwürdiger Qualität und stellt an ihn Fragen, die wörtlich einem Lehrbuch für klinische Psychiatrie entnommen sind. Dann läßt er sich den toten Vater und die lebende Mutter beschreiben und äußert unbefangen gewagte Ansichten über eine unglückliche Blutmischung, der Dickmann angeblich sein Leben verdanken soll.
Manchmal ist auch Frau Landgerichtsdirektor da, die ihren Sohn mit angstvollen Kinderaugen betrachtet, nur mit halber Stimme spricht, und wenn er ihr antworten will, flehentlich zu ihm sagt: »Red' nicht so viel, Fietichen!« oder »Reg' dich nicht auf, Fietichen!«
Dickmann dehnt sich vor Behagen in der warmen Welle gewalttätiger Fürsorge, die ihn umgibt. Er will nicht sehen, daß sie sein Leben zur Lüge macht, seine dämmernde Erkenntnis zu einem kleinen Unglücksfall, der jedem mal passieren kann.
Einmal betritt auch Edith sein Zimmer, elegant, nach einem fremdartigen Parfüm duftend. Dickmann wundert und freut sich über ihre Herzlichkeit: sie küßt ihn auf den Mund, streicht ihm über das Haar, und er ist bereit, ihr viele ungute Gedanken abzubitten, die er gegen sie gehegt hat. Aber das Mädchen sagt erstaunliche Dinge: »Jetzt bist du mir zum erstenmal nah. Jetzt bist du ein Mensch, kein korrekter Automat. Jetzt habe ich dich fast lieb ...«
Selbst diese beunruhigenden Worte können Dickmann nicht daran hindern, die Menschen gut und die Welt wunderschön zu finden. Sein Gesuch um Urlaub wird auffallend schnell genehmigt, Frau Landgerichtsdirektor schmiedet phantastische Reisepläne, wühlt mit ihren kurzen, dicken Fingern aufgeregt in Kursbüchern herum, bringt ihm Hotelprospekte und weiß nicht, ob sie Südtirol oder die Riviera für geeigneter halten soll, den Nervenzusammenbruch ihres Sohnes zu heilen.
Und bald glaubt Dickmann so fest an seine Krankheit, daß er nicht mehr imstande ist zu entscheiden, was ihn denn eigentlich an dem lächerlichen Fall des Arbeitshäuslers Adam Kazmierziak so maßlos erregt hat, daß er vor ihm erstarrte wie vor dem Untergang einer Welt. Der Professor wird wohl recht haben, wenn er zärtlich sagt: »Sie sind zu schwer, lieber Doktor. Kein Wunder: alte Familie! Sie sind ein verkappter Melancholiker, und das sind gefährliche Leute: wenn sie mal die Balance verlieren, dann besorgen sie es gleich gründlich. Aber sehen Sie doch, Sie sind ein junger Mann, gesund, liebenswürdig, angesehen, – machen Sie die Augen auf, verehrter Herr, und sehen Sie, daß die Welt schön ist, und daß es sich zu leben lohnt!«
Es muß wohl so sein, denn auch Landgerichtsrat Wehmeyer sagt dasselbe. Dickmann wagt, ihm zögernd noch einmal von dem lächerlichen Fall Kazmierziak zu sprechen, und die Augen des alten Herrn leuchten warm: »Ich verstehe Sie ja so gut, und ich freue mich, daß Sie dies durchmachen mußten. Glauben Sie mir: dieser Fall hat Sie besser gemacht und der Vollkommenheit ein Stück näher gebracht. Wir sind schwache Menschen und können irren und sollten dieses Bewußtsein niemals verlieren, denn es ist unser bestes Teil. Die Justiz ist eine menschliche Einrichtung, und darum unvollkommen ...«
»Alles, was in den letzten Jahren geschehen ist ...«
»Es sind Ungeheuerlichkeiten geschehen, und es werden nicht die letzten gewesen sein. Aber wir arbeiten an unserem kleinen Teil daran, daß der Idee der Gerechtigkeit und dem Gesetz auf Erden Raum und Geltung verschafft wird.«
»Und wenn das Gesetz schlecht ist?«
»Wir bleiben nicht stehen, wir arbeiten weiter, das Recht vervollkommnet sich von Tag zu Tag. Sie können mitarbeiten, Sie müssen es! Die heilige Idee der Strafe, der Schutz der Gesellschaft ...«
»Und wenn diese Gesellschaft ungerecht und nicht wert ist, geschützt zu werden?«
Landgerichtsrat Wehmeyer legt milde und bittend die Hände zusammen: »Wer sind Sie? Sind Sie der Mann, der die Ungerechtigkeit der Welt auf seine schwachen Schultern nehmen kann? Sie werden sehen, daß es Ihre Kraft übersteigt, die Gesellschaft umzugestalten. Ich rate Ihnen nicht zu Kompromissen; es sind keine Zugeständnisse, die ich Ihnen empfehle, es ist Klugheit, wenn man den Schutz des Bestehenden für wichtiger und notwendiger hält als den Umsturz. Die Dinge spitzen sich zu. Man muß sich entscheiden, und die Zukunft wird immer noch ein größeres Übel sein, als die Gegenwart, die wir retten müssen.«
Dickmann trinkt die Worte wie ein Verdurstender. Er reicht dem Landgerichtsrat die Hand und lächelt erschüttert: »Ich danke Ihnen. Ich werde immer daran denken.«
Und der Landgerichtsrat Wehmeyer geht von ihm in dem glücklichen Bewußtsein, einen wertvollen Menschen der rechtlichen Sache gerettet zu haben, einen heißen Idealisten, der einmal versucht war, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, und der nun in kluger Erkenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten sich bescheiden und jene Kompromisse schließen wird, die der Sinn des Lebens sind.
»Kleiner Schock, lieber Donath, Überarbeitung, blödsinnig zu tun gehabt, und dann ein ganz lächerlicher Fall, den meine Nerven nicht ausgehalten haben. Muß ich Ihnen mal erzählen.« Und Dickmann erzählt dem Rechtsanwalt Dr. Donath den Fall des Invaliden Adam Kazmierziak.
Donath zieht nervös an seinem Ohrläppchen, raucht scharfe englische Zigaretten und stellt nach diesem Bericht eine überraschende Frage: »Und wo ist der Mann jetzt?«
»Wen meinen Sie?« fragt Dickmann unruhig.
»Nun Ihren unglückseligen Freund, den Kazmierziak.«
Ach so, – Dickmann versteht: »Der sitzt im Arbeitshaus«, sagt er abschließend, und Donath nickt ihm freundlich zu: »Damit ist die Sache ja restlos in Ordnung.«
»Was wollen Sie von mir?« fragt Dickmann leise und bittend.
Donath legt ihm beruhigend die Hand auf den Arm: »Nichts. Ich will nichts von Ihnen.« Und dann spricht er nachlässig vor sich hin: »Ja, Dickmann, da liegen Sie nun, trocken und gut gewickelt. Ihre Flasche kriegen Sie auch regelmäßig. Nichts geht Ihnen ab ... Stellen Sie sich auf die Straße und schreien Sie hinaus, was Sie wissen. Glauben Sie mir: Sie werden immer wieder im Sanatorium enden. Ikarus will zur Sonne fliegen, verbrennt sich die Flügel, aber er stirbt nicht daran. Er landet weich und wohlbehalten auf einem Misthaufen. Sie werden nie die Ehre haben, Dickmann, daß man Sie ernst nimmt. Sie bleiben immer eine Gestalt mittlerer Größe. Das Schlimmste, was uns geschehen kann, ist eine temporäre Verrücktheit, ein kleiner Unglücksfall, ein sympathischer Nervenzusammenbruch ...«
»Glauben Sie, ich liege hier zu meinem Spaß im Bett?« fragt Dickmann scharf.
»Nein, nein,« wehrt Donath ab. »Sie waren krank und sind auf dem Wege der Genesung. Wir fühlen uns alle nicht recht wohl, lieber Dickmann, wir wünschen im Geheimen alle, uns einmal ins Bett legen und krank sein zu dürfen, um dann mit neuen Kräften an eine neue Arbeit zu gehen. Aber es gibt keine neue Arbeit für uns, wir müssen uns begnügen mit dem, was da ist, und das ist nicht viel. Aber gerade weil es so wenig ist, dürfen wir das Bewußtsein unserer heroischen Bedeutung haben. Wir sind die letzten Ritter! Wir stehen auf verlorenem Posten, Dickmann ...«
Dickmann schließt die Augen: »Sagen Sie das nicht. Man muß sich nur erst durchringen. Jetzt kenne ich meinen Platz, ich weiß, was ich zu tun habe!«
»Ja: Sie wissen es. Und ich wünsche Ihnen Glück dazu. Sie schließen die Augen und leben weiter. Das ist das einzige, was uns zu tun übrig bleibt. Wir sind die letzten, Dickmann. Wir wissen, daß eine Zukunft kommt, die über uns hinweggehen wird, bauen Dämme gegen das Kommende und haben unseren Wert, gerade weil diese Dämme einst zusammenstürzen müssen. Wir kämpfen um unsere Gegenwart. Wenig, – aber genug für bescheidene Seelen.«
Ja, Dickmann schließt die Augen. Er will jetzt schlafen. Der Lärm der großen Stadt braust fern und schwächer. Bald wird er ihn nicht mehr hören ...
In dieser Nacht sitzen fünfundvierzigtausend Gefangene in deutschen Gefängnissen und Zuchthäusern in Qual und Verlassenheit. Sie können nicht schlafen, lauschen auf den klappenden Schritt der Aufseher, die in den weiten Korridoren patrouillieren, und stieren auf den grellen Nebel der Bogenlampen, deren Schein ihr enges Grab mit hartem, bösem Licht erfüllt.
Sie können nicht schlafen, weil in ihren Herzen der Haß wacht und die drohende Frage, warum das Unglück Verbrechen heißt.
Sie starren sehnsüchtig auf das Schachbrett, das die Gitterstäbe aus dem freien Himmel schneiden. Drei Stäbe quer, sieben Stäbe hoch ...
Fünfundvierzigtausend.
In dieser Nacht können ein paar tausend Frauen nicht schlafen. Mütter denken an ihre Söhne, Schwestern an ihre Brüder, Kämpferinnen an die Genossen ...
Vielleicht stöhnen viele jetzt vor sich hin, flüstern weinend einen Männernamen.
Vielleicht schreit ein gefangener Mensch jetzt auf in irrer Qual ...
Dickmann gähnt. Dickmann will schlafen.
Und tausende von deutschen Richtern werfen jetzt noch einen ruhigen Blick in das freundliche Dunkel ihres Zimmers und schlafen.
Sie schlafen gut. Sie haben ein ruhiges Gewissen.
Obwohl sie wissen, was sie tun.