Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Tscheka

Aber eines Tages ist Dickmann doch wieder in den Strudel von Zweifeln und Erkenntnissen hineingerissen, aus dem er sich für alle Zeit gerettet glaubte.

Der Landgerichtsdirektor Dickmann kommt eines Tages nach Hause mit einem Gesicht, dem man Stolz, Freude und Ergriffenheit ansieht. Beim Mittagessen teilt er seiner Familie ernst und feierlich mit, das Vertrauen des Ministeriums habe ihn dazu ausersehen, beim Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik als Beisitzer zu fungieren.

Frau Landgerichtsdirektor erhebt sich und küßt ihren Mann auf die Stirn. Edith gratuliert nüchtern und kühl. Nur Dickmann muß ein leises Unbehagen unterdrücken, das er selbst als unstatthaft empfindet.

Staatsgerichtshof? Mit dieser Buchstabenfolge ist für ihn die Erinnerung an einen schmachvollen Willkürakt der republikanischen Reichsregierung verbunden. Nach dem Morde an Minister Rathenau, den Dickmann begeistert miterlebte, ist den Republikanern der blasse Schrecken in die Glieder gefahren über das Erwachen des alten Deutschland. Dickmann hat – ebenso wie sein Vater und alle Gutgesinnten – sich damals empört und entrüstet über die offenbare Ungesetzlichkeit, mit der die Republik zu ihrem Schutze ein Sondergericht einsetzte. Entgegen allen juristischen Gepflogenheiten wurde dem Republikschutzgesetz rückwirkende Kraft verliehen. Eine einfache Verordnung bestimmte, daß die Ministermörder vor diesem Tribunal abgeurteilt werden sollten, das in Leipzig beim Reichsgericht eingesetzt wurde.

Dickmann weiß noch mehr. Er weiß, daß dieses Sondertribunal in vielen Fällen gegen die Männer vorgegangen ist, die sich die Erneuerung Deutschlands zum Ziel gesetzt hatten. Von dem Staatsgerichtshof sind die Mitglieder der Organisation Consul wegen Geheimbündelei zu Gefängnisstrafen von einem bis zu neun Monaten verurteilt worden; alles Kameraden des hochverdienten Kapitäns Ehrhardt, von dem Dickmann sich noch viel für die Wiederherstellung der alten Zustände verspricht.

Und nun freut sich sein Vater ganz offensichtlich, daß er einer der sechs Beisitzer sein soll, die die drei Reichsrichter des Staatsgerichtshofs unterstützen werden? Dickmanns Glückwunsch klingt gepreßt und unsicher. Er weiß ja nicht, daß die Mitglieder der Organisation Consul ihre Strafen niemals abzubüßen brauchten. Er weiß ja noch nicht, daß die Institution des Staatsgerichtshofs, die die Angst der Republikaner als Instrument gegen die Reaktion zu schaffen gedachte, in den Händen von zehn Männern zu einer furchtbaren Waffe gegen alle freiheitlichen Regungen in Deutschland geworden ist.

»Freust du dich denn?« fragt Frau Landgerichtsdirektor ihren Gatten.

Der wehrt ab: »Freuen ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Ich bin stolz darauf, daß ich an einer so schönen und wichtigen Aufgabe mitarbeiten darf, den Staat vor den Angriffen der Verschwörer zu schützen.«

»Den Staat? Die Republik«, berichtigt Dickmann.

Sein Vater schüttelt ernst den Kopf: »Das siehst du ganz falsch«, sagt er tadelnd. »Republik oder Staat, – das ist in diesem Falle dasselbe. Wir kämpfen gegen die Anarchie, gegen die Gesetzlosigkeit. Wir wissen, wo der Feind steht. Um wieder zu geordneten Zuständen zu kommen, müssen wir zunächst die Republik schützen. Alle Güter unseres Lebens, Religion, Kultur, Privateigentum, lassen sich auch in der Republik bewahren und erhalten. Verstehst du mich?«

Dickmann glaubt zu verstehen. »Was sind denn das für Verhandlungen, bei denen du mitwirken sollst?« fragt er nach kurzer Überlegung den Vater.

»Der Tschekaprozeß«, sagt Landgerichtsdirektor Dickmann lakonisch, und sein Sohn versucht, sich zu erinnern, worum es sich in diesem Prozeß handelt. Er möchte seinen Vater nicht danach fragen. Der Landgerichtsdirektor steht auf dem Standpunkt, daß man außerhalb des Dienstbereichs nicht von amtlichen Dingen sprechen dürfe. So bleibt es Dickmann überlassen, sich selbst zu informieren über das, was in Leipzig verhandelt werden soll.

Das ist für ihn nicht leicht. Er war die letzten Jahre so von sich und seinen eigenen Erlebnissen erfüllt, daß er darüber nicht viel Zeit fand, sich mit den großen Ereignissen der Zeit zu beschäftigen. Jetzt möchte er klarer sehen, aber die Literatur über die Kämpfe in der deutschen Republik ist außerordentlich dürftig. Und was er über die Tatsachen in Erfahrung bringen kann, die dem Tschekaprozeß zugrunde liegen, ist nicht viel mehr, als daß einige Kommunisten im Januar des Jahres 1924 einen Spitzel erschossen haben, den Friseur Rausch in Berlin.

Genia könnte ihm vielleicht mehr sagen. Aber Dickmann denkt gar nicht daran, sich wieder von ihren einseitigen politischen Ansichten verwirren zu lassen. Das Kapitel Genia Lazar ist für ihn abgeschlossen. Endgültig und für immer.

Sich im April des Jahres 1925 mit den Dingen zu beschäftigen, die 1923 in Deutschland geschehen sind, dazu fühlt Dickmann keine Veranlassung. Nicht viel mehr weiß er davon, als daß man nach dem Hitlerputsch die Kommunistische Partei Deutschlands wegen hochverräterischer Umtriebe hat verbieten müssen, und daß seitdem Dutzende von Kommunisten lediglich deswegen verurteilt worden sind, weil sie der Partei angehörten oder angehört hatten. Daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ebenfalls verboten war, ohne daß man etwas von der Verurteilung eines Nationalsozialisten gehört hätte, daran denkt Dickmann nicht, das fällt ihm nicht auf.

Einmal, sein Vater steht kurz vor der Abreise nach Leipzig, fällt ihm in einem Café eine Zeitung in die Hände, die er sonst nicht zu Gesicht bekommt. Dickmann erfährt, daß es sich bei der Ermordung des Friseurs Rausch um eine Waffenschiebung gehandelt hat: die Kommunisten wollten bei einem Potsdamer Reichswehrregiment Waffen stehlen, der Friseur hatte diesen Plan der Polizei verraten, und zwei Kommunisten haben ihn erschossen. Aber es war zu spät: die Polizei hatte bereits ihre Maßnahmen getroffen und im ganzen sechzehn Kommunisten verhaftet, die nun wegen Mordes, Beihilfe zum Mord, Hochverrat und wegen Sprengstoffverbrechens abgeurteilt werden sollen.

Nachdem der Landgerichtsdirektor nach Leipzig abgereist ist, klingelt Rechtsanwalt Dr. Kursch bei Dickmann an: er müßte in den nächsten Tagen auf ein paar Tage nach Leipzig, um eine Revisionssache vorzubereiten. Ob Dickmann ihm nicht Gesellschaft leisten wolle. Bei der Gelegenheit könne er ja auch einmal das Reichsgericht besuchen. Eigentlich gehöre sich das überhaupt für einen jungen Juristen.

Und so geht Dickmann denn an einem Maitage des Jahres 1925 über den weiten Platz, hinter dem sich ein mächtiges, langgestrecktes Viereck erhebt: das Reichsgerichtsgebäude. Hier residiert das höchste Gericht der deutschen Republik.

Der Assessor Dickmann bleibt einen Augenblick ergriffen stehen. Es ist kaum auszudenken, welches Maß von Feierlichkeit, Wärme und Respekt man in diese wenigen Worte legen kann: das Reichsgericht!

Dieses Haus ist der Angelpunkt des Lebens. Was nur jemals das Leben eines deutschen Staatsbürgers erschüttert hat, eine Wechselklage oder ein Mord, eine Zwangsvollstreckung oder ein Verbrechen wider das keimende Leben, – was gibt es, was der letzten Entscheidung jener Körperschaft entzogen wäre, die in diesem mächtigen Gebäude amtiert? Elf Senatspräsidenten und dreiundneunzig Reichsgerichtsräte sprechen, – und es gibt keinen Zweifel mehr. Ein Heer von deutschen Richtern und Rechtsanwälten neigt das Ohr, und durch alle Gerichtssäle Deutschlands geistert in formelhaften Wendungen die Unterwerfung unter die Meinung jener hundert Männer: »Nach der ständigen Spruchpraxis des Reichsgerichts.« »Laut Reichsgerichtsentscheidung Band siebzehn, Seite hundertelf ...«

Über den weiten, weiten Platz dringt der Lärm der Großstadt nicht bis in jene Zimmer, in denen die Reichsrichter sitzen. Still, ernst, fleißig, unnahbar legen sie die Gesetze aus.

Das Reichsgericht!

Ist es ein Wunder, wenn der Assessor Dickmann auf das Reichsgerichtsgebäude zugeht, als marschiere er über ein Paradefeld? Es ist eine Feierlichkeit um ihn wie damals beim Fahneneid.

Er betritt den hohen, kühlen Vorraum. Ein Justizwachtmeister in tadelloser blauer Uniform schlägt die Hacken zusammen, als er Dickmanns Titel hört.

Wo man sich heute einmal eine Verhandlung anhören könne. »Einige Revisionssachen. Und im ersten Stock die Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik. Herr Assessor wissen ja.«

»Ich danke Ihnen.«

Ein Denkmal des alten Kaisers Wilhelm, ihm gegenüber eine Statue: Wilhelm II. in Ritterrüstung, die nervige Faust am Schwerte. Kronen und Reichsadler in allen Nischen, über allen Torbögen. Dickmann geht andächtig wie durch eine Fürstengruft.

Durch einen Korridor wandelt feierlich eine Gestalt in einer hellroten Robe. Hellrot mit einem breiten, weinroten Samtkragen, ein fein und kunstvoll gefälteltes Jabot vor der Brust: ein Reichsrichter. Er geht an Dickmann vorüber, bemerkt die Schmisse, stutzt und macht eine kaum bemerkbare, vorsichtig einladende Bewegung, und Dickmann reißt den Hut vom Kopf. Der Reichsrichter neigt den Kopf knapp und graziös, und Dickmann sieht dem Davonschreitenden bewundernd nach.

»Stil«, denkt er ergriffen.

Er öffnet eine Tür. »Zweiter Strafsenat« steht auf dem weißen Porzellanschild. Der Fuß versinkt in einem schweren roten Teppich. Hellbraune Eichentäfelung. Auf erhöhter Estrade sechs rote Roben: ein Senatspräsident, vier Reichsgerichtsräte, ein Reichsanwalt. Eine Bank im Hintergrund, sonst nichts. Nur eine kleine, brüchige Greisenstimme scheint mit sich selbst zu sprechen.

Der Senatspräsident hält ein Blatt Papier in der Hand und liest. Die Augen der Richter starren matt ins Leere. Sechs höchste deutsche Richter in einem öden Zimmer, teilnahmlos, schweigend. Nichts als ein Blatt Papier und eine müde, undeutliche Stimme. Dickmann lauscht ihr beklommen.

Einmal glaubt er einen Namen zu verstehen: »Leister«. Da weiß er, was der Senatspräsident liest. Ein Mensch dieses Namens ist vor einiger Zeit trotz seiner wütenden Unschuldsbeteuerungen wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Er hat Revision gegen das Urteil des Schwurgerichts eingelegt. Das Reichsgericht hat darüber zu entscheiden. Es wird nicht von Mord gesprochen, nicht davon, ob der Spruch des Schwurgerichts gerecht gewesen ist: die sechs Männer in den roten Roben sehen nicht die Tat, sie sehen auch nicht das verzerrte, angstvolle Gesicht des Maurers Leister, der in einem Untersuchungsgefängnis sitzt und mit sehnsüchtiger Inbrunst darauf wartet, daß das Reichsgericht einen gerechten Spruch fällt. Aber was ist die Tat, was der Täter? Das Reichsgericht kennt sie nicht, es prüft Akten und die Heiligkeit der Form; nur wenn sie verletzt worden ist, kann das Urteil aufgehoben werden. Hat bei der Fällung jenes Todesurteils ein nicht festangestellter Richter mitgewirkt? Wie viel wichtiger ist diese Frage als der drängende Zweifel, ob ein Mensch vielleicht unschuldig zum Tode verurteilt worden ist!

»... daß also die Bank der Richter ordnungsmäßig besetzt war. Der Revision war daher der Erfolg zu versagen.«

Aus. Der Vorhang senkt sich über der Tragödie des Maurers Leister. Das Todesurteil wird damit, daß diese brüchige Greisenstimme plötzlich verstummt, rechtskräftig. Geschieht nicht noch ein Wunder, wird der Mann hingerichtet. Im Namen des Volkes, denn die Bank der Richter war ja ordnungsmäßig besetzt.

Ein mattes Räuspern. Papier raschelt. Der Reichsanwalt wechselt die Hand, die seinen Kopf stützt. Ein Reichsrichter schnaubt diskret die Nase. Vor dem geöffneten Fenster des Sitzungssaals schlägt süß und gespenstisch eine Amsel.

Ein neues Blatt Papier, ein neues Urteil. »Im Namen des Reichs ...«

Der Zuhörer erhebt sich und geht leise hinaus ...

»Sitzung des dritten Zivilsenats.« Dickmann tritt ein. Das gleiche Bild: fünf Richter in festliches Rot gekleidet. An zwei Pulten links und rechts vom Richtertisch stehen zwei Rechtsanwälte des Reichsgerichts. Auch sie tragen rote Roben. Nur der weinrote Samtkragen fehlt und das Jabot.

Ein Rechtsanwalt spricht: »Ich bitte, einem hohen Senat zur Erwägung geben zu dürfen ...«

Der andere antwortet: »Ein hoher Senat wird sich darüber schlüssig zu werden haben, ob nicht die Ausführungen meines Herrn Kollegen unter einem anderen Gesichtswinkel zu betrachten sein werden ...«

Der Justizwachtmeister, der hinter den Richtern sitzt, gähnt verstohlen. Er thront in einem bequemen, breiten Armsessel. Für die Rechtsanwälte stehen nur einfache Rohrstühle da. Aber der Gerichtsdiener gehört ja auch zum Reichsgericht.

Die Anwälte packen ihre Akten zusammen und machen sehr tiefe Verbeugungen ...

Dickmann geht über stille Korridore, über Treppen und steht plötzlich in einem wirren Gewühl vor dem Verhandlungssaal des vierten Strafsenats, in dem die Sitzungen des Staatsgerichtshofs stattfinden. Schutzpolizisten. Justizwachtmeister. Anwälte kommen in erregtem Gespräch aus dem Saal. Sie tragen nicht die rote Robe der Rechtsanwälte am Reichsgericht, sondern schwarze Talare. Sie kommen »aus der Provinz«, wie man in Leipzig sagt. Aus Berlin.

Von der hellen Eichentäfelung des Verhandlungssaals heben sich die roten Roben der Reichsrichter und die schwarzen Röcke der Beisitzer ab. Am äußersten linken Flügel der Richterbank sitzt ernst und geschlossen der Landgerichtsdirektor Dickmann.

Über dem Richtertisch hängen zwei Bilder: Wilhelm I. und Friedrich III. Unter ihnen tagt der Staatsgerichtshof zum Schutze der deutschen Republik.

Dickmann macht eine tiefe Verbeugung vor dem Richtertisch, dann setzt er sich bescheiden auf die Zeugenbank und sieht sich interessiert im Saale um. Im Zuhörerraum drängen sich Menschen, von schwerbewaffneten Polizeibeamten sorgfältig beobachtet. An der linken Längsseite des Saales die Anklagebank. Sechzehn Menschen sitzen dort. Ihre an die lähmende Dämmerung der Zelle gewöhnten Augen blinzeln unruhig gegen die helle Frühsommersonne, die in breiten Strahlen durch die hohen Fenster dringt.

Eine dumpfe Stimme näselt undeutliche Worte. Unter den zwölf Verteidigern der Angeklagten entsteht Bewegung. Ein Rechtsanwalt erhebt sich: »Herr Angeklagter, hat man Sie nicht vor der Vernehmung, in der Sie das unrichtige Geständnis abgelegt haben, tagelang hungern lassen?«

Nicht der Angeklagte antwortet, sondern die Stimme des Vorsitzenden knallt scharf in den Saal: »Ich muß diese Frage zurückweisen.«

Der Verteidiger atmet mühsam auf. Seine Hand krampft sich um ein Aktenbündel. Er spricht mit unnatürlich leiser Stimme: »Ich bitte, einen Vorhalt machen zu dürfen. Wenn der Angeklagte tatsächlich vor dieser Vernehmung tagelang im Gefängnis gehungert hat ...«

»Herr Rechtsanwalt, ich entziehe Ihnen das Wort.«

Der Assessor Dickmann sieht den Vorsitzenden an: Dieser alte Mann mit dem grauen Haar ist also der Senatspräsident Niedner, der ständige Vorsitzende des Staatsgerichtshofs. Das energische Gesicht zeigt die unnatürliche Röte eines Rotweintrinkers. Der große Mund, der an den Winkeln leicht verkniffen ist, verzieht sich beim Sprechen hochmütig oder ironisch. Dies ist der Mann, der seit Jahren die großen politischen Prozesse der deutschen Republik leitet ...

Wieder spricht ein Verteidiger. Er gestattet sich, dabei den Kopf flüchtig den Zuhörern im Hintergrund des Saales zuzuwenden. Und wieder knarrt die Stimme des Vorsitzenden: »Ich muß rügen, daß der Herr Rechtsanwalt sich zum Publikum wendet.«

»Herr Vorsitzender, ich bitte, mir diejenige Stelle der Strafprozeßordnung zu bezeichnen, in welcher steht, wohin ich mein Gesicht zu richten habe.«

Dickmann ist verwirrt: diesen Ton kennt er nicht in Gerichtssälen. Sine ira et studio, nicht in zorniger Leidenschaftlichkeit soll der Richter sein Urteil bilden. Aber hier ist die Atmosphäre mit Feindseligkeit und Haß geladen. Und dabei soll hier über Verbrechen geurteilt werden, auf die Todesstrafe steht.

»Herr Rechtsanwalt, was stehen Sie da herum! Gehen Sie doch auf Ihren Platz!«

»Aber Herr Präsident,« erwidert sanft der siebzigjährige Anwalt, »wir sind hier doch nicht in der Schule!«

Dickmann hört ein dumpfes Geräusch: sein Vater hat mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Sein Gesicht verzerrt sich zornig. »So eine Frechheit!«

»Herr Vorsitzender, ich bitte, diese Bemerkung des Herrn Beisitzers zu protokollieren.«

»Ich lehne das ab. Wir fahren fort ...«

Häufig lachen die Angeklagten. Sie nehmen wohl das Gericht nicht ernst. Und doch müssen sie mit einem Todesurteil oder mit schweren Zuchthausstrafen rechnen, denn sie sind ja Kommunisten. Angehörige einer Partei, die man wegen hochverräterischer Umtriebe hat verbieten müssen. Einer Partei, die die Verfassung der deutschen Republik beseitigen will ...

So denkt Dickmann und runzelt plötzlich nachdenklich die Stirn. Die Verfassung der deutschen Republik? Die Reichsrichter dort, die Beisitzer, sein Vater, der Reichsanwalt, und auch er selbst, – wollen sie denn wirklich die republikanische Verfassung schützen? Würden sie es nicht mit Freuden begrüßen, wenn eines Tages sich die Staatsform Deutschlands änderte? Wollen sie nicht – in diesem Punkte wenigstens – das Gleiche wie die Kommunisten? Aber die einen sitzen in roten Roben und feierlichen Gewändern am Richtertisch und die andern sind zusammengepfercht in der Bank der Angeklagten. Kultur, Religion, Privateigentum – darauf kommt es an. Wie unwichtig ist die Frage, ob Deutschland eine Monarchie oder eine Republik ist! Dickmann ruft sich zur Ordnung: Kommunisten! Aber er wird mit diesen Gedanken nicht fertig. Er schiebt sie weg ...

Ein Verteidiger bittet um Gerichtsbeschluß, ob seine Frage zugelassen werden soll oder nicht.

Der Senatspräsident erhebt sich, und die anderen Herren des Gerichts folgen ihm durch die Tür des Beratungszimmers. Aber noch ehe der letzte Beisitzer hinter der Tür verschwunden ist, kommt der Präsident durch die andere Tür bereits wieder in den Saal und verkündet: »Das Gericht hat beschlossen, die Frage abzulehnen.« Die Beisitzer haben noch nicht einmal wieder ihre Plätze erreicht.

Das war doch keine Beratung, denkt Dickmann beunruhigt. Das ist doch eine Farce ...

»Herr Präsident, ich beantrage Gerichtsbeschluß.«

»Das Gericht lehnt es ab, sich jedesmal aus dem Saal schicken zu lassen, wenn es dem Herrn Rechtsanwalt beliebt.«

»Ich beantrage die Protokollierung meines Antrages.«

Dickmann lauscht atemlos. Diesem Antrag muß stattgegeben werden. Aus dem Sitzungsprotokoll müssen sämtliche Anträge ersichtlich sein, die im Laufe einer Verhandlung gestellt werden. So hat es Dickmann in den Kollegs über Strafprozeßrecht gelernt.

Der Mund des Senatspräsidenten verzieht sich: »Ich gebe das nicht zu Protokoll. Herr Protokollführer, protokollieren Sie das nicht!«

Die Stimme des Präsidenten knallt und knarrt, und Dickmann fühlt, wie er rot wird: das geht doch nicht, das widerspricht doch dem Gesetz!

Ein anderer Verteidiger ruft erregt: »Herr Präsident, nach § 273 der Strafprozeßordnung muß diesem Antrag stattgegeben werden. Ich bitte nochmals um Protokollierung.«

Lächelnd schüttelt der Präsident den Kopf: »Ich lehne ab ...«

Die Stimme des Verteidigers dämpft sich zu scharfem Flüstern. Es scheint, als erschrecke er selbst über das, was er zu sagen hat: »Dann, Herr Präsident, bleibt mir nur der Nachweis der bewußt unrichtigen Anfertigung des Protokolls.«

Ein Senatspräsident am Reichsgericht, der Vorsitzende des Staatsgerichtshofs, muß sich von einem Rechtsanwalt Fälschung des Protokolls vorwerfen lassen. Und der Rechtsanwalt hat recht! Er hat recht! Dickmann ahnt eine Katastrophe, er atmet erregt. Was wird der Präsident tun? Ein kurzer Augenblick lähmender Stille. Dann sieht Dickmann den Vorsitzenden lächeln und hört eine gleichmütige Stimme: »Wir fahren fort.«

Dem Assessor Dickmann wird schwindlig. Seine Augen weiten sich vor Entsetzen. Er ist es gewohnt, der Justiz ins Antlitz zu sehen. Und immer fand er dies Antlitz kalt und höflich. Zum erstenmal sieht er, daß sich dieses höfliche Gesicht zu einer brutalen Grimasse verzerren kann ...

Neben ihm unterhalten sich zwei Journalisten. Das schwarz-weiße Band an der Rockklappe des einen beweist, daß er auf seine militärische Vergangenheit stolz ist. Der andere sagt mit bedenklichem Gesicht: »Eigentlich ist das ja unzulässig.«

Der Angeredete macht eine wegwerfende Handbewegung: »Ich bitte Sie! Gegen das Urteil des Staatsgerichtshofs gibt es ja doch keine Berufung. Da kommt es doch auf die Beobachtung der Form gar nicht mehr an. Ob das Protokoll richtig ist oder falsch, – du lieber Gott: Wichtigkeit! Verurteilt werden die Leute ja doch.«

Der Zeuge Regierungsrat Lupfer. Ein Teil der Angeklagten hat in Stuttgart in Untersuchungshaft gesessen, wo Lupfer Gefängnisdirektor ist.

Vereidigung. Ein korrekter höherer Beamter. Seine Aussage ist klar und einwandfrei. Ein unzulässiger Druck sei auf die Angeklagten selbstverständlich nicht ausgeübt worden. Sie haben ihre Geständnisse ganz freiwillig abgelegt.

»Angeklagter Margies, Sie wollten noch etwas bemerken?«

Ein Angeklagter erhebt sich. Er spricht. Und Dickmann fröstelt plötzlich. Der Mann lügt doch! Der Mann lügt, das kann doch nicht wahr sein! Wir leben in einem Rechtsstaat! Was der Angeklagte da sagt, das sind Ungeheuerlichkeiten, Ausgeburten einer kranken Phantasie, verleumderischer Bosheit ...

Aber warum steht der Gefängnisdirektor da am Zeugentisch und tut, als gingen ihn die Worte des Angeklagten nichts an? Um Gottes willen? Warum schweigt der Zeuge? Warum schreit er nicht? Warum wehrt er sich nicht gegen die ungeheuerlichen Beschuldigungen? Warum?

Es gibt einen Paragraphen im deutschen Strafgesetzbuch, der die Erpressung von Geständnissen mit Zuchthaus bedroht. Herr Regierungsrat Lupfer, warum schweigen Sie?

Der Angeklagte Margies spricht: »Ich habe es abgelehnt, während der Voruntersuchung überhaupt irgendwelche Aussagen zu machen. Das ist mein gutes Recht als Angeschuldigter. Da hat man mich plötzlich aus meiner Zelle geholt und mich in eine andere verlegt. Aber das war gar keine Zelle! Das war einfach ein Mauerloch in einer Ecke des Korridors. Kein Fenster, kein Licht. Wenn ein Beamter am Tage die Zelle betrat, mußte das elektrische Licht eingeschaltet werden, weil man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Zwei Monate habe ich in dem Loch gesessen. Zwei Monate ohne Luft und Licht. Man hat mir keine frische Wäsche gegeben. Meine Strümpfe habe ich im Spucknapf ausgewaschen. Meine Füße waren wund. Die Zelle war voller Wanzen. Hier, dieser Zeuge, dieser Herr Regierungsrat Lupfer, hat mir sogar noch verboten, die Wanzen zu töten, die auf meiner Pritsche herumkrochen. Stimmt das nicht, Herr Zeuge?‹

Der Regierungsrat wendet den Kopf halb zur Anklagebank hin: »Wahrscheinlich habe ich Ihnen verboten, die Wanzen an der Wand zu töten«, sagt er kühl und sachlich.

Der Angeklagte lacht: »Wo sollte ich denn sonst mit den Dingern hin, was? Sie aus dem Fenster werfen? Aber die Zelle hatte ja doch gar kein Fenster. Herr Vorsitzender, das ist doch Erpressung, wenn man mich so quält, um ein Geständnis von mir herauszubekommen!«

Das deutsche Strafgesetzbuch gibt dem Mann recht. Es bedroht sogar einen Beamten, der Geständnisse erpreßt, mit Zuchthaus. Der einzige Beamte, der je nach diesem Paragraphen bestraft worden ist, ist der sozialdemokratische Regierungsrat Worch, der nationalsozialistische Studenten bedroht haben sollte. In der Berufungsinstanz ist er wegen erwiesener Unschuld freigesprochen worden ...

»Das ist doch Erpressung, Herr Präsident!«

Senatspräsident Niedner durchschneidet mit der Hand die Luft: »Angeklagter, lassen Sie diese Bemerkungen. Das gehört nicht zur Sache!«

Nicht zur Sache? Die Hände des Assessors Dickmann spreizen und schließen sich. Nicht zur Sache? Wo bleibt das Gesetz? Paragraph 343 Strafgesetzbuch: ein Beamter, der Geständnisse erpreßt. Paragraph 116 der Strafprozeßordnung: »Dem Verhafteten dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, welche zur Sicherung des Zweckes der Haft oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnis notwendig sind.«

Zwei Monate ohne Licht und Luft in einem muffigen Loch! Das gehört nicht zur Sache? Hier hat man einen Menschen sinnlos und grausam gequält, Beamte, deutsche Justizbeamte haben das getan. Das gehört nicht zur Sache?

Da sitzt der Senatspräsident Niedner, da sitzen zwei Angehörige des höchsten deutschen Gerichts, da sitzt ein Vertreter der Reichsanwaltschaft, der »objektivsten und gerechtesten Behörde der Welt«, da sitzen sechs hohe Beamte, Regierungspräsidenten, Ministerialräte, Landgerichtsdirektoren, – und keiner findet ein Wort, diese Grausamkeit zu verwerfen, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, das Gesetz zu verteidigen gegen die Willkür eines Gefängnisdirektors? Keiner?

Dickmann atmet gepreßt. Sein Herz klopft ihm im Halse. Man muß etwas tun. Man muß etwas sagen, sonst macht man sich mitschuldig an dem Verbrechen, das an diesem Mann begangen worden ist. Das höchste deutsche Gericht läßt diese Ungeheuerlichkeiten mit kaltem Achselzucken durchgehen? Der soignierte alte Herr, der am linken Flügel der Richterbank sitzt und Landgerichtsdirektor Dickmann heißt, bringt nichts weiter auf als eine höfliche, unbeteiligte Bewegung der Abwehr? Zwei Monate in einem dunklen Loch, nicht Luft, nicht Licht – Halt! möchte Dickmann rufen. Das geht doch nicht!

Aber der Präsident hat längst einen neuen Aktenband zur Hand genommen: »Wir fahren fort«, sagt er gleichmütig.

Zeugen treten auf. Polizeibeamte, gutgenährte Männer, die die Hacken zusammenschlagen, die Hand straff im rechten Winkel heben und mit sonorer Stimme bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden schwören, die reine Wahrheit zu sagen. Zivilbeamte mit zu hohen Kragen, deren Stimme unsicher wird vor der Feierlichkeit dieses Raumes.

Auch der Landgerichtsrat Bühner steht vor dem Zeugentisch. Er hat die Ermittlungen gegen die Angeklagten geleitet. Er hat sie monatelang in den engen Zellen des Polizeigefängnisses gelassen, obwohl das Gesetz dies verbietet.

»Warum taten Sie das, Herr Zeuge?«

Der Landgerichtsrat hebt nach dieser Frage eines Verteidigers nicht einmal den Kopf: »Aus Zweckmäßigkeitsgründen.«

»Genügen Zweckmäßigkeitsgründe, um Gesetzesbestimmungen aufzuheben?« fragt ein Verteidiger.

Der Landgerichtsrat lächelt. Protestrufe. Erregt aufspringende Rechtsanwälte – und eine scheuchende Handbewegung des Präsidenten: »Wir fahren fort.«

Dickmann hört wieder neben sich flüstern: »Tüchtiger Kerl, der Niedner, was?« Mit einem dumpfen Brausen in den Ohren läßt Dickmann die Verhandlung an sich vorüberrauschen, hört die Stimme des Präsidenten und die erregten Zwischenrufe der Verteidiger. Hier geht es um das Leben. Man müßte den Angeklagten alle nur erdenklichen Vorteile gewähren, um sie vor einem möglichen Fehlurteil zu schützen. Man müßte die Zeugen scharf ins Verhör nehmen, man müßte ...

Aber der Senatspräsident stellt sich mit der ganzen Autorität seines hohen Amtes schützend vor die Zeugen, rettet sie vor unbequemen Fragen, ermuntert sie ...

»Herr Rechtsanwalt lassen Sie doch diese Fragen. Sie wollen ja aus dem Zeugen nur hinterlistig eine Antwort herauslocken.«

»Herr Präsident, ich protestiere ...«

»Ich entziehe Ihnen das Wort! Herr Zeuge, lassen Sie sich nicht beeinflussen, fahren Sie fort!«

Hier geht es um das Leben! Vier oder fünf von den Angeklagten kämpfen um ihren Kopf!

Dickmann geht aus dem Saal. Draußen läuft er dem Rechtsanwalt Kursch in die Arme. Der sieht sein verstörtes Gesicht und fragt besorgt: »Was ist denn?«

Kursch, ach so? – Dickmann muß sich die Zusammenhänge erst langsam wieder klarmachen. Kursch hatte in Leipzig zu tun, Kursch hat ihn in seinem Wagen mitgenommen, damit er einmal die Tätigkeit des Reichsgerichts kennen lerne.

»Warst du auch hier in der Verhandlung des Staatsgerichtshofs?« fragt Dickmann drängend.

»Staatsgerichtshof? Ach so – ja, ich habe mal einen Augenblick reingesehen. Tüchtiger Kerl, der Niedner, sonst ist die Sache ja verdammt langweilig.«

Dickmann bleibt stehen. Der Rechtsanwalt sieht ihn erstaunt und unwillig an: »Was ist denn los? Komm doch schon, sonst wird uns ja das Essen kalt.«

»Sofort«, sagte Dickmann höflich, und dann gehen sie Mittag essen.

Der Himmel hat sich bezogen. Nur einmal noch leuchtet kurz die Sonne auf, wie Dickmann sich umwendet und nach dem Gerichtsgebäude zurücksieht: Sonnenstrahlen auf Kuppeln und Zinnen, auf Kronen und Reichsadlern, auf den hohen bunten Glasfenstern, hinter denen der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik tagt. Hinter denen sechzehn Menschen um ihr Leben kämpfen. Kommunisten, – freilich, freilich! Leute, die den Bestand des Deutschen Reiches gefährden, gewiß. Verbrecher, die einen Menschen umgebracht haben. Einen Friseur in Berlin, der die Partei bespitzelte ...

Das darf nicht ungesühnt bleiben. Warum eigentlich? Die fünfzehn Arbeiter aus Bad Tahl, die Matrosen in der Französischen Straße ...

Fanden sich deutsche Richter, die auch nur einen der Täter zu verurteilen wagten?

Gewiß, es waren keine Kommunisten, die den Leuten den Garaus machten. Das sei gleichgültig? Mord sei Mord? Nein, Offiziere und Soldaten morden nicht! Sie lassen sich vielleicht im Zorn und in edler Aufwallung patriotischer Gefühle zu kleinen Unbesonnenheiten hinreißen. Gelegentlich unterläuft ihnen ein kleiner Irrtum: sie haben gedacht, sie dürften morden, sie haben nicht gewußt, daß das verboten sei, und darum kann man sie auch nicht bestrafen. Wenn irgendein Leutnant auf eine bloße Denunziation hin jemand erschießen ließ, war er sich der Rechtswidrigkeit dieser Handlung nicht bewußt. Man darf solche kerndeutschen Männer nicht auf eine Stufe stellen mit jenen Verbrechern, die hinter den hohen Glasfenstern dort den strengen aber gerechten Spruch ihrer Richter erwarten ...

Mittagessen, Kaffee, Likör, Zigarre. Rechtsanwalt Kursch erzählt Witze, und Dickmann hört mit flüchtigem Lächeln zu.

Endlich faßt er Mut und fragt so sachlich, wie es ihm möglich ist: »Wie erklärst du dir übrigens, daß der Senatspräsident sich fortwährend über die Strafprozeßordnung hinwegsetzt?«

Kursch gähnt verstohlen: »Deine Sorgen möcht' ich haben, mein Junge.«

Dickmann legt ihm bittend die Hand auf den Arm: »Du mußt das doch verstehen! Ich habe vor dem Reichsgericht selbstverständlich die allergrößte Achtung ...«

»Und?« fragt Kursch scharf. Dickmann zuckt die Achseln und schweigt.

Der Rechtsanwalt legt seine Zigarre beiseite: »Du bist auf einem gefährlichen Weg, lieber Freund. Vergiß bitte nicht, daß du ein sehr junger Mann bist, der gerade erst in die Juristerei hineingerochen hat. Du darfst einem Senatspräsidenten am Reichsgericht schon zutrauen, daß er weiß, was er tut. Ich wundere mich, daß du hier in diesem einen Fall auf einmal die Heiligkeit der Form so wichtig nimmst, die du im Zivilprozeß doch immer so gering eingeschätzt hast ...«

»Hier kämpfen doch aber Leute um ihren Kopf! Es muß ihnen doch loyalerweise jeder Vorteil gewährt werden, der ihnen nach dem Gesetz zusteht ...« unterbricht Dickmann.

»Was sind denn das für Leute, wie? Für wen setzt du dich ein? Hast du dir die Gesichter von den Angeklagten angesehen? Wie sie lächelten, wenn der Vorsitzende was sagte? Der blutige Hohn, mit dem sie die Zeugen behandelten? Die nehmen doch diese ganze Verhandlung gar nicht ernst. Alle Anträge der Verteidiger dienen doch nur dazu, die Verhandlung zu verschleppen, das Gericht mürbe zu machen. Es ist nicht nur Recht, sondern Pflicht des Vorsitzenden, diese Versuche zu unterbinden. Und wenn das gegen den Wortlaut des Gesetzes geschieht, dann ist es Sache des Richters, sich damit auseinanderzusetzen. Ich jedenfalls bewundere seinen Mut.«

Dickmann schweigt.

»Noch einmal: du vergißt, was das für Leute sind. Kommunisten! Verbrecher, die den Staat umstürzen wollen. Leute, die Sprengstoff gestohlen haben, um öffentliche Gebäude in die Luft zu sprengen ...«

»Der Sprengstoff, den man bei einem Angeklagten beschlagnahmt hat, ist nie untersucht worden,« fällt Dickmann ein. »Vorhin wurde ein Antrag eines Verteidigers vom Vorsitzenden mit der Begründung abgelehnt, es sei bereits festgestellt, daß es sich bei der beschlagnahmten Masse um Sprengstoff gehandelt habe. Das geht doch nicht. Man darf doch nicht einfach ...«

»Man darf doch nicht einfach!« äfft Kursch ihm nach. »Was darf man denn nicht einfach, wie? Natürlich darf man einfach. Man muß sogar. Kommunisten! Willst du ruhig zusehen, wie diese Moskauer Schweine alles in den Dreck ziehen, was uns heilig ist? Alles umstürzen, Kultur und Privateigentum und Religion ... Wenn man sich allerdings von dieser verfluchten Humanitätsduselei anstecken läßt, wie du, dann findet man in den selbstverständlichsten Dingen riesenhafte Probleme. Ich muß offen gestehen ... da muß ich denn doch einmal sagen ...« Kursch räuspert sich, setzt sich steif hin und sieht Dickmann stramm in die Augen. »Ich wundere mich über dich, Dickmann. Ich wundere mich ernstlich und aufrichtig über dich. Du machst dich aus Prinzip oder aus mißverstandener Gerechtigkeitsliebe zum Anwalt der schlechteren Sache. Ich weiß nicht, wie du dazu kommst. Von deinem Vater hast du das wahrhaftig nicht. Warum regst du dich nie über andere Unglaublichkeiten auf, he? Zum Beispiel darüber, daß man den General Ludendorff vor Gericht zu stellen gewagt hat? Daß man den Kapitän Ehrhardt, diesen aufrechten, deutschen Mann, monatelang in Untersuchungshaft gehalten hat? Daß man Adolf Hitler wegen seines Versuchs, endlich wieder ordentliche Zustände in Deutschland herzustellen, zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt hat? Warum? Antworte bitte, wenn du etwas zu antworten weißt!«

Nein, – Dickmann antwortet nicht auf diese Fragen. So wenig er sich um Deutschlands politische Justiz gekümmert hat, – das weiß er doch, daß Hitler längst aus der Haft entlassen ist. Nicht ein halbes Jahr hat er von seiner Festungshaft verbüßt. So viel weiß er doch, daß man Ludendorff mit Glanz und Glorie freigesprochen hat trotz seinem Geständnis, er habe die Verfassung des deutschen Reichs gewaltsam ändern wollen. Und Ehrhardt? Ehrhardt ist aus dem Untersuchungsgefängnis geflohen. Er hat fliehen können, niemand hat ihn gesucht, niemand sucht ihn heute. Nein, Dickmann antwortet auf Kurschs Fragen nicht.

Der Rechtsanwalt sieht ihn triumphierend an: »Na also! Du schweigst. Prost, mein Lieber, und laß endlich diesen Quatsch! Es gibt erfreulichere Dinge als die Politik, meinetwegen auch erfreulichere als die Gerechtigkeit. Man braucht nicht immer an sowas zu denken, das Leben ist so schon beschissen genug. Die Ilona muß ich nun endlich doch rausschmeißen. Das Aas betrügt mich auf Schritt und Tritt. Sagste dazu? Bezahl' ich dafür vielleicht die teure Wohnung? ... Na also!«

Ja, es gibt erfreulichere Dinge im Leben, hält sich Dickmann vor. Man braucht nicht immer »an so was« zu denken. Es ist schmachvoll und lächerlich, in einem Kreis tüchtiger, tätiger und froher Menschen der einzige zu sein, der am Leben leidet. Vielleicht hat Kursch recht? Sicher hat Kursch recht. Kursch hat recht! So befiehlt sich Dickmann.

Und so gelingt es ihm, am Abend dieses Tages in einem stillen, vornehmen Hotel seinem Vater herzlich die Hand zu drücken. Dickmanns prüfender Blick findet in dem Gesicht des Landgerichtsdirektors nicht mehr jenen verständnislosen Blick höflicher Abwehr und nicht den kalten Zorn, der ihn heute morgen an seinem Vater erschreckt hat. Wann war das überhaupt? Heute erst? Gestern?

»Tolle Sache, dieser Prozeß«, sagt Kursch zu dem älteren Corpsbruder, als wolle er ihn zu einem Gespräch einladen. Der Landgerichtsdirektor macht eine diskrete Handbewegung: »Ach laß doch«, sagt er.

»Ja, ja, diese Kommunisten«, sagt der Rechtsanwalt und taucht seine Lippen genußvoll in den kühlen Schaum des Pilsners ...

Spät am Abend verabschiedet sich Dickmann von seinem Vater und Kursch, um nach Berlin zurückzufahren. Die beiden Herren sehen ihm gedankenvoll nach, wie er das Restaurant verläßt. Kursch versteht es, seiner Haltung einen solchen Ausdruck von Wichtigkeit und Geheimnis zu verleihen, daß der Landgerichtsdirektor ihn fragt: »Wie meintest du?«

»Nichts, nichts,« beeilt sich Kursch zu versichern und beginnt dann trotzdem vorsichtig zu sprechen: »Ich möchte mich natürlich nicht in deine Familienangelegenheiten mischen. Es wäre mir sehr peinlich, wenn du diesen Eindruck gewinnst. Aber ich halte es für meine Pflicht. Ich kann da nicht ruhig zusehen, wenn ein so famoser junger Mensch ...«

Der Landgerichtsdirektor wird unruhig: »Sprich dich bitte aus. Keine halben Andeutungen, wenn ich bitten darf. Was ist mit meinem Sohn?«

Kursch räuspert sich diskret: »Ich habe schon damals, als er bei mir arbeitete, feststellen müssen, daß er sich aus einer Art mißverstandener Gerechtigkeitsliebe der Juristerei entfremdet. Du verstehst: alle die Kleinigkeiten, die zunächst jedem jungen Juristen fremdartig und auffällig erscheinen, nahm er ganz ungebührlich ernst. Es weiß ja schließlich jeder, daß im Strafprozeß hier und da Irrtümer geschehen, oder daß im Zivilprozeß die schlechtere Sache siegen kann. Aber bei deinem Sohn nimmt dieses Wissen für mein Empfinden sehr bedenkliche Formen an. Er ist doch eigentlich zu alt dafür, nun gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten.«

Landgerichtsdirektor Dickmann sieht plötzlich sehr alt aus. Er nickt abwesend und schweigt.

Die Situation ist für Kursch nicht gerade angenehm: »Vielleicht irre ich mich auch«, erklärt er bereitwillig, aber der Landgerichtsdirektor schüttelt nur den Kopf und fragt: »Wie erklärst du dir das alles?«

Kursch zuckt die Achseln: »Nicht so einfach zu sagen. Vielleicht äußere Einflüsse? Ich kann mir das allerdings nicht gut denken. Der Junge verkehrt doch ausschließlich in Kreisen, in denen es solche ungesunde Skrupelsucht nicht gibt ...«

»Hm«, macht der Direktor, und Kursch schweigt.

»Es ist allerdings ... mein Sohn hat, ich weiß nicht, ob es jetzt noch der Fall ist – in einer jüdischen Familie verkehrt ...«

»Na also, da haben wir's ja!« triumphiert Kursch. »Immer die Juden.«

»Es gab da, soviel ich weiß, eine hübsche Tochter, ebenfalls Referendarin. Er schien mir ein bißchen verliebt. Sehr gern habe ich das natürlich nicht gesehen.«

Kursch lacht: »Auch das noch!« Und dann sehen die beiden Herrn angestrengt auf das Tischtuch nieder.

»Vielleicht eine kleine Luftveränderung?« schlägt Kursch vor. »Ich denke da an ein kleines Provinzgericht etwa, wo der Junge in Kreise kommt, die ... na eben: in seine Kreise.«

Der Landgerichtsdirektor scheint die Unterhaltung beenden zu wollen. Er gibt sich einen Ruck und sagt abschließend: »Werde mal mit unserm Freund Heinemann sprechen.«

»Ausgezeichnet!« lobt Kursch, als sei es eine ganz überraschende Entdeckung, daß Heinemann, Alter Herr des Corps Markomannia Jena und Personalreferent im Ministerium, in dieser Angelegenheit immerhin einiges tun könne ...

Dickmann ahnt nichts von der liebevollen und gewalttätigen Fürsorge, die ihn umgibt. Auf seinem Schreibtisch liegen jetzt viele Bücher, dicke Kommentare des Bürgerlichen Gesetzbuchs, schmale Broschüren und sauberes weißes Schreibpapier. Der Leipziger Spuk ist fast vergessen. Der Vater ist zwar immer noch in Leipzig. Jeden Morgen geht er mit steifem, soldatischem Schritt ins Reichsgericht, und immer noch spielen sich Tag für Tag dieselben Szenen im Sitzungssaal des Staatsgerichtshofs ab. Dickmann arbeitet an seiner Karriere. Er bringt es sogar fertig, keine Zeitungen zu lesen, so weit schiebt er jeden Gedanken an das Leipziger Erlebnis von sich. Die Blätter bringen jetzt ohnehin wenig Notizen, denn die Öffentlichkeit hat sich an den Tschekaprozeß gewöhnt. Assessor Dickmann kann sich ungestört seiner Doktorarbeit widmen: »Die Wirkungen nichtiger Ehen im Verhältnis zu Dritten nach § 1344 BGB.«

Wie unendlich beruhigend solch wissenschaftliche Arbeiten sind! Man beschreibt jeden Tag vier oder fünf Folioseiten und kann sich ausrechnen, daß man in drei oder vier Wochen die fertige Doktorarbeit der Fakultät einreichen wird ... Man baut kunstvolle Sätze und empfindet eine bescheidene Genugtuung über die Tatsache der eigenen geistigen Produktion. Daß sich aus solchem beschränkten Spezialthema keine juristischen Offenbarungen ergeben werden, – Dickmann weiß es. Eine Doktorarbeit soll ja aber auch keine wissenschaftliche Großtat sein, sondern soll nur die Fähigkeit des Doktoranden beweisen, sich im Zusammenhang über eine Frage zu äußern, die längst und zu Dutzenden von Malen beantwortet worden ist. Man blättert die Kommentare durch, schreibt Sätze daraus ab und nimmt Stellung zu ihnen. Umständlich und erschöpfend.

Und das Schönste ist, daß in diesen dicken Büchern und schmalen Broschüren nichts zu lesen ist von der politischen Justiz Deutschlands, und nichts über Wesen und Ziel der Gerechtigkeit. Dickmann lächelt: er ist ein kleiner Assessor, der an seiner Doktorarbeit schreibt, und doch hat er es gewagt, nicht einverstanden zu sein mit einem Senatspräsidenten am Reichsgericht! Die Anmaßung, die in dieser Meinungsverschiedenheit liegt, ist so toll, daß man eigentlich nicht mehr über sie lächeln kann. Die andern haben die Erfahrung, das gute Gewissen, die Autorität, – sie wissen was sie tun, sie wissen, was man darf oder nicht.

Aber Tatsachen werden nicht dadurch ungeschehen gemacht, daß man nicht an sie denkt. Eines Tages hält Dickmann ein Zeitungsblatt in der Hand. Der 22. April 1925. »Urteil im Tschekaprozeß.« Dickmann kann nicht verhindern, daß sein Herz schneller klopft. »Die Angeklagten Neumann und Poege werden wegen Mordes zum Tode verurteilt, der Angeklagte Skobelewski wegen Anstiftung zum Morde zum Tode ... der Angeklagte Margies wegen Beihilfe zum Morde und wegen Verbrechens gegen das Republikschutzgesetz zu 15 Jahren Zuchthaus ...«

Sechzehn Angeklagte, drei Todesurteile, über siebzig Jahre Zuchthaus. Er schiebt das Zeitungsblatt weit von sich. »Ekelhaft.« Und doch greift er wieder danach, er liest die nebensächliche Randbemerkung, der Senatspräsident habe erst stundenlang die Urteilsbegründung verlesen, ehe er den Angeklagten das Urteil verkündete. Gegen fünf von ihnen hatte der Reichsanwalt die Todesstrafe beantragt, und trotzdem zwang man sie, drei Stunden lang die geistvolle und scharf formulierte Urteilsbegründung anzuhören. Eine sinnlose Grausamkeit und ein Verstoß gegen alle gesetzlichen Vorschriften ... Tscheka! Tscheka!

Unlösbar ist diese Buchstabenfolge für Dickmann, verbunden mit der Vorstellung der blutgierigen Fratze asiatischer Wildheit ... Nein: der Senatspräsident Niedner ist kein Asiate, der Reichsanwalt Neumann ist nicht blutgierig. Deutsche Richter sind nicht sinnlos grausam, sie sind gerecht, korrekt, höflich, stehen himmelhoch über dem Gewirre menschlicher Leidenschaften und wissen nichts von den dunklen inneren Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie ihre Urteile fällen. Die Stimme des Präsidenten knarrt gleichmütig: »Wir fahren fort ...«

»Die Angeklagten lächelten, als der Vorsitzende das Urteil verkündete. Als man sie abführte, sangen sie: Wacht auf, Verdammte dieser Erde!«

Dickmann will nicht mehr. Was gehen ihn diese sechzehn Kommunisten an, ihn, den Assessor Friedrich Wilhelm Dickmann? Was zwingt ihn, sich mit dem Schicksal dieser Verlorenen zu beschäftigen, die nun ein halbes Leben im Zuchthaus vegetieren oder ihren Kopf auf einen Block legen werden? Schwarzes Blut springt in das Sägemehl auf dem Steinboden eines Zuchthaushofs: »Im Namen des Volkes!«

Dickmanns Hand spielt mit einem Papiermesser. Sein Kopf tut ihm weh. Man sollte nichts denken, das führt zu nichts Gutem. Warum tut er es? Er ist merkwürdig klar in diesem Augenblick. Er steht vor sich wie vor einem fremden Menschen und betrachtet ihn kühl und zweifelnd. Dieser fremde Mensch macht keinen sehr guten Eindruck. Er stammt aus einer Familie, in der seit Jahrhunderten niemals gegrübelt worden ist. Generationen und Generationen seiner Vorfahren haben dem Staate gedient, treu und ohne ausschweifende Hoffnung auf Lohn, nur mit der kleinen Sehnsucht, ein neues buntes Band auf der Rockklappe befestigen zu dürfen oder in irgendeinem Verordnungsblatt ehrenvoll erwähnt zu werden. Generationen von Richtern, Verwaltungsbeamten und Offizieren. Und am Ende dieser langen Reihe tätiger, ernster und froher Menschen steht Friedrich Wilhelm Dickmann und fröstelt in der schneidenden Leere seines Lebens.

Wie kann das sein? Das muß einen Grund haben. Und diesen Grund muß man aufspüren.

 

Tags darauf ist der Landgerichtsdirektor Dickmann wieder in Berlin. Seine Dienstleistung am Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik ist zu Ende. Dickmann erschrickt, wie er seinen Vater sieht. Dieses bekannte und vertraute Gesicht erscheint ihm plötzlich fremd und kalt, als sei er noch immer im Reichsgericht. Ach nein, der Landgerichtsdirektor wird wohl immer so ausgesehen haben wie heute. Es wird an Dickmann liegen, daß er bisher die starren Falten hochmütiger Abwehr nicht bemerkt hat, die um den Mund des Vater gegraben sind, oder die Kälte der kleinen, grauen Augen hinter den scharfen Kneifergläsern.

Frau Landgerichtsdirektor erkundigt sich liebevoll danach, ob ihr Mann im Hotel auch gute Betten gehabt hat. Dickmanns Schwester Edith begrüßt den Vater mit höflicher Freundlichkeit, und nun soll alles wieder so sein, wie es war, bevor Dickmann nach Leipzig fuhr? Tscheka, Tscheka ...

Dickmann beobachtet seinen Vater mit kühlem Erstaunen. Dies ist einer der Richter, die in Leipzig ...

Nein, Dickmann schenkt sich nichts. Er geht der Sache auf den Grund. Er steht an einem Zeitungsstand und kauft sich alle Blätter, die er bekommen kann. »Das Bluturteil von Leipzig.« »Tscheka im Reichsgericht.« So lauten einige der Überschriften, und selbst die großen Zeitungen der republikanischen Parteien sprechen noch von »befremdenden Urteilen«, von »bedenklichen Schärfen« und erinnern daran, wie sanft und höflich dieser Staatsgerichtshof mit Mördern und Hochverrätern umgegangen ist, die nicht Kommunisten, sondern Offiziere und Studenten gewesen sind.

Dickmann sitzt an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, und liest: ein haltloser Psychopath beschuldigt einige Kommunisten der irrsinnigsten Pläne. Sie hätten den General von Seeckt auf dem belebtesten Platze Berlins ermorden wollen. Sie hätten Kulturen von Cholerabazillen angelegt, um sie im Bürgerkrieg zu verwenden, – nichts gibt es, was die Reichsanwaltschaft den Kommunisten nicht zutraute. Jedes Wort, das ein bezahlter Spitzel gesagt hat, findet sich in der Anklageschrift der Reichsanwaltschaft wieder. Die angeklagten Spitzel dürfen ihre Mitangeklagten in den Zellen vernehmen und über diese Vernehmungen Protokolle anfertigen und sie dem Gericht einreichen: das höchste deutsche Gericht nimmt diese Schriftstücke als Beweismaterial an, ohne zu befürchten, sich die gepflegten Finger zu beschmutzen, – es sind ja Kommunisten, die verurteilt werden sollen. Ein gewisser Helmut soll den Psychopathen Neumann zum Morde angestiftet haben. Im Auftrag der Reichsanwaltschaft verhaftet man einen Russen Skobelewski. Der Spitzel sagt: dies ist der Helmut, und diese Angabe genügt, um einen Menschen monatelang in Ketten zu legen und ihm die jämmerlichsten Rechte zu stehlen, die ein Gefangener nach dem Rechte der deutschen Republik hat. Diese Denunziation genügt dem höchsten deutschen Gericht, um einen Menschen, der seine Unschuld beteuert, zum Tode zu verurteilen. Was hat man ihm nachgewiesen? Nichts. Der Staatsgerichtshof weiß es selbst nicht genau. Im Urteil muß nach dem Gesetz die als erwiesen erachtete Tatsache angegeben werden. Aber von dem zum Tode verurteilten Russen Skobelewski sagt der Staatsgerichtshof: ist er nicht Anstifter gewesen, so war er zum mindesten intellektueller Mittäter ...

Die weiße Weste, die der Landgerichtsdirektor Dickmann an Sommersonntagen anzulegen pflegt, ist fleckenlos und blütenweiß wie je. Der Mann, der in Leipzig bei diesem Urteil mitgewirkt hat, kann weiterhin mit Tränen in den Augen von der unendlichen Bindung an Gottes Majestät sprechen, die dem Richter das Recht und die Kraft gibt, zu strafen und zu richten.

Dickmann geht seinem Vater aus dem Wege. Und häufig ertappt er sich dabei, wie er den alten Mann mit schrägem Blick betrachtet.

Einsam ist Dickmann, keinen Menschen hat er, mit dem er sich aussprechen könnte über die Zweifel und Bedrückungen, die ihn in diesen Tagen überfallen. Keinen Menschen?

Und da nennt er Genias Telefonnummer.

Er hört nicht, daß ihre Stimme kühl und befremdet klingt, er tritt in das Zimmer, geht auf sie zu und sagt irgend etwas, das sein überraschendes Kommen erklären soll.

Genia lächelt gehemmt: »Du kommst also wieder zu mir,« sagt sie fragend, und Dickmann nickt schwer.

Er sitzt neben ihr, legt seinen Kopf in ihren Schoß und schließt die Augen. Immer so liegen bleiben dürfen. Wissen, wo man hingehört. Sein Kopf schmiegt sich fest in ihre Hand, und sie lächelt leer über ihn hinweg.

Dann steht Genia plötzlich auf: »Keine Halbheiten bitte. Was willst du von mir? Ich liebe diese Weichheit nicht. Wenn du ratlos bist, will ich dir helfen. Aber meine Hilfe wird nicht mitleidig sein, Dickmann. Ich habe keine Kraft und keine Zeit zum Mitleid. Entscheide dich: Was willst du?«

Dickmann gibt sich einen Ruck. Was soll er sagen? Er murmelt nur halblaut: »Tscheka. Ich war in Leipzig ...«

»Und da hast du gesehen, daß du auf einem falschen Weg bist?«

»Ich fürchte es.«

»Wir sprechen verschiedene Sprachen. Wenn du Gerechtigkeit sagst, höre ich Haß und Abscheu.«

»Aber ich will deine Sprache sprechen,« flüstert Dickmann entschlossen.

Genia zuckt die Achseln: »Warum? Du hast kein Gewissen, Dickmann, und keine Kraft. Du hast ein unbestimmtes Gefühl für Sauberkeit. Du nennst es Gerechtigkeit, aber in Wirklichkeit hast du nur den Mut zur Ungerechtigkeit verloren, den deine Freunde haben. Du fühlst, daß du ungerecht sein mußt, wenn du deiner Klasse treu bleiben willst, aber weil du schwach bist, möchtest du gerecht sein. Das ist alles. Entschuldige, wenn ich biblisch rede: Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon. Man kann sich nicht an die Ideale der herrschenden Klasse klammern und gerecht sein wollen. Man kann nicht sagen Gott und das Recht, wenn man Privateigentum und Klassenvorteil meint. Man muß sich entscheiden, und du bist nicht der Mann, der sich entscheiden wird ...«

»Doch! Doch! Ich will es!« Dickmann weint fast.

Aber Genia schweigt mit zusammengekniffenen Lippen und schüttelt müde den Kopf. »Ich glaube dir nicht mehr, Dickmann. Heute willst du, weil du erschrocken bist über das Bluturteil von Leipzig. Aber morgen, übermorgen?«

»Auch dann. Ich will endlich zur Ruhe kommen!«

»Ach du, bei uns gibt es keine Ruhe. Wie kann man ruhig sein, solange noch das Unglück Verbrechen heißt? Wie kann man sich zufrieden geben, wenn das Streben nach einer besseren, freieren Zukunft ein Tatbestand des Strafrechts? Du willst dich entscheiden, – aber mit einer solchen Entscheidung wird man nicht Landgerichtsdirektor, Dickmann. Man wird in den Augen der Menschen, an deren Urteil dir etwas liegt, zu einer komischen Figur. Ich glaube dir, daß du manches ertragen kannst, – nur nicht den Hohn, nur nicht die Bedeutungslosigkeit ... Laß mich, Dickmann! Geh', ich bitte dich. Geh', ich kann dir nicht helfen!«

In Dickmanns Gesicht kommt ein harter Zug der Entschlossenheit. Er schüttelt starr den Kopf. Dies ist das Schicksal. Man darf ihm nicht ausweichen. Man muß diesen Weg zu Ende gehen ...

Sie schweigen. Genia hebt die Augenbrauen. »Du bleibst?« fragt sie erstaunt, da Dickmann sich mit breiter Gelassenheit in einen Sessel setzt. Aber in dieser Frage ist keine Befriedigung. Was soll das? Dieser Mensch liebt die Autorität, liebt die Unterordnung. Ein Zufall ist es, daß er bereit ist, sich gerade ihr unterzuordnen. Stände an ihrer Statt ein anderer Mensch, – er würde auch diesen anerkennen, sich überzeugen lassen und glauben.

Aber Genia muß reden. Unwillig zuerst tausendfach gesagte Dinge wiederholend, dann mit zitternder Empörung, die drohend und zwingend auf Dickmann übergreift:

»Was da in Leipzig geschehen ist, – weißt du, ob es sich nicht täglich wiederholt in all den Verhandlungen, bei denen die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit ausgeschlossen wird? Aber das ist ja noch nicht das Schlimmste, daß diesen sechzehn Menschen offenbares Unrecht angetan wurde, – das Schlimmste ist diese Stumpfheit, diese gewissenlose Schläfrigkeit der deutschen Republik, die es mit einem Achselzucken zuläßt, daß ihr höchstes Gericht sich selbst ins Gesicht schlägt, indem es seinen eigenen Gesetzen zuwiderhandelt. Die Dinge spitzen sich zu: früher konnte sich die Justiz noch den Luxus der formalen Korrektheit leisten, heute muß sie zur Brutalität und zur Willkür greifen, wenn es gilt, das Bestehende zu schützen. Kommunisten sind vogelfrei. Man braucht sich nicht mehr die Mühe zu machen, ein politisches Urteil juristisch zu fundieren. Früher hieß es: der Jude wird verbrannt, heute heißt es: der Kommunist gehört ins Zuchthaus. Und das geschieht im Namen des Volkes, im Namen der Gerechtigkeit.«

Noch immer wehrt sich Dickmann. Ihm selber unbewußt klingen in ihm die alten Beruhigungsformeln wider, die bisher noch immer ihre Wirkung auf ihn gehabt haben. Es gibt keine Klassenjustiz in Deutschland. Das Bestehende muß geschützt werden, weil es immer noch besser ist als das Kommende. Die Heiligkeit des Bestehenden entschuldigt und heiligt die Mittel, mit denen es geschützt wird. Sie heiligt alles. Auch die Gerechtigkeit der deutschen Justiz ...

»Dickmann, ich warne dich! Man kann dies alles nicht einfach hinnehmen. Man muß etwas dagegen tun. Man muß kämpfen, muß sich opfern. Und du bist nicht der Mann, der kämpfen will. Geh', Dickmann, ich kann dir nicht helfen.«

Will Dickmann kämpfen? Er ist so unsicher, er möchte seine Ruhe finden, er hat sie hier gesucht, und statt des großen Erbarmens einer liebenden Frau fand er die schneidende Kälte einer Kämpferin.

Genia steht vor ihm: »Du mußt jetzt gehen. Ich habe dir alles gesagt, was ich dir sagen mußte. Wenn du dich entscheiden willst, dann tu es. Ich verachte dich nicht, wenn deine Entscheidung anders ausfällt, als du heute denkst. Kein Mensch kann aus seiner Haut heraus. Seine Klasse zu verlassen, weil man ihre Ungerechtigkeit erkennt, dazu gehört viel Kraft. Und ich glaube nicht, daß du so stark bist, Dickmann!«

Dickmann nickt schwer. Womit hat er das verdient? Was hat er getan, daß er mit seinem Leben noch immer nicht zurecht kommt? Die Dinge spitzen sich zu, man muß sich entscheiden, man kann nicht Gott dienen und dem Mammon, der deutschen Justiz und der Gerechtigkeit ...

Es klopft an der Türe. Das Dienstmädchen: »Herr Assessor Dickmann? Sie werden am Telefon verlangt.«

Dickmann springt auf. Hat er denn zu Hause etwas davon gesagt, daß er zu Genia gehen wollte? Wer konnte das wissen? Er nimmt den Hörer. Sein Vater meldet sich. Er möge entschuldigen, es sei wichtiger Besuch da. »Es wäre sehr gut, wenn du dich bald freimachen könntest.«

»Jawohl, ich komme sofort.« Er verabschiedet sich von Genia schnell. Sie lächelt und sieht ihn fragend an. Zu fragend, denkt Dickmann, und wird nervös. Seine Verabredung mit ihr für einen der nächsten Tage ist hastig und wie von ungefähr.

Genia lächelt verzeihend: »Und wenn du nicht kommst, dann weiß ich ...«

»Aber ich bitte dich! Selbstverständlich komme ich. Ich verstehe nicht, wie du daran zweifeln kannst. Ich habe dir doch wohl nie Veranlassung gegeben, zu glauben, ich hielte meine Versprechen nicht ...«

Genia zuckt die Achseln.

»Ich komme selbstverständlich ...«

Dickmann wird nicht kommen. Er kann nicht kommen. Er fürchtet sich vor dem Absprung ins Fremde ... Zu Hause findet er Landrat von Norden vor, seinen Corpsbruder und Regimentskameraden. Er geht Dickmann mit ausgebreiteten Armen entgegen: »Ich gratuliere, mein Lieber! Famos, daß die Sache so geklappt hat.«

Dickmann sieht seinen Vater fragend an. Der lächelt gerührt und reicht ihm ein Schreiben mit amtlichem Siegel. Dickmann erbricht den Brief und liest. Es ist seine Bestallung als Amtsgerichtsrat beim Amtsgericht Pörgelau.

Er kann sich nicht freuen. Da ist die Entscheidung, um die man nicht herumkommen wird ... Pörgelau, – was soll ihm das. Norden ist Landrat in Pörgelau. Die Stadt liegt zwei Schnellzugstunden von Berlin entfernt ... Das weiß er. Aber die Entscheidung?

Man spricht mit ihm wie mit einem Kranken, lauter Liebe und herzliche Fürsorge umgibt ihn. Landrat von Norden ist geschwollen vor energischer Freundlichkeit. Die Mutter hat Tränen in den Augen: »Fietichen! Nu ist er schon Amtsgerichtsrat! Mein Gott, wie die Zeit vergeht!« Auch Edith läßt sich zu einem kühlen Glückwunsch herbei. »Danke schön«, sagt Dickmann, und das sind die ersten Worte, die er seit Wochen an seine Schwester richtet.

Mitten in dem sanften Wirbel freudiger Erregung steht er wie ein Fremder. Genia, die Entscheidung ... Alles, was ihm dabei einfällt, ist ein Vers Frank Wedekinds, den er neulich irgendwo gehört hat, und der nun in dumpfem Rhythmus in ihm widerklingt: »Bald wird er dann Doctor juris, Amtsgerichtsrat und verehlicht, und was eine rechte Hur' ist, das vergißt er so allmählich ...« Ja, das ist alles.

Landrat von Norden schlägt ihm auf die Schulter: »Pörgelau wird dir schon gefallen. Famoses altes Nest. Glänzende Güter in der Umgegend. Werde dich da einführen. Weißt ja, meine Frau ist eine geborene Bogen, Komteß Bogen. Der Vater hat eine wundervolle Jagd. Sollst mal sehen: Steeplechase, Schleppjagd, – da lacht einem alten Kavalleristen das Herz im Leibe.«

Dickmann nickt freundlich zu allem. Wie war das doch? Drei Todesurteile, eines mit der Begründung zum Aussuchen, – das Bestehende muß geschützt werden ...

Draußen auf dem Korridor unterweist Frau Landgerichtsdirektor mit lauter Stimme das Dienstmädchen und die Köchin, sie hätten von jetzt an »Herr Amtsgerichtsrat« zum Herrn Assessor zu sagen. Dickmann hört es deutlich. Nicht einmal lächeln kann er.

Und während im Nebenzimmer der Landgerichtsdirektor und der Landrat sich augenzwinkernd ansehen, schlägt er im Konversationslexikon nach: »Pörgelau, Stadt mit 24 000 Einwohnern, Landgericht, Amtsgericht, Landratsamt, Lehrerseminar, Gymnasium, Garnison. Malerisch am Pörgelauer See und an der Porge gelegen. Ackerbau, Getreidehandel, Eisengießereien.«

Wie war das? Wollte Dickmann sich nicht noch einmal mit Genia Lazar treffen? Wo blieb die große Entscheidung, die sein Leben umgestalten sollte?

Der Telefonanruf des Landgerichtsdirektors ist zur rechten Zeit gekommen. Noch im allerletzten Augenblick wurde der Assessor Dickmann durch die weise Vorsicht seines Vaters von einem Entschluß zurückgehalten, den er vielleicht nie wieder hätte gut machen können.

Wie der Amtsgerichtsrat und Doktor der Rechte Friedrich Wilhelm Dickmann an den Ort seiner neuen Tätigkeit abreist, kommt in der Corneliusstraße ein Brief an, den der Landgerichtsdirektor unschlüssig und mißtrauisch in der Hand dreht. Dann öffnet er ihn kurz entschlossen. Sein Inhalt erregt nur ein schwaches Kopfschütteln. »Hast du dich entschieden, Dickmann?« Landgerichtsdirektor Dickmann zerreißt den Brief nachdenklich in viele kleine Stücke und wirft sie in den Papierkorb. Dann lächelt er versonnen und ruft Rechtsanwalt Kursch an: »Ich danke dir auch noch sehr, daß du mich damals rechtzeitig auf die Geschichte aufmerksam gemacht hast.«


 << zurück weiter >>