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Es läßt sich nicht leugnen: wenn Dickmann jetzt, nach Wochen, zurückdenkt, dann sieht der Fall Mehnert ganz anders aus. Je länger der unheimliche Morgen des 13. Januar zurückliegt, desto schärfer und schmerzlicher empfindet er das Ungebührliche seiner Anteilnahme an dem Schicksal des Lustmörders. Er fühlt sich unsicher, glaubt die Blicke aller Honoratioren der Stadt Pörgelau mißbilligend auf sich gerichtet und hält sich von allen fern.
Gewiß, – er sagt sich selbst: nichts weiter ist geschehen, als daß nach einer scharfen Zecherei ein junger Amtsgerichtsrat sich einem älteren Kollegen gegenüber schlecht benommen hat. Die Sache ist durchaus beigelegt. Und peinlicher als der Vorfall selbst war eigentlich die lärmende Herzlichkeit, mit der Landgerichtsrat Hollweg die Entschuldigung des »lieben Kollegen« angenommen und sein merkwürdiges Verhalten bereitwilligst auf die seelischen Erregungen der Hinrichtungszeremonie zurückgeführt hat, der Dickmanns Nerven eben nicht gewachsen gewesen seien.
So könnte Dickmann ruhig weiterhin an dienstfreien Tagen mit den Pferden des staatlichen Gestüts ausreiten, abends im Goldenen Engel Skat spielen und hin und wieder zu Besuch auf die benachbarten Güter fahren. Wenn es nichts weiter gewesen wäre, als daß er grob zu Hollweg geworden ist, dann würde sich Dickmann gar keine Gedanken machen. Aber der Anlaß war so blamabel!
Wer spricht jetzt noch von Friedrich Mehnert? Nicht einmal mehr der Rechtsanwalt Dr. Herzmann. Die merkwürdige Schnittfläche im Atlaswirbel der Leiche Friedrich Mehnerts reizt die Medizinstudenten auf dem Anatomiesaal der nahen Universität freilich manchmal zu nebensächlichen Gesprächen. Aber bald verliert auch diese anatomische Absonderlichkeit ihren Reiz. Der Professor im pathologischen Institut nebenan hat an dem Gehirn Mehnerts nichts Merkwürdiges feststellen können: die Windungen sind vielleicht ein wenig zu schwach ausgeprägt, die Substanz ist vielleicht eine Spur zu wässrig, – das ist alles. Und so bleibt von Friedrich Mehnert für Dickmann nur das Gefühl übrig, daß er sich seine gesellschaftliche Stellung in Pörgelau verscherzt habe.
In Wirklichkeit ist nicht viel mehr geschehen, als daß ihn Melanie von Norden nach allen Einzelheiten der Hinrichtung hat ausfragen wollen. Und als er unwillig und stumpf abwehrte, ist Melanie böse geworden: »Du bist einfach komisch! Andere Leute würden wer weiß was darum geben, so etwas zu erleben, und du heulst wie ein kleines Mädchen!« Ja, wenigstens bei der Frau Landrat hat Dickmann entschieden an Boden verloren. Er merkt es auch daran, daß neuerdings der Hauptmann Schönefeld recht häufig in die Villa Norden kommt, und zwar meist gerade dann, wenn jedes Kind – außer dem Hauptmann selbst – weiß, daß der Landrat mit dem Frühschnellzug nach Berlin gefahren ist.
Noch vor wenigen Wochen hätte es Dickmann als Wohltat empfunden, von Melanie auf so anständige Weise loszukommen, heute schmerzt es ihn, weil er in dieser Tatsache einen Beweis mehr dafür sieht, daß er bis auf die Knochen blamiert ist.
Dickmann fühlt sich nicht mehr wohl in Pörgelau. Auch die Sache mit Udo von Gröhden hat das ihrige dazu getan. Die Ritterschaftsbank hatte dem überschuldeten Gutsbesitzer die Rente gekürzt, und am Tage darauf ging Gröhden in den Stall und erschoß seine beiden prachtvollen Oldenburger Hengste. Er könne den Hafer für sie nicht mehr bezahlen. Nun sitzt er in einem Sanatorium, und Herr von Kriesar, sein Vetter, meint, er werde nie wieder zurückkommen. Er säße den ganzen Tag auf dem Wirtschaftshof des Sanatoriums und versuche, die Hühner zu dressieren. Ein weißer Hahn sei sein Lieblingstier, er habe ihn Pilatus getauft ...
Im Goldenen Engel witzeln die Herren darüber, daß Dickmann bei Frau von Norden nichts mehr zu melden hat. Zuhause läuft das Dienstmädchen Anna dem Amtsgerichtsrat dauernd über den Weg und erwartet, daß Dickmann zu ihr sagt: »Ich komm' nachher noch rauf.« Nein, so geht es nicht weiter. Dickmann verfault ja bei lebendigem Leibe. Noch ein paar Jahre hier in Pörgelau, und er würde sich in nichts mehr von dem Landgerichtsrat Hollweg unterscheiden. Das hält er nicht aus. Er will weg.
Sein Vater will die Notwendigkeit einer Versetzung an ein anderes Gericht zwar nicht so recht einsehen. Er ist der Ansicht, jeder Mensch könne auf dem Platz, auf den Gott und der Justizminister ihn gestellt haben, wertvolle Arbeit leisten. Er hält es eigentlich nicht für richtig, daß der Junge nach Berlin will. Aber was soll er machen, wenn Frau Landgerichtsdirektor ihn so himmelhoch bittet, doch dafür zu sorgen, daß Fietichen »nach Hause« kommt, und wenn Dickmann in aller Achtung und Bescheidenheit darauf hinweist, er möchte doch auch mal wieder einige juristische Vorlesungen hören, er käme ganz aus der wissenschaftlichen Arbeit heraus, und das sei doch schade. Also spricht der Landgerichtsdirektor Dickmann mit seinem Freund Heinemann, und nach überraschend kurzer Zeit wird der Amtsgerichtsrat Dickmann als Landgerichtsrat nach Berlin versetzt.
Das ist weder eine Auszeichnung noch eine Besonderheit. Gewiß, – andere Amtsrichter in der Provinz warten ihr Leben lang darauf, in eine Großstadt zu kommen. Aber wozu hat man schließlich seine Verbindungen ...
Der Abschied von Pörgelau fällt Dickmann nicht schwer. Was sollte ihn hier auch halten? Anna? Du lieber Gott! Ein Dienstmädchen. Dickmann schenkt ihr eine Handtasche für zwölf Mark fünfzig, und damit ist der Fall erledigt. Melanie? Sie hat so wenig Zeit jetzt, daß sie gerade mit Hauptmann Schönefeld eine Segelpartie machen muß, wie Dickmann sich von Nordens verabschieden kommt. Der Landrat dagegen ist leicht melancholisch, er legt Dickmann die Hand auf die Schulter und sagt traurig: »Schade, ich hatte mich schon so an dich gewöhnt.« Er wird sich auch an den Hauptmann Schönefeld gewöhnen, denkt Dickmann kühl und wundert sich, wie sehr für ihn dieses Pörgelau eigentlich schon der Vergangenheit angehört ...
Kurz vor Dickmanns Übersiedelung nach Berlin stirbt sein Vater. Auf dem Heimweg vom Gericht befiel den Landgerichtsdirektor ein Unwohlsein. Er ging in die nächste Kneipe, ließ sich einen Kognak geben, und plötzlich lag der alte Herr tot auf dem Stuhl. Das wohlgepflegte Haupt schlug schwer auf die Tischplatte.
Beim Begräbnis wird Dickmann noch einmal klar, wer sein Vater gewesen ist. Die Predigt des Geistlichen, die Reden der Behördenvertreter, die vielen Kränze, – Dickmann bleibt nichts, als sich vorzunehmen, seines Vaters würdig zu werden und seiner Familie eine treue Stütze zu sein.
Aber das hat seine Schwierigkeiten. Wie er nun in Berlin lebt – die Mutter hat ihm das Arbeitszimmer des Landgerichtsdirektors eingeräumt –, spürt er von Tag zu Tag mehr, daß das Leben im Elternhause nicht mehr das gleiche ist wie früher. Nicht nur, daß es ihm scheint, als trauerten Mutter und Schwester nicht überzeugend genug dem verstorbenen Vater nach. Nein, – Frau Landgerichtsdirektor hat jetzt plötzlich immer soviel zu tun. Sie ist andauernd in der Stadt, angeblich, um Einkäufe zu machen. In Wirklichkeit sitzt sie, wie Dickmann merkt, ganze Nachmittage in Konditoreien und kommt mit ihrer Pension immer nicht aus.
Edith arbeitet als Modezeichnerin in einem großen Verlag und ist selten zu Hause. Manchmal vergehen Tage, ohne daß Dickmann sie zu sehen bekommt. Abends bleibt sie häufig aus. Und wenn Dickmann etwas ungeduldig zu seiner Mutter sagt, das ginge doch nicht, dann legt sie ihm die Hand auf den Arm und sagt: »Laß doch das Kind. Sie hat wenig genug vom Leben gehabt bisher.«
Wer fragt Dickmann, was er eigentlich bisher vom Leben gehabt hat? Sein Leben in Berlin, von dem er sich soviel versprochen hatte, ist auch nicht viel besser als das Hinvegetieren in Pörgelau. Was bleibt ihm weiter als der Beruf, der Dienst, das Amt. Sonst gibt es nichts im Leben, was er wichtig nimmt.
Er ist zum Untersuchungsrichter ernannt worden. Jeden Tag macht er den Weg durch den Tiergarten zum Kriminalgericht.
Die Zimmer der Untersuchungsrichter sind durch einen vergitterten Gang mit dem Untersuchungsgefängnis verbunden. An das Klirren der schweren Schlüssel, die vor den Häftlingen die Türen öffnen, gewöhnt man sich.
Vor Dickmanns Schreibtisch steht ein harter Holzstuhl. Jeden Tag sitzen da Untersuchungsgefangene. Zerlumpte Strolche, manchmal ein besserer Mann, junge Burschen, eine alte Frau ...
Alle beteuern zuerst ihre Unschuld. Dann muß der Herr Landgerichtsrat sie ernst ermahnen, die Wahrheit zu sagen.
»Herr Landgerichtsrat, ich habe die Wahrheit gesagt.«
Der Untersuchungsrichter zuckt die Achseln und klingelt: »Herr Wachtmeister, führen Sie den Angeschuldigten ab.«
Dann sitzt der Angeschuldigte in seiner Zelle und wartet, bis der Untersuchungsrichter ihn wieder vorführen läßt.
»Nun, wollen Sie heute die Wahrheit sagen?«
Ein paar gleichgültige Worte, ein kurzes Diktat ins Protokoll, und die Vernehmung ist für heute erledigt. Der Herr Untersuchungsrichter hat Zeit, und er hat die verhängnisvolle Macht, dem Menschen, der verzweifelt und angstvoll vor ihm sitzt, die nebensächliche Bemerkung hinzuwerfen: »Vielleicht könnten Sie durch ein Geständnis Ihre Lage verbessern.«
Dickmann weiß: wenn er so eine flüchtige Bemerkung hat fallen lassen, dann dauert es nicht mehr lange, bis der Gefangene selbst darum bittet, dem Herrn Untersuchungsrichter vorgeführt zu werden. Aber Dickmann hat noch keine Zeit für ihn. Er läßt noch einen Tag vergehen, dann kann er dem Protokollführer diktieren: »Datum ... Der Angeschuldigte läßt sich vorführen und erklärt, Doppelpunkt. Ich will nunmehr der Wahrheit die Ehre geben und gestehe ein, daß ich ...«
»Komme ich nun frei, Herr Landgerichtsrat?«
Dickmann zuckt die Achseln: »Darüber habe nicht ich zu bestimmen. Wenn die Strafkammer zu der Überzeugung kommt, daß bei Ihnen weder Verdunkelungsgefahr noch Fluchtverdacht vorliegt, dann werden Sie freigelassen. Bis dahin ... Herr Wachtmeister, führen Sie den Angeschuldigten ab.«
Jetzt interessiert den Untersuchungsrichter der Fall nicht mehr. Das Geständnis, eigenhändig von dem Angeschuldigten unterschrieben, liegt sauber in den Akten. Ist damit die Aufgabe des Untersuchungsrichters erfüllt? Gewiß nicht. Er soll aus den wirren Angaben der Beschuldigten und der Zeugen die Wahrheit heraussuchen. Aber ist es nicht die Wahrheit, wenn der Angeschuldigte ein reumütiges Geständnis ablegt?
Nein, Dickmann weiß, daß es auch unrichtige Geständnisse gibt, aber das sind Ausnahmen, und es ist in höchstem Maße unzweckmäßig, immer gleich an die Ausnahmefälle zu denken.
Man gewöhnt sich an diese Arbeit. Gewöhnt sich an das unheimliche Klirren der Schlüssel, an das Kreischen der schlechtgeölten Türschlösser, die sich hinter den Gefangenen schließen. Man gewöhnt sich auch an die angstvollen und verzweifelten Gesichter der Angeschuldigten. Dickmanns Korrektheit und Ruhe bleibt immer die gleiche, ob er nun den Erlaß einer einstweiligen Verfügung anordnet oder die hilflosen oder wütenden Worte der Untersuchungsgefangenen dem Protokollführer in die Maschine diktiert.
Trotzdem empfindet Dickmann scharf, daß jetzt im Kriminalgericht alles ganz anders ist, als zu der Zeit, wo er hier als Referendar arbeitete. Haben sich die Verhältnisse in den letzten zwei, drei Jahren wirklich so von Grund auf geändert, daß Dickmann oft aus dem Kopfschütteln nicht herauskommt? Es ist auch alles so ganz anders als in Pörgelau. Überall eine Unruhe, eine merkwürdige Besorgtheit, die sich bald in Resignation, bald in ernsten und schwierigen Diskussionen Luft macht.
Auch die Richter, die er noch von früher kennt, kommen Dickmann verändert vor. Ihm scheint es, als seien sie stumpfer geworden, unzufriedener, erregter oder noch geschäftsmäßiger. Und die Gespräche, deren Zeuge oder Partner er wird, drehen sich um Dinge, die an Dickmanns geheimste und privateste Erkenntnisse rühren. Und merkwürdig, – man spricht über sie in aller Öffentlichkeit. Humanisierung der Rechtspflege, Sinn und Zweck der Strafjustiz, Demokratie oder Diktatur. Das Erstaunlichste ist, daß es unter den Richtern und Staatsanwälten Männer gibt, die in solchen politischen Gesprächen sich für die Republik und nicht für die Diktatur entscheiden.
Freilich, – das sind Außenseiter oder Karrieristen, die sich mit den republikanischen Behörden des Freistaats Preußen gut stellen wollen, die das Mitgliedsbuch der Sozialdemokratischen Partei in der Tasche tragen und von Ehrgeiz und Geltungshunger zerfressen sind.
Dickmann braucht lange Zeit, ehe er sich an diese seltsame Atmosphäre gewöhnt hat, die so gar nicht derjenigen gleicht, die in den Provinzgerichten herrscht. Erwähnt er einmal einem jüngeren Amtsgerichtsrat oder Staatsanwalt gegenüber irgendein brennendes juristisches Problem, so weicht man aus, witzelt oder zuckt mit den Achseln: »Ach, lassen Sie doch das, das hat ja doch alles keinen Zweck.«
Dickmann kann solche Gleichgültigkeit, die er in gewissem Sinne sogar für verbrecherisch hält, einfach nicht verstehen. Er ist geneigt, diese Staatsanwälte und Landgerichtsräte, die ihren Beruf nur als Broterwerb ansehen und über ihre unzureichende Bezahlung schimpfen, für schlechte Juristen zu halten. Aber das geht nicht so ohne weiteres. Besonders dann nicht, wenn er von den anderen, den leidenschaftlichen, die sich über alles erregen, was nach ihrer Meinung der Gerechtigkeit widerspricht, einen ausgesprochen schlechten Eindruck gewinnt.
Da ist zum Beispiel dieser Amtsgerichtsrat Wiedemann, bei dem er früher als Referendar gearbeitet hat. Sein hängender Schnurrbart ist etwas grauer, und seine Kneifergläser sind etwas dicker geworden. Aber sein mißmutiges Temperament und die tiefe Unzufriedenheit über seine Stellung im Leben sind geblieben und machen auf Dickmann ebenso wie auf alle ernsthaften Kollegen einen peinlichen Eindruck.
Immerhin läßt sich nicht leugnen, daß Wiedemann eigentlich das ist, was Dickmann sich unter einem guten Richter vorstellt: ein tüchtiger Arbeiter, der seine Verhandlungen ausgezeichnet vorbereitet, ein durch und durch gesetzeskundiger Jurist und ein Mann, der Vaterlandsliebe und Gottvertrauen stets und mit Nachdruck im Munde führt. Und trotzdem ...
»Wiedemann ist dreißig Jahre zu spät auf die Welt gekommen«, behauptet ein junger Amtsrichter, und Dickmann gesteht sich, daß er ungefähr dasselbe von Wiedemann gedacht hat.
Aber wie kann das kommen? Dickmann weiß sich keine Erklärung für diese merkwürdigen Vorgänge zu geben. Was hat sich denn in den letzten Jahren so Grundlegendes geändert, daß dieselben Männer, die er vor wenigen Jahren als ernsthafte und eifrige Richter kennengelernt hat, jetzt so stumpf geworden sind, so ohne Hoffnung und Auftrieb?
Schade, – er kann mit niemand über diese Dinge sprechen. Er schämt sich gewisser Erkenntnisse, die er sich errungen zu haben glaubt, immer noch wie einer heimlichen Krankheit. Um so freudiger eilt er darum dem jungen Rechtsanwalt entgegen, den er eines Tages auf dem Korridor des Kriminalgerichts trifft: Donath, Gerhard Donath, von dem er seit Jahren nichts mehr gehört hat.
Auch Donath scheint erfreut, den Studienkameraden wieder zu sehen. Sein Gesicht ist schmaler und bleicher geworden. Zwei tiefe Falten graben sich um seine Mundwinkel. In der rechten Augenhöhle blinkt kalt ein Einglas. »Sieh da, unser Freund Dickmann. Landgerichtsrat? Immer noch bei der Stange geblieben? Wie gefällt Ihnen denn der Betrieb? Mir? Du lieber Gott, von mir ist nicht die Rede. Man schlägt sich halt so durch.«
Gewiß, Donath will sich heute Abend gern mal mit Dickmann bei einem Glas Wein treffen. »Über die alten Zeiten plaudern«, nennt er das und macht ein sonderbar törichtes Gesicht dazu.
Dickmann freut sich über dieses Wiedersehen mehr, als er sich selbst eingestehen will. Denn Donath ist schließlich einer der wenigen Menschen, die für seine privaten Nöte und Zweifel Verständnis hatten, zu denen er überhaupt von seinen Skrupeln zu sprechen gewagt hatte.
Dann sitzen sie sich gegenüber und schweigen zunächst etwas verlegen. »Sind Sie verheiratet?« fragt Donath. »Nein. Sie?« antwortet Dickmann, und Donath schüttelt abwehrend die Hand: »Reden wir nicht davon. Wir haben alle zusammen unser Päckchen zu tragen, dieweilen wir Pilger sind allhier auf Erden.«
Das sagt Donath? Dickmann weiß nicht, ob er lachen darf. Aber Donath läßt ihm gar keine Zeit zu solchen Überlegungen: »Nun, und wie fühlen Sie sich so? Untersuchungsrichter, ausgesöhnt mit Gott und der Welt, ein zufriedener, glücklicher Mensch, wie?«
»Danke, man hat sein Auskommen«, sagt Dickmann abwehrend.
»Das hat man, aber das ist auch so ziemlich alles.«
»Was wollen Sie? Viel mehr kann man doch auch nicht verlangen«, sagt Dickmann und wundert sich selbst über seine Trockenheit.
»Prost, Dickmann!« Donath hebt sein Glas. »Ich sehe, Sie sind auf dem rechten Wege. Früher schien mir, als wären Sie es nicht. Aber nun ist ja alles gut. Prost, Dickmann!«
Der wird verlegen. »Kann man mit Ihnen ernsthaft sprechen, Donath?« fragt er sehr leise.
Donath macht ein erstauntes Gesicht. Er denkt einen Augenblick nach, dann sagt er ernst und entschieden: »Nee, das kann man nicht. Worüber wollen Sie denn ernsthaft mit mir sprechen? Über die Frauen, das Leben, die Gerechtigkeit, wie früher? Lieber Freund, das sind für mich keine Probleme mehr.«
»Auch die Gerechtigkeit nicht?«
»Die am allerwenigsten. Ich bin Mathematiker aus Passion und weiß, daß es echte und falsche Probleme gibt. Die falschen sind unlösbar, und ein Narr und Trottel ist, wer auch nur einen einzigen Gedanken an den sinnlosen Versuch verschwendet, sie zu lösen. Lasset euch genügen mit dem, was da ist, steht in der Bibel. Und wenn es mir in den Kram paßt, bin ich ein buchstabenfrommer Christ ...«
Dickmann geht an diesem Abend sehr unwillig nach Hause. Er gesteht sich nicht ein, was er sich eigentlich von Donath versprochen hat. Jedenfalls mehr, als das, was er hielt. Gewiß, – es war sehr nett, sie haben einige Flaschen Wein getrunken, Donath hat glänzende jüdische Witze erzählt, und im übrigen haben sie aneinander vorbei geredet. Merkwürdig, wie der Mensch sich verändern kann. Der Rechtsanwalt Gerhard Donath hat keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Rechtsstudenten, zu dem Dickmann einst eine herzliche Zuneigung empfand. Was ist mit ihm nur vorgegangen?
Zu Hause brennt noch Licht. Frau Landgerichtsdirektor sitzt im Wohnzimmer unter der großen Hängelampe und legt Patiencen. Dickmann begrüßt sie zärtlich. Die alte Frau ist doch eigentlich recht überflüssig im Leben, denkt er mitleidig.
Seine Mutter hebt den Kopf: »Jetzt um zwölf? Sie kommt doch keine Nacht vor eins nach Hause«, sagt sie.
Dickmann räuspert sich verlegen. Das ist nun auch wieder so eine Sache, die man nicht einfach wegschieben kann. Ein junges, unverheiratetes Mädchen aus bester Familie kommt keine Nacht vor eins nach Hause, und ihre Mutter tut, als fände sie nichts dabei. Wo ist Edith denn eigentlich immer, wenn sie des Abends ausgeht? Hat Dickmann nicht überhaupt die Pflicht, sich darum zu kümmern? Warum heiratet das Mädchen nicht? Den Ball des Kösener S. C, auf dem Dickmann sie mit einigen Korpsbrüdern bekannt machen wollte, besucht sie nicht. Das sei ihr zu langweilig. Dickmann versteht die Welt nicht mehr.
Kurz darauf wird Edith krank. Dickmann hört von der Mutter, es sei eine »häßliche Unterleibssache«, und mit dieser Auskunft begnügt er sich eilig. Es ist ihm peinlich, daß seine Mutter von solch »häßlichen Unterleibssachen« überhaupt spricht. Wie er dann nach einigen Tagen Zeit findet, Edith einmal in ihrem Zimmer aufzusuchen, liegt sie blaß und müde im Bett. Dickmann fühlt plötzlich eine herzliche Sympathie für dieses Mädchen, das doch seine Schwester ist und trotzdem so fremd wie irgendein beliebiger Mensch.
»Was hast du eigentlich?« fragt er besorgt.
Edith zuckt die Achseln und lächelt: »Was werde ich haben! Pech hab' ich gehabt.«
»Was denn, Pech?« fragt Dickmann verständnislos.
»Du hättest um ein Haar einen netten kleinen Neffen bekommen«, sagt Edith und gähnt. »Verdammt anstrengende Geschichte.«
Dickmann ist völlig fassungslos. Was denn? Seine Schwester? Um Gotteswillen! Dickmann wird schwindlig: »Mein Gott! Edith!«
Edith sieht ihn freundlich an: »Na, so schlimm war es ja nun wieder nicht, daß du dich so aufregst.«
»Aber das ist ja entsetzlich!«
»Entsetzlich? Ach, dumm ist es, nichts weiter.« Edith versteht Dickmanns Erregung immer noch nicht.
Dickmann räuspert sich energisch: »Also höre mal, mein liebes Kind, mir ist weiß Gott nicht nach Scherzen zumute. Ich muß ganz offen sagen ... Dieser Zynismus, die Tatsache an sich ...«
Edith unterbricht ihn: »Nun geh' schon, mein Lieber. Wenn du hier verrückt spielen willst, dann geh'. Ich kann das jetzt noch nicht gut vertragen.«
Dickmann fühlt zwingend die Notwendigkeit, diesem Mädchen da seine Meinung zu sagen. Und nicht nur das, nein, ihr auch die ethischen Grundbegriffe verständlich zu machen, nach denen das, was Edith getan hat, ein Verbrechen ist. Er rückt sich in seinem Stuhl zurecht. »Daß so etwas strafbar ist, weißt du?«
Edith versucht, ein Lächeln zu unterdrücken. »Immerhin lebe ich nicht auf dem Mond.«
»Edith, ich bitte dich, denke an deinen Vater ...«
Edith klingelt dem Mädchen. »Sagen Sie doch bitte, gnädige Frau möchte einen Augenblick rüberkommen«, sagt sie freundlich, und Dickmann wird blaß vor Schreck.
»Was soll das?« flüstert er. »Laß Mutter aus dem Spiel.«
Aber Frau Landgerichtsdirektor ist schon in das Zimmer getreten. Edith ruft ihr zu: »Wir sitzen hier gerade so gemütlich, willst du nicht auch ein bißchen hier bleiben?«
Natürlich will Frau Landgerichtsdirektor das. Und so sitzen sie denn friedlich an Ediths Bett. Die beiden Frauen sprechen von allem Möglichen, und Dickmann wird hin und wieder auch in das Gespräch gezogen. Zornig und verbittert verabschiedet er sich bald, er habe noch zu arbeiten.
Dickmann hat wirklich zu arbeiten. Aber wie er dann vor dem breiten Schreibtisch seines Vaters sitzt, blättert er zornig und nervös in den Akten herum. Es wird nichts aus der Arbeit: Dickmann fegt mit einer plötzlichen Handbewegung die Akten beiseite, nimmt seinen Hut und geht spazieren.
Was ist das für eine Zeit! Seine Schwester, die Tochter eines Landgerichtsdirektors, und eine Abtreibung! Eine Abtreibung, die doch immerhin die Tatsache eines außerehelichen Geschlechtsverkehrs zur notwendigen Voraussetzung hat. Die Tochter eines Landgerichtsdirektors! Dickmann mutet diese Tatsache wie ein Symptom des Weltuntergangs an. Und wie dieses Mädchen darüber spricht! Als ob es die einfachste Sache von der Welt wäre, daß eine Tochter aus gutem Hause Unzucht treibt. Sie ist doch immerhin eine Dickmann! Wie kann sie sich so vergessen. Dickmann fühlt die Verantwortung für den guten Namen seines Vaters auf sich lasten. Er seufzt schwer und beklagt sein elendes Leben, das ihn vor so schwere und entsetzliche Aufgaben stellt ...
Die einfachste Sache von der Welt? Gewiß, – auch Dickmann weiß, daß trotz dem Paragraphen 218 in Deutschland alljährlich etwa eine Million Abtreibungen vorgenommen werden, von denen nur ein verschwindender Prozentsatz jemals zur Anzeige oder zur Verurteilung kommt. Dickmann erinnert sich an den Sanitätsrat Engel in Pörgelau, an die Witzeleien der Honoratioren im Goldenen Engel, er weiß seit je, daß eine Abtreibung auch in seinen Kreisen keineswegs mehr als ein Verbrechen gilt. Aber in der eigenen Familie? Die sittliche Verkommenheit seiner eigenen Schwester zwingt zur Stellungnahme. Und so zornig und traurig Dickmann ist, und so sehr er die Berechtigung dieses Zornes über allen Zweifel erhaben weiß, – irgendwo ist in ihm doch eine Ratlosigkeit und eine Unsicherheit, die ihn befangen macht.
Nicht etwa Edith gegenüber. Die ist für ihn erledigt. Wäre sie nicht schon mündig, Dickmann würde es sich keinen Augenblick überlegen, sie in die Fürsorgeerziehung zu bringen. Nein, er hat sich damit abzufinden, daß seine eigene Schwester moralisch durch und durch defekt ist. Es hat keinen Zweck, vor Tatsachen die Augen zu schließen, nur weil sie schmerzlich und erschütternd sind.
Etwas anderes beunruhigt ihn, und immer wieder ärgert er sich über seine Skrupelsucht. Was er weiß, das wissen tausende von Richtern und Staatsanwälten, daß nämlich gegen den Abtreibungsparagraphen täglich und stündlich in Deutschland verstoßen wird. Das ist natürlich keineswegs ein Argument gegen die Existenzberechtigung dieses Paragraphen. Es wird in Deutschland ja auch täglich gestohlen und betrogen, und noch nie ist jemand auf den Gedanken gekommen, deswegen etwa die Diebstahls- und Betrugsparagraphen des Strafgesetzbuchs für veraltet oder für sinnlos zu erklären. Lächerlich, so etwas!
Lenchen Flöter? Oho, Dickmanns Gewissen ist rein. Er hat sich nicht mit dem Gedanken an eine rechtswidrige Handlung beladen. Er hat gewußt, was er tat, als er es damals strikt ablehnte, seine Hand zu einem Verbrechen zu bieten. Vielleicht nicht? Wie denn, hat er Lenchen nicht klipp und klar gesagt, daß sie ruhig das Kind austragen solle, und daß er für alles aufkommen würde? Hat er nicht ... Ach nein, es war etwas anders, und Lenchen, das arme kleine Lenchen ist tot. Na ja, moralisch defekt war sie ja natürlich auch. Wirft sich Studenten einfach an den Hals. Von dieser allgemeinen Verwilderung der Sitten kommt überhaupt alles Unglück.
So räsoniert Dickmann und macht sich um so stärker und härter, je tiefer er sich in Widersprüche verstrickt. Eines Tages, auf dem Klosett, blättert Dickmann in einer kirchlichen Zeitschrift und findet den Aufsatz eines Pastors Lezius über die Abtreibungsseuche. »Erfreulicherweise kommt ja ein erheblicher Prozentsatz in diesen Wochenbetten um. Es ist zu bedauern, daß immer noch viel zu viel dieser unnützen Weiber am Leben bleiben, um ihr fluchwürdiges Leben weiter zu treiben ...« Die Zeitschrift heißt »Reformation«, und Dickmann sagt kurz darauf zu seiner Mutter: »Sind wir eigentlich noch auf die ›Reformation‹ abonniert? Das ist doch eine überflüssige Ausgabe.« Und Frau Landgerichtsdirektor verspricht, die Zeitschrift abzubestellen.
Warum verhält Dickmann sich so? Sind seine Argumente gegen das, was er die Merkwürdigkeit der Zeit nennt, denn so prinzipiell andere als die des ehrenwerten Pfarrers? Er empfindet selbst, wie sonderbar seine Reaktion ist. Immer wieder stößt er auf die Bundesgenossenschaft von Menschen, deren Ansichten als die seinen zu erkennen ihn schmerzt. Alle Argumente sehen plötzlich ganz anders aus, wenn ein anderer sie ausspricht. Sie sind dann grob, platt, gemein, brutal, und der höfliche und korrekte Dickmann erschrickt, wenn er sein eigenes Spiegelbild in großsprecherischen und lächerlichen Anachronismen wiederfindet.
Wie hat man sich denn nun eigentlich zu verhalten in dieser merkwürdigen Zeit, in der die Töchter hoher Richter außerehelichen Geschlechtsverkehr treiben und die Abtreibung als Selbstverständlichkeit bezeichnen? Als Selbstverständlichkeit?
Hat er, der Untersuchungsrichter Dickmann, nicht erst kürzlich wegen einer solchen Selbstverständlichkeit einen umfangreichen Aktenband anlegen müssen? Er sieht sie vor sich, die Arbeiterfrau Winkler, wie sie wegen Abtreibung vor dem Schwurgericht steht, er sieht ihr fleischloses Gesicht und erinnert sich seines Erstaunens, als er hörte, diese Frau sei achtundzwanzig Jahre alt. Eine Selbstverständlichkeit? Diese Frau hat bereits drei Kinder geboren und sollte vom Staat gezwungen werden, sich ein viertes aus dem Leib schneiden zu lassen. Ein verengertes Becken, der schmale Leib von drei Schnittnarben zerfurcht ...
Bitte: der Sachverständige hat es dem Gericht genau erklärt, daß der angeblich so entsetzliche Kaiserschnitt keineswegs gefährlich sei. Die medizinische Wissenschaft hat in den letzten Jahren unerhörte Fortschritte gemacht. Ein Kaiserschnitt gefährdet durchaus nicht das Leben einer Schwangeren, und ein verengertes Becken ist kein Grund, die Abtreibung zu gestatten.
Wie lange ist es her, daß der deutschnationale Justizminister des Freistaats Württemberg sich im Landtag gerühmt hat, während seiner Amtsführung habe die Zahl der Verurteilungen wegen Verbrechens gegen das keimende Leben erfreulicherweise sehr erheblich zugenommen?
Und das ist in Ordnung. Auch das Ungeborene hat ein Recht auf Leben. Heißt es nicht schon im Römischen Recht »nasciturus pro jam nato habetur«, das Kind im Mutterleibe ist einem Lebenden gleichzuachten? Halt: diese Bestimmung hat ja nur für Erbstreitigkeiten Geltung.
Ganz egal: Dickmann hat ein Recht, sich über die Kampagne gegen den Paragraphen 218 zu entrüsten. Er befindet sich ja dabei in allerbester Gesellschaft. Erst kürzlich hat Geheimrat Bornträger auf einem Ärztetag verlangt, die Krankenkassen sollten die Unterstützung für diejenigen Frauen sperren, die einer Abtreibung verdächtig erscheinen. Hat der Herr Professor nicht tausendmal Recht mit dieser Forderung?
Natürlich weiß Dickmann im Grunde ganz genau, daß der Abtreibungsparagraph sinnlos geworden und mit der Wirklichkeit nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Aber er will es nicht wissen, denn mit dieser Einsicht fiele ja wieder eine Stütze des kunstvollen Ideengebäudes fort, in das er sich zurückgezogen hat, und in dem er sicher zu sein glaubt vor allen Anfechtungen dieser Zeit.
Übrigens ist es ein reiner Zufall, daß von den Frauen, die wegen Abtreibung in den letzten Jahren verurteilt worden sind, 92 Prozent Proletarierinnen waren und nur 0,1 Prozent den wohlhabenden Schichten angehörten. Wer nicht daran glauben will, daß das reiner Zufall ist, der macht sich einer schweren Verleumdung der deutschen Justiz schuldig, denn vor dem deutschen Gesetz sind alle Menschen gleich ...
Das weiß Dickmann aus eigenster Erfahrung. Daran ist einfach nicht zu rütteln. Oder behandelt er den wohlhabenden Zahnarzt Doktor Wendel vielleicht nicht ganz genau so wie jeden anderen Untersuchungsgefangenen, den er zu vernehmen hat?
Ein unsympathischer Mensch übrigens, dieser Wendel. Dickmann muß sich jedesmal zwingen, sachlich und ruhig zu bleiben, wenn er sich den Angeschuldigten vorführen läßt. Natürlich ist Dickmann völlig unvoreingenommen. Es muß dem Untersuchungsgefangenen ja erst nachgewiesen werden, daß er tatsächlich während der Narkose an einer Patientin ein Notzuchtsverbrechen verübt hat. Zu zweifeln ist daran allerdings kaum noch, wenn der Mann auch noch so leidenschaftlich seine Schuld leugnet. »Lassen Sie mich doch frei, Herr Landgerichtsrat, ich bitte Sie um alles in der Welt! Diese Anzeige ist ein vollendeter Irrsinn!«
Landgerichtsrat Dickmann runzelt unwillig die Stirn. Diesen Ton liebt er nun ganz und gar nicht. Ein Mensch, der eines so schweren Verbrechens bezichtigt wird, hat keinen Grund, sich aufs hohe Pferd zu setzen. Er hat sich zurückhaltend und bescheiden zu benehmen. Außerdem schadet sich der Angeschuldigte zweifellos mit seiner Heftigkeit. Zehn Tage sitzt der Mann nun schon in Untersuchungshaft und ist immer noch nicht ruhiger geworden. Dickmann hat doch schließlich seine Erfahrungen: je lauter und wilder ein Mensch seine Unschuld beteuert, um so fauler ist seine Sache meistens.
»Schicken Sie mir doch wenigstens meinen Verteidiger!« schluchzt der Gefangene.
Dickmann wehrt höflich ab: »Ihr Herr Verteidiger war ja schon bei Ihnen.«
»Aber Sie haben ihm die Einsicht in die Akten verweigert.«
Der Untersuchungsrichter wird offiziell: »Über meine richterlichen Maßnahmen bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Wenn ich es im Interesse der Untersuchung für richtig halte, dem Rechtsanwalt keine Akteneinsicht zu gewähren, dann ist das mein gutes Recht.«
»Ich werde hier verrückt! Was soll ich denn bloß tun?«
Dickmann zuckt die Achseln: »Vielleicht könnten Sie durch ein reumütiges Geständnis Ihre Lage verbessern«, sagt er vorsichtig.
»Was soll ich denn gestehen, wenn ich unschuldig bin?!«
Nein, so kommt Dickmann nicht weiter. Er klingelt dem Wachtmeister: »Führen Sie den Angeschuldigten ab.«
Noch von weitem hört Dickmann das Stöhnen und Schluchzen des Gefangenen. So geht es nicht, denkt er. Er muß dem Herrn Zahnarzt vielleicht doch einmal verständlich machen, daß ihm, dem Untersuchungsrichter, gewisse Disziplinarmittel zur Verfügung stehen, wenn der Häftling sich ungebührlich benimmt; Kostentzug, Entzug des Bettlagers, Arrest ...
Der Untersuchungsrichter denkt scharf nach, wie er den Fall des Zahnarztes endlich zur Aufklärung bringen könne. Ein Mensch, der an einer wehrlosen Frau ein Sittlichkeitsverbrechen begeht, muß doch wohl ein Mensch mit hemmungslosem Sexualleben sein. Sicherlich sind auch schon früher Fälle vorgekommen, in denen der Angeschuldigte ... Wenn aus der Ehefrau nichts herauszubekommen ist, dann müßte man eben die Dienstmädchen vernehmen, die der Zahnarzt in den letzten Jahren gehabt hat. Man wird über sein Sexualleben wertvolle Aufschlüsse erhalten ...
Es dauert einige Tage, bis die Polizei die Mädchen eruiert hat, die in den letzten vier Jahren bei dem Zahnarztehepaar Wendel in Stellung gewesen sind. Aber was wiegen diese Tage? Nichts, – der Untersuchungsrichter hat Zeit.
Außerordentlich auffällig, daß der Untersuchungsgefangene verzweifelt zu weinen anfängt, wie er von der Vernehmung seiner früheren Dienstmädchen hört. Dickmann horcht auf: aha, er ist also auf der richtigen Spur. Es ist mit dem Zahnarzt nichts anzufangen: er muß wieder abgeführt werden. Zwei Monate sitzt er nun schon in Untersuchungshaft.
Aber so ernsthaft und energisch der Untersuchungsrichter die Hausangestellten zur Wahrheit vermahnt, – keine von ihnen kann über ihren ehemaligen Dienstherrn etwas anderes aussagen, als daß er ruhig und freundlich gewesen ist. Nur eine verweigert auf Dickmanns Frage nach einem etwaigen Geschlechtsverkehr mit ihrem Arbeitgeber die Aussage. Gut, Dickmann wird sich diese Zeugin noch einmal gesondert vornehmen und ihr ins Gewissen reden.
Am nächsten Morgen erhält er die Meldung, der Angeschuldigte Wendel habe in der Nacht einen Selbstmordversuch unternommen, indem er sich mit seinem Nachthemd am Fenstergitter zu erhängen versuchte. Dickmann triumphiert: also doch! Handelt so ein Unschuldiger? Wendel gibt den Kampf auf. Er gibt sich geschlagen. Die überlegene Verhandlungstaktik des Untersuchungsrichters hat ihren Erfolg gezeitigt. Der Gefangene wird jetzt einige Tage im Gefängnislazarett liegen, und dann wird Dickmann dem Protokollführer in die Maschine diktieren können: »... läßt sich vorführen und erklärt, Doppelpunkt, ich will nunmehr der Wahrheit die Ehre geben und gestehe ein ...«
Der Landgerichtsrat Dickmann kann sich nicht verhehlen, daß er über den Selbstmordversuch Wendels eine bescheidene Genugtuung empfindet. Die Voruntersuchung kann bald abgeschlossen werden. Auch in einem neuen mündlichen Haftprüfungstermin wird die Strafkammer beschließen, daß die Haft fortdauert. Nicht mehr wegen Verdunkelungsgefahr, sondern wegen Fluchtverdachts. »Da wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe Fluchtverdacht vorliegt.« An dieser ausschlaggebenden Bestimmung hat noch keine Reform der Untersuchungshaft etwas ändern können: der Fluchtverdacht wird ja nur vermutet, er bedarf keiner näheren Begründung durch Tatsachen.
Um so überraschter ist Dickmann, wie am nächsten Tage von der Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Wendel plötzlich eingestellt und der Mann aus der Haft entlassen wird. Was ist denn geschehen? Ja, es war nicht der Untersuchungsrichter, der die Wahrheit ermittelt hat, sondern der Verteidiger des Angeschuldigten, dem Dickmann in seinem freien richterlichen Ermessen und im Interesse der Untersuchung keine Einsicht in die Akten gewähren konnte. Es ist nichts weiter geschehen, als daß der Verteidiger das Vorleben der angeblich vergewaltigten Patientin untersucht und dabei festgestellt hat, daß die unverehelichte Frieda Voigt bereits zweimal von Ärzten vergewaltigt worden ist. Einmal ist sie wegen wissentlich falscher Anschuldigung, das zweite Mal wegen versuchter Erpressung verurteilt worden. Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter hatten nur vergessen, sich danach zu erkundigen.
Dickmann zuckt die Achseln: ein peinliches Versehen. Aber warum hatte sich der Mann dann erhängen wollen? Der Anwalt klärt ihn auf: er hatte Angst, daß seine eifersüchtige Frau in der Verhandlung davon erfahren würde, daß ihr Gatte vor vier Jahren einmal ein Liebesverhältnis mit einem Dienstmädchen unterhalten hatte.
Solche kleinen Betriebsunfälle können vorkommen. So unangenehm Dickmann die Geschichte auch ist, so wenig ist er in der Lage, den Fall des Zahnarztes Wendel nun für ein großes Unglück zu halten. Er hat zwei Monate unschuldig in Untersuchungshaft gesessen. Wenn's weiter nichts ist! Es sitzen in deutschen Gefängnissen Jahr für Jahr hundertachtzigtausend Menschen in Untersuchungshaft, und alljährlich erleiden sechzehntausend Menschen unschuldig diese kleine Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit. Einer von sechzehntausend, – das ist der Zahnarzt Wendel, und der Landgerichtsrat Dickmann denkt gar nicht daran, diesem schuldlosen Gefangenen mehr als ein kühles Bedauern zu widmen.
Was ist ihm schon passiert, und was sind zwei Monate Gefangenschaft? Die Humanisierung der Strafrechtspflege macht ja in Deutschland von Tag zu Tag größere Fortschritte, und Dickmann befürchtet, aus den deutschen Gefängnissen würden allmählich Sanatorien und Erholungsheime, wenn es in diesem Tempo weiter ginge. Allerdings kennt Dickmann den Strafvollzug in Deutschland nicht genau genug, um sich ein abschließendes Urteil anzumaßen. Ja, wenn er ehrlich sein will, muß er sagen, daß er eigentlich kein einziges Gefängnis von innen kennt, geschweige denn ein Zuchthaus. Er hat keine Veranlassung, sich darum zu kümmern, was denn die drei Monate oder die zwei Jahre Gefängnis, zu denen er Menschen verurteilt hat, bedeuten. Entzug der persönlichen Freiheit, das ist alles.
Dickmann verfolgt die leidenschaftlichen Diskussionen über die Humanisierung des Strafvollzugs mit Mißbehagen. Warum muß denn der Strafvollzug überhaupt humanisiert werden? Ist es nicht eine Gefahr für die Gesellschaft, wenn man den Gefangenen jetzt den Aufenthalt im Gefängnis so angenehm macht? Strafvollzug in Stufen, – Dickmann hat gelesen, während der letzten Monate seiner Strafzeit habe der Gefangene soviele Vergünstigungen, daß er eigentlich besser lebe als in der Freiheit. Man diskutiert manchmal – allzu oft kommt es nicht vor – auch im Gericht über diese Fragen, und Dickmann stellt fest, daß gerade die als vorzüglich anerkannten Richter die Humanitätsduselei, die sich jetzt in der Strafrechtspflege bemerkbar macht, energisch ablehnen.
Freilich, – es gibt auch andere. Schon in Pörgelau hat Dickmann davon gehört, daß sich eine Anzahl mißvergnügter Justizbeamter zum »Republikanischen Richterbund« zusammengeschlossen haben. Damals hat Dickmann nur den Kopf geschüttelt, und gesehen hat er einen republikanischen Richter zum ersten Mal, nachdem er wieder in Berlin war. An den kleineren Provinzgerichten sind solche Leute Gott sei Dank unmöglich. Diese Herren sind mit dem Gesetz in gewissen Punkten nicht zufrieden, sie üben auch Kritik an der Rechtsprechung, aber sie tun es in voller Öffentlichkeit. Alles, was Dickmann sich jemals über Wesen und Sinn der Gerechtigkeit gedacht hat, und dessen er sich als Schwäche und unmännlicher Skrupelsucht schämte, das sprechen diese Leute aus, schreiben es nieder, diskutieren es. Das tut man nicht. Das ist geschmacklos. Geschmacklos und gefährlich: was soll denn das Volk vom Gesetz und der Gerechtigkeit denken, wenn sogar schon die Richter an diesem Gesetz zweifeln?
Rechtsanwalt Gerhard Donath gähnt. Dickmann hat wieder einmal versucht, ernsthaft mit ihm zu sprechen. Aber Donath sieht da keine Probleme, für ihn ist das alles klar: »Gefährlich sind diese Leute nicht. Eher bemitleidenswert. Sehen Sie, es gibt Menschen, denen es gegeben ist, sich mit Sinnlosigkeiten abzufinden. Andere suchen ihr Leben lang nach Begründungen dafür. Der Unterschied besteht nur darin, daß die einen ein gutes Gewissen haben, und die anderen nicht. Oder nicht mehr. Sie haben den Glauben an die Vollkommenheit unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung verloren und wissen nicht, was sie an ihre Stelle setzen sollen. Darum reformieren sie, und im Grunde bleibt doch alles beim Alten.«
Dickmann widerspricht: »Aber es ist doch in den letzten Jahren von diesen Mißvergnügten sehr viel erreicht worden. Das Vertrauen in die Justiz ist doch dahin ...« »Was ist denn erreicht worden?« fragt Donath neugierig, und Dickmann antwortet schnell: »Humanisierung des Strafvollzugs.«
Donath pfeift durch die Zähne: »Sie, ich würde sehr vorsichtig sein mit dieser Humanisierung. Das hört sich alles sehr schön an, wenn man aber näher hinsieht ... Ich meine es gut mit Ihnen, Dickmann, sonst würde ich Ihnen raten, sich über diese angebliche Humanisierung näher zu informieren. Sie würden dann vielleicht sehen, daß alles beim Alten geblieben ist. Nur die Bezeichnungen haben gewechselt, die Begründungen, mit denen man eine Sinnlosigkeit zu bemänteln und zu verschleiern sucht. Sie müßten sich eigentlich darüber freuen, Dickmann, denn Sie haben keinen Grund zu der Befürchtung, das Fundament unseres Rechtslebens sei durch allzu heftige Humanisierung unterhöhlt. Vielleicht aber freuen Sie sich auch nicht, wenn Sie sehen, was ist. Ich warne Sie, Dickmann, ich meine es gut mit Ihnen. Erhalten Sie sich Ihren fröhlichen Kinderglauben an die Gerechtigkeit.«
»Aber ich bitte Sie, Donath«, lächelt Dickmann belustigt. »Man muß doch wissen ...«
»Muß man?« fragt Donath ernst. »Muß man wirklich? Ich glaube, man darf nicht wissen. Wenn jeder Richter gezwungen würde, die Segnungen des humanen Strafvollzugs auch nur vier Wochen lang am eigenen Leibe zu erfahren, ich bin überzeugt, keinem würden dann die kräftigen Urteile so glatt vom Munde gehen. Ich warne Sie, Dickmann. Sie haben noch ein gutes Gewissen. Wenn Sie klug sind, dann bewahren Sie es sich und stören es nicht durch allzuviel Wissen.«
Dickmann entrüstet sich: »Aber das ist doch sinnlos, die Augen zuzumachen vor unbequemen Tatsachen ...«
»Sinnlos ist alles«, sagt Donath gelangweilt.
»Der Schutz der Gesellschaft, zum Beispiel?« fragt Dickmann provozierend.
»Ich bin an dem Schutz dieser Gesellschaft sehr wenig interessiert«, lächelt Donath. »Der satte Räuber liebt die Gerechtigkeit. Wenn im Privatleben jemand mich um meinen Schutz bittet, dann würde ich prüfen, ob dieser Jemand auch meinen Schutz wert ist. Und die Gesellschaft? Lieber Freund, lassen Sie mich.«
Dickmann spürt hinter Donaths leichten Worten den Ernst und die Schwere der Entscheidung. »Was soll ich tun?« fragt er Donath plötzlich leise und ohne jeden Zusammenhang.
Donath wartet nicht lange mit der Antwort: »Nichts«, sagt er fest. »Bleiben Sie, wie Sie sind, dann fällt Ihnen das Leben leicht.«
»Das wäre eine Lüge.«
»Und die Gerechtigkeit? Was ist sie?«
Dickmann schüttelt den Kopf. Nein, so darf Donath nicht sprechen. Hier hört der Scherz auf. Dickmann setzt sich aufrecht auf seinen Stuhl, sieht Donath fest in die Augen und fragt grob: »Sagen Sie, sind Sie inzwischen vielleicht Kommunist geworden?«
Es dauert einige Zeit, ehe Donath vor Lachen weitersprechen kann: »Ich Kommunist? Sie sind gottvoll, Dickmann. Eine unbequeme Sache erledigt man am besten damit, daß man ihr einen schlechten Namen gibt. Humanitätsduselei, Knochenerweichung, sittlicher Verfall. – Wenn ich es wäre, dann wäre mir vielleicht wohler, Dickmann. Aber zu Ihrer Beruhigung: ich bin keineswegs Kommunist, sondern sehe nur, daß der Schutz des Bestehenden und der Gesellschaft eine sehr fragwürdige Sache ist. Eine Sache, die es eigentlich nicht wert ist, daß bessere Herren ihre ganze Lebensarbeit an sie verwenden. Wenn Sie das Bestehende schützen wollen, lieber Dickmann, dann rate ich Ihnen, sich nie danach zu fragen, ob das Bestehende überhaupt geschützt zu werden verdient. Fragen Sie nie danach, und überzeugen Sie sich nie von der Humanität des deutschen Strafvollzugs, sonst wäre Ihnen vielleicht Ihr Mund verschlossen, und Sie könnten nicht mehr sagen: ›Zwei Jahre Gefängnis‹.«
Nein, so kommt Dickmann nicht weiter. Schade, er hatte gedacht, er könne mit Donath wie einst über alle Gedanken sprechen, die er vor anderen verheimlicht und verbirgt. Es geht nicht. Donath ist jetzt so scharf. Sein Witz hat nichts mehr von der früheren Gutartigkeit. Seine Gesten sind schwer und müde geworden. Er gähnt oft und wacht eigentlich nur auf, wenn das Gespräch vorübergehend einmal auf Frauen kommt, dann ist er wieder der Alte. Erzählt spaßhafte und kaum glaubliche Geschichten, reißt Witze, trinkt ...
»Wirklich, Dickmann, glauben Sie mir: Sie tun besser, wenn Sie so weiter leben, wie Sie es gewohnt sind. Die Merkwürdigkeit dieser Zeit, von der Sie jetzt so häufig sprechen, ist nichts für Sie. Lassen Sie diese Zeit zufrieden. Es kommt doch nichts dabei heraus, wenn Sie darüber nachdenken.«
»Aber irgend etwas muß doch geschehen ...«
»Pst!« Donath hebt beschwörend beide Handflächen. »Was denn! Was soll denn geschehen? Was geht Sie denn das an? Schade um Sie, Dickmann, früher waren Sie in Ihrer freundlichen Rückständigkeit für mich ein ästhetischer Genuß, jetzt fangen Sie auch schon an, genau so tierisch ernst und tatendurstig zu werden wie alle, die von dieser Zeit angefressen sind. Etwas geschehen! Lächerlich!«
So geht es wirklich nicht. Dickmann glaubt, sich lange genug mit so freundlichen Unverbindlichkeiten beruhigt zu haben. Er will wissen. Übrigens ist das alles nicht so wichtig. Wenn doch alles beim Alten geblieben ist, wenn das Fundament der Rechtsprechung noch nicht durch Humanitätsduselei und schlechtes Gewissen unterminiert ist, dann ist ja alles gut.
Gut? Wieso? Warum spricht man dann soviel von der Humanisierung der Rechtspflege? Warum jagt eine Reformverordnung die andere, wenn doch alles schließlich beim Alten bleibt?
»... der ganze moderne Strafvollzug ist eine große Heuchelei ... Nervenzusammenbrüche und Tobsuchtsanfälle sind an der Tagesordnung, aber alle beteiligten Instanzen sind in der Regel so abgestumpft, daß sie davon nicht im geringsten berührt werden.«
Diesen Satz liest Dickmann in der Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes, und wenn er gerade an diesem Tage nicht den Staatsanwalt Dr. Rodebach getroffen hätte, dann hätte er sich damit begnügt, diesen Satz für eine sinnlose Übertreibung, für eine gewissenlose Hetze zu halten.
So aber bleibt der Staatsanwalt plötzlich auf dem Korridor des Gerichts stehen und sieht Dickmann aufmerksam an. Dickmann geht auf ihn zu, lächelt erfreut und will ihm die Hand geben. Da erst erkennt Rodebach ihn: »Richtig, Dickmann ist das. Der junge Mann mit der Skrupelsucht. Wie geht's denn? Immerhin einige Jahre her, seit wir zusammen gearbeitet haben.«
Dickmann hört, Rodebach sei schon seit drei Jahren Direktor einer großen Strafanstalt in der Nähe Berlins, und er findet an dieser Karriere nichts Bemerkenswertes. Nach der Meinung aller deutschen Justizministerien eignen sich gerade ehemalige Staatsanwälte vorzüglich zu dem Posten eines Strafanstaltsdirektors.
Wie es Rodebach geht? Ausgezeichnet. Er hat sein kleines Häuschen außerhalb der Anstaltsmauern, seinen großen Garten, der Gefängnisarzt und der Pfarrer sind reizende Leute, der eine ein guter Geigenspieler, der andere ein großartiger Cellist, man spielt Trios ... Obwohl der ehemalige Staatsanwaltschaftsrat Dr. Rodebach etwas älter geworden ist, findet Dickmann an ihm doch die alte Eleganz und die fröhliche Überlegenheit wieder, die früher dem jungen Referendar imponiert haben. Vielleicht könnte man ...
»Sagen Sie«, Dickmann ist sehr verlegen. »Ich habe mich eigentlich noch nie mit dem modernen Strafvollzug beschäftigt. Könnte ich Sie wohl einmal sprechen?«
Selbstverständlich kann Dickmann das. Die beiden Herren werden nachher Kaffee trinken. Dickmann kann fragen, soviel er will. Rodebach freut sich sogar darüber. Findet man ja selten bei Richtern, dieses Interesse am Strafvollzug ...
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Dickmann hätte Donaths Rat befolgt? Rodebach spricht mit lächelndem Munde – gelegentlich einen Witz einfügend – Dinge aus, die Dickmann erschüttern. Und das Unverständlichste und Erschütterndste ist, daß Rodebach zufrieden ist, ausgeglichen, fröhlich. Daß ihn sein Wissen nicht belastet.
»Entzug der Freiheit? Lieber Freund, wenn das alles wäre, dann wäre das Gefängnis in der Tat ein besseres Sanatorium. Aber man nimmt dem Gefangenen ja nicht die Freiheit allein, man nimmt ihm die Sprache, den Schlaf, die Gesundheit, das Sonnenlicht und noch einiges mehr. Ne, ne, Sie können den Strafvollzugsbehörden wirklich nicht übertriebene Humanitätsduselei vorwerfen. Es bleibt auch beim modernsten Strafvollzug immer noch genug übrig, um dem Gefangenen das Leben schwer zu machen ...«
Man nimmt dem Gefangenen die Sprache? Freilich, – die ersten drei Monate einer Gefängnisstrafe müssen in Einzelhaft verbracht werden. Der Gefangene darf nur kurze militärische Meldungen an den Gefangenenaufseher richten, auch während des halbstündigen Spaziergangs im Hof ist ihm das Sprechen verboten.
Die Sonne, die Gesundheit? Natürlich: die Zellenfenster sind so gebaut, daß die Sonne nicht in die Zelle hineinscheinen kann. Es gibt da Blechblenden, die das ganze Fenster verdecken und nur oben zwei Handbreit offen lassen. Gesund ist das natürlich nicht. Die Luft in der Zelle ist dumpf. Die zu längeren Strafen Verurteilten werden lungenleidend. Ob viele daran sterben? Rodebach lächelt. Nein, nach den Statistiken der preußischen Strafanstalten stirbt kein einziger Gefangener an Tuberkulose. Von den dreihundertzwanzigtausend Menschen, die alljährlich durch die Gefängnisse des Freistaats Preußen wandern, nicht ein einziger. Kein Strafanstaltsdirektor verdirbt sich leichtsinnig die schöne Gesundheitsstatistik seiner Anstalt. Lungenkranke Gefangene sterben in der Freiheit. Man entläßt sie eben rechtzeitig ...
»Und dann das Essen. Gewiß, – es ist gut und schmackhaft, aber eigentlich nie genug. Es stimmt schon, wenn man sagt, daß im Gefängnis sechs Tage in der Woche gehungert wird. Nur am Sonntag gibt es satt zu essen. Gewichtsabnahmen bei Gefangenen bis zu einem Sechstel des Gesamtgewichts gelten nicht als Krankheit und berechtigen nicht zum Empfang von Krankenkost. Nee, lieber Freund, Sie dürfen sich das Gefängnis wirklich nicht als Sanatorium vorstellen.«
Wie es mit der Arbeit ist? Selbstverständlich, jeder Gefangene muß arbeiten, und zwar schwer. Auch das Tütenkleben ist eine schwere Arbeit. Der Gefangene macht dabei in neun Stunden alle zwei Sekunden einen Handgriff. Das Arbeitspensum ist so berechnet, daß es gerade Zeit zum Luftholen läßt. Wenn ein Mann sein Pensum nicht schafft, dann wird er bestraft. Oh, da gibt es mancherlei Mittel. Man kann ihm für drei Tage das warme Essen entziehen, man kann ihm das Bett aus der Zelle nehmen und ihn nachts auf dem Steinboden schlafen lassen. Nein, es gibt schon genug Disziplinarmittel. Jawohl, der Strafanstaltsleiter ist einzig und allein befugt, über solche Strafen zu bestimmen. Berufungsmöglichkeiten gibt es nicht.
In jeder Zelle des Gefängnisses hängt eine gedruckte Hausordnung: »Gesundheit und Arbeitskraft des Gefangenen dürfen nicht geschädigt werden.« Aber Gesundheit und Arbeitskraft sind ja relative Begriffe. Was dem einen eine Kleinigkeit ist, das ist für den anderen der Anlaß zum Ausbruch des Wahnsinns.
»Na, wissen Sie nun genug?«
Dickmann muß sich erst einen Augenblick besinnen. Das alles ist ihm so fremd und neu. »Dann sind doch eigentlich die Strafen der Gerichte im allgemeinen zu hoch? Man weiß doch gar nicht, was das heißt: zehn Monate Gefängnis, zum Beispiel.«
»Ja, lieber Freund, das geht uns dann nichts mehr an. Vielleicht sind sie zu hoch, vielleicht auch nicht. Ich bin nur ausführendes Organ. Wenn ein Mensch zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt ist, dann sperre ich ihn eben zehn Monate ein. Da kann ich nichts bei machen. Und im übrigen soll die Strafe ja auch eine Strafe sein. Sehen Sie, wenn man einem Kind zur Strafe den Hintern vollhaut, dann ist es noch lange kein Argument gegen die Prügelstrafe, daß Prügel weh tun. Nicht wahr? Also!«
Es macht Dr. Rodebach offensichtlich Freude, dem jungen Landgerichtsrat Rede und Antwort zu stehen. Er hat auf jede Frage eine überzeugende Antwort parat, und wenn man ihn reden hört, dann gibt es im modernen Strafvollzug eigentlich überhaupt keine Probleme; oder jedenfalls nicht die Probleme, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden.
»Strafvollzug in Stufen? Ziemlich verfahrene Geschichte, mir machts 'nen Haufen Arbeit und Scherereien, und der Effekt ist gleich null. Gewiß, – die schweren Jungen können mancherlei Vergünstigungen erhalten. Aber doch erst nach Verbüßung von neun Monaten. Und die meisten, vor allem die erstmalig Bestraften, haben von diesem Stufensystem überhaupt nichts, weil die erste Strafe im allgemeinen doch gering ist.«
Besserung, Erziehung als Strafzweck?
Rodebach lächelt mild: »Ich habe da zwei Leute, die aus Hunger einen Raubüberfall verübt haben. Bisher unbestraft, verurteilt zu vier Jahren Gefängnis. Wozu soll ich die Leute nun erziehen, was? Die beiden Burschen sind ganz patente Kerle, aber sie haben eben Hunger gehabt. Wenn sie nun entlassen werden und trotz aller Erziehung in der Strafanstalt wieder Hunger bekommen, was dann? Zu Hungerkünstlern kann ich sie nicht erziehen. Oder: bei mir sitzen ein paar Kommunisten, verurteilt wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Wozu soll ich die Leute erziehen? Zu Deutschnationalen? Oder genügt es, wenn sie als Sozialdemokraten die Anstalt verlassen? Hahaha!«
Dickmann bleibt ernst, er möchte noch mehr wissen. Das kann nicht alles sein. Rodebach zerschlägt ihm ja das kunstvolle Gebäude seiner Rechtsauffassung!
»Ja, aber warum ...«
»Warum es dann überhaupt Gefängnisse gibt, wollen Sie vielleicht fragen«, unterbricht ihn Rodebach. Er legt sich in seinem Stuhl zurück und spricht ernsthaft und überlegen: »Sehen Sie, ich bin Rationalist, wie Sie sich vielleicht noch erinnern werden. Für mich ist das gesamte Strafrecht nichts als eine Frage der reinen Zweckmäßigkeit. Man will die Gesellschaft vor den asozialen Elementen schützen, und man schützt sie am besten dadurch, daß man diese Asozialen einsperrt. Wenigstens in der Zeit ihrer Strafhaft können sie der Gesellschaft nicht gefährlich werden. Das ist für mein Empfinden alles. Das übrige, der ethische Ballast, mit dem unsere Rechtsprechung belastet ist, – das ist eine andere Frage.«
Dickmann fragt zurück: »Und wie lösen Sie die?«
»Ein heikles Thema«, sagt Rodebach kopfwiegend. »Wenn man die ethische Basis unseres Strafrechts aufheben wollte, dann würden Zweckmäßigkeitsfragen automatisch die Frage nach der Intaktheit dieser Gesellschaft nach sich ziehen müssen. Wenn man sich nicht auf ein übergeordnetes ethisches Prinzip zurückziehen kann; wenn man straft und richtet, wie es zweckmäßig erscheint, dann ist die gesamte Rechtspflege in Gefahr. Nun ist von dem Glauben an diese ethischen Prinzipien unserer Zeit nicht viel übrig geblieben, aber man tut weiterhin so, als hätte man diesen Glauben noch, und daher rührt letzten Endes die ganze Problematik unserer Justiz. Ob man da mit juristischen Mitteln abhelfen kann?«
»Aber es kann doch nicht ewig so weitergehen! Es muß doch etwas geschehen!«
»Ganz im Gegenteil, mein Bester! Nichts darf geschehen. Nehmen Sie einen Stein da heraus, und der ganze Laden kracht zusammen. Deshalb halte ich diese ganze Reformiererei auch für groben Unfug. Aber lassen wir das. Wie geht es Ihnen denn sonst? Ihr Herr Vater ist tot, habe ich gehört? Untersuchungsrichter? Soso, interessante Arbeit, nicht wahr?« Rodebach ist nicht zu fassen. Dickmann möchte so gern mehr von ihm hören. Aber Rodebach spricht jetzt von gleichgültigen Dingen, und Dickmann wagt nicht mehr, ihn auf das andere Thema zurückzubringen.
Nur einmal noch sagt Rodebach wie nebenbei: »Sehen Sie, unser Strafgesetz stammt aus einer Zeit unerhörten wirtschaftlichen Aufschwungs. Das Fundament hat sich aber in den letzten Jahren so erheblich verändert, daß sich fortlaufend die schwersten Widersprüche ergeben müssen. Drum sage ich auch immer: Legalität, nicht Moralität. Na, sollen die da oben sehen, wie sie den Karren weiter schieben.«
Der Strafanstaltsdirektor Dr. Rodebach will gar nicht wissen, was er tut. Er hat den Glauben an die ethischen Prinzipien der Gerechtigkeit gar nicht nötig. Er ist ein fleißiger, tüchtiger Beamter, der sich streng nach den Bestimmungen der Gesetze richtet. Ob diese Gesetze gesund sind, – ist es seine Sache, das zu entscheiden? Er handelt eben danach.
Und Dickmann? Kann er sich mit dieser Beamtenphilosophie begnügen? Wird er endlich begreifen, daß es zwecklos ist, über Dinge nachzudenken, an denen doch nichts zu ändern ist?