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Die Konsumenten

Gibt es wirklich keine Brücke?

Es sollte keine geben, beschließt Dickmann. Denn was ist das Leben? Alles zerrinnt einem unter den Händen. Man hat keine Festpunkte mehr. Man hängt irgendwo im Raum und kennt nicht oben und unten mehr. Alles fließt und schwankt: nur das Gesetz bleibt. Das Gesetz, der Beruf ...

Der Weg zu dieser trüben Erkenntnis ist lang und verworren, und will Dickmann sich erklären, wie er zu ihr gelangte, dann findet er nichts als Belanglosigkeiten, die aneinandergereiht doch Zweifel und Erschütterung bedeuten.

Wie nebensächlich ist es, daß der Landgerichtsdirektor Doktor Mann eines Tages zu Dickmann hinüberlächelt: »Sie bekommen eine neue Kollegin. Eine jüdische Referendarin.«

Wie kann es geschehen, daß Dickmanns Leben von diesem Tage an sich verändert, an dem er vor einer schlanken jungen Dame steht und mit korrekter Verbeugung seinen Namen murmelt? Genia Lazar heißt sie. Jüdischer kann man nicht heißen.

Was war sein Leben bis dahin? ...

Tage voll Mißmut, Müdigkeit und Langerweile, ohne Auftrieb und Freude. Wollte er die Grenzen seines Selbst ausweiten und den Alltag mit dem Glanz des Großartigen und Außergewöhnlichen aufhellen, dann mußte er trinken. Denn trinken hat er gelernt: im Regiment, im Corps ... Es ist fast das Einzige, was im Leben wirklich Spaß macht. Man fühlt sich so leicht, man denkt so wunderbar rasch und scharf und sieht plötzlich, daß das Dasein voller versteckter heimlicher Freuden ist.

Manchmal ist da auch noch etwas anderes. Dickmann kommt vom Corpshaus der Holsatia. Ein Uhr nachts. Die Gaslaternen haben einen komischen, milchigen Hof wie ein betrunkener Mond. Der Asphalt federt wie ein Sofa. »Schatz, hast du mir nichts mitgebracht, ein Spielzeug für die lange Nacht? Damit, wenn ich nicht schlafen kann, so rechts und links kann spielen dran.« Wenn man das laut singt, geht es sich nochmal so schön. Man kann auch seinen Spazierstock klappernd an dem Brückengeländer entlangstreichen, das klingt sehr lustig. »Die längste Nacht im Nu vergeht, wenn an mein Bett ein Spielzeug steht ...« Eigentlich ein Hundeleben, was? Man arbeitet bis nachmittags um vier, legt sich eine Stunde schlafen, döst vor sich hin, geht aus, – und das soll vielleicht immer so weiter gehen, wie? Dickmann bedankt sich dafür. Bestens! Wie merkwürdig sich die Lichtreklame im Wasser spiegelt. Mal stehen bleiben, ansehen! Was glotzt der Affe da so dämlich? »Lanzen auf die Lenden, – Eskadron Galopp, Ma-Marsch! H-u-up.«

»Na Bubi, bißchen mitkommen?«

Richtig. Ein Mädchen. Das fehlte. Kann man immer gebrauchen. Man los. Sieht nett aus die Kleine. Wie heißt sie? Martha? Marthachen, Marthel, Karl Martell mit dem Beinamen der Hammer. Is denn das fürne Gegend? Am Zirkus, Karlstraße, – ach so.

Schwindelnde Treppen. Festhalten muß man sich. Vorsicht.

Ja doch, Dickmann ist ja schon leise. Auch nicht das Richtige: immer dieselben Zimmer, dieselbe protzige und geschmacklose Kristallkrone. Nippes in allen Ecken. Plüschmöbel. Und wie das mufft und mieft! Wie ekelhaft aufdringlich das Bett da mitten im Zimmer steht.

»Geld?« Natürlich soll sie ihr Geld haben. Dickmann läßt sich nichts schenken. Oho! Dragonerregiment Kaiser! Markomannia Jena! Ob sie eine Ahnung hat, was das heißt? Das Mädchen steht mit kritischem Gesicht daneben, wie Dickmann mit flackernden Händen in seiner Brieftasche herumklaubt.

Die alte Sau! Kann gar nicht abwarten, daß sie ihre paar lumpigen Pfennige bekommt.

Die Umarmungen klebrig wie Schweiß und Geld. »Die Liebe, die Lie-iebe ist eine Himmelsmacht.« Scheiße!

Der Nachhauseweg. Das Geld für ein Auto ist weg. Dreiviertel Stunden mit schwerem Kopf und weichen Knieen durch die nächtliche Stadt. Morgens liegt man grübelnd im Bett. Aus der Dämmerung des neuen Tages kommt eine riesige Faust und legt sich einem würgend um den Hals. Man verliert den Halt, man sinkt ins Bodenlose, man greift entsetzt um sich: Leere überall, gähnende, höhnende, schreiende Leere! Man möchte weinen vor Verlassenheit und Ratlosigkeit. Aber man sagt »Bißchen scharf jesoffen gestern.«

Das ist nun alles? Dieses Einerlei? Dieser Weg ins Nichts? Ist man denn schon am Ende? Oho! Man steht am Anfang, man sagt laut und tröstend vor sich hin »Alles wieder besser werden!« Aber die Leere bleibt ...

Alles fließt und schwankt. Nur das Gesetz gibt Halt, das Gesetz, der Beruf ...

»Guten Morgen, Herr Kollege!«

Dickmann sieht Genia Lazar traurig an. Sie ist schön. Sie ist klar und einfach. Man müßte von solcher Frau geliebt werden, vielleicht gäbe es dann keine Leere mehr.

Und plötzlich, wie Genia von ihrer Arbeit aufsieht, sagt Dickmann langsam und deutlich: »Mir geht es nicht gut.« Und es liegt ein Klang in seinen Worten, daß das Mädchen verlegen wird, nach Worten sucht, und endlich wie nebensächlich sagt: »Vielleicht gehen wir nachher ein Stück zusammen?«

»Ja gern,« stößt Dickmann hervor ...

Aber dann ist alles ganz anders. Dickmann versteht nicht mehr, was ihn zu seinem merkwürdigen Bekenntnis am Morgen bestimmt hat. Jetzt geht eine hübsche junge Dame neben ihm. Dickmann beugt sich zu ihr herab, sagt »Gnädiges Fräulein«, macht Konversation, erzählt Kasinogeschichten, renommiert mit Kriegserlebnissen und Mensuren und merkt nicht, daß seine Begleiterin immer stiller wird.

»Lesen Sie viel?« fragt sie einmal dazwischen.

Liest Diekmann viel? Er weiß es nicht. »Ja, ich glaube,« antwortet er. »Das heißt, ich weiß nicht recht ...«

Aber das ist ja auch nebensächlich. Die Hauptsache ist, dieser jungen Dame zu imponieren, sie mit breiter, selbstverständlicher Männlichkeit zu erdrücken, das Grauen, das er am Morgen vor sich selbst empfunden hat, umzulügen in ein verliebtes Abenteuer.

»Mir geht es nicht gut.« Hat er das je gesagt?

»Hier wohne ich«, sagt Genia plötzlich. Und wie Dickmann ihr die Hand hinstreckt, sieht sie ihn groß an und fragt: »Und das war alles?«

Dickmann lacht albern. Was denn sonst?

»Sie sind ein vollendeter Trottel!« stößt das Mädchen da hervor, und Dickmann sieht fassungslos in zwei zornfunkelnde Augen. Dann verschwindet sie im Hausflur.

Das hat man von seiner Gutmütigkeit. Warum läßt man sich überhaupt mit solchen Gänsen ein. Eine Jüdin auch noch. Dickmann geht wütend nach Hause und beschließt, von jetzt ab die Referendarin Lazar wie Luft zu behandeln. Jeden Gedanken an sie wird er einfach wegschieben ...

Aber am Abend ertappt er sich dabei, wie er vor dem Bücherschrank seiner Schwester Edith steht und sie fragt: »Was liest du eigentlich so?«

Rilke, Hofmannsthal, Stefan George, – Dickmann hat die Namen niemals gehört. Er liest, und manchmal fühlt er sich merkwürdig ergriffen. Das hier, – das ist gut. So ist das Leben, das hat er auch schon oft empfunden. Und er flüstert leise vor sich hin: »Und Kinder wachsen auf mit müden Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, und reife Früchte werden aus den herben und fallen nachts wie tote Vögel nieder ...«

Er bemerkt, daß er die Lippen leise bewegt, schämt sich und ist wütend auf Genia, die ihn zu solchen Albernheiten verleitet hat. Nie wieder wird er sich mit ihr einlassen.

Aber wie sie am nächsten Tage ihm freundlich die Hand hinstreckt und ihm sagt: »Vielleicht habe ich Ihnen gestern Unrecht getan,« da sind alle seine Vorsätze und Entschlüsse dahin. Und aus der beabsichtigten Feindseligkeit wird eine unwillige Zärtlichkeit. Es läßt sich nicht leugnen: der Referendar Dickmann ist in eine kleine Jüdin verliebt! Die Erkenntnis dieser peinlichen Tatsache ist sehr beunruhigend. Man wird zu Klarheiten, zu Einsichten gezwungen.

»Wozu leben Sie eigentlich?« fragt ihn Genia.

»Das Leben ist sinnlos,« antwortet Dickmann schwer und ärgert sich über diese Antwort.

Ja, – wozu lebt er? »Und immer weht der Wind, und immer wieder vernehmen wir und reden viele Worte.« Der Referendar und ehemalige Kavallerieoffizier rezitiert Hoffmannsthal und fühlt unter dieser faden Resignation verwandte Saiten aufklingen.

»Quatsch!« sagt Genia sachlich. »Ist das Ihr Ernst?«

Und Dickmann beteuert wortreich und entschieden, er sei ein schwerer Melancholiker, vom Unwert und der Ziellosigkeit alles Daseins bis ins Tiefste durchdrungen. Alles fließt und schwankt, man hat keine Festpunkte, man hängt irgendwo im Raum und kennt nicht oben und unten mehr ...

»Sie sind in Ihrer Art so etwas wie eine tragische Erscheinung«, sagt Genia nachdenklich. »Sie wissen nicht, wo Sie hingehören. Sie stecken noch in den feudalistischen Begriffen der Beamtenhierarchie und sehen nicht, daß der Feudalismus tot ist. Sie sagen noch ›Gott‹ und fühlen dunkel und ungern, daß Sie eigentlich ›Privateigentum‹ sagen müßten.«

Wie dieses Mädchen redet! Dickmann versteht kein Wort. Was geht ihn das an? Er ist der Referendar Friedrich Wilhelm Dickmann, ein ernster, zuverlässiger und etwas weicher junger Mann, der leider mit seiner Stellung im Leben nicht recht fertig wird. Das ist alles.

»Ich kann das sehr gut verstehen,« begütigt Genia. »Sie können aus Ihrer klassenmäßigen Bindung nicht heraus, Sie klammern sich an veraltete Ideologien, weil Sie nicht sehen wollen, daß das Recht nur eine Funktion der Ökonomie ist.«

»Unsinn!« sagt Dickmann laut und grob. »Idee der Gerechtigkeit, objektives Recht ...«

»Haben Sie schon einmal etwas vom historischen Materialismus gehört?«

»Nein, was ist das?«

Genia zuckt die Achseln, schüttelt den Kopf: »Ein hoffnungsloser Fall!«

Ähnliche Gespräche kommen jetzt oft zwischen ihnen vor, und jedesmal fühlt Dickmann, daß er bei Genia an Boden verliert, und mit jedem Male wächst sein wütendes Verlangen, sich selbst bestätigt zu sehen und von diesem Mädchen ernstgenommen zu werden. Manchmal erzählt er sich mit Assessor Sturm unanständige Witze, wenn Genia im Zimmer ist. Er muß es einfach tun und leidet doch wahnsinnig, wenn er sieht, wie sie verächtlich lächelt. Er kann es nicht lassen, sie immer wieder vom Gericht nach Hause zu bringen, mit ihr zu sprechen und sie zu zwingen, sich mit ihm zu beschäftigen. Immer mehr bröckelt von seiner starren Maske ab, und einmal sagt er wieder ernst und entschlossen: »Mir geht es nicht gut, Fräulein Lazar.« Dann wird er weich und melancholisch und erreicht es schließlich, daß Genia ihm sagt: »Ich glaube, im Grunde sind Sie ein anständiger Mensch, Dickmann!«

Dickmann wird rot und schweigt. Stumm geht er neben ihr her, und wie er sich von ihr verabschiedet, küßt er ihr die Hand und sagt leise: »Ich danke Ihnen, Genia!« Mit keinem Gedanken macht er sich klar, wie beschämend es für ihn ist, daß ihn die dürftige Anerkennung einer kleinen Jüdin freut. Ihn, Leutnant a. D. des Dragonerregiments Kaiser!

Die erstbeste Gelegenheit ergreift er wild, um Genia seine Ritterlichkeit zu beweisen: er kommt dazu, wie Assessor Sturm mit hochrotem Kopf auf sie einschreit: »Sie haben hier zu lernen, meine Gnädigste, weiter nichts! Ihre eigenartigen Rechtsauffassungen können Sie später betätigen, wenn Ihnen Ihr Vater von seinem Geld mal 'ne Anwaltspraxis gekooft hat. Hier gibt's so was nicht!«

Dickmann steht vor ihm: »Herr Assessor Sturm, ich darf wohl bitten zu bedenken, daß Sie mit einer Dame sprechen!« Und sein Gesicht ist so drohend und seine Haltung so entschlossen, daß der Assessor eine ungeschickte Verbeugung macht, »Verzeihung« murmelt und aus dem Zimmer geht ... Einen Augenblick sieht es aus, als wolle Genia ihm die Hand reichen, aber ihr Lächeln erstirbt plötzlich. Sie verzerrt ihren Mund und sagt scharf: »Nun denken Sie vielleicht, ich wäre Ihnen unendlich dankbar, daß Sie diesem Esel von Assessor über den Mund gefahren sind, wie?«

In der Tat hat Dickmann etwas Ähnliches gedacht. Aber so etwas spricht man doch nicht aus!

»Ich kann mir schon allein helfen, Herr Dickmann!«

Der lächelt trübe: »Das weiß ich. Verzeihen Sie, daß ich mich in Ihre Angelegenheiten gemischt habe.«

»Und das sagen Sie in einem Ton, der von Edelmut und Anmaßung trieft. Ich will es Ihnen sagen, Dickmann: Sie sind mir unangenehm. Ich habe mit Ihnen nichts zu tun. Ich hasse diese trägen Herzen und die stumpfen Hirne! Ich hasse sie. So, nun wissen Sie es.«

»Haß ist mehr als Gleichgültigkeit.«

»Sie sind ein genügsames Gemüt, Dickmann ...«

»Was bleibt mir übrig!« sagt Dickmann achselzuckend und versinkt in einen Abgrund von Trübsinn und schwelender Empörung. Was bleibt ihm übrig? Er brauchte Genia nicht zu beachten. Es ist seiner unwürdig, hinter einer kleinen Jüdin herzulaufen. Wohin soll das führen? Aber er ist ein armer Mensch, und der Weg zu Genia ist der Weg zu Beruhigung und Bestätigung. Schön müßte es sein, von einer solchen Frau geliebt zu werden ...

Aber manchmal ist dann auf ihrer Stirn eine scharfe Falte, und Genia sagt: »Politische Justiz«.

Dickmann möchte über die törichte, unwahre und abgedroschene Phrase lachen, aber er lächelt nur nachsichtig: »Warum belasten Sie sich mit solchen Dingen? Gäbe es in Deutschland wirklich eine politische Justiz, Sie könnten es doch nicht ändern. Man muß sich abfinden ...«

Genia weint fast vor Empörung: »Halten Sie den Mund! Das ist ja widerwärtig, diese Stumpfheit! Man darf doch nicht einfach aus lauter Faulheit die Augen zumachen! Sie wollen Richter werden, Dickmann, Sie führen die Gerechtigkeit im Munde, – schämen Sie sich denn nicht?«

Nein, Dickmann schämt sich keineswegs. Deutsche Richter sind nicht ungerecht, können es nicht sein. Daß sie harte Urteile fällen, ist notwendig: man muß den destruktiven Tendenzen dieser Zeit entgegentreten ...

»Man muß den Geldsack des Bürgers schützen und sagen ›Gerechtigkeit‹!«

»Wenn das Vaterland, die Kultur, die Moral in Gefahr ist, sind außerordentliche Mittel von vornherein gerechtfertigt ...«

»Und der Fall des Oberleutnants Marloh? Zweihundertneunzig Matrosen der Volksmarinedivision kommen in Berlin zum Löhnungsappell. Sie sind der Heeresleitung unbequem, weiter nichts, und ein junger Hund, ein blasser Oberleutnant, zählt die Leute ab und erschießt jeden zehnten. Knallt sie ab ohne Verfahren, ohne Urteil ...«

»Erlauben Sie, Sie sehen das falsch. Der Mann konnte nichts dafür. Er hat einen Befehl seiner vorgesetzten Dienststelle mißverstanden ...«

»Und darum wurde er freigesprochen. Erschießt neunundzwanzig Menschen, deren politische Richtung ihm nicht paßt, und wird freigesprochen. Im Namen des Volkes, im Namen der Gerechtigkeit!«

»Befehl ist Befehl, und der Mann war Soldat und mußte gehorchen!«

»Und der Fall Oltwig von Hirschfeld? Macht einen Mordversuch an dem Minister Erzberger, schießt auf ihn und wird wegen Körperverletzung zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wissen Sie, wie man im Ruhrgebiet mit den Arbeitern aus den läppischsten, durchsichtigsten Vorwänden umgesprungen ist?«

Dickmann weiß es: »Außerordentliche Verhältnisse erfordern außerordentliche Gegenmaßnahmen ...«

»Und die Gerechtigkeit?!«

Dickmann wehrt sich gegen diese Flut von Anklagen wie ein Ertrinkender. Er wird grob und unanständig, spricht von böswilligen Entstellungen, von gemeinen Lügen, von gewissenloser Hetze, ein deutsches Gericht kann nicht ungerecht sein ...

»Und der Fall Fechenbach! Ein Mensch wird wegen Landesverrats zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt. Zu elf Jahren Zuchthaus, weil er ein Telegramm veröffentlicht hat, das längst bekannt war. Der Richter, der ihn verurteilte, hieß Haß. Haß! Oberlandesgerichtsrat Haß aus München und war in diesem Prozeß Ermittlungsrichter, Untersuchungsrichter und Verhandlungsleiter in einer Person ...«

Dickmann fährt auf: »Das ist nicht wahr! Das ist unmöglich! Das widerspricht ja der Strafprozeßordnung!«

»Das ist doch wahr!« Genia schreit es fast. »Das ist geschehen am 3. Oktober 1922 in München! Es ist noch viel mehr da geschehen: Sachverständigengutachten wurden verfälscht ... Ach, wozu rede ich!«

Das alles sagt die Frau, die er zu lieben glaubt. Er kann sich nicht einfach die Ohren zuhalten, kann nicht einfach davonlaufen.

Dickmann schüttelt müde den Kopf: »Sie sind grausam, Genia!« sagt er leise.

»Nein: Sie sind es! Sie sind grausam und feige dazu! Gehen Sie, Dickmann! Ich habe keine Gemeinschaft mit Ihnen. Gehen Sie, sonst muß ich Ihnen sagen, daß ich Sie verachte!«

Und Dickmann geht, müde, stumpf, ausgebrannt, ratlos ...

»Fehlt dir was, mein Fietichen?« Seine Mutter fragt es zärtlich, hebt sich auf die Fußspitzen und küßt ihn schmatzend auf die Backe.

Mit gequältem Gesicht macht er sich von der Umarmung frei: »Nein, nein. Bißchen viel Arbeit ...« Soll er sagen: »Die Gerechtigkeit?«

Am nächsten Tag bittet er Genia um Literatur über die politische Justiz Deutschlands. Sie sieht ihn überrascht an: »Ist das Ihr Ernst?«

Dickmann nickt schwer. Er erhält die Broschüren, in denen Journalisten und Juristen ihrem Zorn über den Zustand der deutschen Justiz Luft gemacht haben. Er verschließt die Hefte in seinem Schreibtisch, damit niemand sie bei ihm sieht. In der gleichen Schublade liegen einige pornographische Bücher. Es wäre gleich peinlich, fände man das eine oder das andere.

Einige Tage wagt er nicht, eine der Schriften zu lesen. Endlich entschließt er sich dazu. Er verriegelt die Tür.

»Der Fall Wandt«.

Dickmann kennt den Schriftsteller, der hat dieses üble Buch geschrieben: »Etappe Gent«. Förmlich gewühlt hat das Schwein in Sexualitäten. Wollte man dem Mann glauben, dann hätte das ganze deutsche Offizierskorps aus Leuten bestanden, die sich während des Krieges hinter der Front in Bordellen herumgewälzt haben. So einem Mann kann doch gar kein Unrecht geschehen. Trotzdem, – Dickmann will sich zur Objektivität zwingen.

Ein Schriftsteller wird vom fünften Strafsenat des Reichsgerichts wegen Landesverrats zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.

Er hat nach dem Kriege ein Dokument veröffentlicht, das die Beziehungen der deutschen Besatzungsbehörden in Belgien zu gewissen flämischen Kreisen aufzeigt. Das Außenministerium und der militärische Sachverständige haben übereinstimmend erklärt, die Veröffentlichung dieses Schriftstückes sei in keiner Weise geeignet, die Wohlfahrt des deutschen Reiches zu schädigen. Trotzdem hat der Senat den Angeklagten verurteilt. Zu sechs Jahren Zuchthaus. Wegen Landesverrats.

Dickmann nickt befriedigt: geschieht diesem Kerl ganz recht, der das Ansehen der deutschen Armee durch seine Genter Erinnerungen so gemein herabgezogen hat. Das heißt: genau genommen handelt es sich natürlich nicht um die Persönlichkeit des Täters, sondern um seine Tat. Aber immerhin ist es außerordentlich bezeichnend, zu sehen, was das für Leute sind, denen die deutsche Justiz angeblich unrecht tut ... Die Erklärungen des Außenministers und des Sachverständigen? Ja du lieber Gott, das ist doch ganz klar: nach der Strafprozeßordnung hat das Gericht das Recht, sich völlig frei über die Sachverständigengutachten schlüssig zu werden. Hier ist es den Gutachten eben nicht gefolgt.

Dickmann liest: »Durch den Verrat des Schriftstücks wurden zugleich die belgischen Persönlichkeiten verraten, mit denen die deutsche Regierung während des Krieges in Verbindung stand. Sollte unsere Regierung noch einmal in die Lage kommen, sich der Hilfe jener Männer von neuem zu bedienen – was bei einer Veränderung der heutigen politischen Lage sehr leicht eintreten kann –, so wäre ihr das durch den Verrat bedeutend erschwert worden ...«

Das ist Gerechtigkeit. Freilich, ein peinlicher Rest bleibt doch, – aber ist das so wichtig? Der Schriftsteller Wandt hat die sechs Jahre Zuchthaus reichlich verdient. So denkt Dickmann und fühlt doch, daß dieser Rechtsfall ganz anders bewertet werden müßte, handelte es sich nicht eben um den Verfasser der »Etappe Gent«. Daß die Reichsrichter sich vielleicht auch von dieser Erwägung leiten ließen, – wer will es ihnen verdenken? Nennt man das politische Justiz?

Er will nach dem Dienst mit Genia darüber sprechen, aber ehe er ihr noch ein Wort sagen kann, verabschiedet sie sich vor dem Gerichtsportal von ihm: »Ich habe heute keine Zeit,« sagt sie flüchtig. Und Dickmann sieht mit Mißbehagen und leisem Schmerz, wie sie auf einen vierschrötigen jungen Menschen zugeht, der ihr formlos die Hand gibt. Nicht einmal einen Hut hat der Mann auf. Sein struppiges Blondhaar steht wild um den kantigen Proletenkopf. Kurze Hosen trägt er und einen Schillerkragen. Genia geht neben ihm her, lächelt zu ihm hinauf, legt ihre Hand auf seinen Arm, und Dickmann steht auf der Straße.

Was ist mit der politischen Justiz? Dickmann ist töricht, daß er sich darüber überhaupt Gedanken macht. Genia hat ihn eines dämlichen Proleten wegen stehen lassen. Ihn, Dickmann! Es gibt keine politische Justiz in Deutschland. Genia hat Unrecht ...

Zusammennehmen! Selbstbeherrschung! Innere Disziplin!

Dickmann wird dieser jüdischen Gans was pfeifen! Er denkt garnicht daran, sich mit ihr in weitere Unterhaltungen einzulassen. Gott sei Dank, daß er stark bleibt, daß er mit höflichem Lächeln ihr die Broschüren wiedergibt, jedem Gespräch ausweicht und vornehm und zurückhaltend sagen kann: »Ich habe da andere Ansichten. Sie werden mich nicht bekehren, Fräulein Lazar.«

Sie zuckt die Achseln: »Ich habe nie daran gezweifelt.«

Dickmann sitzt ein Würgen in der Kehle, aber er sagt nicht mehr: »Mir geht es nicht gut«, sondern er lächelt gehalten und scherzt: »Ich schlage Ihnen ein gentlemen-agreement vor. Jeder läßt dem anderen seine Meinung, und wir vertragen uns trotzdem.«

Die Referendarin Lazar nickt unbeteiligt: »Bitte.«

Dickmann steht traurig wie ein Kind, dem ein Ball ins Wasser gefallen ist, und sieht seiner entgleitenden Liebe nach. So soll das enden? Er redet sich Mut zu, ruft sich zur Ordnung und tröstet sich damit, daß die wenigen Tage, die er noch mit Genia zusammen arbeiten muß, auch vorübergehen werden, ohne daß er seine Haltung verliert.

Aber wie er sich von seiner bisherigen Kollegin schließlich verabschiedet, weil er jetzt dem Rechtsanwalt Kursch zur weiteren Ausbildung überwiesen ist, bittet er sie doch um ihre Telefonnummer. Sie gibt sie ihm bereitwillig und lächelt nebensächlich: »Rufen Sie doch mal an.«

Dickmann schweigt, er seufzt tief auf und flüstert: »Ich hoffe, ich werde es nie tun.« Dann dreht er sich kurz um und geht. Aber den Zettel mit ihrer Telefonnummer faltet er sauber zusammen und legt ihn sorgfältig in die Brieftasche. Alles schwankt und fließt. Nur eins bleibt: das Gesetz, der Beruf ...

 

Ein blankes, schlichtes Messingschild: »Dr. Kursch, Rechtsanwalt und Notar«, Dickmanns Corpsbruder und jetziger Arbeitgeber.

Der Rechtsanwalt ist als Spezialist für Ehescheidungen berühmt. Groß ist der Kreis der Rechtsuchenden freilich nicht, der seine Dienste in Anspruch nehmen kann: Kursch arbeitet nicht billig. Es gibt zwar eine Gebührenordnung für Rechtsanwälte, aber Dr. Kursch hat nicht nötig, sich an sie zu halten. Dickmann errötet manchmal, wenn er hört, wie Kursch einem Klienten eine horrende Summe als Honorarforderung für die Übernahme eines Prozesses nennt.

»Ich könnte das nicht,« sagt er beklommen.

Dr. Kursch zuckt die Achseln: »Mein Lieber, der Anwaltsberuf ist ein Geschäft wie tausend andere auch. Meinst du, das teure Büro hier bezahlt sich von selbst? Ich bin kein Idealist. Ich kann mir diesen Luxus leider nicht leisten. Bin nicht reich genug dazu. Ich brauche mein Auto und brauche mein Haus in Zehlendorf. Ich kann nicht anders leben. Und schließlich: die Leute haben es ja dazu.«

Das ist allerdings richtig. Schon der pompöse Treppenaufgang schreckt Menschen mit wenig Geld ab. Wer zu Dr. Kursch kommt, weiß, daß sich sein Rechtsbeistand jede Minute Arbeit mit einer runden Summe bezahlen läßt. Dr. Kursch ist ein vornehmer und liebenswürdiger Mann. Seine Herrenabende genießen in den Kreisen, auf die es ankommt, einen ausgezeichneten Ruf. Man weiß von ihm, daß er in der Rosenheimerstraße eine sehr nette Vierzimmerwohnung unterhält, die in Abständen von einigen Wochen oder Monaten immer von einer anderen Dame bewohnt wird. Und die einzelnen Bewohnerinnen gleichen sich alle darin, daß sie jung, schön und elegant sind ...

Dickmanns Ausbildung in der Anwaltsarbeit leidet zweifellos unter einer gewissen Gleichförmigkeit. Dickmann »nimmt Termine wahr«, denn der Anwalt selbst hat keine Zeit dazu, in Verhandlungen zu laufen, bei denen seine Anwesenheit nicht unbedingt notwendig ist.

Dickmann läuft auf den Gerichten herum, Akten unter dem Arm. Er weiß oft nicht, was in diesen Papieren steht. Das ist auch nicht nötig.

»Die Sache Wildmann gegen Wildmann.« Drei Landgerichtsräte auf der Richterbank. Ein Rechtsanwalt. »Es erscheint für den Beklagten Rechtsanwalt Dr. Kursch, in Vertretung Referendar Dickmann.«

Dickmann schlägt die Akten auf und schnarrt einen auswendig gelernten Satz: »... und bitten um Vertagung.«

»Die Sache wird vertagt. Nächster Termin steht noch nicht fest. Sie werden Mitteilung erhalten.«

Die Sache ist für heute erledigt. Irgendwo wartet ein Mensch sehnsüchtig darauf, daß sein Prozeß endlich entschieden wird. Das ist nebensächlich: die Sache wird vertagt. Rechtsanwalt Dr. Kursch hat heute keine Zeit, und vor allen Dingen liegt die Vertagung der Entscheidung im Interesse seines Mandanten. Vielleicht wird die Gegenseite ungeduldig, hält es nicht mehr aus, ist nach so und sovielen Terminen endlich zum Nachgeben bereit, macht es billiger ...

Dickmann denkt darüber nicht nach. Er steht inzwischen längst vor einer anderen Kammer, murmelt wieder einige Worte, beantragt Vertagung oder Beweisaufnahme oder Anberaumung eines Termins zur Eidesablegung, und alles das ist im letzten Grunde so unwichtig: die Richter bilden sich ihr Urteil doch nur nach den vor ihnen liegenden Akten.

Und die Gerechtigkeit?

Dickmann fragt nicht mehr oft nach ihr. Der Kampf um das Recht ist ein aufregendes und spannendes Spiel, man kann es verlieren oder kann es gewinnen; der Ausgang ist stets ungewiß; selbst aus der verzweifeltsten Situation führen immer noch geheime Schleichpfade heraus. Man muß sie nur kennen. Die Spielregeln, an die die Partner sich halten, sind streng, verworren und zahllos, und der Spieler, der sie am besten beherrscht, wird und muß gewinnen. Das Spiel kann lange dauern, Monate, Jahre. In den Registraturen der Anwaltsbüros schwellen dicke Aktenbände an, verstauben und vergilben, Menschen werden unterdessen müde und verbittert, aber das Spiel geht weiter. Nichts ist sicher außer der Unsicherheit.

Welch prickelnder, spannender und quälender Reiz, zu sehen, daß der Gegner gewinnen wird. Man kann es sich ausrechnen, es gibt kein Entrinnen mehr, die endliche Niederlage ist gewiß, daß Spiel droht zu Ende zu gehen. Da werden alle Kräfte noch einmal zusammengerafft, um die sichere Niederlage hinauszuschieben, die Entscheidung des Gerichts zu sabotieren. Pathos und Scharfsinn, beleidigtes Rechtsgefühl und bauernschlaue Winkelzüge, Termine, Schriftsätze, Beschwerden, Einsprüche, Formalrügen, – warum? Die Spielregeln sind verletzt worden. Kommt es denn nur auf die Spielregeln an, oder ist die Gerechtigkeit, um die gespielt wird, nicht viel, viel wichtiger?

Manchmal wacht Dickmann aus dem Rausch des zum Selbstzweck gewordenen Spiels auf und stellt so törichte Fragen, daß Dr. Kursch hell auflacht und ihm amüsiert auf die Schulter schlägt: »Kleener Idealist! Mach' man so weiter, wirst verdammt weit kommen, mein Junge. Mensch, wo lebst du denn? Wenn es auf die Gerechtigkeit der Sache ankäme, dann könnten wir alle die Bude zumachen. Die Form, mein Lieber! Auf die Form kommt es an. Deine hochgepriesene Gerechtigkeit ist eine Formsache, und das ist gut: wäre sie es nicht, dann gäbe es weder Rechtswissenschaft noch Rechtsanwälte.«

Wenn Kursch so spricht, dann schämt sich Dickmann darüber, daß er sich immer noch nicht an den Betrieb gewöhnt hat.

»Kleener Idealist! Mach' man so weiter, mein Junge!« Der Rechtsanwalt Dr. Walter Kursch ist kein eiskalter Zyniker, kein gewissenloser Rechtsverdreher. Er ist einfach ein Mensch, der gewisse Grundbedingungen des Lebens in der modernen Gesellschaft erkannt hat, und der ein vollendeter Trottel wäre, wollte er von diesen Erkenntnissen keinen Gebrauch machen. Gelegentliche peinliche Überlegungen – er stellt sie seltener und seltener an – erschlägt er mit der Wucht erprobter Binsenwahrheiten, wie etwa der: »Wer Geld hat, kann alle Puppen tanzen lassen!« Oder: »Eine Ehescheidung ist kein Fünfuhrtee.«

Der Referendar Dickmann gibt sich alle Mühe, diese goldenen Lebensregeln zu erfassen. Nur an seiner jammervollen Lebensfremdheit liegt es, wenn er sich nicht hinter die Denkergebnisse des urgesunden Menschenverstands zurückzieht, sondern auf die Heiligkeit der Ehe beruft, deren Lösung der Gesetzgeber unter allen Umständen erschweren muß, um die Grundlage der Kultur zu sichern.

Aber in der Sache »Berninger gegen Berninger«, deren Akten in vielen dicken Bänden in der Registratur Dr. Kurschs verstauben, ist mit der Heiligkeit der Ehe nicht viel anzufangen. Dieser Prozeß hat dem alten Berninger schon viel Geld gekostet, und sein Rechtsanwalt, Dr. Walter Kursch, kann ihm die betrübliche Eröffnung nicht ersparen, daß er ihn noch viel mehr Geld kosten wird. Denn der Prozeß ist ein »verzwickter Fall«, der Kurschs virtuoses Können und seine souveräne Beherrschung der juristischen Spielregeln zu prachtvoller Geltung bringt ...

Aus kleinen Verhältnissen hat sich der Schlossermeister Berninger im Laufe von dreißig Jahren zum Besitzer großer Fabriken emporgearbeitet; er spielt in der deutschen Eisenindustrie eine maßgebende Rolle. Mit jedem geschäftlichen Erfolg ist er in seinen neuen Lebensstil mehr hineingewachsen. Aber seine Frau blieb immer die Tochter des kleinen Kolonialwarenhändlers Turm, deren bescheidene Mitgift dem strebsamen Fabrikanten den Aufstieg ermöglichte.

Der Fabrikbesitzer Berninger schickt seine Frau zur Erholung auf ein kleines pommersches Gut, das er in der Inflation billig erworben hat. Er selbst macht eine Geschäftsreise ins Ausland. Sechs Monate sehen sich die Eheleute nicht. Wochen und Monate bleiben die Briefe der Frau an ihren Mann unbeantwortet. Endlich entschließt sie sich, eigenmächtig zurückzureisen. Sie klingelt an der Tür ihrer Villa, ein Dienstmädchen starrt sie entgeistert an, schweigt und läuft ins Haus zurück. Es erscheint eine schöne, elegante junge Dame und teilt der Wartenden höflich und entschieden mit, Herr Berninger wünsche sie nicht mehr zu empfangen, sie habe in diesem Hause nichts mehr zu suchen, sie möge wieder nach Pommern zurückfahren, hier sei das Reisegeld. Herr Berninger entläßt die Gefährtin seiner dreißig Ehejahre wie einen ungetreuen Buchhalter ...

Geschrei, Weinen, Flüche: »Der Lump! Der Ausbeuter! Schmeißt mich weg wie einen verfaulten Apfel ...«

Frau Berninger klagt im Armenrecht auf Scheidung. Die Gegenseite beauftragt den Rechtsanwalt Kursch mit der Wahrnehmung ihrer Interessen, und Dickmann hat daher Gelegenheit, aus dicken Aktenbänden sich über die Heiligkeit der Ehe in der modernen Gesellschaft zu informieren. »Wer Geld hat, kann alle Puppen tanzen lassen, und eine Ehescheidung ist kein Fünfuhrtee ...«

Aus bestempelten Papieren und verschnörkelten Sätzen taucht die Tragödie der alternden Kleinbürgerin auf, die ihrem reich gewordenen Mann nicht mehr fein genug ist. Er kann sie nicht mehr gebrauchen.

Herr Berninger weigert sich, seiner Frau den »standesgemäßen Unterhalt« zu zahlen, zu dem er verpflichtet ist. Zweitausend Mark im Monat sind dem Millionär zu viel für eine Frau, für die er keine Verwendung mehr hat. Hundert Mark monatlich will er allenfalls zahlen, damit kann seine Frau ganz gut auskommen. Frau Berninger klagt im Armenrecht auf standesgemäßen Unterhalt.

Wie? Hat sich Frau Berninger nicht einer schweren Verletzung ihrer ehelichen Pflichten schuldig gemacht, als sie vor einem fassungslosen Dienstmädchen Beschimpfungen gegen ihren Gatten ausstieß? Kann man angesichts solcher Tat Herrn Berninger die Fortführung der Ehe zumuten? Man kann es keineswegs, behauptet der Rechtsanwalt Kursch in einem umfangreichen Schriftsatz. Herr Berninger klagt auf Scheidung, und der Anwalt der Frau kann nichts weiter tun, als die Achseln zucken und seiner Mandantin raten, unter solchen Umständen ihre Alimentenklage zurückzuziehen: kein deutsches Gericht wird den Anspruch auf »standesgemäßen Unterhalt« anerkennen. Nein, nein, es bleibt bei den hundert Mark, und der Rechtsanwalt Kursch findet auch, die Frau eines mehrfachen Millionärs könne davon ausgezeichnet leben.

Die Scheidungsklage Berningers wird abgewiesen; die Ehe wird aus alleinigem Verschulden des Mannes geschieden, der verurteilt wird, seiner geschiedenen Frau monatlich zweitausend Mark Unterhalt zu zahlen ...

Rechtsanwalt Kursch legt Berufung gegen dieses Urteil ein. Er gibt keine Ruhe, ein Termin jagt den anderen, neue Zeugen müssen vernommen werden, einer wohnt in Chikago, der andere in Melbourne, Monate gehen hin, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre ...

»Na, was sagst du zu dem Fall?« will Kursch von Dickmann wissen.

Der schüttelt den Kopf: »Ich verstehe wohl nicht viel davon«, sagt er vorsichtig.

»In zwei Wochen ist Termin. Meinst du, daß wir durchkommen werden?«

Dickmann macht ein gequältes Gesicht: »Ich finde das alles so schmutzig.«

»Ehescheidungen sind kein Fünfuhrtee,« bemerkt Dr. Kursch kühl. »Und außerdem kommt es wenig darauf an, ob man das sauber oder nicht sauber findet. Der Mann will schuldlos geschieden werden und will seiner geschiedenen Frau nicht noch Monat für Monat zweitausend Mark nachwerfen. Immerhin ein sehr begreiflicher Wunsch. Meinst du nicht auch?«

»Aber wenn er doch im Unrecht ist?«

»Unrecht! Unrecht!« Dr. Kursch geht mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. »Du bist ein richtiges Kind, Dickmann. Ein tumber Tor. Unrecht! Unrecht!«

Kursch reißt eine Schreibtischschublade auf, hält Dickmann ein Blatt Papier entgegen: »Da, zehntausend Mark im Erfolgsfalle. Was, willst du vielleicht noch andere Argumente? Hast du schon einmal zehntausend Mark in deinem Leben verdient? Mal zehntausend Mark auf einem Haufen gesehen?«

Dickmanns Kopf wird heiß. Das da ist sein Corpsbruder Dr. Kursch, der berühmte Anwalt, Diener des Rechts ... »Na also,« sagt Kursch befriedigt, weil er sich Dickmanns Schweigen als Zustimmung auslegt. »Wenn ich die Sache nicht mache, macht sie ein anderer, und dann verdient ein anderer eben das schöne Geld. Geliefert ist die Frau doch auf alle Fälle. Berninger hat soviel Geld, daß er alle Puppen tanzen lassen kann. Seine Frau klagt im Armenrecht. Hundert Mark bekommt ihr Anwalt. Denkst du, der wird sich für die paar Pfennige ein Bein ausreißen?«

Die Heiligkeit der Ehe, Erschwerung der Ehescheidung, religiöse Grundlage des Eherechts, und Geld, Geld, Geld ...

Die Gerechtigkeit und das Bürgerliche Gesetzbuch erfordern, daß eine Ehe bei Ehebruch, böswilligem Verlassen, bei Bigamie, widernatürlicher Unzucht des Mannes, bei ehewidrigem Verhalten und bei Verweigerung der ehelichen Pflichten geschieden werden kann. Nur in diesen Fällen darf an der Grundlage des Staates, an der Ehe, gerüttelt werden. Und weil das alles so ist, darum sitzt der Rechtsanwalt Dr. Walter Kursch in einem elegant eingerichteten Büro am Kurfürstendamm und verdient viel Geld. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, und wer kein Geld hat, hat unrecht ...

Es sind keine sehr erfreulichen Gedanken, die Dickmann sich macht.

Aber jetzt ist der Tag da, der trübe, verworrene, seltsame Tag, an dem Dr. Kursch seinem jungen Corpsbruder auf die Schulter schlägt und lärmend lacht: »Zieh dir heut Abend den Smoking an, ich will einen ausgeben!« Dickmann wagt nicht, nach der Ursache dieser aufdringlichen Fröhlichkeit zu fragen. Hat nicht heute Morgen vorm Kammergericht die Berufungsverhandlung in Sachen Berninger contra Berninger stattgefunden? Ach was ...

Er wartet, bis ihn Kursch mit seinem Auto abholt. Sie fahren ins Esplanade, essen, trinken, rauchen. Schöne Frauen gehen durch die Halle, elegante Männer. Blumen, Zigarettenduft, Parfüm. Der Burgunder ist weich und schwer. Irgendwann in der Nacht ein Bartisch. Famosen Flip brauen die Leute hier. Das Leben ist großartig. Das elegante Lokal, der teure Alkohol, – bloß Geld muß man haben, dann ist alles gut.

Geld, – da ist es wieder. Dickmann macht eine scheuchende Handbewegung und lacht grundlos. Der Rechtsanwalt schaukelt waghalsig mit seinem Barstuhl: »Tja, – was ich noch sagen wollte ... Also die Sache ist in Ordnung. Den alten Berninger hab' ich nun glücklich doch durchgekriegt. War hell entzückt, der Seege, daß ich die Sache so fein gedeichselt habe. Tja ...«

Dr. Kursch wird langsam betrunken. Er plaudert aus der Schule. Der zurückhaltende Gentleman hält Lobreden auf sich selbst. Das darf er, denn er hat sich auch wirklich redliche Mühe gegeben. »War garnicht so leicht, mein Lieber. Aber die Frau Berninger wurde langsam ungeduldig. Ihr ging die Puste aus. Kann man ja verstehen: die ewige Unruhe, die Aufregung, der Ärger. Sowas muß man eben merken, ehe es zu spät ist. Tja ...«

Tüchtiger Kerl, der Kursch. Verdient nicht umsonst seine zehntausend Mark ...

»Und die Gerechtigkeit?«

Der Rechtsanwalt stiert Dickmann einen Augenblick an. Dann lacht er unmäßig: »Kleener Schäker! Kannst so bleiben, mein Junge. Und die Gerechtigkeit! Großartig! Prost, mein Lieber!«

Am frühen Morgen sind sie in der Rosenheimer Straße. Sie trinken Kaffee. Eine junge Dame in wildem Kimono geht ab und zu. Dickmann sieht ihr verlangend nach.

Kursch pufft ihn mit der Faust in die Seite: »Möchste wohl, was?« Dann langt er mit schwerfälligem Griff nach der Frau: »Komm her, Ilonachen, kleene Toppsau ...« Seine Augen fallen zu: »Ilonachen ...«

Ilona wehrt sich, sie spitzt vornehm ihre Lippen: »Aber Dickerchen, nu sei doch ein bischen anständig, wo wir doch so feinen Besuch haben!«

Berninger contra Berninger. Was der Mensch scheiden, – falsch: was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden. Die Ehe ist die Grundlage der abendländischen Kultur. Deutsche Frauen, Deutsche Treue. Das religiöse Moment im deutschen Eherecht. Wo kämen wir denn da hin, wenn jedes Ehepaar auseinanderlaufen könnte wie die Hunde. Wo wir da hinkämen, will Dickmann wissen. Na also, geht schon in Ordnung.

»Sehnse, jetzt pennt er schon!« Ilona wirft einen giftigen Seitenblick auf den schlafenden Rechtsanwalt. Dann jammert sie: »Wenn der bloß det Saufen lassen wollte! Morgen früh hat er dann wieder 'n dicken Kopp. Kann Ihnen sagen: det Theater! Franzbranntwein ins Badewasser, eiskalte Brause, Flasche Eau de Cologne ins Genick, frottieren ...«

Dickmann erhebt sich schwindelnd.

Ilona streicht mit wiegenden Hüften an ihn heran: »Schon gehen?« flüstert sie lockend.

Halt, – nur einen ganz kurzen Augenblick dauert dieses zögernde Schwanken. Dickmann ist ein anständiger Mensch. Kursch bezahlt die Sache, nein: die Frau. Ist ja alles egal. Aber das gibt's nicht: »Darf ich bitten, mich hinunterzulassen?«

Unten an der Haustür küßt er Ilona die Hand. Küßt sie lange und ernst. Das Mädchen lacht kurz und verwirrt auf, und Dickmann geht nach Hause im Bewußtsein, eine gute Tat getan zu haben. Daß er die Frau nicht angerührt hat, – eigentlich verdammt anständig von ihm ...

Anständig? Was war gestern? Bar, Ilona, Berninger ...

Richtig, man hat sich amüsiert. Hat gut gegessen und getrunken, war vergnügt oder tat so. Und das alles deswegen, weil Herr Berninger seiner geschiedenen Frau nicht zweitausend, sondern nur hundert Mark im Monat Unterstützung zahlen muß. Irgendwo sitzt jetzt eine vergrämte alternde Frau. Frau Julie Berninger, geborene Turm. Tja, so ist das. Dickmann hat einen vergnügten Abend gehabt, weil die alte Frau mit hundert Mark im Monat auskommen muß. Und Kursch hat zehntausend Mark verdient. Der Anwalt des Rechts. Die Würde des deutschen Anwaltstandes, Richter und Rechtsanwalt Arm in Arm als Diener am Recht, schlichte, treue, ehrenwerte Diener der Gerechtigkeit ...

Das hört nicht auf. Das kommt immer wieder. Was hat Dickmann getan, daß Gott ihn so straft?

Warum kann er nicht ruhig und unbeirrt seinen Weg gehen wie tausend und tausend andere?

Warum? Wenn er wenigstens einen Menschen hätte, mit dem er reden, der ihn stärken, trösten, beruhigen könnte! Aber er hat niemand. Die Menschen seiner Umgebung würden erstaunt den Kopf schütteln, wenn sie von den Zweifeln und Bedrückungen Dickmanns hörten. Keinen Menschen hat er. Keinen?

Genia, – man müßte ... Kurz entschlossen klingelt er sie an. Sein Herz schlägt im Halse, wie er ihre Stimme hört. Er verspricht sich einige Male, so erregt ist er. Sie verabreden sich, Dickmann legt leer lächelnd den Hörer in die Gabel und streichelt gedankenlos den Apparat: Genia ...

Sie scheint erfreut, ihn zu sehen. Sie drückt ihm kräftig die Hand. Dickmann stottert vor Glück, wenn er sprechen will. Schließlich schweigt er, und Genia wird verlegen.

»Fehlt Ihnen etwas?« fragt sie schüchtern, und Dickmann nickt krampfhaft. »Kann man Ihnen helfen?«

»Ich weiß es nicht.« Und dann erzählt er, erzählt vom Fall Berninger contra Berninger, vom aufregenden Spiel um das Recht, vom Geld, vom Recht, das so ungerecht ist, von allem, was ihn bewegt und schmerzt, und freut sich wie ein Kind, wie Genia ihm sagt: »Vielleicht sind Sie auf dem rechten Wege. Vielleicht kann doch noch etwas aus Ihnen werden.«

»Helfen Sie mir dabei, ja?« fragt er bittend und schämt sich garnicht, daß er bei einer Frau Halt und Stärke sucht.

Sie treffen sich jetzt öfter, gehen zusammen durch den Tiergarten nach Hause, und immer hat Dickmann einen neuen Fall aus der Ehescheidungspraxis des Rechtsanwalts Dr. Kursch zu berichten, mit dem er nicht fertig wird. Wie kann er das auch, wenn er den Fabrikbesitzer Rudolf reden hört, der mit verzweifeltem Gesicht in Kurschs Sprechzimmer sitzt und sich vor lauter Aufregung fortwährend die Stirn mit einem Taschentuch wischt ...

»Vor allen Dingen Ruhe, verehrter Herr!« doziert Dr. Kursch. »Da habe ich schon ganz andere Sachen fertig bekommen. Zum Beispiel der alte Berninger, kennen Sie ja wohl, wie?«

»Lassen Sie mich mit Berninger zufrieden, Herr Doktor!« stöhnt der Klient. »Helfen Sie mir!«

Kursch zündet sich umständlich eine Zigarre an. Dann sieht er nachdenklich zur Zimmerdecke und spricht schneidend sachlich: »Also Sie leben mit einer Dame in gemeinsamem Haushalt, die Sie in London geheiratet haben. Diese Ehe ist für nichtig erklärt worden auf Betreiben Ihrer geschiedenen Frau, nicht wahr?«

»Ich Esel! Ich Esel!« Rudolf hämmert sich mit der Faust vor die Stirn. »Aus lauter Gutmütigkeit habe ich im Scheidungstermin die Schuld auf mich genommen. Habe völlig grundlos gesagt, ich hätte mit meiner jetzigen Frau Ehebruch getrieben!«

»In Ehescheidungssachen soll man nicht gutmütig sein«, bemerkt der Rechtsanwalt kühl. »Jedenfalls liegt die Sache so, daß Ihre Ehe für nichtig erklärt ist, und der Polizeipräsident von Köln Ihnen das Zusammenleben mit dieser Dame verboten hat. Sein gutes Recht ...«

»Aber ich bitte Sie ...«

»Sein gutes Recht, sage ich! Sie leben mit einer Dame in wilder Ehe und erregen damit Ärgernis. Das Ärgernis liegt nicht so sehr in der Führung eines gemeinsamen Haushalts als vielmehr darin, daß die Nachbarn vom Nichtbestehen der Ehe wissen und darüber reden. Nichts gegen zu machen. Heiraten können Sie die Dame nicht. Das haben Sie durch die Nichtigkeitserklärung Ihrer Ehe gemerkt. Das Gesetz verbietet generell die spätere Ehe zwischen dem Ehebrecher und der Ehebrecherin. Möglich ist eine solche Heirat nur, wenn das Landgericht einen Ehedispens erteilt. Diese Erlaubnis ist aber abhängig von der Einwilligung des geschiedenen Gatten, in diesem Fall also Ihrer ersten Frau.«

»Und die wird diese Erlaubnis niemals geben! Sie erpreßt mich ...«

»Bleiben wir sachlich,« gähnte der Anwalt. »Ihre Frau macht die Erteilung ihrer Einwilligung zum Ehedispens von der Zahlung einer Geldsumme abhängig ...«

»Aber das ist doch Erpressung!« schreit der Fabrikant.

»Das ist das geltende deutsche Eherecht, dagegen ist nichts zu machen. Zahlen Sie, oder lassen Sie das Heiraten bleiben.«

Der Fabrikbesitzer Rudolf ist ein Mann in den besten Jahren, ein erfolgreicher Unternehmer, ein großer, eleganter Herr. Aber jetzt legt er den Kopf auf die Tischplatte und schluchzt wie ein Kind: »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!«

Dickmann sitzt an einem Nebentisch und zwingt sich, ruhig zu bleiben. Die Heiligkeit der Ehe, Erpressung, Ehebruch, Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Zusammenleben mit einer nichtverheirateten Frau ...

»So ist das nun mal,« sagt der Rechtsanwalt achselzuckend.

»Ich kann nicht mehr! Dieses Weib verfolgt mich, wohin ich mit meiner Frau auch ziehe. Überall, in jeder neuen Stadt neue Denunziationen, neue Verhöre, Vorladungen, neuer Dreck. Meine Frau ist schon ganz krank vor lauter Aufregung. Sie sitzt zu Hause und weint in einem fort. Helfen Sie mir! Um Gotteswillen helfen Sie mir!«

Der Fabrikant springt auf und rast im Zimmer umher: »Das ist doch ungeheuerlich! Meine erste Frau hat mich betrogen, wo sie konnte! Aus Gutmütigkeit habe ich die Schuld auf mich genommen, um ihre Zukunftsaussichten nicht zu verderben. Und nun dies! Ich bin am Ende! Ich kann nicht mehr zahlen! Ich habe mein Vermögen in diesem ewigen Hin und Her eingebüßt! Meine Arbeitskraft, meine bürgerliche Reputation ...«

»Wenn Sie nicht zahlen können oder nicht zahlen wollen ...«

Der Fabrikbesitzer Rudolf ist plötzlich unheimlich ruhig. Er steht auf und fragt fest: »Eine andere Möglichkeit, zu meinem Recht zu kommen, gibt es nicht?«

Kursch zieht den Kopf in die Schultern: »Ich sehe keine.«

»Ich danke Ihnen, Herr Rechtsanwalt.« Der Fabrikant geht mit festen Schritten aus dem Zimmer.

Dickmann beschäftigt sich eingehend mit einem gleichgültigen Aktenstück.

Der Rechtsanwalt kramt umständlich auf seinem Schreibtisch herum. »Sagst ja garnichts?« fragt er Dickmann plötzlich.

»Für Geld kann man alles,« hört Dickmann sich sagen. »Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, und wer kein Geld hat, hat unrecht ...«

»Blödsinn!« Dr. Kursch schlägt mit der Faust auf den Tisch, seine Augen funkeln. »Blödsinn! Bist du verrückt? Was sind das für Töne, wie?«

Dickmann schließt die Augen und denkt »Genia«. Dann sagt er kalt: »Das ist die Wahrheit. Du kannst dem Rudolf nicht helfen, weil er kein Geld mehr hat, um die Erpressungen seiner Frau zu befriedigen. Das ist alles, was ich feststellte.«

Der Rechtsanwalt spreizt ärgerlich die Hände: »Deine Sorgen möchte ich haben! Die Frau ist in ihrem Recht. Das Gesetz gibt ihr die Möglichkeit, sich ihre Einwilligung abkaufen zu lassen, und aus lauter Edelmut soll sie darauf verzichten, ja?«

»Dann ist das Gesetz grundschlecht ...«

»Kann ich was dafür? Gesetz ist Gesetz, und ob ein Gesetz gut oder schlecht ist, das ist mir scheißegal, verstehst du? Scheiß–e–gal!«

Das ist der Rechtsanwalt Dr. Walter Kursch, Alter Herr des Corps Markomannia Jena, ein vornehmer Mann, königstreu und gesetzeskundig, ein Diener am Recht. Die Gerechtigkeit führt er weniger häufig im Munde als das Geld. Dickmann sieht Kursch aufmerksam an und erschrickt: grenzt seine Aufmerksamkeit nicht an Verachtung?

Tags darauf findet er auf seinem Schreibtisch ein Zeitungsblatt. Der Anwalt hat es ihm auf seinen Platz legen lassen. Eine Notiz ist rot angestrichen: »In einem Hotel in der Friedrichstadt erschoß heute Nacht der Fabrikbesitzer Rudolf seine Freundin, die unverehelichte ..., jagte sich dann selbst eine Kugel ... Das Motiv der Tat dürfte in Liebeskummer zu suchen sein ...«

Und die Familie ist die Grundlage des Staates ...

Am Abend dieses Tages legt Genia Lazar ihre Arme um den Hals des Referendars Friedrich Wilhelm Dickmann und küßt ihn ernsthaft und schweigend auf den Mund. Dickmann weicht vor diesem fast feierlichen Kuß zurück, mit weitoffenen Augen, in denen die Angst steht, die Angst vor den Rätselhaftigkeiten seines Lebens, mit dem er nicht fertig werden kann ...

Dickmann kann sich seine Niederlage nicht verzeihen. Schon Tags darauf will er sie gutmachen. Aber wie er sich Genia mit täppischen Liebesbezeigungen nähert, schiebt sie ihn beiseite: »Es war eine Dummheit.«

Da erst weiß Dickmann, was diese Frau ihm bedeutet. Er klammert sich an sie, dringt mit demütiger Beharrlichkeit in ihr Leben ein und zwingt sie durch seine stille Verzweiflung und Ratlosigkeit, Anteil an ihm zu nehmen.

Genia geht darüber hinweg. Sie bleibt kollegial, so kollegial, daß es nicht wie ein Versprechen klingt, wie sie eines Tages zu ihm sagt: »Besuch' mich doch mal!« Und Dickmann wird sehr verlegen und murmelt etwas von »Besuch machen«. Genia lacht laut: »Du bist verrückt!«

Dickmann hat bisher nicht daran gedacht, daß Genia Lazar ein Zuhause hat. Die Welt, die jenseits der Paragraphen liegt, jenseits der Gesellschaftskreise, die er als die seinen ansehen muß, ist verwirrend und seltsam. Daß man eine junge Dame von dreiundzwanzig Jahren besuchen kann, ohne vorher bei ihren Eltern Besuch gemacht zu haben, scheint ihm ein Ding der Unmöglichkeit. Oder etwas Schlimmeres: vielleicht ist Genias Familie nicht gut? Wenn man da so einfach kommen und gehen kann ...

Helle Gardinen. Bücher und Blumen überall. Auf der breiten Chaiselongue da wird sie schlafen. Das Mädchen schiebt den Teewagen ins Zimmer. Liköre, Zigaretten. Dickmann sitzt in korrekter Haltung auf einem niedrigen Sessel und spricht wohlgesetzte Worte mit sonorer, gleichmütiger Stimme, wie sie die Kasinoerziehung hervorbringt. Dann stockt er und bemerkt Genias unglückliches und mißmutiges Gesicht. Er benimmt sich also nicht richtig. Genia ist ärgerlich auf ihn. Was will sie von ihm, was soll er tun? Er schweigt trostlos.

Genia versucht zu retten, was zu retten ist. Aber das Schweigen wird immer lastender und quälender. Dickmann nimmt ihre Hand und streichelt sie. Plötzlich fällt er über sie her, reißt sie an sich und küßt sie wild und verzehrend. Ihre Abwehr wird schwächer, ihre Arme fallen kraftlos an ihrem Körper herab ...

Da reißt er sich los, steht vor ihr, keuchend, mit wildem Blick, – und die Gier fällt von ihm ab. Er stößt gepreßt hervor: »Ich muß gehen ...«

Dann läuft er stundenlang durch die Straßen und ist sehr unglücklich: unverantwortlich hat er sich benommen. So etwas tut man nicht. Genia ist doch eine Dame! Man mißbraucht die Teeinladung einer Dame nicht zu sexuellen Attacken. Wohin soll das führen? Jetzt ist alles vorbei. Die Situation ist unendlich kompliziert, eine Dame zu küssen und in sie verliebt zu sein, das ist für Dickmann, der gewohnt ist, mit Straßenmädchen schlafen zu gehen, ein rätselvoller und unheimlicher Zustand, der unbekannte Gefahren in sich birgt.

Neulich hat er auf der Holsteinerkneipe eine erbitterte Diskussion gehabt: ein Corpsbruder hat keinen Hehl daraus gemacht, daß er mit seiner Verlobten schon vor der Hochzeit ... Man suchte nach einem passenden Ausdruck und einigte sich dann auf die etwas umständliche Umschreibung »intim verkehrt« habe. Man war sich darüber einig, daß dieser Corpsbruder unrecht gehandelt habe. Man stellte fest, er habe seine Braut – eine Dame! – in den Schmutz gezogen, sie gewissermaßen mit einer Hure auf eine Stufe gestellt. Man zieht keine Dame in den Schmutz. Man kann und darf sich ein Straßenmädchen kaufen, – ein lächerlicher Spießer, der daran Anstoß nimmt. Man kann und darf ein Kleinbürgermädel zur Freundin haben. Aber mit einer jungen Dame »unserer Kreise« tut man so etwas nicht. Und Genia ist doch zweifellos eine Dame. Eine Jüdin zwar, aber doch immerhin aus guter, wohlhabender Familie. Dickmann könnte sich ohrfeigen! Zu Hause schreibt er einen etwas steifen Brief, in dem er sein Benehmen entschuldigt: »... ich weiß, daß Du mich nicht lieben kannst. Ich verlange das auch nicht. Aber ich kann auf Deine Nähe nicht verzichten, und ich verspreche Dir, daß ich nie wieder ...«

Genia liest den Brief und zuckt die Achseln. Es ist alles so schwierig und unerfreulich. Diese Anhänglichkeit ist rührend, und sie ist verächtlich. Genia sagt »Trottel« und sagt »Ein guter Junge«. Und hinter ihrer ablehnenden Stärke steht die Schwachheit dieses Widerspruchs: sie will seine Liebe nicht, aber daß er sie liebt, freut sie.

So muß denn einmal jener Abend kommen, an dem die Beiden in einem kleinen Weinlokal sitzen. Im Nebenzimmer eine Geige, die Sonate von Toselli. Manchmal geht der Kellner an ihrem Tisch vorüber und bemüht sich, so auszusehen, als bemerke er sie garnicht.

Dickmann zerdrückt die Zigarette, die er eben erst angezündet hat. Genia spielt zerstreut mit den künstlichen Blumen, die auf dem Tisch stehen. Dickmanns Augen weiten sich bittend und klagend, langsam schiebt er seine Hand über das fleckige Tischtuch. Genia streichelt sie mit spitzem Finger. Streichelt diese Hand, die ein wenig zu fleischig, zu breit und zu rot ist.

Dann redet er. Unzusammenhängend, stockend: »Du mußt bei mir bleiben, Genia, ich kann ohne dich nicht leben. Ich weiß, du willst nichts von mir wissen. Aber bleib bei mir. Laß mir Zeit. Ich werde mich ändern, ich werde ein Mensch werden, um den es sich lohnt. Du bist klüger als ich, besser. Du weißt soviel und hast ein starkes Herz. Das habe ich nicht, Genia. Ich bin schlapp, aber ich werde stark werden. Nur mußt du bei mir bleiben ...«

Genias Augen schwimmen.

Plötzlich mischt sich in dies drängende Fordern und Bitten ein jammervoller Ton: »Was habe ich denn schon von meinem Leben gehabt! Schulbank, Krieg, Revolution, – ich habe ja noch garnicht angefangen zu leben. Was weiß ich denn vom Leben! Du mußt es mir zeigen, du mußt mir helfen. Ich habe immer nur die wenigen Menschen meiner Umgebung gesehen, immer dasselbe ... Was du von der Gerechtigkeit sagst, – ich habe es ja nur nicht gewußt, ich muß mich erst an diese Gedanken gewöhnen. Laß mir Zeit, Genia. Ich bin nicht schlechter als du ...«

Dickmann redet wie im Fieber und ist doch kalt genug, zu bemerken, daß Genia weich wird unter dieser Flut von Beteuerungen und Bestürmungen. Die Musik spielt einen Tango. Dickmann stürzt ein Glas Wein hinunter. Genias Mund glänzt feucht. Sie flüstert etwas, das er nicht versteht ...

Dann ist er mit einem Male entsetzlich nüchtern. Er friert. Jetzt muß etwas geschehen. Jetzt oder nie. Diese Stunde muß ausgepreßt werden bis zum Letzten. Vorsicht! Seine Blicke gleiten an ihrer Gestalt herab. Es muß etwas ...

Dickmann entfernt sich einen Augenblick. Im Waschraum zählt er sein Geld und zieht für eine Mark drei Präservativs aus dem Automaten.

Er zahlt. Sie stehen auf der Straße. Dickmann ist es schwindlig. Er flüstert tonlos: »Wollen wir heute Nacht zusammenbleiben?« Und Genia nickt stumm.

Ein Auto. Dickmann weiß hier in der Nähe ein Hotel, in dem man es mit dem Anmeldezettel nicht so genau nimmt. Ein schmierig lächelnder Hausdiener. Wie grell der Schlüssel im Schloß knirscht.

Genia ist blaß. Und an ihrer fröstelnden Schwäche richtet sich Dickmann auf. Wie stark er ist! Er reißt sie an sich, wirft sich über sie, drängt, keucht, stöhnt ...

Und sieht nicht das Erbarmen, das in ihren Augen steht, groß und dunkel. Sein Mund stammelt Liebesworte, aber es sind Lügen, denn sein Körper weiß nichts von ihnen. Der nimmt Rache für die erlittenen Demütigungen. Politische Justiz? Das Recht eine Funktion der Ökonomie?! Dumme Gans! Wochenlang ist er ihr nachgelaufen. Jetzt liegt sie vor ihm, zerquält, zerwühlt, zerstört ... Seine Muskeln dehnen sich in Kraft und höhnischem Triumph, und seine Liebkosungen sind wie eine Mißhandlung.

Dann ist sie auf einmal wieder so fern wie nie zuvor. Kalt ist es im Zimmer und still, man hört nur den stoßweisen Atem des Mädchens. Dickmann geht im Zimmer umher und gähnt.

Dann rülpst er leicht: der Wein war vorhin doch etwas zu süß, er hat es ja gleich gesagt. Genia sitzt auf dem Bettrand. Verwühlte Wäsche hängt an ihr herum. Ihre Schultern heben und senken sich unter schnellem Keuchen. Die Luft im Zimmer steht stinkend und dick wie eine Mauer. »Ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben, knüpfen der Liebe beglückendes Band ...«

Dickmann lacht durch die Nase. Widerwärtig. Tierisch. Auch dies muß geschehen, auch dies ist nichts als ein totes Gewicht mehr in der endlosen Kette der müden und leeren Tage. Dickmann gähnt und angelt nach seinen Hosenträgern. Aus einem Augenwinkel betrachtet er Genia fremd und haßvoll wie ein seltsames Tier. Was will sie noch von ihm? Warum schweigt sie so? Dickmann tut ungeheuer lustig. Er pfeift laut und falsch, geht wiegend auf Genia zu und faßt sie mit der Hand unter das Kinn.

Sie will nach Hause fahren. Soll sie! Im Auto schweigen beide vor sich hin. Aus Höflichkeit schlingt er noch einmal den Arm um sie. Ihr Körper ist steif und wie leblos. Sie kann ihm nicht in die Augen sehen. Dickmann lächelt dumm: immer so bei Frauen, erst ganz groß und dann so klein. Omne animal post coitum triste.

Wenn der Referendar in den nächsten Tagen bei Genia Lazar anruft, ist sie nicht zu Hause, gerade im Badezimmer, schläft schon oder hat sonst eine dringende Abhaltung, die es ihr unmöglich macht, an das Telefon zu kommen. Er ärgert sich zuerst über dies Verhalten, dann versucht er, es lächerlich zu finden, schließlich aber hat er sich daran gewöhnt, wie er sich an die Gerechtigkeit gewöhnt hat, an die politische Justiz Deutschlands und an die juristische Tatsache, daß ein uneheliches Kind mit seinem Vater in vermögensrechtlicher Beziehung nicht verwandt ist.

Ist doch alles ganz klar. Und wichtiger als das Mädchen, ohne das er sich sein Leben nicht mehr vorstellen konnte, ist das Assessorexamen, das Dickmann ohne sonderliche Schwierigkeiten und ohne sonderliche Auszeichnung besteht. Abends gibt es zu Hause wieder eine kleine Feier, und das Jenseits ist versunken.


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