Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Referendar Friedrich Wilhelm Dickmann – blauer Anzug, dunkle Krawatte, Lackstiefel – bleibt stehen und nimmt unwillkürlich den Hut ab. Es ist keineswegs warm an diesem Januarmorgen. Es gibt keinen Grund für diese Geste. Und wenn er sich jetzt mit dem Taschentuch über die Stirn fährt, als ob er sich den Schweiß abtrockne, dann tut Dickmann es nur, weil er selbst das Ungewöhnliche seines Verhaltens empfindet und es in eine ganz natürliche Sache umbiegt. Man muß wohl so eindrucksfreudig und so mit Zukunftsgedanken erfüllt sein wie er, um vor diesem unschönen und unzweckmäßigen Zweckbau stehen zu bleiben und den Hut abzunehmen.
Friedrich Wilhelm Dickmann ist im Begriff, sich bei der Staatsanwaltschaft zum Dienstantritt zu melden: ein feierlicher Augenblick!
Protzige Türme, wie aus einem Bilderbuch herausgeschnitten, Bogenfenster, Butzenscheiben. Auf dem Dach in Reih und Glied ausgerichtet Statuen, die irgendwelche Eigentümlichkeiten des in diesem Hause geübten Handwerks symbolisieren: das Kriminalgericht, Sitz der Strafgerichtsbehörden Berlins.
Hallen, Treppen, Korridore. Eine Zimmertür: »Herr Kollege!« Und Dickmann ist eingeordnet in den ungeheuren Mechanismus, in diese wunderbar exakt funktionierende Maschinerie, in der alles menschliche Geschehen – Hunger, Leidenschaft, dunkle Triebe, Lebensglück und Menschenwert, Zukunftsangst und Vergangenheitsekel – gesiebt, gewogen und zu leicht befunden wird.
Der erste Eindruck ist groß. Und er wird noch überwältigender, je mehr man Einblick gewinnt in dieses scheinbar sinnverwirrende und doch so geordnete Ineinander und Durcheinander geheimnisvoller Vorgänge. Dickmann wird nicht müde, den riesigen Komplex der Gänge, Zimmer, Treppen und Hallen zu durchstreifen. Er atmet beglückt die dumpfe kalte Luft voller Aktenstaub und Menschendunst ein. Und fühlt immer wieder die unbeschreibliche Genugtuung, dabei zu sein, dazu zu gehören, nichts zu sein als ein kleines Rädchen, eine Pleuelstange oder eine Übersetzung in diesem lautlos und unerbittlich arbeitendem Getriebe ...
Hallen, Treppen, Korridore. Durch tausend Türen sieht man in Zimmer, Verhandlungsräume, Registraturen und Archive. In Winkeln und Nischen Symbole der Gerechtigkeit: Themis mit Waage und Schwert, Bibelsprüche an den Wänden. Reichsadler und Kaiserkronen.
Und Akten! Dieses erregende Fluidum, das ihnen entströmt! Hunderttausend Aktendeckel, Millionen Aktendeckel. Schicksal, Vergangenheit und Zukunft tausender von Menschen bergen diese verstaubten, schmutziggelben Pappstücke. Anklageschriften, Eröffnungsbeschlüsse, Verhandlungsprotokolle, Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Urteilsbegründungen, – Gebirge von Akten. Schwarze Tinte auf weißem Papier: ein Mensch fiel der Gerechtigkeit in die weitgeöffneten Arme, vegetierte eine Zeitlang hinter roten Mauern und Eisengittern, und das flüchtige Geschehen dieses kleinen Daseins ist aufgehalten für Zeit und Ewigkeit, für Mit- und Nachwelt.
Eine Tür geht auf: schwarze Talare auf erhöhter Estrade, ernste Gesichter, feierliche Stille. Bogenfenster, braune Eichentäfelung, Galerien, pompöse Kronleuchter. Ein reichverschlungenes Gerank von stilisierten Blättern und Blüten. Steht dieses Schmiedewerk hier zum Schmuck? Nein, es ist das Gitter, das den Raum der Anklagebank abschließt gegen den großen Schwurgerichtssaal. Zwar trennt es einen Menschen von der Freiheit, aber es sieht gut aus. Kunstgewerbe im Dienst der Strafrechtspflege.
Über dem Richtertisch auf malerisch und kunstvoll verschnörkelten Stuckbändern kernige Sprüche, in strenger gotischer Fraktur gemeißelt und gemalt: »Ein jeder Richter sitzt an Kaisers Statt«. »Am starken Gericht erkennt man des Kaisers Gerechtigkeit ...«
Das Kalenderblatt hinter dem Präsidentenstuhl zeigt die Jahreszahl 1923 – das fünfte Jahr der deutschen Republik ...
»Strafsache Kandler!« Ein tonloses Kommando, und eine Tür öffnet sich in den Raum der Anklagebank. Man hat sie vorher nicht beachtet, hat sie kaum gesehen. Man ahnt hinter ihr eine Treppe. Ein Mensch erscheint. Das Gericht sieht ihn zum ersten Mal. Bisher war er ein Aktenzeichen: »I. Z. 1238/22 B«. Man sieht ihn nicht lange. Bald verschwindet er wieder hinter jener Tür. Bald ist er wieder nur ein Aktenzeichen. Eine Nummer im Gefängnis. Oder im Zuchthaus.
Die geheimnisvolle Treppe führt durch einen Gang in das Untersuchungsgefängnis. Aus der Dämmerung seiner Zelle holt man für ein paar Stunden einen Menschen in das grelle Licht der Öffentlichkeit, damit er sein Urteil empfange.
Auf Treppen und Korridoren des Gerichts merkt man nichts davon. Das Gericht hat sein Urteil gesprochen, eine Tür fiel ins Schloß, ein Mensch verschwand. Ist ausgelöscht. Auf Monate oder Jahre. Was weiter mit ihm wird ...
Das Volk drängt sich im Hintergrund der Verhandlungssäle. Jenes Volk, in dessen Namen hier Recht gesprochen wird. »Seien Sie ruhig dahinten, sonst lasse ich den Zuhörerraum räumen!« schreit ein Richter, und das Volk schweigt wie gescholtene Schuljungen.
Treppen, Hallen, Korridore, – aber nicht für die Hauptperson der funebren Szenen, die sich hier abrollen, nicht für den Angeklagten. Auch nicht für das Volk. Das schiebt sich hastend über enge, schmutzige Hintertreppen, wartet geduldig vor verschlossenen Türen, um teilzuhaben an dem, was im amtlichen Deutsch der Strafprozeßordnung »Öffentlichkeit des Verfahrens« heißt.
Wie das alles ineinander übergreift! Dieses dreifache Treppensystem, wie zweckvoll, wie logisch ... Prunk und Weite für die Diener des Staats und seiner Gerechtigkeit, der Hinteraufgang für das Volk, und jener unsichtbare Treppenwirbel, in dem man lautlos ertrinkt, für den, der im Kampf mit der Gerechtigkeit unterliegt.
Gelächter, Gespräche. Ein Staatsanwalt raucht mit gelangweiltem Gesicht eine Zigarette auf dem Korridor. Rechtsanwälte in ihren Roben hasten durch die Gänge, würdig und feierlich, lachend oder geschäftsmäßig. Journalisten unterhalten sich. Sprechen dann und wann mit einem Richter oder einem Staatsanwalt in jenem besonderen Tonfall, der aus Vertraulichkeit, Hochmut und Respekt gemischt ist, ihre Gleichgestelltheit allzu laut betonend: »Meinen Sie nicht auch, Herr Staatsanwalt?«
Zeugen sitzen da auf den Bänken, lehnen sich an die Wand. Manche mit einem Gleichmut, dem man seine Unechtheit ansieht. Andere dösen einfach vor sich hin. Die meisten aber, kleine Bürger, sehnen fieberhaft den Augenblick herbei, an dem sie vor Gericht ihre Aussagen machen dürfen: den Augenblick, wo sie Herr und Richter über ihren Mitmenschen sind. Der Traum aller Beiseitegeschobenen, Nichtbeachteten wird so tollkühnste Wirklichkeit.
Dickmann sieht das alles mit sehr scharfen Augen. Er ist wunschlos glücklich, wenn er hier mit einem Aktenstück unter dem Arm eilfertig durch die Korridore traben darf. Wenn er auch erst auf der alleruntersten Sprosse der juristischen Hierarchie steht, – jeder Landgerichtsdirektor, selbst der Oberstaatsanwalt nennt ihn »Herr Kollege«!
Manchmal steht er am Fenster und sieht gelangweilt hinaus auf die roten Mauern des Untersuchungsgefängnisses. Dächer, Gitter, Tore und darüber ein lächerlich unproportionierter Dachreiter. An der Kreuzblume auf seiner Spitze erkennt man, daß er ein Kirchturm ist.
Dickmann weiß: da drüben sitzen jetzt ein paar hundert Menschen. Man hat sie verhaftet, auf der Straße aufgegriffen, aus dem Bett geholt, Frauen und Mütter haben geweint. Nun sitzen sie da drüben und warten. Warten. Wochen oder Monate. »Die Dauer der Haft ist nicht begrenzt.« »... wird der Haftbefehl aufgehoben, so weit nicht das zuständige Gericht die Fortdauer der Haft verhängt ...«
Dickmann hat seine Strafprozeßordnung im Kopf und freut sich darüber. Er ist überhaupt ein sehr tüchtiger Jurist. Staatsanwalt Rodebach, der seine Ausbildung leitet, ist mit ihm zufrieden.
»Wenn Sie etwas nicht verstehen, immer fragen, immer fragen, Herr Kollege! Wir sind alle mal Referendare gewesen ...«
Dickmann lebt in den ersten Tagen und Wochen seiner Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft wie in einem ständigen Rausch. Freilich – das merkt ihm niemand an. Er würde es als äußerst beschämend empfinden, erführe jemand, daß ihm die nebensächlichen Arbeiten, die der Staatsanwalt ihm zur Erledigung überläßt, Freude machen.
Wie wundervoll das alles funktioniert! Ein unerhörter Genuß, sich so ein dickes Aktenstück vorzunehmen und die ganze Geschichte zu rekonstruieren, die da geschehen ist. Man hält die Fäden in der Hand, die von dem Verbrechen zur Kriminalpolizei führen, zum Vernehmungsrichter, zum Untersuchungsrichter, zur beschließenden Strafkammer, zum Schöffengericht oder zur erkennenden Kammer.
Da wird einem Pferdehändler in der Romintenerstraße eine Pferdedecke gestohlen. Hier: ein Aktenstück, die Strafanzeige des Bestohlenen bei der Polizei. »Es erscheint der Pferdehändler Emil Wilde und erklärt ...« Zeugenprotokolle, der Portier hat einen Mann mittlerer Größe aus dem Pferdestall kommen sehen. Ein neues Aktenstück: »der derzeit wohnungs- und erwerbslose Arbeiter Max Holle ... gibt zu ...« Vorläufige Festnahme durch die Polizei. Eingeliefert ins Polizeigefängnis. Vorgeführt dem Vernehmungsrichter. Vorstrafenregister: der Mann ist bestraft einmal 1917 wegen Diebstahls vom Schöffengericht Berlin-Mitte mit sechs Tagen Gefängnis, 1919 vom Amtsgericht Charlottenburg wegen Diebstahls mit vierzehn Tagen Gefängnis, 1921 vom Schöffengericht Berlin-Mitte wegen Diebstahls mit zwei Monaten Gefängnis ... Scheint ein ziemlich trüber Bursche zu sein. Weiter, weiter, was geschieht nun mit ihm? Da, hier: Haftbefehl: »... da wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe Fluchtverdacht vorliegt.«
Dickmann zündet sich eine Zigarette an. Er blättert weiter. Wie klar das alles ist – halt: Höhe der zu erwartenden Strafe? Was heißt das? Mal sehen, was kann der Mann bekommen? Er schlägt im Strafgesetzbuch nach. Diebstahl, schwerer Diebstahl, Diebstahl im strafverschärfenden Rückfalle ... Aha: schwerer Diebstahl im Rückfalle, Mindeststrafe zwei Jahre Zuchthaus. Bei mildernden Umständen nicht unter einem Jahr Gefängnis.
Zwei Jahre Zuchthaus für eine Pferdedecke. Na ja, der Mann ist dreimal wegen Diebstahls vorbestraft, es gehört sich, daß man so einen Kerl scharf anfaßt. Was hat er denn früher gestohlen? Dickmann blättert zurück. Einmal eine Jacke, das zweitemal einen geräucherten Schinken, – wann war denn das? Ach so, kurz nach dem Krieg. Gab nichts zu fressen damals. Das dritte Mal, ja, das sieht schon schlimmer aus: ein Fahrrad. Na also, Gewohnheitsdieb. Ganz einfache Sache. Dreiundzwanzig Jahre ist der Bursche erst alt und hat schon viermal geklaut. Kann noch was Nettes werden aus dem.
Trotzdem: zwei Jahre Zuchthaus für eine Pferdedecke?
Was geht das Dickmann an, wie? Gesetz ist Gesetz. Er soll jetzt die Anklageschrift fertigstellen und sie der Strafkammer einreichen. Weiter hat er mit dem Fall nichts zu tun.
Dickmann gibt sich viel Mühe mit der Abfassung seiner ersten juristischen Arbeit. Es ist allerdings nicht so schwierig, wie er es sich gedacht hat. Man braucht nur in einem der zahllosen Aktenbände nachzusehen, wie man so etwas macht. Hier: an den Kopf muß man schreiben: »Haftsache! Anklage!«
»Der Gelegenheitsarbeiter Max Holle, zur Zeit in Untersuchungshaft Berlin NW 52, Alt-Moabit 12a, wird angeklagt, im Bezirk des Amtsgerichts Berlin-Mitte im Dezember 1922 eine fremde bewegliche Sache, nämlich eine dem Pferdehändler Emil Wilde gehörige Pferdedecke aus einem verschlossenen Raume entwendet zu haben in der Absicht, sich dieselbe rechtswidrig anzueignen. – Verbrechen nach § 242 StGB.
Dickmann atmet auf. Fein, wie gut das geht. Nun muß er aus den Akten noch das Ermittlungsergebnis feststellen. Ganz einfache Sache. Bloß langweilige Schreibarbeit. Und er schreibt.
Hin und wieder stört ihn ein Gedanke, der ganz und gar nicht zur Sache gehört. Da liest er z. B., der Angeschuldigte sei bereits zweimal auf seinen Geisteszustand hin untersucht wurden. Scheint ein bißchen verrückt zu sein. Spinale Kinderlähmung gehabt, sichtbare Folgen am Körper, sein Verstand hat sehr enge Grenzen, man kann ihn im Gefängnis nur in der Irrenabteilung halten, da sein Geisteszustand die Haft nicht gestattet.
Was soll man mit so einem Menschen im Gefängnis? Vielleicht billigt man ihm den Schutz des § 51 zu? Vielleicht hat er sich bei Begehung der Tat in einem Geisteszustand befunden, der die Verantwortlichkeit ausschließt?
Bei der Sache bleiben! Hier: »Beweismittel: a) Angaben des Angeschuldigten, b) Vorstrafakten des Holle 89 J. 2376/22 Staatsanwaltschaft I Berlin, c) Sachverständiger Gerichtsarzt Dr. Müller, d) Zeugen: Pferdehändler Emil Wilde ...«
Dickmann bekommt Respekt vor sich selbst. Er fertigt eine Anklageschrift an. Nicht etwa mit der ausgesprochenen Absicht, den gleichgültigen Arbeiter Max Holle unter allen Umständen zur Bestrafung zu bringen. Ein Rad greift in andre, – kann ein Zahnrad Empfindungen haben, »die Absicht« hegen? Und dann: Staatsanwalt Rodebach hat ihm neulich mit feierlichem Gesicht und nachdrücklicher Betonung erzählt, die preußische Staatsanwaltschaft sei die objektivste Behörde der Welt. Und so kommt denn auch in dieser Anklageschrift alles zum Ausdruck, was für den Einbrecher günstig sein könnte: daß er sich nicht im Besitz seiner vollen Geisteskräfte befindet, daß er zur Zeit der Begehung der Tat wohnungs- und arbeitslos war, sich also in einer »gewissen Notlage« befunden habe ...
»Es wird beantragt, das Hauptverfahren zu eröffnen und die Verhandlung und Entscheidung der Sache vor der Strafkammer des Landgerichts I in Berlin stattfinden zu lassen.«
Staatsanwalt Rodebach ist ganz zufrieden mit seinem Referendar: »Nur hier am Schluß haben Sie noch etwas vergessen«, sagt er freundlich und schreibt mit seiner fahrigen Handschrift hinter den letzten Satz: »sowie die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Angeschuldigten aus den bisherigen Gründen anzuordnen.«
»Was waren denn eigentlich für Gründe angegeben?« fragt er dann gleichgültig. Die Maschine schnurrt ...
»Da wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe Fluchtverdacht vorliegt ...«
War es Dickmann, der dies sprach?
»Richtig«, sagt der Staatsanwalt und gähnt. »Und mit solchem Quatsch muß man sich rumquälen. Irgendeinem Kerl wird eine Pferdedecke geklaut. Staatsaktion! Hundertzwanzig Seiten Akten!«
Das versteht Dickmann nicht. Ihm scheint die Sache mit der Pferdedecke außerordentlich interessant. Diese Akten! Man hat den derzeit wohnungs- und arbeitslosen Max Holle noch gar nicht gesehen, und schon entsteht aus diesen Blättern ein plastisches Bild der Tat, von der Eigenart und der Lebenssphäre des Täters. Daß es sich um einen lebenden Menschen handelt, daß dieser Max Holle wirklich lebt, – man vergißt es völlig, und das ist gerade das Großartige. Man vergißt das völlig ...
Ein lebender Mensch? Wer denkt daran!
Der Fall Max Holle verliert sich im Gestrüpp der aktenmäßigen »Vorgänge«. Das Verfahren »schwebt«. Irgendein Landgerichtsrat hat die Akten auf seinem Schreibtisch liegen, und alles geht seinen Gang. Der Untersuchungsgefangene avanciert vom Angeschuldigten des Vorverfahrens zum Angeklagten des Hauptverfahrens, die beschließende Strafkammer erläßt einen Eröffnungsbeschluß und setzt den Termin für die Hauptverhandlung an ...
Ein lebender Mensch?
Drei Schritt hin, drei Schritt her. Eine Uhr schlägt einmal. Wenn sie zweimal schlägt, weiß man, daß eine Viertelstunde vergangen ist. Eine Viertelstunde, die wie Feuer brennt. Ob draußen die Sonne scheint? Max Holle weiß es nicht. Er kann sie nicht sehen.
Drei Schritt hin, drei Schritt her ...
Kalt war es im Dezember. Die Wärmehallen der Stadt Berlin werden um sechs Uhr geschlossen. Wo soll man dann hin? Die Wartesäle der Bahnhöfe sind schön warm, aber sie sind nicht für Max Holle geheizt. »Wenn ich dich hier jetzt noch mal sehe, mein Junge ...« droht der Schupomann, und Max Holle wimmert: »Wo soll ich denn hin? Wo soll ich denn hin?« – »Geht mich nichts an. Geh doch ins Obdachlosenasyl.«
Jeden Tag kehren hunderte von Obdachlosen vor den verschlossenen Türen um: »Alles besetzt«. Und Max Holle ist unter diesen Elenden ja der Allerelendeste und der Allerverachtetste. Er hat keinen breiten Brustkasten und keine groben Fäuste, er kann sich nicht wehren, wenn man ihn zurückstößt von der Pforte, die ihm ins Paradies zu führen scheint: in die stinkende Luft der Schlafsäle. Wärme für eine ganze Nacht! Eine ganze Nacht Wärme! Läßt es sich ausdenken, was das für eine Glückseligkeit ist?
Kalt ist es im Dezember. Am Spreeufer steht ein Sandkasten. Bei Glatteis streuen die Straßenreiniger daraus Sand auf den Fahrdamm. Man kann den Deckel der Kiste heben, man kann sich einwühlen in den Sand, man kann liegen eine lange Nacht. Aber der Frost beißt in den Knochen, treibt das Wasser in die Augen ...
Menschen gibt es, die schlafen jetzt in warmen Zimmern. Menschen gibt es, die haben warme Kleider, Mäntel, Decken. Ein Tier hat es besser ...
Ein Pferdehändler in der Romintenerstraße. Max Holle hat früher einmal bei ihm gearbeitet. Im warmen Stall stehen die Pferde, man legt ihnen Decken über, daß sie nicht frieren. Pferde haben Decken, Tiere! Und der Mensch schläft in einem Sandkasten und friert, friert.
Er hat sie, weich ist sie und warm. Man kann sich ganz und gar darin einwickeln. Man friert nicht mehr, man schläft, ahh ...
»Da hamse was!«
Der Gefängniswärter reicht ihm ein Stück Papier, Max Holle dreht es unschlüssig in den Händen. Eine Tür klappt, ein Schloß knirscht. Der Untersuchungsgefangene ist wieder allein. Allein mit jenem weißen Fleck, der da auf dem Holztisch liegt.
Max Holle weiß es nicht anders, als daß alles feindlich und bedrohlich ist, was von außen in seine Einsamkeit dringt. Drei Schritte hin, drei Schritte her, – aber der weiße Fleck bleibt.
Er sieht Schriftzeichen, liest Worte und versucht, ihren Sinn zu verstehen: »Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wird gegen den Gelegenheitsarbeiter ... hinreichend verdächtig erscheint ... fremde bewegliche Sache ... Untersuchungshaft dauert aus den bisherigen Gründen fort ...«
Schnell und still legt der Gefangene das Blatt aus der Hand. Morgen ist Sonntag.
Max Holle steht in dem Holzkasten, der ihm als Kirchenbank dient und lauscht den Worten des Pfarrers.
»Er war der Allerverachtetste und Unwerteste ...«
»... welcher hinreichend verdächtig erscheint ...«
»... er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg, darum haben wir ihn nichts geachtet ...«
»... in der Absicht, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen ...«
»Da er gestraft und gemartert ward, tat er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut ...«
»Verbrechen gegen Paragraph ...«
»Aber der Herr wollte ihn also mit Krankheit zerschlagen ...«
Und die Untersuchungshaft dauert fort.
Kalt war es im Dezember, Tiere hatten warme Ställe und Decken. Man verbarg sein Angesicht vor ihm und achtete ihn nichts ...
Endlich, nach Wochen, in denen Dickmann den Namen Max Holle fast schon vergessen hat, ist dieses Körnchen so weit in dem Mühlengang gekommen, daß eines Morgens Staatsanwaltschaftsrat Dr. Rodebach zu Dickmann sagt: »Heute ist die Verhandlung Holle, in der Sie damals die Anklageschrift angefertigt haben. Wollen Sie sich die Sache nicht anhören?«
Ein Justizwachtmeister führt den Angeklagten herein, öffnet die Türe zur Anklagebank und bedeutet dem Mann, er solle sich setzen.
Dickmann ärgert sich, daß sein Herz klopft. Dies ist also der Gelegenheitsarbeiter Max Holle. Er betrachtet ihn sehr genau, während der Staatsanwalt nicht den Kopf nach ihm hebt. Eine niedrige Stirn, der Mund steht offen, schwarze Zähne, die linke Hand scheint verkrüppelt, seine kleinen grauen Augen blinzeln teilnahmslos gegen das helle Licht der Fenster.
»Das ist doch ein Idiot!« denkt Dickmann überrascht.
Der Angeklagte sitzt verloren und einsam in der Anklagebank.
Dickmann wendet sich flüsternd zum Staatsanwalt: »Verzeihung, hat der Mann eigentlich keinen Verteidiger?«
Dr. Rodebach blättert in den Akten und schüttelt lakonisch den Kopf.
»Aber der Mann ist doch gar nicht fähig, der Verhandlung zu folgen?« Der Staatsanwalt sieht Dickmanns erstauntes Gesicht, steht auf und holt vom Richtertisch einen Kommentar der Strafprozeßordnung. Er schlägt ihn auf: § 140 und folgende.
Dickmann bedankt sich sehr höflich und liest. Dem Angeklagten muß von Amts wegen ein Verteidiger bestellt werden, wenn »die Verteidigung eine notwendige ist«. Die Verteidigung ist notwendig, wenn den Gegenstand der Verhandlung ein Verbrechen bildet, und wenn der Angeklagte die Stellung eines Verteidigers beantragt.
Na also? Schwerer Diebstahl im Rückfall ist doch ein Verbrechen. Warum hat der Angeklagte denn keinen Verteidiger? Dr. Rodewald flüstert Dickmann zu: »Das Gericht muß zwar in diesem Fall einen Verteidiger bestellen, aber nur dann, wenn der Angeklagte es ausdrücklich verlangt.«
Der Angeklagte muß es beantragen. Der Untersuchungsgefangene Holle muß sich der Gefängnisverwaltung vorführen lassen und dem Beamten mitteilen, er bäte in Gemäßheit des § 140 Strafprozeßordnung, ihm von amtswegen einen Verteidiger zu bestellen. Das hat der Untersuchungsgefangene unterlassen. Seine Schuld ... Dickmann wird unruhig. Aber er kann seinen Gedanken nicht zu Ende denken. Ein Herr ist in den Saal getreten, begrüßt höflich den Staatsanwalt. Ein Journalist. Er lächelt vertraulich und fragt: »Interessante Sache?« Der Staatsanwalt schüttelt energisch den Kopf: »Nichts für Sie. Langweiliger Kram. Schwerer Diebstahl im Rückfall«. Der Journalist bedankt sich sehr höflich und geht wieder hinaus. Für solche Bagatellen hat seine Zeitung keinen Platz. Der Gelegenheitsarbeiter Max Holle ist keine Persönlichkeit, deren Schicksal die Öffentlichkeit interessiert. Ja, wenn der Mann noch einen Mord begangen hätte ...
Achtung! Verbeugung!
Das Gericht erscheint. Fünf Herren. Die Strafkammer. Ein Landgerichtsdirektor als Vorsitzender. Dickmann kennt ihn. Der Direktor Berg besucht öfter seinen Vater. Ein verschlossener, etwas nervöser Herr.
Zeugenaufruf: der Pferdehändler Emil Wilde und der Portier Franz Bach.
»Bitte auf dem Flur zu warten.«
Der Vorsitzende setzt sich umständlich seinen Kneifer auf und blättert in den vor ihm liegenden Akten. Er spricht undeutlich: »... in der vorliegenden Sache ist Eröffnungsbeschluß ergangen am ...«
Er reicht den Aktenband einem jüngeren Beisitzer. Der liest mit kräftiger, lauter Stimme und ausdrucksvoller Betonung vor: »Gegen den Gelegenheitsarbeiter Max Holle wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft wegen der Beschuldigung ... der Angeklagte ist der Tat hinreichend verdächtig ... Stempel. Unterschrift.«
Direktor Berg räuspert sich: »Stehen Sie mal auf, Angeklagter!«
Max Holle bleibt stumpfsinnig sitzen.
»Angeklagter! Sie sollen aufstehen, habe ich gesagt.«
Ein Justizwachtmeister übersetzt dem Angeklagten die Aufforderung des Vorsitzenden in wilde Gesten. Der Mann erhebt sich.
»Sie haben also eben den Eröffnungsbeschluß gehört. Sie wissen, was Ihnen vorgeworfen wird. Was haben Sie darauf zu erwidern?«
Schweigen.
»Was Sie darauf zu erwidern haben!«
Der Direktor schüttelt ungeduldig den Kopf. Er hebt seine Stimme zu kräftigem Kommandoton: »Na also, Haben Sie die Pferdedecke gestohlen oder nicht? Das können Sie doch wenigstens beantworten.«
Max Holle nickt.
»Na, nun erzählen Sie mal, wie sind Sie denn dazu gekommen?«
Schweigen.
Der Vorsitzende seufzt tief auf: »Also gut, ich werde Ihnen helfen: Sie gingen also die Romintenerstraße entlang, nicht wahr?«
Nicken.
»Und da kamen Sie an dem Haus des Pferdehändlers Wilde vorbei, den Sie kannten, weil sie früher mal in seinem Betrieb gearbeitet haben, nicht wahr?«
Nicken.
Der Landgerichtsdirektor setzt sich bequemer in seinen Sessel. Jetzt scheint die Sache ja endlich in Fluß zu kommen. Er blickt zur Decke empor und fragt freundlich: »Nun, und wie schürzte sich der Knoten?«
Schweigen.
»Angeklagter! Sie sollen antworten! Verstehen Sie denn nicht, was ich sage?«
Max Holles Gesicht bleibt stumpf und leer.
Der Vorsitzende wendet sich kopfschüttelnd an einen unscheinbaren Herrn, der auf der Bank der Sachverständigen sitzt: »Ach, Herr Medizinalrat, Sie kennen den Angeklagten ja wohl. Ist der Mann immer so stumpf, oder verstellt er sich nur?«
Der Medizinalrat zuckt die Achseln und lächelt: »Ach nein, ich glaube, er kann die Fragen nicht verstehen.«
Der Vorsitzende runzelt die Brauen: »Ist ja schrecklich mit dem Mann«.
Die vier anderen Richter sehen starr und unbeteiligt vor sich hin. Der Staatsanwalt blättert immer noch in seinen Akten. Dickmann schämt sich. Er schämt sich der erdrückenden Übermacht, mit der der Staat und die Gerechtigkeit gegen den Arbeiter Max Holle zu Felde ziehen. Da steht der Bursche in der Anklagebank, stiert vor sich hin. Um ihn ein leerer Raum. So einsam wie draußen im Leben ist er auch hier im Gerichtssaal. Wenn der Mann wenigstens einen Verteidiger hätte! Aber das hat er nicht beantragt, und so hat er eben keinen ...
Halt, Max Holle redet. Etwas undeutlich zwar, aber er redet: »Es war so kalt ...«
Der Vorsitzende lacht jovial: »Im Dezember ist es meistens kalt. Aber deswegen stiehlt man doch keine Pferdedecken!«
»... und da stand eine Türe auf ... und da bin ich in den Schuppen gegangen ... und da lag eine Pferdedecke ...«
Der Staatsanwalt beugt seinen Kopf zu Dickmann: »Da sehen Sie,« flüstert er, »so idiotisch ist der Mann nicht, daß er nicht ganz genau weiß, wieviel darauf ankommt, ob die Türe offenstand oder nicht. Ganz geriebener Junge.«
Der Zeuge, Pferdehändler Emil Wilde, ein vierschrötiger, freundlicher Mann mit breitem Bauch wird vernommen.
»Aufstehen dahinten! Sprechen Sie mir nach: Ich schwöre ...«
Der Zeuge hebt seine schwere rote Hand und spricht die Eidesformel: »... bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen, nichts hinzusetzen werde, sowahr mir Gott helfe.«
Natürlich war die Türe verschlossen. Der Schlüssel lag in einer Fensternische. Das hat der Angeklagte noch gewußt von der Zeit her, wo er bei dem Zeugen gearbeitet hat. Da gibt es gar keinen Streit, das ist bombensicher.
»Wenn ick jewußt hätte, det Maxe det jewesen is, – ick hätte ihm eene jelangt, und die Sache wäre erledigt jewesen. Anjezeigt hätte ick ihn bestimmt nich. Der is ja doof, der kann doch nicht dafür. Und dann war't doch so kalt.«
Die Pferdedecke hat der Bestohlene auch wieder bekommen. Schaden ist nicht entstanden. Ja, das ist ja sehr betrüblich, aber wenn einmal Anzeige erstattet ist, und die Staatsanwaltschaft von einer strafbaren Handlung Kenntnis bekommen hat, dann muß die Sache ihren Lauf nehmen.
»Herr Vorsitzender, ick habe jarkeen Interesse daran, det der Mann soll bestraft werden ...«
»Das ist Ihre Sache, Herr Zeuge, das interessiert uns hier nicht«, wehrt der Vorsitzende spitz ab. »Verzichten Sie auf den anderen Zeugen, Herr Staatsanwalt? Ich denke, die Sache ist doch jetzt klar.«
»Ich verzichte.«
»Angeklagter, verzichten Sie auch auf die Vernehmung des anderen Zeugen? Ob Sie auf die Vernehmung des anderen Zeugen verzichten?! Nach der Strafprozeßordnung haben Sie das Recht, auf der Vernehmung des Zeugen zu bestehen.«
Max Holle knurrt irgend etwas.
»Also gut.« Der Vorsitzende wendet sich zum Gerichtsschreiber. »Schreiben Sie: auf die Vernehmung weiterer Zeugen wird mit allseitigem Einverständnis verzichtet. Herr Medizinalrat, darf ich bitten?«
Vor dem Zeugentisch steht jener unscheinbare Herr, der vorhin bereits in die Verhandlung eingegriffen hat. Er hat eine sympathische Stimme. Seine blauen Augen leuchten freundlich und fast etwas kindlich unter weißen Brauen hervor. Er spricht mit stockender Stimme, zuckt manchmal die Achseln und sieht zu dem Angeklagten hinüber, der bei seinen Worten zu weinen beginnt:
»Der Angeklagte ist ein unglücklicher Mensch. Einer von denen, die für das Leben völlig untauglich sind. Ich habe ihn eingehend untersucht und festgestellt, daß er an den Folgen einer spinalen Kinderlähmung leidet. Er stammt aus einer erblich belasteten Familie, Vater war Trinker, Mutter schwere Psychopathin. Sein Verstand hat äußerst enge Grenzen ... Von einem Aufenthalt in der Strafanstalt kann man sich nicht das geringste versprechen. In Einzelhaft kann man ihn überhaupt nicht halten. Dann schluchzt und schreit er den ganzen Tag. Seine Zurechnungsfähigkeit ...« der Medizinalrat zuckt die Achseln. »Bei Begehung der Tat hat sich der Angeklagte in einem Zustand befunden, der die normale Verantwortlichkeit bedeutend herabmindert. Seine Zurechnungsfähigkeit ist außerordentlich beschränkt ...« Der Sachverständige schweigt. Er hat einen Eid geleistet, daß er das Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen erstatten wolle.
»Sie halten also die Voraussetzungen des § 51 für vorwiegend?« hilft ihm der Vorsitzende ein.
Dickmann beugt sich unwillkürlich weiter vor, um den Medizinalrat besser verstehen zu können.
Der schweigt. Zuckt die Achseln. Schweigt. Dann sagt er sehr leise: »Als ich den Angeklagten direkt danach fragte, gab er mir zu, er wisse, daß man nicht stehlen dürfe, daß Stehlen ein Unrecht sei.«
»Sie meinen also, daß er sich bei Begehung der Tat über das Rechtswidrige seines Handelns im klaren war?«
Der Medizinalrat sieht sich hilflos im Kreise um: »Es hat den Anschein ...«
Aus. Geliefert ist der Mann. Schwerer Diebstahl im strafverschärfenden Rückfall. Nichts zu machen.
»Herr Staatsanwalt, darf ich bitten?«
Dr. Rodebach erhebt sich, räuspert sich leicht und legt die Hände auf den Rücken: »Meine Herren Richter, keinem Zweifel kann es unterliegen, daß die Tat sich in der Weise abgespielt hat, wie die Anklage es behauptet. Das Ergebnis der Beweisaufnahme läßt keine Bedenken zu. Wenn zu diesem Fall überhaupt noch etwas zu sagen ist, dann liegen die Gründe hierfür nicht so sehr in der Sache selbst, als vielmehr in der Persönlichkeit des Angeklagten.« Räuspern.
Dr. Rodebach streift den Angeklagten mit einem flüchtigen Blick. »Meine Herren Richter, nun ist es zweifellos der Fall, daß der Angeklagte den Eindruck eines geistig minderwertigen Menschen macht. Wenn ich zunächst von den Ausführungen des Herrn Sachverständigen abstrahieren darf, möchte ich darauf hinweisen, daß wir zwar von dem Angeklagten im Laufe der Verhandlung keinen zusammenhängenden Satz gehört haben, daß die Geisteskräfte Holles andererseits aber zweifellos dazu ausgereicht haben, nicht weniger als viermal Einbrüche zu begehen, deren Nebenumstände, insbesondere die Art ihrer Ausführung, den Schluß auf eine geistige Unzurechnungsfähigkeit des Täters doch wohl nicht so ohne weiteres zulassen. Ich bin der Ansicht, daß solche Leute wie der Angeklagte eine soziale Gefahr darstellen. Ich möchte darauf hinweisen, daß gerade in gegenwärtiger Zeit, wo die Inflation eine so bedauerliche Verwilderung der moralischen Begriffe zur Folge hat, sich die Zahl derartiger Diebstähle und Einbrüche in bedenklicher Weise mehrt. Der Herr Sachverständige hat auf die direkte Frage des Herrn Vorsitzenden eingeräumt, daß der Strafausschließungsgrund des § 51 dem Angeklagten nicht zuzubilligen sei. In Anbetracht der Tatsache jedoch, daß wir es bei dem Angeklagten mit einem Menschen von herabgeminderter und eingeschränkter geistiger Verantwortlichkeit zu tun haben, bitte ich, ihm noch einmal mildernde Umstände zuzubilligen. Ich beantrage daher gegen ihn eine Gefängnisstrafe von einem Jahre und bitte, die erlittene Untersuchungshaft auf die Strafe anrechnen zu wollen.« »Angeklagter, Sie haben das letzte Wort!«
Der Angeklagte schweigt.
»Haben Sie noch etwas zu bemerken? Wie? Sie bitten um eine milde Strafe, nicht wahr? Sie bitten um eine milde Strafe, wie? Wir werden beraten.«
Das Gericht zieht sich in das Beratungszimmer zurück. Die fünf Herren halten sorgfältig die Reihenfolge ein, die ihr Dienstalter ihnen aufzwingt: erst geht der Vorsitzende hinaus, dann der Nächstältere ...
Max Holle sieht aus dem Fenster.
Dr. Rodebach steht auf: »Kommen Sie,« sagt er zu Dickmann, »wir wollen draußen eine Zigarette rauchen.«
Die Luft im Verhandlungssaal war schlecht. Dickmanns Kopf schmerzt. Rodebach ist müde. Die beiden Herren schlendern im Korridor auf und ab. Es hat keinen Zweck, bis zur Verkündung des Urteils in ihr Zimmer zu gehen. Der Staatsanwalt meint, die Beratung würde nicht lange dauern. Die Sache ist ja ganz einfach.
Dickmann fragt: »Sie meinen, daß er Ihrem Antrag gemäß verurteilt wird?«
Rodebach zuckt die Achseln: »Sollte man annehmen. Ganz dicht scheint ja der Mann wirklich nicht zu sein. Da liegt kein Grund vor, ihn schärfer zu verurteilen.«
So, Max Holle wird also auf ein Jahr ins Gefängnis kommen. Er ist ein unglücklicher Mensch, hat der Medizinalrat gesagt. Einer von denen, die völlig untauglich fürs Leben sind. Und darum kommt er ins Gefängnis. Vielleicht wäre es besser für ihn, man internierte ihn in einer Irrenanstalt?
Der Staatsanwalt macht eine abwehrende Handbewegung: »Nicht doch! Wenn alle solche Leute in die Irrenanstalt sollten, dann könnten wir alle Gefängnisse schließen. Denn jeder Rechtsbrecher hat irgendwo einen kleinen Stich. Sie hören doch, was der Sachverständige gesagt hat: § 51 liegt nicht vor.«
Dickmann gibt nicht Ruhe: »Aber der Mann macht doch einen völlig idiotischen Eindruck?«
»Kann ich vielleicht was dafür?« fragt Dr. Rodebach scharf. »Lassen Sie bloß diese Sentiments aus dem Spiel, Herr Kollege! Sie können sich schon auf meine bald fünfzehnjährige Praxis als Staatsanwalt verlassen, daß ich bestimmt keine irrsinnigen Strafanträge stelle.« »Aber ich bitte sehr, mit keinem Gedanken habe ich ...« »Also meinetwegen nicht. Ich möchte Ihnen aber für Ihre künftige Laufbahn einen guten Rat mitgeben. Finden Sie sich mit den gegebenen Tatsachen ab. Es macht auf mich und alle geschmackvollen Leute immer einen entsetzlich deprimierenden Eindruck, einen Richter oder Staatsanwalt als mißverstandenen Christus durch die Welt laufen zu sehen. Sie werden mangelhafte Gesetzesvorschriften oder solche, die Sie für mangelhaft halten, bestimmt nicht aus der Welt schaffen. Ganz abgesehen davon, daß ich der festen Überzeugung bin, dem Mann da drin geschieht sein volles Recht, wenn er auf ein Jahr ins Loch kommt. Man muß die Gesellschaft vor solchen Minderwertigen schützen ...«
Ja, da ist nichts zu machen. Dickmann hat noch viel zu lernen. Er muß die Augen weit offen halten. Er muß schweigen. Was versteht er denn schon von der Gerechtigkeit? Bisher nur so viel, daß die Praxis etwas anders aussieht, als es die Universitätsprofessoren mit warmem Pathos und ethischem Hochgefühl darzustellen belieben.
Dickmann ist gar nicht mehr neugierig, wie er wieder im Gerichtssaal sitzt und das Gericht erscheinen sieht. Der Landgerichtsdirektor hat ein Blatt Papier in der Hand, von dem er mechanisch abliest: »Im Namen des Volkes! Stehn'se mal auf, Angeklagter! Es ergeht folgendes Urteil: der Angeklagte wird wegen schweren Diebstahls im Rückfalle unter Zubilligung mildernder Umstände zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahre verurteilt. Die erlittene Untersuchungshaft ist anzurechnen.«
Na also. War vorauszusehen. Die Urteilsbegründung, die der Vorsitzende stockend und ungeschickt vorträgt, deckt sich im wesentlichen mit dem, was der Staatsanwalt vorhin gesagt hat.
»Die nächste Sache, Herr Wachtmeister! Der Angeklagte ist abzuführen!«
Max Holle dreht sich noch einmal um. Ein schräger Blick aus seinen kleinen Augen trifft Dickmann. Es liegt darin die schreiende Anklage eines kranken Tieres, und Dickmann zuckt zusammen ...
Das darf er nicht. Er muß den Namen Max Holle ganz schnell vergessen. Er muß den Kopf freibehalten für die Aufgaben seines Lebens. Er muß anders werden, härter. Alle sind so, die er bewundert, und denen er sich unterordnet: sein Vater, der Direktor Berg, der Staatsanwalt Rodebach. Dickmann ist ein schwacher Mensch ...
Und die Maschine schnurrt.
Er muß anders werden. Er kann nicht mit juristischen Scharfsinnigkeiten glänzen wie Krause, nicht mit geistreichen Paradoxen wie Donath. Er ist schwer und zuverlässig, was man ihm sagt, das tut er und freut sich seiner hemmungslosen Unterordnung als einer guten Tat, und unter Akten und Verordnungen erstickt der Mensch Friedrich Wilhelm Dickmann, noch ehe er zum Leben erwacht ist.
Weiter: Dr. Rodebach legt ihm eine Anzeige der Polizei auf seinen Tisch. Am 23. März hat die Hilfsarbeitersehefrau Katharina Schott auf dem Friedhof der evangelischen Johannisgemeinde einen Kranz niedergelegt. Eine rote Schleife trug die Inschrift: »Auf Nimmerwiedersehen!«
Eine Hilfsarbeitersehefrau glaubt nicht an die Wiederauferstehung des Fleisches. Was ist das? Eine blitzende Reihe juristischer Assoziationen rollt ab: Wiederauferstehung, Leben nach dem Tode, Religion, Vergehen und Verbrechen wider die Religion und die öffentliche Ordnung, Gotteslästerung. – Der Fall liegt klar: »Gotteslästerung« sagt Dickmann fragend zu dem Staatsanwalt hinüber, und der nickt:
»Jawoll. Machen wir im Wege des Strafbefehls ab. Dahinten irgendwo müssen die Formulare liegen. Sehnse mal nach, wie man das macht. Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls.«
Dr. Rodebach ist heute ausgezeichneter Laune. Er macht Späßchen über diesen Strafbefehl: »Was wollen wir der Frau geben? Was meinen Sie? Drei Wochen Gefängnis? Bißchen viel, was? Na also, seien wir barmherzig und schreiben wir vierzehn Tage.«
Und Dickmann schreibt. Die Staatsanwaltschaft bittet das Amtsgericht, einen Strafbefehl erlassen zu wollen. »Bei nicht erheblichen Delikten kann der Amtsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl ohne vorhergehende Verhandlung erlassen.«
Dickmann schreibt. Man muß sich genau an die Formen halten, in denen so ein Antrag gestellt zu werden pflegt. Das ist zwar nirgends ausdrücklich vorgeschrieben, aber man macht das eben so. Und außerdem: es liegt unbestreitbar ein starker ästhetischer Reiz darin, einen Schriftsatz in dem kunstvollen und verschlungenen Periodenbau des Juristendeutschs abzufassen. Lange Sätze, je verwickelter, desto amüsanter und befriedigender. Dickmann hat noch in keinem amtlichen Schriftstück kurze, knappe Sätze gefunden. Das muß sich wohl nicht gehören. Er schreibt und gibt sich genießerisch und respektvoll dem Rausch der Phrase hin: »Nach einer Anzeige der Polizei soll die Hilfsarbeitersehefrau Katharina Schott am 23. März 1923 öffentlich eine der christlichen Kirchen beschimpft und dadurch zugleich in einem zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt haben, indem sie auf dem der evangelischen Johanniskirchengemeinde gehörigen Friedhof am Grabe des Christian Mühlbauer in einem mit roten Rosen und roten Schleifen verzierten Fichtenkranz eine Tafel mit der Aufschrift ›Auf Nimmerwiedersehen!‹ niederlegte und dadurch die christliche Lehre von der Auferstehung der Toten in grober, ungebührlicher Weise verspottete und verhöhnte ...«
Eigentlich allerhand: da legt so eine Arbeiterfrau einen Kranz auf ein Grab. »Auf Nimmerwiedersehen!« Was ist denn schon dabei? Hätte Dickmann es gesehen, – er hätte höchstens darüber den Kopf geschüttelt. Natürlich ist das eine Ungehörigkeit und geschmacklos außerdem. Aber vierzehn Tage Gefängnis für eine Geschmacklosigkeit? Deswegen soll die Frau ihr Leben lang als »vorbestraft« gelten?
Die unendliche Bindung an Gott, – Dickmann hat seinem Vater versprochen, sie niemals zu vergessen. Das religiöse Moment im Strafrecht ... Aber wenn er nun beim besten Willen diese Bindung nicht fühlt, was dann? Gesetz ist Gesetz. Hier legte irgendein Proletarierweib einen geschmacklosen Kranz auf ein Grab, und das heißt Gotteslästerung.
Was hat Gottes erhabene Majestät, wie sie Dickmann dunkel vorschwebt, mit der Hilfsarbeitersehefrau Katharina Schott zu tun? Nichts, nichts, nichts ...
Dickmann verläßt mit Dr. Rodebach zusammen das Gerichtsgebäude. Ein unfreundlicher, naßkalter Frühlingsabend. Der Staatsanwalt pfeift leise vor sich hin. Er möchte noch einen ordentlichen, steifen Grog trinken gehn, ob Dickmann Lust dazu hat?
Sie sitzen sich gegenüber. Es macht Freude, den Staatsanwalt Rodebach anzusehen: groß, ständig gutgelaunt, elegant, witzig. Ein leidenschaftlicher Junggeselle. Er hat so gar nichts von der schneidigen Würde, die der öffentliche Ankläger in der Vorstellung des Volkes besitzt. Dr. Rodebach ist Staatsanwaltschaftsrat, wie der Gerichtsschreiber Lindemann Justizsekretär ist. Irgendetwas muß der Mensch ja schließlich tun. Warum soll man nicht Staatsanwalt sein?
Manchmal sagt der Staatsanwalt »Herr Kam'rad!« zu Dickmann. Er hat den Krieg als Hauptmann der Reserve in einem Infanterieregiment mitgemacht, hat an der Palästinafront gekämpft und versteht anregend davon zu erzählen. Oft witzelt er auch über die »Scheiß-Republik« und amüsiert sich darüber, daß er als »politischer Beamter« den Weisungen des Justizministeriums zu folgen hat. Und dabei ist der Justizminister ein Republikaner! Das ist wirklich sehr spaßhaft, und Dr. Rodebach, der irgendeinen guten Freund im Ministerium hat, erzählt Wunderdinge davon, wie die Beamten ihren Chef bei jeder Gelegenheit düpieren. Der arme Mann hat gar keine Ahnung, was in seinem Ressort vorgeht, ist ganz und gar auf die Gutmütigkeit seiner Räte angewiesen ...
Nein, Dr. Rodebach ist eine erfreuliche Erscheinung. Vielleicht kann Dickmann ihn fragen, wie er es mit der Bindung an das göttliche Wesen hält? Warum eine Frau, die nicht an Gott und die Auferstehung glaubt, bestraft werden muß?
Dickmann ist sehr vorsichtig: man kann nicht wissen, wie der Staatsanwalt seine Frage aufnehmen wird. Aber Dr. Rodebach lächelt nur. Mitleidig und überlegen. Er lehnt sich in seinen Stuhl zurück, trinkt einen tiefen Schluck Grog und beginnt zu reden. Man merkt ihm an, daß es ihm Freude macht, sich sprechen zu hören:
»Da kommt ihr jungen Leute von der Universität und habt so allerlei merkwürdige Ideen an Euch. Gerechtigkeit! Religiöses Moment im Strafrecht! Du lieber Gott, das ist doch glatter Mist. Ich verstehe gar nicht, wie heute noch so etwas möglich ist. Lieber Herr, wir wollen uns nichts vormachen: was den lieben Gott anbetrifft, so sind wir doch alle mehr oder weniger der Meinung, uns um den alten Herrn nicht allzuviel zu kümmern. Ich möchte keineswegs das zarte Pflänzchen Ihrer Religiosität durch rauhe Worte knicken. Ich lege allergrößten Wert auf die Feststellung, daß ich alle paar Wochen einmal in die Kirche gehe. Ich möchte auch durchaus nicht auf das erhebende Gefühl verzichten, zu wissen, dermaleinst hält an meinem Grabe ein würdiger Diener Christi eine schwungvolle Leichenpredigt: Er war ein aufrechter deutscher Mann und so weiter. Aber das religiöse Moment im Strafrecht ist – verzeihen Sie – ein bejammernswerter Atavismus.«
Dickmann schweigt verwirrt. Aber die vierzehn Tage Gefängnis für die Arbeiterfrau?
Man muß sehr vorsichtig sein.
»Aber wie stehen Sie dann zu den Strafbestimmungen der Gotteslästerung?«
Rodebach hebt erstaunt die Augenbrauen: »Nanu, was haben die denn mit Religiosität zu tun?«
Macht der Staatsanwalt einen Witz? Dickmann lächelt unschlüssig. Aber Dr. Rodebachs Gesicht ist durchaus ernst: »Sie werfen da zwei Dinge durcheinander, die nichts miteinander zu tun haben. Ich bin selbstverständlich damit einverstanden, daß die Gotteslästerung und jede Störung des religiösen Friedens bestraft wird. Und zwar sehr energisch bestraft wird. Ich glaube sogar, wir haben die Frau mit dem Kranz reichlich milde angefaßt. Aber das hat mit Religiosität oder mit meiner höchstpersönlichen Ansicht über den lieben Gott nicht das Geringste zu tun.«
Wie soll man das verstehen? Wo ist hier die unendliche Bindung an das göttliche Wesen?
Dr. Rodebach lächelt nachsichtig: »Das kommt davon, daß die ollen Universitätsprofessoren euch den Kopf mit allen möglichen ethischen Phrasen vollschmieren. Humbug! Immer und immer die Idee der Gerechtigkeit! Wenn wir uns nur nach den Postulaten dieser Idee richten wollten, – ich sage Ihnen, wir könnten alle Strafgerichte schließen und dafür einen Käseladen aufmachen. Nein, es gibt noch etwas anderes, und das ist meiner Ansicht nach viel, viel wichtiger als das ganze Gesabbere von der Gerechtigkeit.«
Dr. Rodebach räuspert sich. Seine Stimme klingt scharf und hell. Dickmann reißt sich unwillkürlich aus seiner nachlässigen Haltung auf. »Und dieses Wichtigere ist die Staatsidee!«
Staatsidee. – Das sagt er mit solchem Nachdruck, daß Dickmann sich wundert. Von der Staatsidee als Faktor der Strafrechtspflege hat Dickmann in Kollegs und im Dienst bisher nichts gehört. Was hat die Staatsidee mit der Gerechtigkeit zu tun? Was mit dem Vergehen und Verbrechen gegen die Religion?
Dr. Rodebach hat seine Schärfe schon wieder vergessen. Es macht den Eindruck, als reuten ihn seine energischen Worte. Er redet salopp, schnoddrig, übertrieben gleichgültig: »Sehen Sie, die destruktiven Tendenzen des Sozialismus und schon früher die des bürgerlichen Liberalismus haben die Grundlagen des modernen Staates bedenklich aufgelockert. Es muß irgendwelche Festpunkte geben. Man kann einen Staat nicht einfach mit dem Zugeständnis zusammenhalten, daß er eine Institution der reinen Zweckmäßigkeit sei. Man muß diese materielle Grundlage moralisch und philosophisch überbauen, sonst kracht eines Tages die ganze Geschichte zusammen. Gotteslästerung, – man könnte die Störung eines Gottesdienstes ganz einfach als Hausfriedensbruch bestrafen. Aber dann entstände der Eindruck, als wäre die religiöse Erbauung einer Gemeinde eine ganz alltägliche Angelegenheit. Die Verbrechen wider die Religion würden sich in unglaublicher Weise mehren. Und das kann sich der Staat einfach nicht leisten. Es gibt schon viel zu viel Dinge, um die sich seine Untertanen in die Haare geraten, wenn nun auch noch die Religion dazu käme, – ich danke schön.«
Staatsidee. Zweckmäßigkeitsmaßnahme. Wie nüchtern sich das anhört. Ob alle Staatsanwälte so denken wie Dr. Rodebach? Dickmanns Vater sicher nicht. Ist denn die Staatsidee überhaupt eine rechtserhebliche Größe? Gewiß, – da sind die Paragraphen, die den Hochverrat und den Landesverrat unter Strafe stellen. Aber man weiß ja, daß Hochverrat unter Umständen eine sehr ehrenhafte Sache sein kann. Ludendorff, Traugott von Jagow. Trotzdem muß er bestraft werden. Richtig: Staatsidee. Aber Gotteslästerung? Und vor allem: warum spricht man das nicht einfach aus? Warum hört Dickmann jetzt zum ersten Mal von diesen Dingen? Dr. Rodebach fällt die Schweigsamkeit des Referendars auf: »Warum so nachdenklich?«
Dickmann sucht nach Worten. Gehört es sich, daß eine so einfache Tatsache wie ein Verstoß gegen den Gotteslästerungsparagraphen zu solchen erstaunlichen Schlußfolgerungen führen kann, wenn man darüber nachdenkt?
»Sie sagen Staatsidee. Ich habe nie davon gehört. Niemals darüber nachgedacht. Vielleicht haben Sie recht. Ganz sicher sogar, aber ich verstehe eins nicht: warum lassen sich die Kommentatoren des Strafgesetzbuchs auf so schwierige theologische und philosophische Theorien ein, wenn der ganze Paragraph eine reine Zweckmäßigkeitsmaßnahme ist?«
»Weil die Welt beschissen werden will,« stellt Dr. Rodebach sachlich fest. »Oder wenn Ihnen die feinere Form dieses schönen Spruchs angenehmer ist: mundus vult decipi. Wenn es nur gebildete und vorurteilsfreie Menschen wie uns beide gäbe, dann wären diese moralischen und philosophischen Notkonstruktionen wahrhaftig nicht nötig. Aber die Spießer aller Berufe und Geschlechter glauben doch nur dann an die Existenzberechtigung eines Gesetzes, wenn man sie in Einklang mit den übernatürlichen Mächten setzt. Idee der Gerechtigkeit, das höchste Wesen. Der liebe Gott als Buhmann, als Kinderschreck ... Ne, ne, lieber Freund, das geht nun einmal nicht anders ...«
Dickmann schweigt. Er hört nicht mehr so ganz genau, was Dr. Rodebach sagt. Der Dämmerschoppen zieht sich in die Länge. Sie sind schon beim vierten Glase Grog, und die Gedanken werden von diesem warmen, süßen Zeug nicht schneller und leichter.
»Mir persönlich ist es entsetzlich gleichgültig, ob Sie an den lieben Gott aus dem Religionsbuch glauben oder an den Großen Affen von Schechian.«
Dr. Rodebach unterbricht sich. Seine feinen, langen Finger formen zärtliche Gebilde in der Luft: »Ahh! Der große Affe von Schechian! Kennen Sie das nicht? Das ist ein Götze. Kommt vor in einem entzückenden Roman ›Tanzai oder der Schaumlöffel. Von Crébillon fils, so einem alten Schwein aus dem achtzehnten Jahrhundert. Müssen Sie lesen. Einer der reizendsten erotischen Romane der Weltliteratur. Eine Leichtigkeit, eine Frechheit, mit der dieser Mann an die heikelsten Dinge rangeht! Ich habe da zu Hause eine Ausgabe mit äußerst grazilen Stichen. Müßten Sie sich anschaffen. Sie werden viel davon haben. Leider hat – glaube ich – Kollege Schneider neulich die ganze Auflage beschlagnahmt. ›Verbreitung unzüchtiger Schriften‹, § 184. Übrigens auch so eine Sache, über die man stundenlang diskutieren könnte ...«
Crébillon fils, entzückende Erotik, grazile Kupferstiche ...
Dickmann sieht nicht mehr ganz klar. Vielleicht liegt das am Grog? Dieser große, elegante Herr mit dem formidablen Durchzieher auf der linken Backe, – wie ist das doch? öffentlicher Ankläger, streng, aber gerecht. Die objektivste Behörde der Welt ist die preußische Staatsanwaltschaft. Crébillon fils, Staatsidee, Vergehen und Verbrechen wider die Religion und die öffentliche Ordnung, der Große Affe von Schechian, der liebe Gott als Buhmann, als Kinderschreck ...
Dickmann geht nach diesem Dämmerschoppen ohne Abendbrot zu Bett.
Dr. Rodebach hat in den nächsten Tagen einige Termine wahrzunehmen. Dickmann sieht ihn wenig. Sie können nicht mehr auf ihr Gespräch zurückkommen, und im Grunde ist das Dickmann sehr angenehm.
Dann wirft ihm der Staatsanwalt eines Tages ein Schriftstück auf den Tisch: »Wird Sie interessieren.«
Dickmann liest. Es ist ein Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls gegen die Hilfsarbeitersehefrau Katharina Schott, der vom Amtsgericht zurückgekommen ist: »Urschriftlich zurück zur Äußerung, ob gegen Erhöhung der Strafe auf vier Wochen Gefängnis Widerspruch erhoben wird. Die Beschuldigte ist bereits einmal wegen des gleichen Vergehens bestraft. Es erscheint mit Rücksicht auf die in der Wiederbegehung der Straftat sich zeigende Energie des verbrecherischen Willens die Zufügung einer empfindlicheren Strafe angebracht ...«
»Schreiben Sie bitte, daß hierseitig Bedenken gegen eine Erhöhung der Strafe nicht vorliegen,« sagt Dr. Rodebach eilig, und Dickmann wird rot.
Staatsidee, Zweckmäßigkeitsmaßnahme, die Gerechtigkeit ...
Bald ist der Staatsanwaltschaftsrat nur noch eine Erinnerung. Amtsgericht für Zivilsachen, für Strafsachen, Landgericht, Kammergericht, – Dickmann arbeitet überall. Immer wieder ist etwas Neues, und immer wieder ist es das Alte: die Maschine läuft.
Dickmann sieht Richter, arbeitet bei ihnen, lernt sie kennen und beurteilen: junge und alte, eifrige und bequeme, nervöse und phlegmatische, aber es sind immer Richter, Angehörige einer großen Familie, Glieder einer Kaste, die weit herausgehoben ist aus dem Volk, eine besondere Sprache spricht und sich abschließt gegen jedermann, der nicht zu ihr gehört.
Er lernt Richter kennen und kritisieren. Aber seine Kritik ist milde, und es ist etwas in ihr von der Spottsucht eines Schuljungen oder von dem heimlichen Räsonnieren eines Unteroffiziers über seinen Vorgesetzten: immer steht im Hintergrund die Autorität, das Vorbild, die Unantastbarkeit des Höheren. Und trotz allen Unterschieden will es dem jungen Juristen scheinen, als sei einer wie der andere.
Und überall Akten. Gebirge von Akten. Geschäftsnummern, Paragraphen, sachliche und pathetische Plädoyers der Anwälte ...
Die Korridore des riesigen Amtsgerichtsgebäudes sind erfüllt von brausendem Gesumm. Rechtssuchende Staatsbürger irren umher, hasten unsicher und gehemmt, vergleichen ihre Vorladungen mit den Nummern der Zimmer, bis sie den Saal gefunden haben, in dem ihre Sache verhandelt wird ...
»... Die halbzehn-Uhr-Sachen alle schon verhandelt? Herr Wachtmeister, rufen Sie die zehn-Uhr-Sachen auf.« Ein Justizwachtmeister schnurrt eine Reihe von Namen herunter. Ein Knäuel Menschen schiebt sich in den Verhandlungssaal. Feierliche Gesichter. Da sitzt der Richter. Er wird Recht sprechen, wird entscheiden, ob Frau Wieder an Herrn Brand die Zahlung zu leisten hat oder nicht. Ob Herr Schmidt berechtigt ist, von Herrn Gerhard die Summe von Reichsmark ...
Rechtsanwälte drängen sich vor dem Richtertisch. Sie haben keine Zeit. Während sie hier stehen und warten, daß die Reihe an sie kommt, wird im nächsten Saal vielleicht gerade eine andere Sache aufgerufen, die sie auch zu vertreten haben. Nervös zuckende Augenbrauen. Bitten, höfliche Erinnerungen:
»... Herr Amtsgerichtsrat, darf ich vielleicht ...«
»Gut. Nr. 2585/23 J. Müller gegen Lansing ...«
Der Referendar Dickmann sitzt auf dem Stuhl des Protokollführers links vom Richter und fertigt Protokolle an.
»Schreiben Sie: für Müller in Vollmacht Herr Rechtsanwalt Dr. Meyer VII. Für Lansing erscheint ... Müller gegen Lansing!«
Rechtsanwalt Meyer VII. packt schon seine Akten zusammen: »Die Gegenpartei ist nicht erschienen, ich beantrage Versäumnisurteil.«
»Herr Kollege, bitte: Nr. 2585/23 J. Es ergeht Versäumnisurteil ...«
Die nächste Sache. Zwei Rechtsanwälte. Sie stehen rechts und links an zwei Pulten. Sind sehr höflich miteinander. Alte Kollegen. Sehen sich schon seit zwanzig Jahren jeden Tag auf dem Gericht ...
»Schreiben Sie: ... nehmen Bezug auf die Schriftsätze ... Nächster Termin am Dienstag, den 23. Juni morgens zehn Uhr Zimmer 383.«
Die nächste Sache. »Schreiben Sie: der Beklagte erklärt sich bereit, ... in zehn Raten, beginnend am ...«
Zwei andere Menschen vor den Pulten.
»Noch zehn-Uhr-Sachen?«
Eine Frau drängt sich unschlüssig durch den Knäuel von wartenden Rechtsanwälten und Parteien vor den Richtertisch.
»Wer sind Sie denn?«
»Frau Lansing.«
»Zeigen Sie mal Ihre Vorladung. Geschäftsnummer 2585/23 J. Ihre Sache ist erledigt. Es ist Versäumnisurteil gegen Sie ergangen. Herr Wachtmeister, die halbelf-Uhr-Sachen!«
Ein neuer Menschenschwall quillt in den Verhandlungssaal. Neue Geschäftsnummern. Andere Rechtsanwälte. Aufgeregte Parteien, deren Kampfeifer plötzlich erstirbt vor der sachlichen, unendlich nüchternen Atmosphäre des Gerichtszimmers.
»... und beantrage, die Klage kostenpflichtig abzuweisen.« – »Nehme Bezug auf meinen Schriftsatz vom 18. des Monats und bitte um Entscheidung nach Lage der Akten.« – »Schreiben Sie: die Sache wurde vertagt.« – »Ich habe den Kläger bereits durch Schreiben vom 14. vorigen Monats darauf aufmerksam gemacht.« – »Schreiben Sie: Termin zur Verkündung des Urteils wird festgesetzt auf den ...«
Frau Lansing steht immer noch vor dem Richtertisch, ihre Vorladung in der Hand.
»Was wollen Sie denn noch? Ihre Sache ist erledigt.« Frau Lansing hat Wochen und Wochen auf den Augenblick gewartet, wo sie vor dem Richter ihr Recht beweisen kann. Sie braucht doch nicht zu bezahlen. Wochenlang hat sie sich alles überlegt, was sie sagen wollte. Jedes Wort sitzt. Und nun?
»Es ist Versäumnisurteil gegen Sie ergangen. Verstehen Sie denn nicht? Sie waren zur festgesetzten Zeit nicht hier, und damit ist Ihre Sache erledigt.«
»Aber ich bin doch schon seit neun Uhr ...«
Der Amtsgerichtsrat verliert die Nerven: »Herrgott noch mal! Immer dieselbe Geschichte! Ihre Nummer ist aufgerufen worden, und Sie haben sich nicht gemeldet.«
»Aber ich kann doch nichts dafür! Ich weiß doch nicht ...«
»Ihre Sache ist erledigt. Herr Rechtsanwalt? Schreiben Sie: der Beklagte erkennt an ... Was wollen Sie denn noch, Frau Lansing? Ich kann doch nicht einfach ein Urteil aufheben, bloß weil Sie nicht aufgepaßt haben. Erheben Sie Einspruch, wenn Sie das wollen. Schreiben Sie bitte ...«
Dickmann schreibt mit glühenden Backen. Wie das alles klappt. Ein Betrieb! Großartig einfach! Und wie eindeutig und klar das alles ist. »Ersuchen um Vorlegung von Urkunden.« Rasch, keine Zeit! Form nach § 165 Zivilprozeßordnung. Formular: »In der Prozeßsache ... wird zur Vorlegung der Handlungsbücher des Beklagten Termin auf den ... bestimmt.« – »Ersuchen um Abnahme eines Eides.« Weiter, weiter: Form. Z. P. Nr. 31: »In der Prozeßsache ... wird zur Leistung des dem Kläger im Beweisbeschluß vom ... auferlegten Eides Termin bestimmt auf den ...«
Draußen auf den Korridoren drängen sich schon wieder andere Prozeßparteien. Rechtsanwälte laufen vorbei, Akten unter dem Arm. »Keine Zeit, keine Zeit.« »Herr Kollege Abrahamsohn, Herr Kollege Abrahamsohn! Mein Gott, wo stecken Sie denn? Keine Zeit. Muß nachher noch Ehescheidungstermin in Charlottenburg wahrnehmen.«
Die beiden Rechtsanwälte betreten eilig den Saal. Ein paar formelhafte Wendungen. »Schreiben Sie bitte!« Nicht fünf Minuten dauert das Ganze. Weiter, weiter.
»Die Sache Schmidt gegen Marquardt!«
Und während oben Urteil auf Urteil, Beschluß auf Beschluß verkündet oder vertagt wird, steht irgendwo auf einem Korridor eine Frau und weint. Sie weiß nicht, was mit ihr geschehen ist. Was soll sie denn nun zu Hause erzählen? Sie versteht das alles nicht. Versäumnisurteil, Einspruch. Ja, wenn sie sich einen Rechtsanwalt genommen hätte. Aber das kostet Geld, und sie hat doch keins.
»Die nächste Sache bitte!«
Und während in tausend Zimmern Aktenberge anschwellen, hat hier irgendeine Frau Lansing den Glauben an die Gerechtigkeit verloren.
Wichtigkeit! Dickmann hätte die Frau vorhin am liebsten geohrfeigt. So ein Unfug. Stört die Verhandlung immer wieder mit ihrem Quatsch. Soll sie doch aufpassen. Hier hat man keine Zeit. Muß so eine Frau doch verstehen, und wenn sie noch so dämlich ist.
Weiter, weiter ...
Während seiner Ausbildungszeit bei der Zivilabteilung des Amtsgerichts wacht Dickmann nur selten auf aus der tiefen Betäubung, die die endlosen Beschlüsse, Vertagungen. Verkündungen, Beweiserhebungen, Urteile hervorrufen.
Man vergißt beinahe, warum man hier ist. Worum es sich hier handelt. Es ist ja auch so gleichgültig! Ist ja doch immer dasselbe: Geld, Geld, Geld. Die einen wollen es haben, und die anderen geben es nicht her. Der eine hat es nicht, und der andere braucht es.
Wie die Leute sich um die paar Mark aufregen! Tun so, als hinge Leben und Seligkeit davon ab, daß ihr Gegner zahlt. Die Welt ist schlecht. Verflucht noch mal, das merkt man erst so richtig, wenn man Tag für Tag Klagen und Beschwerden hören muß.
Manchmal erschrickt Dickmann, wenn er erkennt, was eigentlich von dem Ideal der Gerechtigkeit übrig geblieben ist, das doch sein Leben zu bestimmen scheint. Immer wieder diese platten, unerfreulichen, materiellen Dinge. Der Richter nichts als der Büttel, der die Forderungen eines geldgierigen Menschen eintreibt. Alles, was Dickmann auf der Universität gelernt hat, neunundneunzig Prozent aller Gesetzesvorschriften, aller Verordnungen und Bestimmungen: Geld, Geld, Geld. Die einen wollen es haben, und die anderen geben es nicht her.
Und die Gerechtigkeit?
Unten im Lichthof des Gebäudes steht unter dem Namensschild mit den Initialen des Kaisers die Statue der Themis, Waage und Schwert in der Hand. – Dickmann ist Wochen und Wochen an ihr vorbeigegangen und hat sie nicht bemerkt. Dann hat er leicht befremdet genickt: »Ach ja: Themis mit Waage und Schwert.«
Aber diese Wahrnehmung war blaß und undeutlich wie die schüchternen Fragen nach der Gerechtigkeit, die ihm Augenblicke der Müdigkeit zu beantworten aufgeben.
Er beantwortet sie nicht. Er hat keine Zeit. Er vergißt sie. Der Apparat ist zu groß, die Maschinerie zu geölt. Sie steht so sehr im Vordergrund, daß man die Gerechtigkeit nicht sieht ...
Weiter, weiter: Zwangsvollstreckung, einstweilige Verfügung, dinglicher Arrest, Grundbuchsachen, Handelsregister, Vereinsregister, Verfahren bei Aufnahme eines Testaments, Verfahren bei der freiwilligen Versteigerung eines Grundstücks ...
Wo ist das Gesetz? Erstickt, überwuchert, verkümmert, beiseite geschoben von den Formularen und Verordnungen, die eifrige Menschen zu seiner Auslegung und Anwendung erdacht haben.
Wo ist das Leben?
Es muß irgendwo da sein. Man sieht an den Termintagen Menschen, dann erfährt man, daß es Angelegenheiten des wirklichen Lebens sind, die sich in diesem papiernen Netz verfangen haben.
Ein korrekter, leicht übermüdeter, ungebührlich tief von seiner Wichtigkeit durchdrungener Beamter nimmt ein Blatt Papier nach dem anderen aus einem Regal und beschreibt es mit Tinte in geheiligten Formeln und Wendungen: man nennt ihn Amtsgerichtsrat. Er nennt sich einen Diener der Gerechtigkeit und weiß fünf Minuten später nicht mehr den Namen einer gewissen Frau Lansing, die ...
Das dumme Aas! Man muß doch die Form wahren.
Die Form! ...
Dickmann sitzt nun wieder im Kriminalgericht und bearbeitet beim Amtsgericht Strafsachen. Er kennt das von der Staatsanwaltschaft her. Nur, daß er hier Urteilsbegründungen ausfertigt, an den Sitzungen teilnimmt und im Beratungszimmer aufmerksam zuhört, wenn der Richter den Schöffen seine Ansicht von der abzuurteilenden Sache vorträgt.
Er lernt viel. Zum Beispiel, daß die Schöffen höchst überflüssige Menschen sind, die vom Strafgesetzbuch keine Ahnung haben, und die immer das tun, was der Richter ihnen vorschlägt. Er lernt noch mehr: daß man das Verbrechen empfindlich bestrafen muß, gerade jetzt, wo diese bedauerliche Verwilderung der moralischen Sitten besorgniserregend um sich greift, wie ihm sein Vorgesetzter immer erzählt.
Der Amtsgerichtsrat Wiedemann ist ein sehr schneidiger Herr. Er lehnt diese Zeit so durchaus ab, daß er es für seine heiligste Pflicht hält, ihren Symptomen unnachsichtig entgegenzutreten. Und diese Symptome sind eben Rechtsbrecher, Diebe, Betrüger, Schwindler, ungetreue Angestellte, Menschen, die vom Geiste des Mammons vergiftet sind und sich an fremdem Gut vergreifen.
Dickmann hat großen Respekt vor Wiedemanns gefestigten und starren Moralbegriffen. Sein Vorgesetzter ist ein ausgezeichneter Verhandlungsleiter. Mit Leib und Seele bei der Sache. Dem kann kein Angeklagter etwas vormachen. Wiedemann hat eine kleine Schwäche für Fälle, die noch nicht restlos aufgeklärt sind. Es ist langweilig, einen geständigen Angeklagten vor sich zu haben, der zu allem ja sagt, was man ihm vorwirft. Da gibt es keine Möglichkeit, die geistige Überlegenheit des Richters spielen zu lassen.
Aber wenn ein Angeklagter Ausflüchte macht, alles ableugnet, sich geschickt verteidigt, – dann ist Amtsgerichtsrat Wiedemann in seinem Element. Dann wird er geradezu liebenswürdig. Und manchmal hat es den Anschein, als sei er dann dem Angeklagten für seine Halsstarrigkeit fast dankbar.
Man muß das sehen, wie er in solchen Fällen seinen eirunden, kahlgeschorenen Schädel in die Schultern vergräbt, seine Augen bis auf einen kleinen Spalt schließt und freundlich vor sich hin lächelt: »Natürlich, natürlich, Sie sind völlig unschuldig. Hier auf der Anklagebank sitzen immer nur völlig unschuldige Menschen!« Ein feiner, heller Kopf. Eine Gerichtsverhandlung ist für ihn ein reiner Sport. Wie er plötzlich ganz gemütlich zu reden anfängt, wie er dem Angeklagten recht gibt, ihn in seinem guten Gewissen bestärkt, um dann plötzlich die Brille abzunehmen und ihm mit einem boshaften Lächeln seine Widersprüche nachzuweisen. Je schwieriger die Verhandlung, um so milder wird der Richter. Und ein abgefeimter Schwindler, der ihm den Schuldbeweis so sauer wie möglich gemacht hat, kann auf ein verhältnismäßig mildes Urteil rechnen.
Dickmann bewundert Wiedemann restlos. Und wie der die Schöffen zu nehmen versteht! Er läßt ihnen erst gar keine Zeit, vielleicht eine gegenteilige Meinung zu äußern, redet und redet, wirft mit Paragraphen um sich und Reichsgerichtsentscheidungen, daß den Laienrichtern der Kopf raucht. Ein vorzüglicher Strafrichter ...
»Guten Morgen, meine Herren!«
Amtsgerichtsrat Wiedemann kommt gutausgeschlafen in das Beratungszimmer, wo die Schöffen und der Referendar Dickmann bereits auf ihn warten. Die beiden Schöffen sind Handwerksmeister, anständige, brave Leute. Wiedemann begrüßt sie mit besonderer Herzlichkeit. Sagt »Herr Meister!« zu ihnen und erkundigt sich fachmännisch und teilnehmend nach dem Stand ihrer Unternehmungen. Ja ja, eine verfluchte Zeit. Man weiß gar nicht, wo einem der Kopf steht. Gerade das Kleingewerbe hat es heute besonders schwer. Die Unbotmäßigkeit der Arbeiter, ihre Geldgier, mit nichts sind die Leute mehr zufrieden. Freilich, freilich, früher war es besser. Die beiden Schöffen strahlen vor Freude und Stolz über das Verständnis und die Leutseligkeit des Richters. »Na, dann wollen wir mal anfangen.«
Dickmann nimmt rechts hinter dem Gericht Platz. Er hat in dieser Verhandlung keine andere Funktion als zuzuhören.
In der Anklagebank erhebt sich ein großer, blonder Kerl. Sieht ein bißchen verwahrlost aus.
Die Vernehmung beginnt. Zwanzig Jahre alt, Schlosser von Beruf, jetzt arbeitslos. Hat früher in Saarbrücken gearbeitet, ist wegen Stillegung seiner Fabrik entlassen. Amtsgerichtsrat Wiedemann blättert in den Akten:
»Und da sind Sie dann eines Tages von Saarbrücken nach Offenbach gegangen, nicht wahr? Sagen Sie mal, was wollten Sie denn da eigentlich?«
»Arbeit suchen.«
»Soso. Arbeit suchen. Natürlich. Wenn es in Saarbrücken keine Arbeit gibt, dann gibt es vielleicht in Offenbach welche. Ausgerechnet in Offenbach. Na, mal weiter.«
»Und da habe ich auch keine Arbeit bekommen.«
»Wovon haben Sie denn da gelebt?«
Der Angeklagte zuckt die Achseln.
Wiedemann räuspert sich: »Gebettelt wahrscheinlich. Na, mal weiter.«
»Am Bahnhof sagten mir dann ein paar Kollegen, ich könnte hier Arbeit bekommen. Da bin ich denn auch angenommen worden und habe eine Stunde lang Kohlen geschippt.«
Der Amtsgerichtsrat zieht den Kopf ein: »Sagen Sie ma, was waren denn das für Leute, die Ihnen die Arbeit angewiesen haben?«
»Französische Beamte.«
»Soso. Französische Beamte. Na, und das hat Sie gar nicht gestört, daß das Franzosen waren, wie? Da haben Sie sich natürlich gar nichts bei gedacht?«
»Nein.«
Der Amtsgerichtsrat nimmt die Brille ab und lehnt sich in seinen Sessel zurück: »Das war ja auch die einfachste Sache von der Welt. Da kommen Franzosen nach Offenbach, lassen auf dem Bahnhof Kohlen verladen, und da finden Sie gar nichts bei.«
Der Angeklagte schweigt.
»Sagen Sie ma, was dachten Sie sich eigentlich dabei? Was? Ich meine, schämen Sie sich denn gar nicht? Sie wußten doch ganz genau, daß die Franzosen kein Recht hatten, unsere Kohlen zu stehlen, was?«
»Natürlich nicht. Sie dachten, die Franzosen haben ein Recht dazu, mitten im Frieden in Deutschland einzufallen und sich zusammenzustehlen, was sie gerade kriegen können, was? Und das wollen Sie uns einreden? Schämen sollen Sie sich was, als deutscher Mann Ihre Hand zu einem gemeinen Diebstahl zu bieten, den die Franzosen ausgeführt haben.«
»Ich hatte Hunger und konnte keine Arbeit kriegen ...«
»Sie sind ja auch so schwächlich, was? Nirgendwo gab es Arbeit. Warum laufen Sie denn sinnlos und aufs Geratewohl nach Offenbach? Sie hätten doch zu Hause bleiben können. Sie sind ja nach Begehung der Straftat auch einfach auf blauen Dunst hin nach Berlin gefahren und haben hier gebettelt. Vielleicht nennen Sie das Arbeit suchen?«
Der Staatsanwalt redet ein paar sachliche Worte. Die Franzosen haben die Kohlen gestohlen, und der Angeklagte hat ihnen Beihilfe dazu geleistet. Er hat sich demnach der Beihilfe zum Diebstahl nach § 242 des Strafgesetzbuchs schuldig gemacht: »Ich beantrage daher eine Gefängnisstrafe von einem Monat.«
»Angeklagter, haben Sie noch etwas dazu zu sagen?«
»Ich habe nicht gewußt, daß ich mich strafbar machte. Ich habe doch bloß eine Stunde lang beim Kohlenschippen geholfen. Ich bin außer der Haftstrafe wegen Bettelns und Obdachlosigkeit noch niemals bestraft worden ...«
Im Beratungszimmer zünden sich die Herren Zigarren an. Amtsgerichtsrat Wiedemann ist sehr höflich zu den beiden Schöffen: »Tolle Sache, wie? Da klauen die Franzosen unsere schönen Kohlen, und der Kerl hilft ihnen dabei. Ganz einfach. Es ist natürlich völlig sinnlos, wenn der Mann sagt, er habe nicht gewußt, daß die Franzosen kein Recht zu diesem Diebstahl gehabt hätten. Kein Recht zu einem Diebstahl! Und das will der Mann nicht gewußt haben ...«
Der Amtsgerichtsrat redet ununterbrochen. Die beiden Schöffen hören aufmerksam zu: »In dieser schweren Zeit ... nationale Knochenerweichung ... schwarze Schmach an Rhein und Ruhr ... deutsche Männer. Meinen Sie nicht auch, daß ein Monat Gefängnis ein bißchen sehr wenig für so ein Verbrechen ist? Meines Erachtens ist hier doch eine empfindlichere Strafe am Platze.« Der Amtsgerichtsrat lächelt freundlich: »Meine Herren, so wie ich den Mann einschätze, sitzt der die vier Wochen – wie man in Berlin so schön sagt – mit einer Arschbacke ab.«
Gelächter, in das Dickmann herzlich mit einstimmt.
»Ich finde, drei oder noch besser vier Monate wären eine angemessene Sühne. Na, wollen erst mal sehen. Herr Referendar, wie denken Sie über den Fall? Ist Ihnen am Plädoyer des Staatsanwalts nichts aufgefallen?«
Dickmann überlegt fieberhaft: Beihilfe zum Diebstahl ...
Nein, Dickmann ist nichts aufgefallen.
Amtsgerichtsrat Wiedemann lächelt nachsichtig, und während die beiden Schöffen ihn respektvoll ansehen, greift er zum Strafgesetzbuch: »Meine Herren, in Frage kommen hier die Paragraphen 242 und 258 des Strafgesetzbuchs. Meiner Ansicht nach liegt Beihilfe zum Diebstahl nicht vor. Die Franzosen haben die Kohlen, also fremde bewegliche Sachen, einem anderen in der Absicht rechtswidriger Zueignung entwendet. Aber als der Angeklagte seine Tätigkeit begann, war der Diebstahl ja doch schon vollendet. Es handelte sich nunmehr nur noch um die Beiseiteschaffung der Diebesbeute. Meiner Überzeugung nach liegt hier also nicht Beihilfe zum Diebstahl nach § 242 vor, sondern Hehlerei nach § 258. Ist Ihnen das klar, meine Herren?«
Die beiden Schöffen sehen sich an und nicken krampfhaft mit dem Kopf. Amtsgerichtsrat Wiedemann lächelt unendlich fein: »Sie haben sonst natürlich das Recht, Ihre andersgeartete Rechtsauffassung hier darzulegen, und wir würden dann darüber abstimmen. Aber ich darf jetzt feststellen, daß Sie mit mir der Ansicht sind, es kommt hier nicht Beihilfe zum Diebstahl, sondern Hehlerei in Frage. Die Sache ist ja auch durchaus geklärt. Die Strafbestimmungen sind klar und eindeutig, lassen keinen Zweifel zu. Ach, so, ja, die Frage des Strafmaßes. Meine Herren, ich bin dafür, den Angeklagten zu vier Monaten Gefängnis zu verurteilen. Herr Schmiedersky, anderer Ansicht? Nein. Herr Kaphausen? Nein. Also Einstimmigkeit. Herr Kollege, darf ich bitten, den Protokollführer zu rufen.«
Dickmann erhebt sich und ruft den Protokollführer ins Beratungszimmer. Der Amtsgerichtsrat diktiert ihm die Urteilsformel in die Feder. Dann macht er sich kurze Stichworte für die mündliche Urteilsbegründung.
Er lächelt freundlich: »Herr Kollege, passen Sie hübsch auf. Sie werden später das Urteil ausfertigen müssen.«
Der Amtsgerichtsrat ist dafür bekannt, daß er sich schon bei der mündlichen Urteilsbegründung eines gepflegten Stils befleißigt. Seine Referendare haben nicht mehr viel Arbeit, wenn sie das Urteil schriftlich fixieren.
»Meine Herren, darf ich bitten?«
Das Gericht betritt den Saal. Der Angeklagte erhebt sich. Der Vorsitzende spricht mit lauter, deutlicher Stimme das Urteil: »Im Namen des Volkes! Der Angeklagte wird wegen Hehlerei zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.« Wiedemann sieht zur Decke empor. Sein Gesicht zeigt den Ausdruck äußerster Sammlung. Langsam und überlegt redet er weiter, ein klassisches Urteil, klar, einfach, unangreifbar. Dickmann bewundert ihn.
»Die Anklage sieht in der Tätigkeit des Angeklagten eine Beihilfe zu dem Diebstahl, den die Franzosen fortgesetzt an den der deutschen Eisenbahnverwaltung gehörenden Vorräten an Kohlen verübten. Sie nimmt also an, der Diebstahl sei erst mit der Wegnahme der Kohlen durch die Kohlenschipper begangen worden. Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß die Franzosen widerrechtlich in Offenbach eingedrungen sind, und noch viel weniger kann es zweifelhaft sein, daß die Franzosen keine Berechtigung dazu hatten, im Bahnhofsgebiete alles zusammenzustehlen und nach Frankreich zu befördern. Sie haben also fremde bewegliche Sachen einem anderen in der Absicht rechtswidriger Zueignung weggenommen, sich mithin des Verbrechens des Diebstahls nach § 242 Strafgesetzbuchs schuldig gemacht. Als der Angeklagte seine Tätigkeit begann, war aber der Diebstahl bereits vollendet. Es bedurfte nur noch der Wegbringung der Diebesbeute. Der Angeklagte hat den Franzosen wissentlich Beistand geleistet, um ihnen die Vorteile des Diebstahls zu sichern. Und er hat dies getan um seines Vorteils willen, denn er war mittellos und hat die Arbeit ausgeführt, um einen eigenen Vorteil zu gewinnen.«
Der Amtsgerichtsrat macht eine kleine Pause. Seine Stimme, bisher sachlich und ruhig, schwillt an. Er sieht drohend zu dem Angeklagten hinüber:
»Seiner Behauptung, er habe nicht gewußt, daß die Franzosen kein Recht zur Wegnahme der Kohlen gehabt hätten, ist der Glaube zu versagen. Denn jeder halbwegs nationalgesinnte Deutsche hat so viel Rechtsempfinden, daß er das Vorgehen der französischen Truppen als einen brutalen Willkürakt ansieht. Dazu kommt weiter noch, daß es an und für sich schon eines Deutschen unwürdig ist, für die Franzosen freiwillig zu arbeiten. Selbst die Not durfte den Angeklagten nicht dazu bringen, sich den Franzosen als Kohlenschipper anzubieten. Lediglich der Umstand, daß seine Angabe, er habe nur eine Stunde gearbeitet, nicht widerlegt werden konnte, ließ die Sache etwas milder erscheinen. Der Angeklagte ist abzuführen ...«
Nach der Verhandlung ist Pause. Amtsgerichtsrat Wiedemann trinkt mit Dickmann eine Tasse Kaffee in der Kantine. Dazu ißt er ein paar belegte Schrippen, die er umständlich aus Butterbrotpapier auswickelt. Das Papier glättet er, knifft es sorgfältig und steckt es wieder ein.
Wiedemann frühstückt. »Sie essen nicht?« fragt er zu Dickmann hinüber. Der schüttelt den Kopf: »Ich esse nachher zu Hause.«
Der Amtsgerichtsrat schlürft den Kaffee: »Jajaja,« knurrt er. »Das ist ein Leben. Früher, vor der Inflation, habe ich immer an Verhandlungstagen im Restaurant gegessen. Aber wer kann sich das heute leisten? Schieber, Betrüger, Devisenschwindler, Raffkes und gelernte Arbeiter. Die ja, aber ein deutscher Richter? Ich sage Ihnen, Herr Kollege: was ich das schon bedauerte, daß ich Richter geworden bin. Maurer hätte man werden müssen. Maurer! Wenn denen das Geld knapp wird, dann streiken sie ein bischen, und prompt schmeißt man ihnen alles in den Rachen, was sie haben wollen. Ist es nicht so?«
Dickmann nickt. Er weiß zwar von den Bauarbeiterlöhnen nichts, aber man hört doch allgemein, daß der Arbeiter der hauptsächlichste Inflationsgewinnler ist.
Wiedemann nimmt sich das zweite Brötchen vor: »Zum Kotzen!« stellt er fest. »Da sitzt man nun hier und frißt Brötchen, weil man nicht mal das Geld zum Mittagessen hat ...«
Weiter, weiter: »Strafsache Fiedler!«
Ein Mann hat in einem Hause die Klingeln und Türgriffe abgeschraubt und das Messing verkauft: »Sechs Monate Gefängnis! Gerade in heutiger Zeit, wo die Metalldiebstähle so erschreckende Ausmaße angenommen haben, scheint es angebracht, derartige Straftaten ganz empfindlich zu sühnen ...«
»Strafsache Kühn!« Ein Betrüger. Amtsgerichtsrat Wiedemann rollt mit den Augen vor Entrüstung, als der Angeklagte eine Zahl nennt. Er schnappt nach Luft, dann schreit er: »Aber das ist ja .. das ist ja das Jahresgehalt eines deutschen Richters! Wissen Sie das?«
Der Angeklagte weiß es nicht. Er hat sich noch niemals Gedanken darüber gemacht, wie der Staat die Funktionäre der Gerechtigkeit bezahlt. Er kann ja nicht wissen, daß der Mann im schwarzen Talar, der über ihn Recht sprechen soll, ein schlechtbezahlter Beamter ist, der sich darüber erregt, daß er zu Mittag belegte Brötchen essen muß!
Im Beratungszimmer: »Meine Herren! So ein Mann hat nichts gelernt als das bißchen Kaufmann. Und unsereiner, vier Jahre Studium, fünf Jahre Vorbereitungszeit im Justizdienst, unsereiner muß mit dem Geld, das der Angeklagte in ein paar Tagen verdient hat, ein ganzes Jahr lang auskommen. Meine Herren, da wundert es einen wirklich nicht mehr ...«
Der Angeklagte Kühn wird wegen Betruges zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Bisher ist er unbestraft. Vielleicht wäre er mit einer Geldstrafe davon gekommen, wenn der Amtsgerichtsrat Wiedemann im Restaurant gegessen hätte ...
Immer neue Gesichter in der Anklagebank, – rohe, freche, ängstliche, armselige, sympathische. Immer neue Lebensschicksale. Männer, Frauen, halbe Kinder, Greise ...
Weiter, weiter!
Wie Dickmann einmal nach einigen Tagen zu dem Amtsgerichtsrat sagt: »Dieser Schlosser Bläser ...« Da unterbricht ihn Wiedemann: »Bläser? Bläser? Wer ist das?«
»Der Montageschlosser aus dem Saargebiet ...«
Wiedemann legt dem jungen Kollegen die Hand auf die Schulter: »Lieber Freund, das müssen Sie nicht tun. Der Mann ist verurteilt, und damit ist die Sache für mich erledigt. Ich will Ihnen einen guten Rat geben: wenn Sie das Gerichtsgebäude im Rücken haben, dann denken Sie nicht mehr an das, was tagsüber im Dienst geschehen ist. Mach' ich immer so. Fällt mir nicht ein, mir für die paar Pfennige Gehalt auch noch meine freien Stunden versauen zu lassen! Schließlich hat man doch auch noch so etwas wie ein Privatleben!«
Richtig! Der Amtsgerichtsrat Wiedemann führt auch ein Privatleben. Das hat Dickmann vergessen. Wichtiger als diese traurige Reihe von Menschen, die vor seinem Richtertisch stehen, erscheint dem Richter die Tatsache, daß sein Junge gestern eine saumäßige Zensur nach Hause gebracht hat, und daß seine Tochter in der dritten Lyzeumsklasse sitzen geblieben ist.
»Meine Frau ist eben viel zu schwach zu den Kindern. Wenn ich da nicht mal von Zeit zu Zeit ...«
»Jetzt ist Feierabend,« sagt Amtsgerichtsrat Wiedemann energisch und beginnt sein Privatleben zu führen. Seine Kinder zu prügeln und sich über seine Frau zu ärgern. Und kein Gedanke an die flüchtigen Schatten im Gerichtssaal wird seinen Schlaf stören. Keine Brücke führt von dort in das wirkliche Leben, das jenseits der Paragraphen und der Maschine liegt.