Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Recht und Gerechtigkeit

Der Student der Rechte Friedrich Wilhelm Dickmann hat ein schwarzes Wachstuchheft vor sich liegen und schreibt mit seiner unausgeschriebenen Handschrift fieberhaft nach, was der Professor auf dem Katheder vorträgt.

Er braucht sich dabei nicht sehr zu beeilen, denn der Professor hält seine Vorlesung über »Einfache Rechtsbegriffe« für etwas sehr Wichtiges. Er spricht ganz langsam, damit seinen Hörern ja kein Wort entgeht. Mit taktierenden Bewegungen eines gichtgekrümmten Zeigefingers unterstreicht er seine Worte und wiederholt des besseren Verständnisses wegen diesen oder jenen Satz noch einmal.

»Ein Rechtssatz knüpft an einen Tatbestand eine Rechtsfolge an.« Dickmann schreibt und findet, der Satz sei klar und verständlich. Nicht so der Professor, denn ungeklärt sind die Fragen, was denn nun ein Tatbestand sei und was eine Rechtsfolge.

Der Zeigefinger sticht in die Luft: »Der Tatbestand besteht in einem Vorgang, der sich an einem gegebenen Zustand abspielt.«

Dickmann schreibt, und die Stimme des Professors schwillt an: »Er setzt sich zusammen aus einer Mehrheit von Tatsachen, den Tatbestandselementen, Tat-bestands-e-le-men-ten, die teils Vorgänge, teils hingegen Zustände sind.«

Dickmann schnauft leise. Jetzt hebt der Professor beide Zeigefinger und dämpft seine Stimme zu geheimnisvollem Flüstern: »Die rechtserheblichen Tatsachen zerfallen in rechtserhebliche Zustände, Rechtszustände, und rechtserhebliche Vorgänge, Rechtsvorgänge.«

Nein, der Professor gibt nicht nach. Noch lange nicht haben seine Hörer den Satz verstanden, den er vor fünf Minuten geäußert hat. Seine Stimme erhebt sich triumphal. Die ungeheure Schwierigkeit der Materie und die Schärfe der eigenen Definitionen begeistern den alten Mann: »Zu den Rechtszuständen gehören insbesondere die Rechtsverhältnisse, zu den Rechtsvorgängen die Rechtsgeschäfte.«

Dickmann schreibt, hoffnungslos und mit qualvoll gefurchter Stirn. Der Professor aber endet milde und glücklich: »Die Rechtsfolge besteht meist in Entstehung, Endigung oder Änderung eines Rechtsverhältnisses.«

So still ist es im Hörsaal, daß man das Zischeln der Federn und Bleistifte auf dem Papier der Kolleghefte hören kann. Hundert junge Menschen verschlingen automatenhaft die Worte des Professors und glauben sich alsdann im Besitz einer juristischen Offenbarung. Hundert junge Gehirne werden von der Terminologie erfaßt, von dem unerhörten Genuß, so schwierige und so gewaltige Dinge denken und aussprechen zu dürfen wie »Rechtsfolge«, »Tatbestandsmerkmale« oder »Rechtsvorgänge«. Und hinter dem dicken Nebel fremdartiger Begriffe ist längst die Einsicht in die einfache Tatsache verschwunden, daß ein Gesetz Vorschriften aufstellt, die befolgt werden müssen. Denn nichts anderes hat der Professor ja gesagt.

»Es bleibt nun also lediglich noch zu klären, was wir unter Entstehung, Endigung oder Änderung eines Rechtsverhältnisses zu verstehen haben. Römisch Eins ... Römisch Zwei ...«

Der Professor redet und redet, aber der Student der Rechte Friedrich Wilhelm Dickmann schreibt nicht mehr mit. Er hat den Faden längst verloren.

Dickmanns erstes Zusammentreffen mit der Gerechtigkeit endet in trübem Stumpfsinn. Gerechtigkeit? Oder Rechtswissenschaft? Oder Gesetz? Dickmann weiß nicht mehr die Unterschiede, die zwischen diesen Begriffen doch bestehen müssen. Er klammert sich an die Gerechtigkeit, eine große und heilige Sache. Eine Selbstverständlichkeit außerdem. Und die Rechtswissenschaft ist dazu da, die mannigfaltigen Beziehungen der Menschen untereinander auf eine gerechte und anständige Weise zu regeln. Das ist alles. Oder: es sollte alles sein.

Friedrich Wilhelm Dickmann ist unzufrieden mit seinem Leben. Daß er jetzt in Jena Student ist, hätte er sich noch vor einigen Monaten nicht träumen lassen. Aber eines Tages kam er aus dem Weltkrieg nach Hause wie von einem Sonntagsausflug in den Grunewald. Nichts weiter als ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren. Ohne Portepee und Kokarde. Ein Leutnant a. D. des Dragonerregiments Kaiser. Ein Nichts. Einfach ein junger Mann, der Sohn des Landgerichtsdirektors Dickmann in Berlin.

Quälende Wochen, Mißmut und stumpfes Hindämmern. Dem Leutnant Dickman ist mit der Revolution mehr zusammengebrochen als eine Staatsform, er hat mehr verloren als einen Krieg. Sein ganzes Leben ist sinnlos geworden. Man lebt und weiß nicht mehr, wozu. Man steht morgens auf, trinkt schlechten Kaffee und fühlt nichts außer einem dumpfen und unbestimmbaren Druck im Gehirn. Was nun?

Und immer ist da in unendlichen Wiederholungen der Fluch und die nüchterne Feststellung, der Rachewunsch und die Sehnsucht: »Wenn es nach Recht und Gerechtigkeit ginge ...«

Wenn es nach Recht und Gerechtigkeit ginge, dann ritte der Leutnant Dickmann jetzt an der Spitze des zweiten Zugs dritter Eskadron Dragonerregiments Kaiser, das Eisen des Pallaschs schlüge klappend an die Steigbügel, schwarz-weiße Fähnchen flatterten von den Lanzenspitzen, und vorn an der Tête des Regiments spielte schmetternde Musik den Finnländischen Reitermarsch. Wenn es nach Recht und Gerechtigkeit ginge, dann säßen die Novemberverbrecher jetzt nicht im Königlichen Schloß und zerfetzten die seidenen Sessel mit ihren plumpen Messern, an denen noch der Speck vom Frühstück klebt. Nein, sie ständen, armselige, kleine Schacher, vor dem Richtertisch des Landgerichtsdirektors Dickmann und brächen zusammen unter seiner strafenden und zürnenden Stimme.

Gerechtigkeit!

Es ist so klar und einfach: was jetzt geschieht, ist bitteres, blutiges Unrecht, die strahlende Vergangenheit war das goldene Zeitalter der Gerechtigkeit.

Eines Tages ist dann der Leutnant Friedrich Wilhelm Dickmann nach Jena gefahren und hat sich in der Universität als Studierender der Rechtswissenschaft immatrikulieren lassen. Er will Richter werden, will helfen, die Beziehungen der Menschen untereinander auf eine anständige und gerechte Weise zu regeln.

Dickmann steht in der Universitätsbibliothek und hat ein dickes Buch in der Hand, in dem er mißtrauisch herumblättert. Das Bürgerliche Gesetzbuch. Das ist also die Summe der Rechtsnormen, die in der deutschen Republik das Leben der Menschen regeln sollen. 2385 Paragraphen. Zweitausenddreihundertfünfundachtzig! Allgemeiner Teil, Recht der Schuldverhältnisse, Sachenrecht, Familienrecht, Erbrecht ...

Kleinlaut klappt Dickmann das dicke Buch zu.

Dann schweift sein Blick über die Titel auf den Buchrücken, die zu Tausenden in den Regalen stehen. Sein Kopf wird heiß. Mein Gott, was sind die zweitausenddreihundertfünfundachtzig Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches gegenüber diesem Dschungel von Verordnungen, von Gesetzbüchern, Einführungsgesetzen, Kommentaren!

Dickmann liest erschüttert: Strafgesetzbuch, Strafprozeßordnung, Zivilprozeßordnung, Gesetz über Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, Gerichtsverfassungsgesetz, Gerichtskostengesetz, Grundbuchordnung, Konkursordnung, Handelsgesetzbuch, Börsengesetz, Bankgesetz ...

Wie kompliziert doch die Beziehungen der Menschen zueinander sind!

Und zu jedem einzelnen Gesetzbuch gibt es Kommentare. Dutzende von Kommentaren. Dicke Bücher, die den Umfang des erläuterten Gesetzes um ein Vielfaches übertreffen. Es gibt die unübersehbare Menge der verwaltungsrechtlichen Verordnungen und der Steuergesetze, die Gewerbeordnung, das Haftpflichtgesetz, Maß- und Gewichtsordnung, Kraftverkehrsgesetz.

Dickmanns Augen schweifen weiter: Gesetz über den Absatz von Kalisalzen, Rechtsanwaltsordnung, Geschäftsaufsicht zur Abwendung des Konkursverfahrens, Kaufmannsgerichtsgesetz, Gewerbegerichtsgesetz ... Da steht noch ein schmaler Band. Dickmann nimmt ihn aus dem Regal: »Hauptmängel und Gewährfristen beim Viehhandel (Viehmängelordnung)« ...

Er stellt den Band resigniert beiseite und seufzt. Wer soll sich in diesem Wirrwarr zurechtfinden! Und da – und da: meterlange Reihen von gleicheingebundenen Büchern: Entscheidungen höchster Gerichte in Strafsachen, in Zivilsachen. Hundert Bände Entscheidungen des Reichsgerichts! Und das alles muß man kennen, denn auch die höchstrichterlichen Entscheidungen haben eine Art von Gesetzescharakter.

Dickmann schlägt einen Band auf: Reichsgerichtsentscheidungen in Strafsachen. Er liest die fettgedruckten Titel, die anzeigen, welche schwierige und prinzipiell wichtige Rechtsfrage in dem darunter abgedruckten Urteil endgültig und für alle Zeiten geklärt worden ist: »Kann im Falle fraudulöser Vermögensverschiebung dem Erwerber eine Zwangsvollstreckung aus dem Anfechtungsanspruch des verletzten Gläubigers bereits drohen, bevor dessen Forderung fällig, ein vollstreckbarer Schuldtitel über sie erwirkt oder die Anfechtung erklärt worden ist?«

Was mag das heißen? Oder dies hier: »Begründet die viehseuchenpolizeiliche Anordnung, daß Pferde an bestimmten Grenzeingangsstellen zur Untersuchung zu stellen sind, eine Einfuhrbeschränkung oder ein Einfuhrverbot?«

Dickmann sieht sich scheu um, ob ihn vielleicht jemand bei seiner Lektüre beobachtet. Dann stellt er den Band beiseite und verläßt schnell das Bibliotheksgebäude. Ein tiefes Mißtrauen gegen die Gerechtigkeit erfüllt ihn. Jeder Mensch weiß doch genau, was gerecht und billig ist, warum dann diese Unzahl von Gesetzen?

An jenem Tage, da er sich dazu entschloß, Rechtswissenschaft zu studieren und Richter zu werden, sah alles viel einfacher und selbstverständlicher aus. Dickmann weiß es noch wie heute. Sein Vater erhielt den Besuch seines Landgerichtspräsidenten, weil er nach der Revolution nicht wieder ins Gericht gegangen war. »Ich diene diesem Staat von Verbrechern nicht!« hatte er immer und immer wieder gesagt.

Und nun hört der junge Dickmann aus dem Nebenzimmer die milde und überzeugende Stimme des Präsidenten: »Lieber Herr Kollege! Das Vaterland braucht in dieser schweren Zeit jeden einzelnen Mann. Sie wollen mich doch nicht meines treuesten und bewährtesten Mitarbeiters berauben? Daß unser Vaterland jetzt von Verbrechern regiert wird, die hinter Schloß und Riegel gehörten, wenn es nach Recht und Gerechtigkeit ginge, – lassen wir das. Es werden wieder andere Zeiten kommen. Das Reich wird einst zu alter Größe und Schönheit erstehen ... äh, sich erheben wie ein Phönix aus der Asche. Dann wird man Rechenschaft verlangen. Und Sie wollen murrend und untätig abseits stehen?«

Man hört immer nur die sanfte, ölige Stimme des Präsidenten, die manchmal zu energischer und herzlicher Wärme anschwillt. Der Landgerichtsdirektor schweigt.

»Und dann denken Sie bitte auch an Eines, verehrter Herr Kollege: wir, wir preußischen Richter, sind jetzt dazu berufen, gewissermaßen den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht zu bilden. Bedenken Sie, ich habe schon wieder die ersten Termine in Strafsachen ansetzen können! Die Herren Ihrer Kammer warten auf Sie. Alles ist bereit. Recht muß doch Recht bleiben, Herr Kollege, und wir sind seine Hüter. Das Vaterland wird es uns noch einmal danken, was wir in dieser schwersten Zeit für die sittliche Gesundung unseres armen, verirrten Volkes getan haben. Wir wollen und müssen Dämme bauen gegen die Schlammflut des Unglaubens und der Ungerechtigkeit. Wir tragen auf unseren Schultern die letzten Stützen des alten Reichs. Gott der Herr möge uns Kraft geben, daß wir nicht unter dieser Last zusammenbrechen. Es ist eines jeden Gewissenspflicht, mitzuarbeiten an der herrlichen Aufgabe, daß der alte Spruch wieder Wahrheit werde:

»Ein Gott, ein Kaiser und ein Reich,
Ein deutsches Recht, für alle gleich!«

Landgerichtsdirektor Dickmann steht wie ein Baum. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Er streckt dem Präsidenten die Hand hin und sagt stark und freudig: »Herr Präsident, ich komme!«

Der junge Dickmann fröstelt vor Ergriffenheit. Aus dem unteren Stockwerk tönt Klavierspiel. Die vierzehnjährige Tochter des Obersten von Krause übt ein vaterländisches Lied. Sie spielt schlecht und laut. Aber Dickmann dröhnt die Melodie wie Donner des Gerichts in den Ohren: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?«

Kurz darauf steht er vor seinem Vater: »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich Jura studieren.«

Landgerichtsdirektor Dickmann erhebt sich, legt seinem Sohn schwer die Hand auf die Schulter und sagt ergriffen: »Gott befohlen, mein Sohn.«

Ja, so ist Dickmann zu dem Entschluß gekommen, Rechtswissenschaft zu studieren. So einfach war das alles noch vor wenigen Wochen ... Vielleicht muß man sich an die Gerechtigkeit erst gewöhnen? Vielleicht muß man törichte und kindische Vorstellungen in sich ersticken, um wirklich zu wissen, was Recht und Gerechtigkeit ist?

Friedrich Wilhelm Dickmann ist ein gründlicher Mensch. Das liegt ihm im Blut. Er kann sich nicht einfach über alle diese Dinge hinwegsetzen. Pandekten, Digesten, Novellen, die ganze Römische Rechtsgeschichte, der ungeheure Wissensstoff, der täglich auf ihn einstürmt, und den er in sich aufnehmen soll, – all das verwirrt ihn. Er findet sich nicht mehr zurecht. Gerechtigkeit?

Manchmal muß der junge Student lächeln, wenn er etwa daran denkt, daß er sich als Kind unter der Gerechtigkeit immer einen hochgewachsenen älteren Herrn mit kurzgehaltenem Vollbart vorgestellt hat, der jeden Sonntag in die Kirche geht und am Sedanstag und zu Kaisers Geburtstag den Frack anzieht, unter dessen Revers die geliebten Orden klirren: Landgerichtsdirektor Dickmann ...

Im übrigen aber ist Dickmann Angehöriger des Corps Markomannia Jena. Das gehört sich so. Das Altherrenband eines deutschen Corps ist in Deutschland immer noch die beste Garantie für eine reibungslose Karriere gewesen. Warum sollte es in der Republik anders sein? Nächstens wird Dickmann seine erste Mensur fechten. Das ist jetzt wichtiger als alles andere ...

Im »Schwarzen Bär« in Lobeda ist Hochbetrieb. Im großen Tanzsaal hat man ein großes Stück grauer Teerpappe ausgebreitet, Sägemehl, zwei Stühle. Ein scharfer Jodgeruch mischt sich mit dem Qualm der Zigaretten und den Ausdünstungen unausgeschlafener Menschen: die Corps von Jena haben Mensurtag.

Es liegt etwas Besonderes in der Luft. Die korrekten, kalten Gesichter der Corpsburschen verbergen nur unvollkommen eine gewisse Erregung. Die Füchse diskutieren eifriger als sonst. Ein Westfale und ein Thüringer haben sich in betrunkenem Zustand des Nachts auf dem Marktplatz geprügelt. Nun wollen sie die Schmach der »tätlichen Beleidigung« mit Blut sühnen: eine schwere Säbelmensur.

Die beiden Paukanten erscheinen. Nackt bis zum Brustbein, Binden um Hals und Handgelenk, die Fechtbrille vor den Augen, ein kreisrundes dickes Leder auf dem Herzen, um tödliche Säbelhiebe nach Möglichkeit zu verhindern.

Sie stehen sich gegenüber. Ein Sekundant lüftet die Drahtmaske und schnarrt vorschriftsmäßig seinen Spruch: »Herr Unparteiischer, wir bitten um Silentium für die Austragung einer schweren Partie Säbel auf die Dauer von fünfzehn Minuten, gegebenenfalls bis zur Abfuhr, zwischen Herrn von Schnurbein und Herrn Borgmeyer.«

Der junge Unparteiische – seine Augen sind klein vor Müdigkeit, und er hat augenscheinlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten – hebt kaum den Kopf: »Bevor ich die Partie freigebe, mache ich die Herren Paukanten darauf aufmerksam, daß sie im Begriff stehen, eine im Sinne des Strafgesetzbuchs strafbare Handlung zu begehen. Ich fordere sie daher auf, sich zu versöhnen.« Ohne Pause weiter: »Ich konstatiere, daß mein ernstgemeinter Versöhnungsversuch gescheitert ist und gebe die Partie frei.«

Dickmann hört ehrfurchtsvoll die durch jahrzehntelanges Herkommen geheiligten Formeln. Ihre Bedeutung versteht er nicht. Er wird nachher seinen Leibburschen danach fragen ...

Dumpfe Schläge klatschen auf die Bandagen, hellere auf den bloßen Körper. Geklirr, Kommandorufe, die Sekundanten fallen ein.

»Herr Unparteiischer, wurde drüben der dritte Hieb ausgelassen?« »Kann ich nicht entscheiden.« – Geklirr, Kommandos. »Herr Unparteiischer, drüben vor los?« – »Jawohl.« – Sehr höflich, wie um Entschuldigung bittend: »Ich bitte, das zu monieren.«

Feierlich wie die Zelebrierung einer uralten Kulthandlung rollt die Mensur ab. Zwischenrufe der Sekundanten. Knappe Entscheidungen des Unparteiischen. Der Paukarzt tupft mit einem Wattebausch auf blutenden Wunden herum. Blut sickert über die Binden, färbt das helle Fleisch der bloßen Brust rot, sammelt sich in den Falten des Bauchschurzes ...

»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!« Herrn Borgmeyer hat es erwischt; ein feiner roter Strich verbindet sein linkes Schlüsselbein mit der rechten Brustwarze: Bruststreicher. Die Wundränder klappen auf einmal breit auseinander. Stoßweise rinnt das Blut.

»Silentium! Herr Borgmeyer erklärt die Abfuhr. Es wurden sieben Minuten gepaukt. Silentium ex! Mensur ex!«

Stimmengeschwirr. Borgmeyer verliert bedenklich viel Blut. Aus dem Flickzimmer dringt sein verhaltenes Stöhnen. Mit zwanzig Nadelstichen näht der Paukarzt die Wunde zu, ermuntert seinen Patienten: »Na wat denn! Hast tadellos gestanden! Nu mach man keine Geschichten. Is ja alles in Ordnung. Kannst später mal mit deinem Schmiß vor deiner Frau paradieren. Wunderbarer Ehebettrenommierer, dieser Bruststreicher ...«

Dickmann geht mit seinen Korpsbrüdern von Wittig und Franke nach Winzerla zur Haltestelle der Straßenbahn. Von Wittig verbreitet sich sachgemäß über die Mensur.

In Dickmanns Gehirn hat sich eine Frage verfangen, die er loswerden muß: »Du, was ist das eigentlich mit der Strafbarkeit der Säbelmensur?« fragt er verlegen. Wittig fühlt sich juristisch angeregt: »Das ist eine ziemlich blödsinnige Sache. Paragraph 202 Strafgesetzbuch. Zweikampf mit tödlichen Waffen. Festung bis zu zwei Jahren. Wenn sowas zur Anzeige kommt, werden die Paukanten unbedingt bestraft. Der Unparteiische auch. Aber wenn er nachweisen kann, daß er sich ernsthaft um die Verhinderung des Zweikampfs bemüht hat, bleibt er straflos.«

Darum also die formelhaften Redewendungen, die Dickmann vorhin erstaunt haben: »... ich konstatiere, daß mein ernsthaft gemeinter Versöhnungsversuch gescheitert ist ...«

»Kommt denn sowas überhaupt zur Anzeige?«

Von Wittig lacht: »Manchmal schon. Die Staatsanwaltschaft ist ja natürlich verpflichtet, jeder Anzeige einer strafbaren Handlung nachzugehen. Aber die Leute hätten ja viel zu tun, wenn sie sich um die Mensuren kümmern wollten. Sieh mal, jedes Kind in Jena weiß, daß die Corps im ›Schwarzen Bären‹ in Lobeda fechten. Die Polizisten sehen ja häufig genug zu. Ich habe noch nie erlebt, daß einmal ein Mensurtag von der Polizei unterbrochen worden ist. Wäre ja auch noch schöner. So ein Staatsanwalt wäre ja für sein ganzes Leben unmöglich.«

Franke und Dickmann hören aufmerksam zu. Auch Franke studiert Jura. Er lächelt amüsiert: »Also eigentlich, wenn man sich's recht überlegt, macht sich jeder Staatsanwalt eines Amtsverbrechens schuldig, wenn er von seiner Kenntnis einer bevorstehenden Mensur keinen Gebrauch macht?«

Von Wittig lächelt vergnügt: »Selbstverständlich! Stell' dir vor, was das für ein Unsinn ist.«

Dickmann lächelt nicht. Hier muß doch irgendwo ein ganz prinzipieller Unterschied sein, den er nicht versteht. Die Mensur ist eine strafbare Handlung, gut. Das ist zwar blödsinnig, aber es steht im Strafgesetzbuch, und die Gerichtsbehörden haben sich damit abzufinden. Ein Staatsanwalt, der eine strafbare Handlung nicht verfolgt, macht sich selbst strafbar, und trotzdem? Ein Richter, der selbst Mensuren gefochten hat, soll eine Mensur bestrafen? Unmöglich. Aber dann müßte man das ganze Gesetz abschaffen, sonst gäbe es doch zweierlei Recht? Kann man Wittig danach fragen?

Dickmann ist sehr beunruhigt, darum gibt er seiner Stimme einen forschen, unbekümmerten Klang, wie er Wittig fragt: »Sag' mal, wie verträgt sich die Haltung der Gerichte eigentlich mit der allgemein anerkannten Gleichheit vor dem Gesetz?«

Von Wittig und Franke fassen die Frage Gott sei Dank als guten Witz auf, – sie lachen herzlich, und Dickmann stimmt laut in dies Gelächter ein.

Wittig doziert spaßhaft: »Gleichheit vor dem Gesetz? Blödsinn. Dann würde also Herr Borgmeyer oder Herr von Schnurbein jedem Lausejungen gleich zu achten sein, der silberne Löffel stiehlt oder Blutschande treibt, was? Ne, mein Lieber, die Sache ist ganz anders: es gibt Menschen, die sind dem Gesetz untertan. Das Gesetz ist für sie da und gegen sie, und das geht in Ordnung. Dann gibt es aber auch Menschen, die wenden das Gesetz an. Die müssen sich natürlich von den anderen irgendwie unterscheiden, sonst könnten sie am Ende von einem Polizisten mit einem Lausejungen verwechselt werden. Das Unterscheidungsmerkmal sind eben die Schmisse. Und ihr tut gut daran, daß ihr auch bald auf Mensur kommt, damit ihr vor derartigen peinlichen Verwechslungen geschützt seid.«

Alle drei lachen. Dickmann am lautesten ...

Und wie er dann bald selbst bandagiert und bebrillt, den ungefügen Korbschläger mit den blau-silber-schwarzen Farben des Corps in der Hand, auf Mensur steht, da denkt er weder an die Ungleichheit vor dem Gesetz noch an irgend etwas anderes als daran, seinem Gegner die scharfe dünne Klinge durchs Gesicht zu ziehen. Besinnungslos und doch sauber und korrekt schlägt er die Hiebe, die man ihm auf dem Paukboden beigebracht hat: Terz, Quart, Hochterz, Tiefquart. Fühlt manchmal flache Schläge dumpf auf seine Backen klatschen, warmes weiches Rieseln und wacht erst auf, wie er den Unparteiischen sagen hört: »Es wurde ausgepaukt. Mensur ex, Silentium ex!«

Seine ersten Schmisse führt er stolz spazieren. Den Sarkasmus Wittigs hat er längst vergessen. Dickmann ist zweiundzwanzig Jahre alt, Corpsstudent in Jena, und das Leben ist schön ...

In dieser Zeit lernt Dickmann Lenchen Flöter kennen, und damit erfüllt sich eine Schuld, die das Leben an ihn hat. Dumpfe Tage, rotwirbelnde Nächte, eine süße Müdigkeit in den Gliedern und im Kopf nichts als warme und zärtliche Gedanken an ein kleines, sehr zierliches Mädchen mit rotblonden Haaren und einer Nase, die sich ganz wenig aufwärts biegt.

Friedrich Wilhelm Dickmann ist glücklich. Manchmal bedauert er sich nachträglich, daß er dieses unwahrscheinliche Maß von Glückseligkeit nicht schon früher erfahren hat: die harmlose und lasterhafte Liebe eines kleinen Bürgermädchens von achtzehn Jahren.

Dickmann weiß nicht viel von Frauen. Und das Wenige, was er von ihnen erfahren hat, war eher Leid als Lust. Einmal – sein Regiment war gerade von Rußland nach Frankreich gekommen –, da ging der Leutnant Dickmann auf der Rückreise vom Urlaub durch die Straßen Kölns. Das kalte Grauen saß ihm im Rücken, und sein Blick war stier und brennend auf die Köstlichkeiten des Lebens gerichtet, fraß sich ein in die Gestalten von Frauen und Mädchen, klammerte sich an jedes gütige Gesicht. Er hätte weinen mögen vor lauter Verlassenheit und Todesangst. Ja, damals geschah es. Sommer 1916. Eine schlanke Frau, vornehm, zärtlich. Wein im Domhotel. Fiebernder Gang durch abendliche Straßen, eine schöne Wohnung, ein Bett. Damals geschah das Entsetzliche: daß die Frau plötzlich nach unendlichen Umarmungen aufschrie, ihn aus irren Augen anstierte, schluchzte, brüllte, ihn anfiel wie ein wildes Tier. Und dieser Name, der sich fluchend und bebend von ihren zerbissenen Lippen rang, war nicht derjenige Friedrich Wilhelm Dickmanns: »Lothar! Lothar! Komm wieder! Ah du! ...«

Eine Kriegerwitwe. Lothar war schon lange nichts mehr als ein feuchter Fleck im dunklen Humusboden Nordfrankreichs. Und wie von Furien gepeitscht floh der Leutnant Dickmann aus dem Hause, durch die Straßen, hinter ihm der würgende Schatten des Toten und vor ihm die graue Nacht und die kalte Angst.

Ja, das war das Schlimmste. Schlimmer als jene Nacht im Offizierspuff von Valenciennes. Das Dragonerregiment Kaiser in Ruhe. Sekt, süßlich duftendes Weiberfleisch. Die Offiziere betrunken. Gekreisch, Klavierspiel, eine magere Frau, die ihn mit dünnen, gierigen Armen umfängt. Rittmeister Baron Ralstow mit der Ziehharmonika neben dem Bett: »Wir winden dir den Jungfernkranz.« Gelächter, Zoten, bleierner Schlaf, endloses Erbrechen. Vier Wochen Lazarettbehandlung: Gonorrhoe. Das schleimige Grinsen des Oberstleutnants, bei dem sich Dickmann aus dem Lazarett zurückmeldete ... Aber der Schrei der Kriegerwitwe war schlimmer.

Und nun ist Friedrich Wilhelm Dickmann wunschlos glücklich. Lenchen Flöter, ein kleines Bürgermädchen! Sie spricht nicht richtig deutsch. Ihre Füße sind nicht so ganz sauber. Der Vater ist Werkstattschreiber in den Zeiß-Werken.

Er hat sie auf dem Tanzboden in Lobeda kennen gelernt. Es gibt hier anscheinend keine sozialen Unterschiede: Studenten, Arbeiter, Landwirte aus der Umgebung. Arbeiterinnen, Bardamen, kleine Angestellte. Der Saal ist gedrängt voll. Neben dem Corpsstudenten sitzt der Zeißarbeiter. Der eine hat einen Schmiß, der andere nicht. Das ist der ganze Unterschied zwischen ihnen. Dieselbe Art, wie sie die schweißige Hand am Rücken ihrer Tänzerin hinuntergleiten lassen. Die gleichen Tanzschritte, das gleiche, halb freche, halb verlegene Grinsen, mit dem sie törichte Worte auf kleine Mädchen einreden, die sich bedingungslos anschmiegen an die pralle Kraft der Schultern und Schenkel. Sie wollen ja alle dasselbe.

Dickmann verabschiedet sich von seinen Corpsbrüdern. Weise ruft ihm eine Zote zu. Graf Westernkirch tanzt mit einer unwahrscheinlich dicken Bauerntochter. Vielleicht erinnert sie ihn an die Mägde auf dem väterlichen Gut.

Dickmann geht mit Lenchen nach der Stadt zurück. Arm in Arm. Er erzählt ihr Witze, ihre Schulter drängt sich unter seinen Arm. Ihr Lachen klingt so kindlich. Sie laufen durch Wiesen, singen blöde Schlagerlieder: »Einen neuen Kinderwagen kauft ich mir, alles wegen dir, alles wegen dir ...«

Beim Abschied küßt er sie und fühlt nichts von dem Schauer, der über ihre Glieder läuft. Er geht pfeifend und summend nach Hause. Am nächsten Sonntag ist wieder Tanz in Lobeda ...

Wieder dieser nächtliche Weg an der blinkenden Saale. Dickmann ist sehr still. Er atmet gepreßt.

»Bist du eigentlich krank?« fragt Lenchen mit kindlicher Stimme.

»Nein, wieso?«

»Du brauchst es mir ja nicht zu sagen.«

»Wie kommst du denn darauf?«

Lenchen schlägt nicht die Augen nieder. Sie verzieht nur ein wenig den Mund, sonst ist sie ruhig wie nur je: »Weil du garnicht mit mir schlafen willst.«

Dickmann nimmt sie. Ein Bahndamm ist da irgendwo. Fünf Minuten vor der Stadt. Man sieht schon die Gaslaternen. Der Leutnant a. D. und Student der Rechte Dickmann vom Corps Markomannia Jena. An der Böschung eines Bahndamms. Wie ein Landstreicher.

Dickmann ist von Lenchen berauscht. Er ist sehr zärtlich, sehr weich. Er möchte seinen Kopf an ihre Brust legen, die Augen schließen ...

Das geht natürlich nicht. Zusammennehmen! Donnerwetter, ein kleines Mädchen, achtzehn Jahre, spricht nicht richtig Deutsch, – Dickmann bringt sie nach Hause. Lenchen sagt kein Wort. Manchmal sieht sie ihn scheu von unten an oder streichelt schüchtern seine Hand.

Dickmann wischt sich mit dem Handrücken die Lippen und strafft seine Armmuskeln. Er ist sehr groß, sehr stark. Er ist sehr freundlich, und es ist sehr nett von ihm, wenn er sich jetzt zu ihr niederbeugt, sie flüchtig unter einer Straßenlaterne küßt, »Kleinchen« zu ihr sagt und »Mausi«.

Tage folgen, an denen Dickmann strahlender Laune ist. Verschwiegene Abende auf seiner Bude. Abendessen zu zweit. Der Räucheraal liegt im Pergamentpapier. Sie trinken Likör aus Wassergläsern. Diese langen Nächte! Lenchen hängt mit bewundernden Augen an seinen Lippen. Ist mit allem zufrieden. Plättet ihm seine Krawatten. Manchmal, wenn er Kneipe hat, schleicht sie sich an das Markomannenhaus heran, und am nächsten Tag erzählt sie ihm, was für Lieder sie da gesungen haben, und wie deutlich man seine Stimme herausgehört hat.

Dickmann ist oft sehr gerührt über Lenchen. Er möchte eigentlich noch viel netter zu ihr sein, ganz anders. Aber jedesmal, wenn er fühlt, wie in seinem Inneren eine verborgene Tür aufzubrechen droht, verschließt sich sein Mund, und seine Liebkosungen werden feindselig: Haltung bewahren! Zwischen einem Dickmann und der Tochter eines Schreibers gibt es doch immerhin eine Distanz, die auch im Bett gewahrt bleiben muß. Nach einer durchwühlten Nacht ärgert sich Dickmann oft: Kraftverschwendung, Zeitvergeudung. Es gibt soviel andere Dinge, an die man jetzt denken muß: drüben in Weimar dieser schändliche Kuhhandel um die Reichsverfassung. Die Novemberverbrecher, die alten Reichsfarben, – es ist eine schwere Zeit. Auf der Kneipe singen sie jetzt ein neues Lied. Nach der Melodie: »Stimmt an mit hellem, hohen Klang«. Irgend jemand hat es aus Berlin mitgebracht. Sie singen es zornig bewegt, einmal, viermal, obgleich das Lied nur einen Vers hat: »Von unsrer Fahne schwarz-weiß-rot, da nahmen sie uns das Weiße und wischten sich den Arsch damit. Jetzt haben wir schwarz-rot-scheiße.«

Ja, es ist wirklich nicht schön in Deutschland. Und da läßt man sich von einem kleinen Mädel unterkriegen. Dickmann ärgert sich über das, was er seine Schwäche nennt: Lenchen braucht ihn nur aus ihren feuchten blauen Augen so von unten herauf anzusehen, und alle seine guten Vorsätze gehen zum Teufel.

Nur, daß Lenchen so garkeinen Takt hat: diese widerwärtigen physiologischen Schweinereien! Daß sie nicht merkt, wenn Dickmann keine Lust auf sie hat. Daß sie immer da ist. Demütig, freundlich. Wie ein kleines Tier, das man anlockt und streichelt. Langweilige Geschichte!

Dickmann gähnt: »So nun geh man wieder, Kleinchen. Morgen hab' ich keine Zeit. Corpsbesuch. Der Alte Herr Detleffsen ist da. Kannst ja übermorgen mal vor der Haustür pfeifen. N'Abend ...«

Man braucht sich nicht anzustrengen. Lenchen kommt ja doch wieder, pfeift jeden Abend vor Dickmanns Haus mit komisch gespitztem Munde den Pfiff des Corps und lacht über das ganze Gesicht, wenn Dickmann zu Hause ist und sie heraufwinkt.

Vier Wochen nach jenem wilden Abend an der Böschung des Bahndamms erschrickt Dickmann plötzlich aufrichtig: er hat an diesem Abend nichts vor. Eigentlich hat er sich mit Lenchen verabredet, aber er ist faul und müde, sitzt auf der Veranda des Corpshauses und sieht gedankenlos und wohlig in den sinkenden Abend. Dann spielt er mit Franke und Westernkirch eine Partie Billard.

Das geschieht jetzt öfter. Dickmann merkt es garnicht. Immer häufiger kommt jetzt etwas dazwischen, und immer öfter pfeift Lenchen vergebens vor seinem Hause. Dickmann hat sie herzlich gern, ganz gewiß! Aber er hat doch schließlich auch noch andere Sachen zu tun. Nächstens wird er seine Burschenpartie fechten. Nach der Fechtstunde ist er immer sehr müde. Und außerdem hat er jetzt eigentlich erst entdeckt, was für reizende Leute seine Confüchse sind. Er spielt mit ihnen Karten, reitet ins Saaletal, spielt vormittags Klavier im Corpshaus. Es ist wirklich nicht seine Schuld, wenn er immer seltener an Lenchen denkt und sie sich immer seltener ins Bett wünscht.

Das Sommersemester nähert sich seinem Ende. Dickmann weiß schon, daß er Mittwoch über acht Tage nach Hause in die Ferien fahren wird. An diesem Abend geschieht es zum ersten Mal, daß Lenchen, auf Dickmanns Schoß sitzend, plötzlich in ein hemmungsloses Schluchzen ausbricht. Dickmann ist peinlich berührt. Es liegt doch garnichts vor. Warum hat er sich denn das Mädel so! Er weiß nicht recht, wie er sich mit einer weinenden Frau zu benehmen hat. Erst klopft er ihr den Rücken, wie man einem Pferd den Hals tätschelt, und murmelt gedankenlos die alten Kavalleristensprüche, mit denen man aufgeregte Tiere beruhigt: er pfeift leise durch die Zähne, sagt »Ola«, »Ts, ts, ts, gutes Tierchen!«

Aber Lenchen schluchzt und schluchzt. Zwischen zwei jähen Tränenströmen schluckt sie hoch: »Sei nicht böse, aber ich bin so traurig.« Aber Dickmann wird doch böse. Erst versucht er noch, sie zu beruhigen, dann schimpft er: »Nun hör' doch schon auf mit dem blöden Geflenne!« Und wie Lenchen erschrocken zu weinen aufhört, hält ihr Dickmann eine sehr ernste und sehr vernünftige Rede:

»Wir wollen doch einmal grundlegend Klarheit schaffen zwischen uns, nicht wahr? Ich bin für reinliche Verhältnisse, Kleinchen. Du bist ein guter Kerl, und ich habe dich sehr gern. Ganz bestimmt, hab' ich. Aber du mußt doch verstehen! Das Corps, mein Studium! Es kann nicht immer so weiter gehen, daß wir Tag für Tag zusammen sind. Wir müssen ein bißchen vernünftig sein. Das verstehst du doch, nicht wahr? Na also, bist ja mein gutes Mausi.«

Lenchen lächelt unter Tränen. Und wie sie in Dickmanns Arm einschläft, spricht sie leise im Schlaf, und Dickmann versteht »... ja auch ganz vernünftig sein ...«

Dann sehen sie sich ein paar Tage lang nicht. Dickmann hat noch hin und wieder den bekannten Pfiff unter seinem Fenster gehört, aber sich nicht gemeldet. Drei Tage vor seiner Abreise in die Ferien fängt ihn Lenchen spät abends auf dem Weg vom Corpshaus zu seiner Wohnung ab. Diekmann sieht auch im unbestimmten Licht der Straßenlaternen, wie blaß sie ist. »Ich muß dir etwas sagen«, flüstert sie und weint.

Dickmann hört ihr zu und pfeift leise durch die Zähne. »Verflucht noch mal!« schimpft er und fährt sich nervös durch die Haare. »Das ist ja weiß Gott eine schöne Überraschung, ja. Eine reizende Überraschung, wie gesagt. Verflucht noch mal.«

Lenchen sieht ihn flehend an: »Was soll ich nun bloß machen?«

Dickmann weiß es auch nicht. Aber er ist ein anständiger Mensch. Schließlich auch seine Schuld. Bitte, nicht ausschließlich! – Aber immerhin ist er mitschuldig an diesem Malheur. Da muß natürlich etwas geschehen. Er wird sich der Sache annehmen. Wozu hat man einen Corpsbruder, der Mediziner im neunten Semester ist. Schütze wird das schon machen. Verdammt peinlich, ihn um so prekäre Sachen zu bitten ... Dickmann streicht Lenchen beruhigend über das Haar: »Laß man gut sein, das werden wir schon kriegen. Komm man morgen abend zu mir.«

Dickmann schläft die Nacht nicht gut. Er wiederholt sich immer wieder die Rede, mit der er morgen seinen Corpsbruder Schütze davon überzeugen wird, daß es einfach seine Pflicht ist, ihm zu helfen ...

Wie er dann vor Schütze steht, ist er doch viel verlegener, als er gedacht hat: »Du hör' mal, ich habe da eine sehr ... also eine Bitte an dich oder vielmehr eine Frage.«

Schütze schweigt.

»Also ich habe da Pech gehabt. Oder vielmehr ein kleines Mädel von mir ...«

Schütze fuchtelt mit beiden Händen in der Luft herum: »Mensch, hör' bloß auf! Immer der alte Dreck. Laß mich bloß damit zufrieden!«

Dickmann schweigt konsterniert. Schütze fragt begütigend: »Was is'n das für ne Toppsau, was?«

»Erlaube mal ...«

»Also schön: keine Toppsau. Natürlich ein hochanständiges Mädchen. Jungfrau und so. Pastorentochter, wie?«

»Ihr Vater ist Angestellter bei Zeiß,« sagt Dickmann kleinlaut.

Schütze macht ein Gesicht wie ein weiser Priester: »Sieh mal, lieber Freund, ich bin so immerhin einige sechs Jahre älter als du, du kannst ruhig noch etwas von mir lernen. Ich habe mir an solchen Weibergeschichten schon mal verdammt die Finger verbrannt. Halte mich da jetzt ganz raus. Ich würde natürlich zur Verfügung stehen, wenn, sagen wir mal, durch diesen Unglücksfall irgendeine Katastrophe verhindert werden könnte. Aber du siehst doch wohl ein bißchen zu schwarz. Was ist denn nun wirklich schon dabei, wenn so ein Mädel ein uneheliches Kind kriegt? Ihr meßt da immer mit falschen Maßstäben. Gewiß, wenn es deine Schwester wäre, – aber so? Kommt doch in Jena alle Tage vor! Passiert garnischt weiter. Der Alte wird dem Mädel ordentlich den Hintern vollhauen, und damit ist die Sache erledigt. Paß mal auf, nach ein, zwei Jahren reißen sich die ältesten Tanten der Familie danach, den kleenen Dickmann auf den Topf setzen zu dürfen. Ist in diesen Kreisen immer so: erst großes Zetergeschrei und nachher ist garnichts gewesen. Ne, mein Lieber, du kannst billigerweise von mir nicht verlangen, daß ich mir um sowas Läuse in den Pelz setzen soll.«

Schütze redet väterlich und vernünftig. Dickmann braucht sich wirklich keine unnötigen Gedanken zu machen. Ist das Mädchen vielleicht etwa Jungfrau gewesen, als er sie kennen lernte? Na also! Hat sie denn nicht schon früher Liebschaften mit Studenten gehabt? Ist Dickmann überhaupt der Vater des Kindes?

Ein anständiger Mensch ist er: die Beweisführung Schützes scheint ihm etwas zu schlüssig, um einwandfrei zu sein. Dickmann hat die Pflicht, Lenchen zu helfen. Gewiß, – aber recht hat Schütze ja eigentlich. Du lieber Gott, ein kleines Bürgermädchen, das auf dem Tanzboden in Lobeda verkehrt. Im Grunde durch und durch verdorben. Sie hat sich ihm ja doch selbst an den Hals geworfen. War ja ganz nett, die Kleine. Aber auf die Dauer doch ein bißchen langweilig. Und überhaupt: wohin soll das führen ...

Dickmann schweigt. Schütze klopft ihm väterlich auf die Schulter: »Also mach' dir man keine Kopfschmerzen. Laß die Kleine ruhig das Kind austragen. Um die Alimente machst du dir ja wohl keine Sorgen, wie? Kommt für dich hier ja garnicht in Frage ...«

Dieses Gespräch begibt sich kurz vor dem gemeinsamen Mittagessen. Letzter Tag vor den Ferien. Von Wittig sagt deshalb beim Mittagessen »schweren Ferienton« an, jeder von den wohlerzogenen Corpsstudenten kann sich heute benehmen, wie er will.

Man kommt aus dem Lachen nicht heraus. Holtgrave hat eine unnachahmliche Fähigkeit, rollend und dröhnend zu rülpsen. Westernkirch greift mit beiden Fäusten in die Suppenschüssel und fischt sich die Würstchen heraus. Kramer gießt seinem Nebenmann ein Glas Bier auf den Teller. Mitten in das Gemüse. Dickmann hat über alledem keine Zeit, an Lenchen zu denken.

Kaffeetrinken, Schnaps, Likör, Skatspiel, abends Semesterschlußkneipe ... Gegen zwölf Uhr nachts läutet es schüchtern an der Tür des Markomannenhauses. Der Corpsdiener sieht ein kleines, blondes Fräulein, das ihn mit entsetzten Augen nach Herrn Dickmann fragt. Aus dem Kneipzimmer dröhnt das Hämmern eines Klaviers, Gesang, Gejohle.

Der Corpsdiener zuckt die Achseln, dann lacht er mitleidig: »Laß man, Kleinchen, das hat gar keinen Zweck, daß ich dir den Dickmann runterrufe. Der Junge liegt schon seit ner guten Stunde in der Leichenkammer. Blau wie eine Radehacke. Geh' man nach Hause, Kindchen. Komm man morgen Abend wieder, ja?«

Das Mädchen dreht sich langsam um. Der Corpsdiener sieht noch, daß sie vorm Gartentor ihr Taschentuch vor das Gesicht preßt und haltlos schluchzt. Er kratzt sich nachdenklich den Kopf. Kann das Mädel gut verstehen: morgen fangen die Ferien an, der junge Herr fährt nach Hause, und wer weiß, wie es im nächsten Semester aussieht. Na, wird sich schon trösten, die Kleine.

Dickmann packt seine Koffer. In zwei Stunden geht der Zug. Er hat heftige Kopfschmerzen. Sorgen hat er außerdem. Er wird den alten Herrn bitten müssen, im nächsten Semester seinen Wechsel zu erhöhen. Ganz ausgeschlossen, daß er mit achthundert Mark im Monat auskommen kann.

Wie der Gepäckträger kommt, seinen Koffer abzuholen, fällt ihm Lenchen Flöter noch einmal ein. Donnerwetter ja. Freilich, freilich: Schütze hat recht. Was geht ihn das Ganze eigentlich an? Es wäre ja immerhin ganz gut gewesen, wenn Schütze die kleine Operation vorgenommen hätte. Aber was nicht ist, ist nicht.

Er fährt mit von Wittig und Franke zusammen nach Berlin. Der Zug setzt sich in Bewegung. Dickmann steht gedankenlos am Fenster. Ihm ist, als sähe er hinten an der Bahnsteigsperre einen rotblonden Lockenkopf. Dieses rotgeblümte Kleid kommt ihm auch merkwürdig bekannt vor. Unsinn! Dickmann wendet sich rasch in das Abteil zurück: »Kommt ihr mit in den Speisewagen?« fragt er seine beiden Corpsbrüder.

Die Passagiere des D-Zuges München-Berlin blicken freundlich auf die drei großen, elegant gekleideten jungen Herren, sehen die Schmisse in ihren Gesichtern, die geleerten Bierflaschen auf dem Tisch und lächeln nachsichtig, wenn sich an jenem Tisch ein Gelächter nach dem anderen erhebt: »Gott ja, – junge Leute ...«

Drei Wochen kann Dickmann nur in Berlin bleiben. Er muß trotz der Ferien wieder nach Jena zurück, denn für Kriegsteilnehmer werden Zwischensemester abgehalten. Obwohl Dickmann erst zu Anfang des Jahres sein Studium begonnen hat, geht er nun schon in sein drittes Semester. In anderthalb Jahren kann er sein Examen machen.

Er hat in den kurzen drei Wochen in Berlin soviel erlebt, daß er kaum an Lenchen Flöter denken konnte. Nun ist er in Jena, leise Erinnerungen tauchen auf, werden stärker, – und eines Sonntagabends fährt er nach Lobeda zum Tanz.

Er sieht sich in dem gefüllten Saal um und wird unruhig: Lenchen ist nicht hier. Also entweder liebt sie ihn noch so, daß sie ohne ihn nicht zum Tanz geht. Das sähe ihr sehr ähnlich. Oder, – oder die dumme Sache ist doch nicht in Ordnung gekommen, wie er es immer gehofft hat.

Endlich trifft er im Gewühl der Tanzenden die dicke Frieda, die er öfter mit Lenchen zusammen gesehen hat. Gleichgültige Begrüßung, unter der er eine aufkeimende Angst zu verstecken sucht: »Wo ist denn eigentlich Lenchen?«

Frieda sieht ihn erstaunt an: »Das wissen Sie am Ende noch gar nicht?«

Dickmann wird nervös: »Nun sagen Sie doch schon ...«

»Lenchen, die is doch gestorben! Ja. Und das wissen Sie nich? Sagen Sie mal! Die is doch gestorben, nich? An Blutvergiftung, ja. Schon vor vierzehn Tagen ...«

Blutvergiftung, Blutvergiftung, – natürlich, man kann an Blutvergiftung sehr leicht sterben. Ganz tückische Sache: man schneidet sich da in den Finger, kaum zu sehen, die Hand schwillt an, der Arm. Das geht dann sehr schnell ... Lenchen ist an Blutvergiftung gestorben. Schlimm, schlimm. Armes Mädel.

Und während die Musik lärmend und gellend einen neuen Tanz beginnt, steht Dickmann mitten im Saal und stottert gedankenlos: »So so, an Blutvergiftung ...«

Frieda zieht ihn beiseite. Ihr breites Gesicht glänzt vor Tanzschweiß und Geheimnis: »Wissen Sie, was is los gewesen? Die is anjebufft geworden, und da hat sie wohl keinen gefunden, der's ihr weggebracht hat, und da hat sie's selbst gemacht. Ja, und denn hat sie Blutvergiftung gekriegt und ist gestorben. In zwei Tagen lebendig und tot ...«

Das Leben ist schwer, das Leben ist sinnlos. Geheimnisse liegen in der warmen Luft. Wie der Mond glänzt.

Die dunkle Silhouette der Berge, fern die schlafende Stadt. Dickmann schwankt im Gehen. Vielleicht kommt es vom vielen Schnaps. Und Lenchen ist tot. An Blutvergiftung gestorben. »Und die Nacht hat dein Angesicht, und der Wind, der von Liebe spricht, hat dein unvergeßliches Lachen.« Von Hermann Hesse ist das. Sehr schön.

»Ausgeschlossen!« sagt Dickmann plötzlich laut. Er ist ganz allein auf den Saalewiesen. Die hohen Pappeln rauschen. »Ausgeschlossen!« sagt er noch einmal, und dann bleibt er stehen. Wer hat hier gesprochen? Dickmann ist nicht schuld, ausgeschlossen! Das Leben ist schwer, das Leben ist sinnlos. Muß so ein armes, kleines Mädel sterben, ja. Und Dickmann hat nun kein Lenchen mehr. Ganz allein ist Dickmann, steht in tiefster Nacht einsam zwischen Fluß und Berg und denkt an die tote Geliebte. Rechtet und hadert mit dem finsteren, grausamen Geschick.

Vielleicht kommt es doch vom Schnaps? »Haltung! Haltung!« kommandiert er sich. »Nicht schlapp machen! Sich nicht unterkriegen lassen vom Schicksal! Fortiter in modo, suaviter in re! Blau-silber-schwarz. Haltung bewahren! Ein alter Soldat! Corpsstudent!«

Der Feldweg ist schmal. Der Fuß stolpert über Feldsteine. Haltung! Haltung! Aber dann ist es auf einmal vorbei: Dickmanns Augen weiten sich vor Entsetzen. Ein Schatten ist da vor ihm: weiche Konturen, der Bahndamm, Lenchen, Blutvergiftung, Tod, Schuld, Schicksal, – Dickmann stürzt wimmernd an der Böschung nieder. Seine Hände krampfen sich in das dürre Gras. Wie arm er ist! Wie schlecht es ihm geht!

»Lenchen! Lenchen!«

Aber der Name der Toten ist nichts als eine schützende Hülle, die sich weich und dicht über Schuld und Erkenntnis legt. So dicht, daß sie ersticken.

Dickmann erhebt sich bald wieder und trocknet seine Tränen. Und vielleicht war das Weinen nur dazu da, die entschlossene und männliche Haltung doppelt groß und heroisch erscheinen zu lassen, mit der er jetzt seiner Wohnung zugeht ...

Einmal nur noch, nach Wochen, taucht Lenchen aus dem Schutt der Erinnerung auf: bei einer Kneipe legt Dickmann den Kopf auf den Tisch und schluchzt. Von Wittig, der morgen endlich sein Assessorexamen machen will, nimmt sich seiner an:

Abgesehen von allem anderen: wir wollen sachlich bleiben. Dickmann muß sich klar darüber sein, daß er sich in dem Konflikt der Pflichten, in den ihn der kleine Unglücksfall gestürzt hat, völlig richtig benommen hat. Es gibt da ein Gesetz, das die Abtreibung verbietet, auch die Beihilfe dazu ist strafbar. Dickmann will einmal deutscher Richter werden. Das Gesetz über alles! Es ist manchmal schwer, das Gesetz zu befolgen, aber die erhabene Größe einer bindenden Rechtsvorschrift duldet kein müßiges Räsonnieren. Jede Schuld erfordert ihre Sühne. Im Grunde kann Dickmann froh sein, daß alles so gekommen ist. Er hätte sich sonst vielleicht sein ganzes Leben mit der Erinnerung an einen Rechtsbruch quälen müssen.

So redet von Wittig, und Dickmann hört ihm mit ernstem Gesicht zu. Im ungewissen Nebel von Selbstbedauern und Betrunkenheit erscheint er sich selbst bald als ein schlichter und männlicher Märtyrer der Gerechtigkeit.

Dickmann wird erster Chargierter des Corps Markomannia. Auf der Kneipe steht er mit gewinkelten Füßen vor dem großen Lehnstuhl des Präsiden, schlägt mit dem Schläger auf den Tisch und achtet peinlich auf die strikte Durchführung der geheiligten Trinkvorschriften: »Ad exercitium salamandri ... eins, zwei, drei.« »Füchse hoch mit einem Ganzen!« »Wir haben heute die Ehre, den Herrn Vertreter eines hohen C. C. des Corps Masovia in unserer Mitte zu sehen. Wir hoffen und wünschen ...« »Alter Herr Graf Bork, darf ich mir ganz gehorsamst einen Ganzen auf dein Spezielles gestatten?« »Danke sehr, ehrt kolossal, sehr zum Wohle, prost!« »Wir singen pagina 343 ›O wonnevolle Jugendzeit‹. Silentium für das Lied!«

Dickmann kommt in diesem Semester nicht viel in die Universität. Die Hauptsache ist, daß man sich rechtzeitig bei Semesterbeginn in der Quästur der Universität einfindet, seine Kollegiengelder bezahlt und dafür sorgt, daß die Professoren den Besuch der belegten Vorlesungen durch ihr Testat bestätigen. Man braucht dazu nicht selbst ins Kolleg zu gehen. Man schickt zweckmäßig einen jungen Fuchs hin, und der freut sich über die Ehre, dem gefürchteten »Ersten« einen Gefallen tun zu dürfen.

Dickmann ist sehr beliebt im Corps. Kein Spielverderber. Macht jeden Unsinn mit, wenn er sich nur mit seiner hohen Stellung als erster Chargierter verträgt. Das ist im einzelnen nicht so leicht zu entscheiden, denn er trägt ja die Verantwortung nicht nur für sich und seine Corpsbrüder. Nein, auch für die Generationen alter Markomannen, für jene Ministerialdirektoren, Senatspräsidenten, Landräte, Syndici und Rittergutsbesitzer, in deren Herrenzimmer über dem Schreibtisch eine blaue Mütze, das blau-silber-schwarze Band und zwei gekreuzte Schläger hängen.

Die Tradition des deutschen Corps lastet auf Dickmanns Schultern, und er trägt diese Last freudig und bewußt.

Lenchen Flöter? Dickmann lächelt ruhig: man darf sich vom Leben nicht unterkriegen lassen. Über solche Dinge muß man hinwegkommen. Mit der Gerechtigkeit ist nicht zu spaßen, sie ist heilig und groß. Es ist verboten, die Frucht im Mutterleibe zu töten, so steht es im Gesetz, und da hat man nicht zu fragen und zu räsonnieren.

Die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit beginnen sich bei Dickmann zu klären. Zum mindesten verlieren sie ihr Gewicht. Dickmann hat den jähen Sturz von der Höhe seines Daseins als preußischer Kavallerieoffizier in die Bedeutungslosigkeit eines einfachen jungen Mannes aus gutem Hause jetzt überwunden. Er hat gelernt, daß er umgeben und eingeordnet ist in eine Schar ernstzunehmender Menschen, auf die es ankommt, und die schließlich einmal Deutschlands Schicksal bestimmen werden. Er hat gelernt, daß er auch noch als Leutnant a. D. eine soziale Größe ist, mit der gerechnet werden muß ...

So findet ihn der Kapp-Putsch am 13. März 1920 auf dem Platz, auf den er gehört. Sein Corpsbruder von Schweina kommt aufgeregt in sein Zimmer gestürzt: »Los! Uniform einpacken! Wir fahren nach Erfurt.«

Dort ist das Studentencorps der Marburger Universität eingetroffen, um Ruhe und Ordnung in Thüringen wiederherzustellen. Tausend Akademiker, fast alles ehemalige Offiziere. Freilich: Ruhe und Ordnung sind in Thüringen gar nicht erschüttert worden, aber wer fragt danach? Dickmann nicht. Er packt seine Uniform in den Koffer und meldet sich in Erfurt bei dem Kommandeur des Freikorps, stolz und freudig. Denn Dickmann will sein Teil beitragen zur Errettung Deutschlands von der Herrschaft der Novemberverbrecher.

Dickmann marschiert in Reih und Glied. Links und rechts neben ihm gehen deutsche Männer, zu allem entschlossen und bereit.

Prachtvolle Leute sind die Marburger Kommilitonen. Kerle, mit denen man den Teufel aus der Hölle holen kann. Man braucht garnichts zu reden. Es versteht sich alles von selbst. Es gibt keinen Bolschewismus, wo das Studentencorps marschiert. Brausendes Leben! Wirbelndes Geschehen. Man kommt gar nicht zur Besinnung. »Soldatenleben, ei, das heißt lustig sein ...«

Die Landstraße von Gotha nach Eisenach. Wundervolle Landschaft im ersten Frühlingslicht. Lieder, Lachen. Es geht nach Gotha, Ordnung schaffen. Kommandant: Fregattenkapitän von Selchow. Kompagnieführer: Kamerad Goebel, wie Dickmann Leutnant a. D. und Student der Rechte.

Plötzlich huscht der Schatten eines Geheimnisses über die marschierende Kolonne hin. Irgendeine Anzeige: Spartakisten sollen verhaftet werden. Abseits von der Straße, in Bad Thal, erscheinen Truppen. Der Führer hat eine Liste in der Hand. Wo er sie her hat, – kein Mensch weiß es. Das ist auch nicht so wichtig. Die Hauptsache sind die fünfzehn Namen, die auf diesem Blatt Papier verzeichnet sind. Die Namen von fünfzehn Arbeitern, Spartakisten, Rotarmisten. Was sie getan haben sollen, – kein Mensch weiß es. Aber das ist auch nicht so wichtig. Befehl zur Verhaftung liegt vor: man muß gehorchen. Und man gehorcht so gern.

Weinende Frauen, schreiende Kinder. Schwere Hand auf die Schulter: »Verhaftet!« Da hat man sie. Fünfzehn Arbeiter, Männer, Jünglinge. Die einen sehen ganz sympathisch aus. Die anderen erkennt man gleich an der schlechten Kleidung, an den dunklen Augen, Gott weiß woran noch, als Spartakisten, rote Hunde. Ab mit ihnen. In die Mitte genommen. Sollen nach Gotha gebracht werden.

Weinende Frauen und Kinder: »Schnauze halten!«

Fünfzehn Mann. Man hat sie. Die Herren Kommilitonen beschimpfen sie, treten ihnen mit Nagelstiefeln ins Gesäß: Spartakisten, Verbrecher!

Es geht alles so rasend schnell. Heute Morgen noch in Erfurt. Jetzt Nachtquartier in einem Dorf: Settelstedt. Die Gefangenen ins Spritzenhaus. Befehl des Kapitäns von Selchow: »... mache darauf aufmerksam, daß rücksichtslos auf fliehende Gefangene geschossen wird!«

Diese Bande da! Fünfzehn Mann. »Aufpassen auf die Schweine!«

Unruhige Nacht. Posten schreiten klappend durch stille Straßen. In den Quartieren wird getrunken. Man hat Gefangene gemacht. Schade, daß das Standrecht aufgehoben ist. Man muß diese Strolche an die ordentlichen Gerichte abliefern, muß denen die Untersuchung überlassen. Schande so was! Daß man sich mit diesen Burschen rumquälen muß, auch noch aufpassen auf sie. Wie haben es die Spartakusleute in Berlin gemacht?

»Haben Sie nicht gelesen? Sechzig Schupobeamte in Lichtenberg abgeschlachtet!« Jede Kugel ist zu schade für diese Leute ...

Fünfzehn Gefangene im Spritzenhaus. Rotgardisten!

Morgennebel. Man friert. Auf sieben Uhr früh ist der Abmarsch befohlen. In Richtung Mechterstedt. »Aufpassen auf die Gefangenen!«

Da ist ein Flüstern, ein Getuschel, ein Lächeln. Befehle. »Gefangene zur sechsten Kompanie!« Die marschiert ganz am Ende der Kolonne. Führer ist Kamerad Goebel. Er hat eben einen Gefangenen in den Arsch getreten Man hört sein Schimpfen und Fluchen bis hierher: »Ihr Lumpen! Totschlagen müßte man euch!«

Die Landstraße von Eisenach nach Gotha am Morgen des 25. März 1920. Zwischen Settelstedt und Mechterstedt. Dickmann marschiert. Seine rechte Hand ist in den Riemen des Karabiners gehakt.

Krachen. Eine Salve. Schuß! Schuß! Geschrei. Von hinten kommt ein Mann an der Kolonne vorbei gelaufen. Brüllt irgendetwas: »Hinten lassen sie die Gefangenen von der Straße treten und erschießen sie!« Rotgardisten! Verbrecher!

Man muß dabei sein. Zwei, fünf, zehn laufen zurück. Eine Straßenbiegung. Schatten im Nebel. Dickmanns Fuß stößt an etwas Weiches: ein Körper. Blut bespritzt seinen Schuh.

Immer noch Schüsse!

Da steht ein Gefangener, beide Hände abwehrend nach vorn gestreckt, Handflächen nach außen. Steht ganz allein. Abseits, links der Straße feldgraue Gestalten. Gewehrschlösser schnappen.

Der Mann auf der Straße! Hoch das Gewehr. Sicherungsflügel herum, Vollkorn! Langsam durch bis zum Druckpunkt, – Schuß! Der Mann fällt.

Dickmann wacht auf. Gestalten rennen an ihm vorbei. »Los weiter! Nicht stehen bleiben! Anschluß nach vorn nehmen!« Kurzer Trab, dann die marschierende Kolonne ...

Um sieben Uhr war man von Settelstedt abmarschiert. Um acht Uhr marschiert eine andere Kompanie des Studentencorps auf der Landstraße von Settelstedt nach Mechterstedt. Sind komische Leute, diese Studenten. Vorn an der Spitze flattert eine schwarz-rot-goldene Fahne. Nennen sich Republikaner, wollen die Republik retten. Ihr Führer ist ein Universitätsprofessor. Professor der Theologie. Außerdem Hauptmann der Reserve.

Ein Schrei. »Tote!«

Dunkle Flecke auf dem Schotter der Chaussee. Da, hier, da ... Sechs, acht, zwölf, fünfzehn!! Schüsse in Kopf, Brust, Bauch. Mancher Körper von Kugeln zerfetzt. Einschußöffnungen sitzen vorn!

Schweigen. Entsetzte Blicke. Das heißt Mord. Mord an fünfzehn wehrlosen Arbeitern. Kein Mensch weiß, was sie getan haben.

Der Theologieprofessor spricht stockend. »Untersuchung ... Die Ehre nicht nur der Marburger, sondern der gesamten deutschen Studentenschaft. Unschuldiges Blut ...«

Dickmann steht auf einer Straße und steckt sich eine Zigarette an. Eine scheue Stimme: »Verzeihung, Herr Kamerad, Sie haben doch vorhin auch geschossen?«

Hat Dickmann geschossen? Er schweigt einen Augenblick: »Geschossen? Ja, – ich glaube wenigstens ...«

»Es ist nur, ich meine für den Fall einer Untersuchung, – Sie haben ja wohl auch, – Fluchtversuch ...«

Dickmann nickt. Ja natürlich, Fluchtversuch. Sah so aus, als ob der Mann weglaufen wollte. Stand ja schon ganz allein auf der Straße. Richtig, da hat er geschossen. Vollkorn, langsam durch bis zum Druckpunkt ...

Gefangene. Eine Frau dabei, Frau Wolf aus Mechterstedt. Neunundfünfzig Jahre alt. Sie werden vorne bei einer anderen Abteilung mitgeführt. Ein Offizier läuft neben der Kolonne her, den Karabiner in der Hand. Blaurot vor Erregung, heisere Stimme: »Habt ihr noch Gefangene hier? Raus damit! Abgeben an die sechste Kompanie. Werden nicht weit kommen, die Brüder!«

Proteste, Schimpfen, drohend gereckte Fäuste. Die Gefangenen werden nicht abgegeben. Da ist Frau Wolf, ihr Gesicht ist von einem Kolbenstoß getroffen. Die Augen sind halb zugeschwollen.

Ein paar Mann drängen sich schützend um die Gefangenen.

»Das wollen Soldaten sein! Ein Haufen Feiglinge!«

Die Marburger Kommilitonen geraten sich gegenseitig in die Haare. Leutnant Goebel kann sich nicht beruhigen über diese Sorte von Akademikern, die die Gefangenen nicht hergeben wollen ...

Der Theologieprofessor läßt nicht locker: Untersuchung. Warum sind die Gefangenen verhaftet worden? Befehl. Der Kommandant hat eine Denunziation bekommen. Von wem, sagt er nicht. Der Hauptmann Professor untersucht. Warum gingen die Gefangenen am Schluß der Kolonne? Laut Vorschrift müssen sie doch in der Mitte der Abteilung geführt werden. Warum sind sie erschossen worden? Fluchtversuch? Fünfzehn Mann auf einmal? Und keiner ist entkommen?

Der Morgen des 25. März will nicht enden. Er hängt an Dickmann wie eine Kette. Untersuchung. Ein Gerichtsoffizier aus Kassel. Vernehmungen. Vierzehn Studenten, vierzehn ehemalige Offiziere. »Also da haben Sie geschossen, Herr Kamerad?«

»Jawohl, Fluchtversuch, – das Gelände war günstig ...«

»Ich danke Ihnen. Bitte Herrn Dickmann ...«

»Fluchtversuch, das Gelände war günstig, niedrig gezielt. Zweck lediglich Verhinderung des Entweichens, gedeckt durch Befehl des Kapitäns von Selchow ...«

»Ich danke Ihnen ... Bitte Ihre Personalien.«

»Dickmann, Friedrich Wilhelm, Alter 24 Jahre, Student der Rechte, Leutnant a. D. ...«

»Wo waren Sie aktiv, Herr Kamerad?«

»Preußisches Dragonerregiment Kaiser ...«

»Ah! Kommandeur Oberstleutnant von Briese, nicht wahr? Ich danke Ihnen.«

Das Abenteuer ist zu Ende. Die Schüsse, die am 25. März auf der Landstraße zwischen Mechterstedt und Settelstedt gefallen sind, blieben die einzigen, die das Studentencorps abgab. In Thüringen Ruhe. Die Aufrührer im Ruhrgebiet entwaffnet. Haftbefehle gegen die Urheber des Putsches. Reichskanzler Kapp nicht ergriffen. General Lüttwitz nicht ergriffen. Oberst Bauer flüchtig, Major Pabst flüchtig, Herr von Jagow gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen. Dr. Schiele gegen Kaution ...

Standgerichte im Ruhrgebiet: ein Leutnant, ein Unteroffizier, ein Mann. »Todesurteile der Standgerichte bedürfen der Gegenzeichnung des Gerichtsherrn.« Die Generäle Kabisch und von Watter handeln korrekt. Was können sie dafür, daß ihnen die Urteile der Standgerichte nicht vorgelegt werden? Sie wissen von nichts ...

Erschießungen in Dortmund, in Wanne-Eikel, in Gevelsberg, in Wesel, in Castrop, Buer, Essen. Kriegsgerichte, außerordentliche Kriegsgerichte. Nur Rädelsführer werden bestraft, und solche Leute, die »ein Verbrechen gegen das Leben, schwere Körperverletzung oder Brandstiftung« begangen haben?

Hunderte, tausende von Arbeitern, die sich zur Abwehr gegen das hochverräterische Kappunternehmen erhoben haben, sind gemeine Verbrecher. Sie fallen nicht unter die Amnestie, das ist ganz in der Ordnung. Die Herren Friedrich Ebert und Dr. Heinze haben das Gesetz unterzeichnet. Friedrich Ebert ...

Ein Arbeiter erschießt einen Kappsoldaten während des Kampfes: »Mord, fünfzehn Jahre Zuchthaus.« Ein Arbeiter beschlagnahmt in einer Bäckerei Brot für seine Kameraden: »Räuberische Erpressung. Fünfzehn Jahre Zuchthaus ...«

Dickmann sitzt in seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung. Irgendwo in seinem Schreibtisch liegt eine Anklageschrift. Er liest die Urteile der Kriegsgerichte in den Zeitungen. Statistiken, wieviele Jahre Zuchthaus bisher gegen Arbeiter verhängt worden sind.

Er ist sehr gedrückt. Hat gar keine Lust, wieder nach Jena zu fahren, wenn die Ferien vorbei sind. Irgendwann findet gegen ihn ein Verfahren vor dem Kriegsgericht statt. Die Anklage lautet auf Totschlag.

Frau Landgerichtsdirektor ist außer sich vor Empörung. Ihr Sohn! Wie ein ganz gemeiner Verbrecher auf der Anklagebank! Unvorstellbar. Es gibt eben keine Gerechtigkeit mehr. Weil Fietichen ein paar Verbrecher erschossen hat, soll er vor Gericht. Verkehrte Welt.

Der Landgerichtsdirektor verweist ihr dieses Lamentieren. Gewiß, es gibt auf der Welt keine Gerechtigkeit mehr. Aber bei deutschen Richtern? Er macht eine Handbewegung, die alles sagt. Landgerichtsdirektor Dickmann ist ein Diener der Gerechtigkeit, und wie ihn gibt es tausende. Er weiß: Recht muß doch Recht bleiben.

Dickmanns Vater ist auch während der schlimmsten Kampftage ins Gericht gegangen. Zu Fuß den weiten Weg nach Moabit. Die Herren seiner Kammer waren auch alle erschienen. Während in der Stadt mit Kanonen geschossen wurde und auf dem Dach des Kriminalgerichts die schwarz-weiß-rote Fahne der Rebellen wehte, haben Schwurgerichtssitzungen stattgefunden. Recht muß doch Recht bleiben. Hier gab es keinen Generalstreik. Die Maschinen arbeiteten weiter.

Berufungsverhandlungen waren vor des Direktors Kammer angesetzt. Die verurteilten Rechtsbrecher fürchteten sich vor dem Weg durch den Kugelregen. Ihre Richter waren zur festgesetzten Zeit im Gericht. Mit besonderen Ausweiskarten hatten sie die Postensperren durchschritten.

»Wo ist der Angeklagte? Nicht da? Beschlossen und verkündet: die Berufung wird auf Kosten des Angeklagten verworfen gemäß § 329 Strafprozeßordnung ...«

Recht muß doch Recht bleiben. Draußen knattern Maschinengewehre, – gilt nicht: § 329 Strafprozeßordnung ...

Der Landgerichtsdirektor ist ganz ruhig. Als sein Sohn die Anklageschrift bekam, hat er sie sehr genau durchgelesen. Die Mutter schluchzte. Er sagte nichts.

Und wenn Dickmann einmal versucht, mit seinem Vater über die bevorstehende Verhandlung vor dem Kriegsgericht zu sprechen, stößt er auf freundliche Ablehnung: »Wenn du ein reines Gewissen hast, mein Junge, dann hast du nichts zu fürchten. Es ist noch nie von einem preußischen Gericht ...«

Dickmann glaubt es ihm. Aber ist sein Gewissen rein?

Er sagt: »Jawohl, Papa!« Sehr laut, sehr ruhig. Aber er weiß es nicht. Er besucht Regimentskameraden, die in Berlin wohnen und bespricht mit ihnen seinen Fall. Nicht als ob es eine große Sache wäre, nein: ganz nebenbei. Man will sich doch nicht lächerlich machen. Baron Schmiedel hat in Berlin mitgekämpft. Von Rienitz ist in Breslau vom Kapp-Putsch überrascht worden. Da hat er ganz andere Sachen erlebt als Dickmann. Ist alles gut abgegangen. Wäre ja auch noch schöner. Heute Abend soll Dickmann mal zu ihm kommen. Ein Breslauer Schupomajor ist da, den Rienitz in den Kampftagen kennen gelernt hat.

Der Polizeioffizier erzählt: »Kaum waren die Gefangenen auf dem Kasernenhof, da lagen sie auch schon. Unsere Leute waren ja wie verrückt. Wird mancher unschuldig darunter gewesen sein. Aber was ist da zu machen? War ja scheußlich, wenn dann am nächsten Tag die Weiber angelaufen kamen und nach ihren Männern wimmerten. Ja du lieber Gott, wo gehobelt wird, fallen Späne.«

Der Breslauer Major wiegt bedauernd den Kopf. »Ja, und dann haben wir ihnen irgendetwas vorgelogen. Dabei schwammen die Kerle längst in der Oder. Wie? Nein, Verfahren sind nicht deswegen anhängig gemacht worden. Warum auch? Sehen Sie, ich bin ein loyaler Mensch. Ich bin dagegen, daß man jetzt im Ruhrrevier so scharf gegen die Arbeiter vorgeht. Wir wollen uns nichts vormachen, meine Herren, wir haben doch alle Dreck am Stecken. Aber ich gebe zu, daß gewisse staatspolitische Gründe dafür sprechen, daß man die viehischen Rohheiten der Rotarmisten nicht ungestraft läßt. Sonst schwillt den Brüdern der Kamm. Wir leben schließlich auf einem Pulverfaß. Wer weiß, was wir noch mit den Bolschewisten erleben. Aber von mir aus könnte man die Leute ruhig laufen lassen ...«

Solche Gespräche sind nicht dazu angetan, Dickmanns Unruhe zu beheben. Vielleicht wird ihm gar nicht soviel passieren. Der Alte Herr, Rechtsanwalt Kursch, hat ihm das erklärt: weil Dickmann bei einem Zeitfreiwilligenkorps war, darum kommt er vors Kriegsgericht, und das ist ein großer Vorteil für ihn. Die Reichsverfassung hat zwar festgesetzt, daß die Militärgerichtsbarkeit aufgehoben werden soll. Jetzt ist da auch so eine Verordnung herausgekommen, aber die tritt wohlweislich erst im Oktober 1920 in Kraft, wenn nach menschlichem Ermessen die letzten Verfahren aus den Kapptagen erledigt sind.

Das ist es nicht, was Dickmann hören will. Verurteilung, – kein Mensch wird schlechter von ihm denken, wenn er verurteilt wird. Aber wie steht es mit dem, was sein Vater »gutes Gewissen« genannt hat? Er will den Rechtsanwalt danach fragen, aber der läßt ihn nicht zu Worte kommen:

»... wenn ihr nach dem ordentlichen Strafrecht angeklagt wäret, dann könntet ihr nur wegen Körperverletzung mit Todeserfolg oder wegen Totschlag bestraft werden. Aber im Militärstrafgesetzbuch gibt es so kniffliche Unterschiede, wie Wachtvergehen oder mißbräuchliche Benutzung der Waffe ...«

Dickmann verabschiedet sich schnell von Kursch. Wie steht es mit dem guten Gewissen?

Dickmann forscht peinlich genau in seinem Inneren nach. Er ist fest davon überzeugt, daß die Gefangenen garkeinen Fluchtversuch gemacht haben. Bei ruhiger Überlegung ist er zu diesem Ergebnis gekommen. Die Leute hätten ja wahnsinnig sein müssen, wenn sie fliehen wollten. Wieviel hunderte sind nicht in den beiden Jahren seit der Revolution »auf der Flucht erschossen« worden! Von Karl Liebknecht bis zu den fünfzehn Arbeitern aus Bad Thal. Jedes Kind in Deutschland weiß das.

Aber Dickmann kann sich nicht von dem Vorwurf freisprechen, unbedacht gehandelt zu haben. Er hat sich nicht in der Hand gehabt. Keine Haltung, keine Besonnenheit. Ein bißchen blamabel für einen alten Soldaten. Aber schließlich nicht weiter gefährlich. Der Breslauer Major hat ganz recht: wo gehobelt wird, da fallen Späne. Und außerdem: schade ist es um die Erschossenen sicher nicht. Dickmann weiß zwar nicht, welcher Verbrechen man sie beschuldigt hat. Aber sie waren Spartakisten. Und wenn sie vielleicht auch nicht gerade den Rätestaat errichten wollten, so haben sie sich doch gegen die Erneuerung Deutschlands gewehrt. Sind an ihrem kleinen Teil mit Schuld daran, daß das vaterländische Unternehmen Kapps zusammengebrochen ist. Nein, schuldlos sind sie ganz gewiß nicht. Es ist nicht schade um sie.

Und nach solchen eingehenden Selbstprüfungen, die sich durch Tage und Wochen hinziehen, kommt Dickmann zu der Erkenntnis, daß er ein gutes Gewissen hat.

Manchmal macht er sogar schon Witze über die ganze Geschichte ...

In Jena erreicht ihn die Vorladung zum Termin, Juni 1920. Vierzehn Angeklagte. Die Marburger Kommilitonen sind guter Laune. Der Zuhörerraum ist überfüllt. Lauter Studenten. Sie trampeln, wenn einer der Angeklagten ein patriotisches Kraftwort gebraucht, und scharren, wenn ein akademischer Zeuge ungünstig aussagt. Der Vorsitzende hat anscheinend nichts dagegen, daß gescharrt und getrampelt wird.

Tage dauert die Verhandlung. Zeugen treten auf, die damals bei einer anderen Abteilung als Gefangene marschierten. Sie berichten von Mißhandlungen durch die Studenten, von dunklen Drohungen mit Tod und Erschießen, von sinnlosen Quälereien ...

Das Netz zieht sich über den Angeklagten zusammen.

Der Angeklagte Goebel gibt zu, in jenen Tagen »sehr aufgeregt« gewesen zu sein. Es kann schon vorgekommen sein, daß er Gefangene getreten hat.

Immer dichter ... Republikanische Studenten: die Abteilung hat einen schlechten Ruf gehabt wegen der brutalen Gefangenenmißhandlungen. Die Lage der Erschossenen ließ die Vermutung, sie seien auf der Flucht gewesen, nicht zu ...

Immer dichter ... Dickmann wird unruhig. Frau Wolf erzählt, ein Student habe ihr zugerufen: »Dich altes Aas schieß ich tot ...«

Vierzehn junge Herren. Sehr korrekt, sehr höflich. Ehemalige Offiziere. Viele haben frische, einfache Jungensgesichter. Wenn man sie so sieht, traut man ihnen Brutalitäten nicht zu.

Der große Verteidiger stellt sich schützend vor sie. Das ist ein sehr vornehmer Herr, gepflegter, weißer Spitzbart, ein Monokel im Auge. Seine Worte haben Gewicht. Man muß auf ihn hören, wenn er die Unschuld seiner Mandanten nachweist.

Ein sachverständiger Arzt. Bei manchen Leichen ist festgestellt, daß die Schüsse von hinten gekommen sind. Bei anderen ließ sich das nicht entscheiden. Das Gegenteil auch nicht ...

Der Staatsanwalt: Zwei Jahre Gefängnis wegen Totschlags, wütendes Gescharre.

Nach einer halben Stunde Gerichtsberatung Freispruch für alle vierzehn Angeklagten. Es könne ihnen nicht nachgewiesen werden, daß ihre Angaben unrichtig seien. Die Erschossenen hätten einen Fluchtversuch gemacht. Wenigstens haben die Angeklagten das geglaubt. Klare Aussagen ... Mißbräuchlicher Gebrauch der Waffe liegt auch nicht vor ...

Na also.

Wie Landgerichtsdirektor Dickmann das Marburger Urteil in der »Deutschen Tageszeitung« liest, lächelt er still. Er hat es ja gewußt. Ein Dickmann mordet nicht. Ein Dickmann hat ein gutes Gewissen. Und noch nie ist es geschehen, hat es geschehen können, daß von einem preußischen Gericht ...

Und der Verteidiger Dr. Lütgebrune wird bald darauf zum Ehrenbürger der Universität Marburg designiert.


 << zurück weiter >>