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Er war ein Mensch gleich wie wir.
Eine Mutter hat ihn geboren. Ein Geistlicher hat in der Taufe über ihm das Zeichen des Kreuzes geschlagen, ihn der Obhut des Himmels empfohlen und hat ihn bei seinem Namen genannt: Friedrich Mehnert. Ein Mensch gleich wie wir.
Er trägt in sich die unendliche Angst der Kreatur, die Last des Dasein-Müssens, empfindet Lust und Schmerz, Wärme und Kälte, Hunger und Durst: ein Mensch ...
Aber keiner Mutter werden die Augen feucht, wenn sie an ihn denkt. Kein Mund bietet sich ihm zum Kuß. Kein Freund drückt ihm die Hand. Um ihn ist die Kälte der Einsamkeit.
Friedrich Mehnert: ein Landstreicher, ohne Obdach, – er trottet die Landstraße, die nie ein Ende nimmt. Hofhunde schnappen mit wildem Gekläff nach seinen Waden. Bauern rufen ihm knurrend Schimpfworte zu. Frauen drücken sich scheu und ängstlich an ihm vorbei. Manchmal weint ein Kind, wenn es ihn sieht.
So ausgestoßen ist er, daß sich oft wochenlang sein Mund zu keinen anderen Worten formt als zu jener wild-demütigen Bitte, mit der er seinen Anteil fordert an den Gütern des Lebens: »Armer Handwerker bittet um eine kleine Gabe ...« Andere verstehen besser zu bitten, ihr Auge glänzt nicht so drohend, und ihr Gesicht ist nicht so häßlich und düster wie das Friedrich Mehnerts. Man sieht ihn lieber gehen als kommen. Die Bauernfrauen geben ihm wenig und schnell, und um ihn ist ein heimliches Grauen, untrennbar von ihm wie der beizende Geruch von Kuhmist, blühendem Gras und dumpfem Stroh, der seinen zerlumpten Kleidern entströmt ...
Fragte jemand den Menschen Friedrich Mehnert, wie er in solche Einsamkeit geraten wäre, – er bekäme kaum eine Antwort. Friedrich Mehnert weiß es nicht. Eine Kugel wurde angestoßen und rollte eine geneigte Ebene hinab; so folgerichtig rollt eines Menschen Leben dem Abgrund zu. Nach ewigen Gesetzen. Kugel, Mensch, Tier ...
Der Mensch muß essen. Er braucht nicht viel; einen Kanten trockenes Brot, einen Teller warme Suppe, – und das Brüllen des Magens verstummt. Auch Wasser gibt es überall. Einen alten Brunnen auf dem Dorfplatz oder eine klare Quelle findet Friedrich Mehnert immer noch.
Warum krallt er also oft des Nachts die Hände in den moosigen Waldgrund, schreit, stöhnt, mahlt mit den Zähnen, beißt um sich, bis ihm der Sand im Munde knirscht und der wilde Krampf, der in seinem Körper tobt, sich in starrer Erschöpfung löst? Es ist nicht Hunger oder Durst, nicht Hitze noch Kälte. Auch dieser Verlassenste der Verlassenen wird durchschüttelt von jenem Trieb, der der Urgrund alles Lebens ist. Auch diesen Landstreicher reißt die Angst der Todesgewißheit und die Sehnsucht nach der Ewigkeit hinein in den tröstenden Rausch der Zeugung.
Er war ein Mensch gleich wie wir ...
Trifft Friedrich Mehnert nach einer solchen Nacht Menschen auf der Straße, dann glüht sein Auge noch dunkler und drohender als sonst. Manches Bauernmädchen, das an ihm vorübergeht, verstummt mitten in einem Scherzwort oder im freundlichen Gruß vor würgender Angst. Das ist die rätselhafte, hilflose Angst vor einem häßlichen oder bösartigen Tier.
Und doch ist Friedrich Mehnert kein Tier. Er ist noch elender, denn er trägt zu aller Qual in sich auch das Bewußtsein, daß er leidet, und daß dieses Leid nicht zu sein brauchte ...
Früher war alles anders, früher, als er Arbeit hatte und sein dürftiges Leben in der menschlichen Gemeinschaft lebte. Aber heute muß er selbst der zahnlosen, stinkenden Vettel der Landstraße ihre Liebe abkaufen. Und Mehnert ist arm wie ein Tier ...
Herbst. Im Pörgelauer Stadtforst schreien die Hirsche. Ein Mensch torkelt über Schneisen und Wildwechsel. Sein Blut brüllt lauter als das Röhren der brünstigen Hirsche. Aus der Erkenntnis seines Leides wächst der Haß auf alles Lebende, auf die Menschen, die ihn ausstießen, auf die Frau, die ihn nicht erhört. Haß und Rausch, Qual und Lust, – ein einziger brennendroter Wirbel, der ihm vor den Augen kreist ...
Sonne brennt auf farbigem Laub. Der Erdboden strömt letzte feuchte Wärme aus. Holztauben gurren. Rote Sonne auf glatten Kieferstämmen. Hinter einem Busch am Waldweg liegt ein wildes Tier und späht gierig nach jenem hellen Fleck, der sich langsam dem Waldsaum nähert. In der blauen Ferne verschwimmen Türme und Dächer der Stadt Pörgelau.
Eine Frau geht spazieren. Ein roter Sonnenschirm kreist lässig über dem weißen Seidenkleide. Die hellen Strümpfe umschließen wohlgeformte Waden. Um sie ist der Hauch von Frische und Gepflegtheit. Die Frau geht spazieren, sie nähert sich dem Walde, geht an jenem Busch vorüber, hinter dem ein Tier auf seine Beute lauert.
Ein Sprung, ein Schrei, haarige Hände zwingen sie zu Boden. Ihr Gesicht trifft ein feucht-heißer, fauliger Atem. Schrei. Angst, Angst ...
Sie hört nicht die beschwörenden Worte, die auf sie niederstürzen, fühlt nur die krallenden Hände an ihrem Leib, sieht die blutunterlaufenen Augen, hört ein dumpfes Röcheln und Stöhnen, schlägt um sich, stößt, schreit ...
Haß und Rausch und Qual und Lust ...
Eine Stunde später findet der Waldarbeiter Kleinemann den Leichnam der Frau von Seelow. Seine Lungen jagen, wie er die Stadt erreicht. Mit den Fäusten trommelt er an die Tür der Polizeiwache, knirscht und schreit: »Mord! Mord!«
Die Arbeit des Apparates setzt ein. Der Polizeikommissar. Der Untersuchungsrichter beim Landgericht Pörgelau. Öffentliche Auslobung: »Tausend Mark Belohnung! Der Oberstaatsanwalt ...«
Eine Kompanie Reichswehr umstellt den Stadtforst. Aber der Mörder ist entkommen. Er hetzt durch Knüppelholz und Farne, durch Kornfelder und über Schollenacker, bricht in die Knie, reißt sich wieder auf, rast weiter. Seine kralligen Hände sind rot von Blut, in seinen Augen starrt das Entsetzen. Und über Meilen hinweg gellt der Schrei der Stadt Pörgelau in seinen Ohren: »Mord! Mord!«
Mord, – durch alle Straßen der Stadt hallt der Schrei, bricht sich als scharfes Flüstern an Mauerwänden, kriecht durch Türen und Fenster. Männer ballen die Fäuste, Frauen reißen ihre Kinder von der Straße in die Sicherheit der vier Wände. Das Unheimliche hält die Stadt gepackt. Des Abends sind die Straßen leer, und mancher starke Mann fröstelt, wenn er im Dunkeln einen unbestimmbaren Schatten, ein sonderbares Geräusch wahrnimmt. Die Luft der Häuser ist vergiftet: an den Fensterläden, um den Schein der Lampen, auf Treppen, in Winkeln und Kellern schleicht das Grauen. Aber was ist dies heimliche Wispern und Raunen gegen die Flüche der Männer, die kreischenden, angstverzerrten Gebärden der Frauen und gegen die knirschende Wut der Drohung: »Wenn man den Kerl kriegte ...« Man sagt nicht, was dann geschähe. Einen tollen Hund schlägt man tot. Gegen den Menschen, der schlagen und schießen will, erhebt man Waffe oder Faust. Was aber tut man mit einem Menschen, der zum Tier geworden ist?
Aus dem Blut, das da auf einem Waldweg im Pörgelauer Stadtforst dunkel und schwer versickert, wächst die Notwehr des Menschen gegen sein schauerliches Spiegelbild. Ratlosigkeit und dumpfes Grauen vor den Möglichkeiten, die in jedem Menschen liegen, in jedem ... Die Notwehr wird zu jähem Erschrecken, der Schreck zu geifernder Wut. Und tierischer, wilder fast als die Tat sind diese schmatzenden Flüche, dieser rot-schwelgende Haß: »Wenn man den Kerl kriegte ...«
Einen tollen Hund schlägt man tot. Aber einen Menschen, der zum Tier geworden ist? Einen Menschen, der doch ein Mensch ist wie wir? »Zu Tode prügeln ... mit dem Kopf nach unten aufhängen ... von Pferden zerreißen lassen ...«
Die Luft ist klebrig und feucht von Geifer. Landgerichtsrat Hollweg sagt noch einmal, was er schon seit Tagen geknurrt, gemurmelt, geschrien hat: »Das kommt eben von der verfluchten Humanitätsduselei! Und angesichts solcher Taten wagen es Menschen, von der Abschaffung der Todesstrafe zu reden! Meine Herren, ist das noch Wahnsinn oder ist es schon Verbrechen? Wenn man diesen Kerl kriegte, man sollte ...« Er sagt nicht, was mit ihm geschehen sollte. Er bricht ab und murmelt Unverständliches. Seine Worte reichen nicht aus, die Qual zu schildern, die für jenen ersonnen werden müßte ...
Das Pörgelauer Gerichtsgefängnis füllt sich. Der Gefängnisinspektor weiß nicht mehr, wohin mit all den Landstreichern, die ihm Tag für Tag die Landjäger zuführen. Einer von ihnen muß es gewesen sein. Jeder Mensch, der nicht satt zu essen und der kein Dach über dem Kopf hat, ist verdächtig. Die Gedankenwelt der Landjäger ist nicht groß: der Weg von der bürgerlichen Unordnung bis zum Lustmord denkt sich daher leicht und schnell, und man darf in jedem Unglücklichen einen Verbrecher sehen.
Der Untersuchungsrichter ringt die Hände. Es ist nicht jedem zerlumpten Vagabunden gegeben, unter den Schimpfworten und Püffen der Landjäger standhaft zu bleiben. Immer wieder schleppt ein Gendarm einen jämmerlichen Bettler vor ihn und triumphiert: »Der ist's gewesen. Hat schon gestanden, Herr Landgerichtsrat!« Und immer wieder muß der vermeintliche Mörder dem Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann zugeführt werden, der ihn wegen Bettelns und Obdachlosigkeit verurteilt. Sieben Minuten Verhandlungsdauer für jeden. Verurteilt zu vier Wochen Haft und nachfolgender Überweisung ins Arbeitshaus. So das Übliche ...
Und Friedrich Mehnert? Er wagt nicht mehr, sich bei Tage den Dörfern zu nähern. Nachts steigt er in einsame Gehöfte, stiehlt an Brot und Fleisch, was er zum Leben braucht. Dann verkriecht sich das Tier wieder im Walde, aus dem es hervorgebrochen war.
Dieses Tier war einst ein Mensch. Seinen Vater hat er nie gekannt. Unter den Schlägen einer vom Leben betrogenen Mutter wuchs er auf. Er lernte frühzeitig erkennen, daß die Welt nichts wissen will von dem unehelichen Sohn einer alternden Prostituierten. Erst stahl er aus Hunger, dann, weil er es nicht anders kannte. Und schließlich, weil es Freude machte, den verhaßten und verzweiflungsvoll geliebten Menschen zu zeigen, daß man klüger, geschickter, stärker war als sie. Als ein Schutzmann dem kleinen Dieb ins Genick schlug und ein eifriger junger Amtsrichter den vierzehnjährigen Jungen zu drei Wochen Gefängnis wegen Taschendiebstahls verurteilte, hatte sich dieses Leben schon erfüllt. Die Fürsorge des Staates, Stockschläge und lange Gebete in einem Erziehungshaus, hatte es nicht mehr allzu schwer, aus dem Fürsorgezögling Friedrich Mehnert einen Menschen zu machen, in dessen kleinen Augen eine drohende Glut brannte. Ein entlassener Fürsorgezögling, dem niemand Arbeit geben will. Ein Diebstahl, um nicht zu verhungern, – und der »mehrfach vorbestrafte Gelegenheitsarbeiter« Friedrich Mehnert kommt auf die Landstraße, ist ausgestoßen aus der menschlichen Gemeinschaft, hungert, friert, flieht vor den Landjägern, arbeitet hin und wieder bei Bauern ...
Einmal noch stockte dieser rasende Ablauf. Einmal noch schien es, als könnte aus Friedrich Mehnert doch noch ein Mensch der Gemeinschaft werden. Das war, als der landwirtschaftliche Arbeiter die Liebe einer pockennarbigen, kleinen Bauernmagd gewann. Sofie hieß sie, und sie liebte Friedrich Mehnert, so daß seine Augen in einigen Wochen ihren düsteren Glanz verloren. Manchmal pfiff er sogar schon bei der Arbeit, und Sofie war die erste, die einmal ein rauhes Lachen aus diesem Menschen hervorbrechen hörte. Sie erschrak davor: es klang wie ein Fluch, weil Friedrich Mehnert das Lachen erst lernen mußte ...
Dann geschah es, daß ein Landjäger sich eines Tages auf dem Bauernhof nach »diesem Friedrich Mehnert« erkundigte. Der mißtrauische Bauer, der den Knecht von der Landstraße fort in Lohn und Brot genommen hatte, fragte nach dem Grund dieser persönlichen Neugier. Warum soll ein Landjäger den Bauern nicht freundschaftlich warnen, warum soll er ihm nicht mitteilen, daß Mehnert vorbestraft ist? Warum soll er dem Bauern nicht raten, ein wachsames Auge auf diesen Mann zu haben? Der Landjäger ist verpflichtet, für Ordnung in seinem Bezirk zu sorgen. Vorbestrafte Menschen sind immer ein Gefahrenmoment. Sie können rückfällig werden, können stehlen, brandstiften, und der Landjäger hat dann den Ärger davon. Vorbestrafte Menschen muß man unter Kontrolle halten. Wer erst einmal mit den Gesetzen in Konflikt gekommen ist, von dem ist zu erwarten, daß er auch ein zweites und drittes Mal straffällig werden wird. Die Katze läßt das Mausen nicht, der Landjäger weiß Bescheid, jawohl.
Der Bauer entließ den unbequemen Knecht, und so kam Friedrich Mehnert wieder auf die Landstraße. Zu seinem Haß auf die Menschheit gesellt sich der verzweifelte Haß auf die Frau: Sofie blieb weiter auf dem Bauernhof, sie wollte mit dem alten Zuchthäusler nichts zu tun haben ...
Kann es nicht doch noch gut werden? Kann er seinen Haß nicht doch noch vergessen und wieder an die Güte der Menschen glauben lernen? Vielleicht, – aber da waren diese Nächte in Zuchthäusern und Gefängnissen. Um acht Uhr des Abends wird das Licht gelöscht. Zehn Stunden Schlaf sind eine Aufgabe für einen gesunden Menschen, für einen Gefangenen sind sie eine Grausamkeit und eine Qual ...
»Das frühe Einsetzen der Nachtruhe in den Strafanstalten ist einmal notwendig, um die Hausordnung aufrecht zu erhalten. Zum anderen aber sind die stillen Stunden, die zwischen dem Löschen des Lichtes und dem Einschlafen liegen, von außerordentlichem erzieherischen Wert für die Psyche des Gefangenen. Was mag wohl alles durch die Seele eines solchen Menschen gehen, der sein verlorenes Leben an sich vorüberziehen läßt und – zum ersten Mal vielleicht – auf die feinen Stimmen des Gewissens lauscht, die in ihm wach werden?«
Der Ministerialrat, der so schrieb, weiß nicht, was in der Seele eines solchen Menschen vorgeht. Friedrich Mehnert aber weiß es und mit ihm Tausende von Leidgenossen, in denen die Einsamkeit der Zelle die letzten guten Regungen mordete.
Acht Uhr abends. Im Sommer ist es fast taghell. Man wälzt sich ruhelos auf der harten Pritsche und mit den feinen Sinnen des Gefangenen sieht man nicht: man hört die Nacht hereinbrechen. Man ist allein. Man ist gefangen. Vor dem hellen Sommerabendhimmel stehen die gekreuzten Gitterstäbe des Zellenfensters. Vor dem Leben die Mauern, die zu dick sind, um sie mit den Fingernägeln zu zerkratzen, und zu dünn, als daß man nicht genau hörte, wie nebenan ein gefangener Mensch sich auf seinem Lager wälzt und in unseliger Verlassenheit stöhnt.
Was mag da wohl durch die Seele eines solchen Menschen gehen? Ein Zuchthausgefangener hat keine Seele. Er hat die Pflicht, ein Gewissen zu haben, und es ist die Aufgabe der staatlichen Strafvollzugsorgane, dieses Gewissen in sorgsamer und liebevoller Pflege zu wecken und wachzuhalten.
Was mag da wohl in der Seele eines solchen Menschen vorgehen? Sie sind ja noch Menschen, man hat noch nicht alle Eigenschaften eines menschlichen Wesens aus ihnen herausgequält. Sie können ja noch denken. Und sie denken. In Tausenden von Zellen steht in diesen stillen Stunden die gewaltige, drohende Frage: »Warum?« Über die dichte Wirrnis von Qual und Liebessehnsucht, von Lebensgier und Verlassenheit, von kindlichem Weinen und knirschendem Zorn, von Stolz und Demütigungen erhebt sich der Gedanke, bricht der Trost des Entrechteten herein, die Wollust der Rache ... Acht Uhr abends. Im Winter zerschneidet das Dunkel des Mauerlochs der grelle Schein der Scheinwerfer, die den Hof mit hartem, bösem Licht erfüllen. Es beißt in die Augen, erhitzt die schmerzenden Hirne. Man hat Zeit, an die Rache zu denken, und man denkt an sie, sodaß noch der unruhige Schlaf erfüllt ist von dem Blutrausch schwelgender Vergeltung, von der weinenden Lust an der zuckenden Qual jener, die man für schuldig hält. Alle sind schuld: der korrekte Strafanstaltsdirektor mit dem schleimigen Ton kalter Warmherzigkeit in der Kehle, den das Achselzucken des Bürokratenkörpers Lügen straft. Der kernige Strafanstaltspfarrer, in dessen Hirn sich Paragraphen der Hausordnung und Bibelsprüche zu einem Gewebe mitleidiger Grausamkeit verfilzen, der Gefängniswärter, der sorgenvoll an seine untreue Frau denkt, der Richter, der Feind, die Frau, die Menschheit, alle, alle ...
Was mag da wohl in der Seele dieser Menschen vorgehen?
Fünfundvierzig Jahre ist Friedrich Mehnert alt. Zwanzig Jahre vegetierte er hinter den dicken Mauern. Zwanzig Jahre lang waren seine Nächte vergiftet von dem fressenden Gift der Gedanken, bis der Rausch der Vergeltung alles verschlungen hatte, was noch in diesem Menschen menschenähnlich war.
Wer ist mutig genug, zu entscheiden, warum nun auf einem Waldweg im Pörgelauer Stadtforst ein dunkler Fleck langsam in den letzten Strahlen der Herbstsonne bleicht? Eine Kugel wurde angestoßen und rollte eine geneigte Ebene herab. So folgerichtig rollt eines Menschen Leben dem Abgrund zu ...
An einem dieser feuchten Herbstabende, an denen Friedrich Mehnert sich in einem Fuchsbau ein Lager aus welken Blättern zusammenscharrt, sitzt in Pörgelau der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann in seiner Wohnung und arbeitet. Die grüne Lampe, Tee mit Rum, Zigaretten. Seine Gedanken schweifen von den Aktenblättern ab. Immer öfter steht er auf, und tut sinnlose Dinge. Er wäscht sich zum fünften Male an diesem Abend die Hände. Er klingelt nach dem Dienstmädchen. Anna heißt sie. Rot und warm ist ihr Fleisch. Er spricht mit ihr ein paar Worte und sieht sie so merkwürdig an, daß das Mädchen verlegen wird. Da reißt er sich zusammen und bestellt eine neue Portion Tee. Aber noch ehe das Mädchen ihn bringt, hat er seinen Hut vom Nagel gerissen und läuft auf die Straße.
Acht Uhr ist es. Man sollte jetzt in den Goldenen Engel gehen, dann wäre alles gut. Das andere – nein! Es geht nicht! Dickmann tut es nicht! Dickmann wird an diesem Abend Frau von Norden nicht besuchen. An diesem Abend, wo der Landrat zu dienstlichen Besprechungen nach Berlin gefahren ist und erst in zwei Tagen wiederkommen wird. Dickmann tut es nicht! Er wird in den Goldenen Engel gehen.
Hinter den erleuchteten Fenstern des Hotels klingt Lärmen und Lachen. Man riecht schon von weitem den Dunst von Zigarren und Bier ... Man sollte vorher vielleicht noch ein wenig spazieren gehen. Dickmann geht viel zu wenig spazieren, er neigt zur Korpulenz. Der Goldene Engel reizt nicht. Bei Melanie brennt jetzt die gelbe Seidenlampe. Es riecht nach Sauberkeit und Fliederseife. Ihre Schenkel wiegen sich weich und schwer, wenn sie durchs Zimmer geht. Man muß dann ganz schnell weg sehen. Manchmal streicht ihre Zungenspitze schnell und leicht über die vollen, halbgeöffneten Lippen ...
Nein! Dickmann tut es nicht. Das ist eine Schweinerei! Eine verheiratete Frau. Ehebruch, die Heiligkeit der Ehe ... Aber man ist eigentlich sehr allein. Man kann nicht immer im Goldenen Engel sitzen. Man kann nicht immer in Frack und weißer Weste mit festlich geputzten Frauen Konversation machen. Es hat schon viele Abende gegeben wie diesen, da Dickmann ruhelos durch die Straßen lief ...
Die Gartenpforte ist offen. Dickmann hat eigentlich nur einmal leicht dagegendrücken wollen, um zu sehen, ob sie auch wirklich offen ist. Aber jetzt knirscht der Kies des Gartenwegs unter seinen Sohlen. Im Eckzimmer brennt Licht. Dickmann spreizt die Hände und schließt sie zur Faust: man sollte jetzt ...
Die Hausglocke gibt einen schrillen Ton. Noch ist es Zeit. Noch jetzt kann man sich schnell umwenden, den Weg zur Straße zurücklaufen, – aber er hört Schritte auf der Treppe. Frau von Norden öffnet selbst: »Nein, der Herr Amtsgerichtsrat! Das ist aber nett von Ihnen«, Dickmann beugt sich über ihre Hand.
Melanie von Norden lacht töricht und glucksend: »Die Mädchen sind in der Stadt, ja. Haben Urlaub heute. Ich wollte gerade zu Bett gehen ... Aber nein, aber nein«, wehrt sie entrüstet ab, wie Dickmann seine Bereitschaft beteuert, sofort wieder zu gehen. »Nein, kommen Sie nur, zu einem Glas Wein reicht es immer noch ...«
Die Luft der Häuser ist vergiftet: an den Fensterläden, um den Schein der Lampen, auf Treppen, in Winkeln schleicht das Grauen. Mord, – dieser Schrei hallt durch die Straßen und bricht sich als scharfes Flüstern an den Wänden der Häuser ...
Melanie von Norden schauert zusammen. Sie sitzt in einer Ecke der Couchette und lächelt dumpf: »Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie kommen, Dickmann. Wissen Sie, ich graule mich jetzt immer so ...« Und dabei schüttelt sie sich und zieht die Knie an das Kinn.
Dickmanns Stimme klingt in diesem wattierten Raum zu laut. Er fühlt es selbst und dämpft sie zu Behutsamkeit und Wärme. Roter Wein in den Gläsern ...
»Trinken Sie doch.«
Frau von Norden seufzt tief auf: »Ich muß immer an die arme Frau von Seelow denken. Ob sie wohl viel hat leiden müssen?«
Dickmann weiß es nicht. Läßt sich schwer entscheiden.
»Wenn man diesen Kerl kriegte, man müßte ihn ...«
»Jaja«, macht Dickmann.
Er sitzt unbequem. Er möchte aufstehen, sich auf jenen Sessel setzen. Aber er fürchtet, Melanie dann anzustoßen. So bleibt er sitzen, die Arme lächerlich steif an den Körper gepreßt. Am liebsten wäre er weit fort.
»Eigentlich entsetzlich«, lispelt Frau Landrat ängstlich. »Da geht man einfach spazieren und plötzlich kommt so ein Tier ... Man versteht das einfach gar nicht, wie ein Mensch eine wehrlose Frau ... Sie konnte sich doch nicht wehren, Dickmann!«
Ganz gewiß.
»Ich meine, eine Frau ist doch wehrlos ...«
Meint Dickmann auch.
Die Zunge Melanies kreist spitz über die Lippen. Sie zieht den Kopf ein und lächelt: »Vielleicht versteht das ein Mann besser?« fragt sie. »In jedem Mann steckt doch schließlich irgendwo ein wildes Tier, nicht wahr?«
Dickmann hat sich noch wenig Gedanken darüber gemacht. Aber er ist zu höflich, um zu widersprechen. So wird er eifrig: »Selbstverständlich, in jedem Mann. Gebändigt durch Konvention, Sitte und Moral. Sie haben völlig recht, gnädige Frau.«
»Sehen Sie!« sagt sie zufrieden, und dann schweigen sie lange. Vor Dickmanns Augen kreist roter Nebel.
»Sagen Sie, Dickmann: könnten Sie eine Frau schlagen?«
Eine Frau schlagen? Dickmann hat noch keine Frau geschlagen. In seinen Kreisen schlägt man keine Frauen. Er streift Melanie mit einem Blick, sie wendet die Augen ab, Dickmann atmet hörbar, dann sagt er laut und schwer: »Ja, ich könnte es.«
In Melanies Gesicht steigt ein tiefes Rot. Sie weiß nicht, wo sie ihre Hände lassen soll. Sie preßt sie zwischen die Knie ... Dann lacht sie grell: »Sie sind ja ein ganz gefährlicher ... ein ganz gefährlicher Mensch sind Sie ja, Dickmann.«
Dickmann lacht geschmeichelt. Nicht so schlimm.
»Ich glaube, Sie könnten vielleicht sogar eine Frau ...« Frau Landrat wirft sich entsetzensvoll zurück. »Ich glaube, Sie könnten vielleicht eine Frau ... Man muß ja Angst vor Ihnen haben, Dickmann!«
Sie will aufspringen, gleitet aus, ihr Oberkörper fällt schwer über Dickmanns Knie. Er packt sie. Reißende Seide knirscht schrill. Seine Hände umpressen mehliges, festes Fleisch, seine Zähne beißen in eine runde Schulter ... Stöhnen, Keuchen ...
»Ach, was du stark bist ...«
Ein Waldweg in einem Pörgelauer Forst. Mord. Tierischer als die Tat fast sind diese schmatzenden Flüche, dieser schwelgende Haß ... In Dickmanns Händen zuckt die irrsinnige Sehnsucht, seine Finger um diesen weißlichen, fetten Hals zu legen, zu pressen ... »Tu's! Tu's!«
Er taumelt in eine entfernte Ecke des Zimmers. Der rote Nebel fällt. Melanie liegt lächelnd auf der Couchette. Ihre Brust hebt sich in wilden Stößen. Ihre Augen sind geschlossen. »Komm doch wieder her«, flüstert sie ...
Mitten in der Nacht geht Dickmann nach Hause. Die lähmende Traurigkeit seiner Glieder ist verschwunden. Durch die stillen Straßen der Villenvorstadt summt ein fröhliches Lied: »Seh ich ein Haus von weitem, wo ein lieb Mädel träumt, sing ich zu allen Zeiten ein Lied ihr ungesäumt ...«
Er steht an der Seepromenade und atmet lustvoll die scharfe Morgenluft. Sein Blick ruht sanft auf dem jenseitigen Ufer des Sees ...
Jenseits des Sees, zehn Kilometer von hier entfernt, liegt ein Tier in einem Fuchsbau. Seine Hände krallen sich in das Laub des Lagers. Schreien, Stöhnen. Das Tier mahlt mit den Zähnen, beißt um sich, bis ihm der Sand im Munde knirscht und sich der Krampf seines Körpers in starrer Erschöpfung löst ...
Frau Landrat von Norden hat die elektrische Lampe an ihrem Toilettentisch eingeschaltet. Ihr Schein mischt sich unheimlich mit dem frühen Morgenlicht. Sie lächelt. Auf ihrer Schulter brennt eine rote Bißwunde. Sie streicht vorsichtig Hautcreme auf die brennende Stelle und murmelt glücklich: »Er ist ja wie ein Tier ...«
Ein Tier, denkt auch der Amtsgerichtsrat Dickmann beim Einschlafen und gähnt herzhaft. In jedem Manne steckt ein Tier. Gebändigt durch Sitte, Konvention und Moral. Dann dreht er sich auf die andere Seite ...
Am Morgen des Tages, der jetzt aus den Nebelschwaden aufsteigt, geht die zwölfjährige Tochter Grete des Landwirts Böhme zum Pilzesuchen in den Wald. Mittags findet man an einem Ackerrain ihre Leiche. Nachmittags verhaftet man einen Landstreicher, die blutbefleckte Kleidung hat ihn verraten. Abends liefern zwei Landjäger einen Menschen, dessen Gesicht von den Schlägen wütender Bauern zerfleischt ist, im Gerichtsgefängnis von Pörgelau ein ...
In den Entsetzensschrei der Stadt Pörgelau mischt sich der satte Ton der Befriedigung: »Sie haben ihn!« Oberstaatsanwalt Linde und Untersuchungsrichter Sollmann arbeiten fieberhaft. Die Volksmeinung duldet kein Aufschieben des Prozesses. Man versteht in Pörgelau nicht, was die Justiz an einem Fall zu untersuchen hat, der klar ist wie die Sonne. Ein Mensch, der eine Frau und ein armes kleines Mädchen abgeschlachtet hat, der die Verbrechen eingestanden hat ... Warum schleppt man den Kerl nicht einfach auf die Richtbank und schlägt ihm den Kopf ab?
»Haben Sie ihn schon gesehen?« fragen die Kollegen den Amtsgerichtsrat Dickmann. Und dann gehen sie mit ihm hinaus zum Gerichtsgefängnis. Der Gefängnisinspektor, sofort von einem Beamten herbeigerufen, platzt vor Wichtigkeit: »Selbstverständlich, selbstverständlich, ich werde die Herren führen ...«
Zweiter Stock, Zelle 37. Der Inspektor springt voran und schiebt die Klappe von dem Guckloch zurück, durch das man in die Zelle hineinsehen kann. »Stehnse mal auf!« schreit er durch die geschlossene Tür. Dann macht er eine einladende Handbewegung zu den Herren wie ein Schaubudenbesitzer.
Dickmann nähert sein Auge dem Guckloch. In der Zelle steht ein Mann in blauer Gefängniskleidung, die wie ein Sack an ihm herunterhängt. Dickmann ist voll sachlichen Interesses. So sieht also ein doppelter Lustmörder aus. Dann tritt er zurück. Die Herren Kollegen wollen sich Friedrich Mehnert auch mal besehen.
Der Gefängnisinspektor ist unruhig. »Wollen die Herren nicht lieber eintreten? Ist es auch hell genug? Können Herr Landgerichtsrat sehen?« Es ist hell genug, und Herr Landgerichtsrat kann in aller Ruhe den Menschen Friedrich Mehnert betrachten, der wie ein Tier im Käfig starr und steif in seiner Zelle steht und den scharfen Augen der Richter sein Gesicht zuwendet.
Landgerichtsrat Krüger wendet sich ab. Kopfschüttelnd und vor sich hinmurmelnd. »Sagten Sie etwas?« fragt Dickmann höflich.
»Er sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch«, sagt Krüger enttäuscht, und – wie es scheint – aus irgendwelchen Gründen beunruhigt ...
»Du hast ihn gesehen? Wie sieht er aus? Sag' doch was! Kann ich ihn nicht auch einmal sehen?« fragt Melanie drängend bei Dickmanns nächstem Besuch.
»Er sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch«, will Dickmann sagen, aber er scheut sich vor dieser Plattheit. Und so redet er von einer gebuckelten Stirn, von einem finsteren Blick, von krallengleichen Mörderhänden, von Henkelohren und Sattelnase ...
»Wie groß? Größer als du? Noch jung? Nun sage mal! Wohl sehr stark, wie? Kann man nicht sehen? Warum kann man das nicht sehen? Du hast ihn nur durch das Guckloch gesehen? Schade. Sag mal, ein Guckloch ist da an der Zellentüre? Da kann man einfach so durchsehen, ja? ...«
Dickmann gibt auf alle Fragen bereitwillig Auskunft. Dann stutzt er: »Was ist dir?« fragt er plötzlich, und Frau von Norden sagt: »Ich hatte ihn mir anders vorgestellt.« Und nach einer kleinen Pause seufzend und bedeutungsvoll: »Die arme Frau von Seelow ... Und die armen, armen Eltern«, fügt sie hastig hinzu. Dickmann fragt sich vergebens, warum ihm diese Hast auffällt ...
»Ist der Mann denn normal?« will sie jetzt wissen.
»Wenn ein Mensch eine Frau und ein kleines Mädchen ermordet hat, kann er doch nicht normal sein«, entfährt es Dickmann.
»Wenn er nicht normal ist, dann kann man ihn doch auch nicht verurteilen, nicht wahr?«
Halt, Dickmann hat Unsinn geredet: »Normal und strafrechtlich verantwortlich ist doch ein gewaltiger Unterschied. Ich meine nur: wenn dieser Mensch zwei Menschen getötet hat, nehme ich an, daß er irgendwo defekt sein muß. Denn ein vernünftiger Mensch tut so etwas doch nicht. Deswegen kann er aber für seine Taten doch verantwortlich sein!« sagt Dickmann energisch. »Das ist doch ganz klar!« Aber er findet selbst, daß das nicht so ganz klar ist. In jedem Manne steckt irgendwo ein Tier ...
Halt! Was denkt er da! Dickmann räuspert sich unruhig. Dann strafft er sich in dem tröstlichen Bewußtsein, daß er nicht berufen sei, in das Dunkel einer menschlichen Seele hineinzuleuchten. Er weiß und will nur dies Eine wissen: die Gesellschaft muß vor solchen Leuten wie Friedrich Mehnert geschützt werden. Ob man ihn nun auf Lebenszeit im Zuchthaus oder im Irrenhaus interniert, oder ob man ihn besser vernichtet, ausstreicht aus der Liste der Lebenden, das ist die einzige Frage, die Friedrich Mehnert aufgibt.
»Willst du schon gehen?« gurrt Melanie leise. Und Dickmann bleibt ...
Was gilt die Qual der Kreatur? Die Todesangst der ermordeten Frau? Der letzte, entsetzlich wissende Blick des geschändeten Kindes? Das Ausgestoßensein Friedrich Mehnerts?
Nichts, nichts; die Mühle mahlt, die Kurbeln kreisen. Alles geht seinen Gang. Man schlägt einen tollen Hund nieder, aber ein doppelter Lustmörder ist kein toller Hund. Er ist mehr: das schauerliche Spiegelbild eines jeden Menschen. Sein Leben ist kostbar. Sein Leben gehört ihm nicht mehr selbst. Sein Leben ist Anschauungsmaterial, sein Tod demonstrierende Lebhaftigkeit ...
Der Strafanstaltswachtmeister Stoermer kann den Gefangenen gerade noch im letzten Augenblick abschneiden. Nein: er hat keine Sekunde gezögert, ob er den Mann, der da in einer aus dem Nachthemd gedrehten Schlinge am Fenstergitter hing, hängen lassen sollte; ob es sich lohnte, dieses Leben zu retten.
Keinen Augenblick hat er gezögert. Es lohnt sich. Friedrich Mehnerts Leben ist so kostbar geworden, daß sich ein Arzt um ihn bemüht, daß man ihn in ein weißbezogenes Bett legt, ihm Kognak einflößt, künstliche Atmung an ihm vornimmt ... Da liegt der Landstreicher in einem sauberen Bett. Vor wenigen Wochen noch scharrte er sich nachts aus Laub ein Lager im Walde zusammen. Aber da klebte an seinen Händen auch noch nicht das Blut zweier Menschen. Da galt sein Leben noch nichts. Da kümmerte sich keiner um ihn, – heute ist sein Leben so kostbar ...
Oberstaatsanwalt Linde erkundigt sich besorgt bei dem Medizinalrat, ob der Gefangene die Folgen seines Selbstmordversuchs überstehen würde und atmet erleichtert auf, weil er beruhigende Versicherungen erhält: »Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Oberstaatsanwalt ...« Ja, – der Oberstaatsanwalt hatte Angst, daß ihm dieses kostbare Leben entglitte.
Die Heiligkeit des Lebens geht über alles, – man stellt dem doppelten Lustmörder darum sogar von amtswegen einen Verteidiger. Im Turnus der Offizialverteidiger beim Land- und Amtsgericht Pörgelau wäre der Justizrat Dethleffsen an der Reihe, dieses Amt zu übernehmen. Aber der Justizrat verzichtet, er ist sich zu gut dafür, so einen Kerl zu verteidigen. So wird denn Rechtsanwalt Dr. Herzmann zum Verteidiger Friedrich Mehnerts bestellt.
Diese Tatsache erregt allgemeine Heiterkeit. Man gönnt es dem kleinen Herzmann, daß er sich an so einer Sache die Finger verbrennen muß. Eigentlich kann man ihm nichts weiter nachsagen, als daß er Jude ist. Aber das genügt in Pörgelau vollauf, um einen Menschen unmöglich zu machen. Was den Rechtsanwalt bewegt, trotz allen offenen und versteckten Angriffen, trotz Spott und Nichtachtung in Pörgelau zu bleiben, versteht niemand. Jedenfalls tut er es und macht sich vollends lächerlich dadurch, daß er sich des Falls Friedrich Mehnert mit unendlichem Eifer annimmt. Man könnte fast glauben, er hielte den doppelten Lustmörder für unschuldig.
Daß man den Angeschuldigten auf seinen Geisteszustand untersuchen solle, ist ein billiges Verlangen, dem sich niemand verschließen kann. Medizinalrat Brunke, der Pörgelauer Gerichtsarzt, wird mit dieser Aufgabe betraut, und ihm kann niemand nachsagen, er mache sich die Erfüllung seines schweren Berufs leicht.
In der Zelle Friedrich Mehnerts erscheint an drei aufeinanderfolgenden Tagen ein lauter, kräftig und gesund aussehender Mann und versucht, sich mit ihm zu unterhalten. Nicht mit der distanzierenden Sachlichkeit des Untersuchungsrichters, sondern mit einer Art aggressiver Vertraulichkeit, vor der der Gefangene sich in witterndem Mißtrauen zurückzieht.
Oh, das tut nichts. Medizinalrat Brunke kommt wieder, er wird ja dafür bezahlt. Heute fünf Minuten, morgen fünf Minuten und übermorgen noch einmal fünf Minuten, das genügt durchaus, um sich ein psychiatrisches Bild von dem Lustmörder Friedrich Mehnert zu machen; das genügt, um auf vier Schreibmaschinenseiten den erschöpfenden Nachweis zu erbringen, der Angeschuldigte sei absolut für seine Taten verantwortlich zu machen. Gewisse Degenerationserscheinungen seien zweifellos vorhanden, aber von einem Ausschluß der freien Willensbestimmung bei der Tat könne gar keine Rede sein.
Der Medizinalrat ist ein kerngesunder Mann. Er hält nicht viel von diesen modernen Psychiatern, die aus allen möglichen Symptomen auf geistige Störungen schließen wollen. Das ist einfach moralische Knochenerweichung. Irgendwo muß man doch schließlich eine Grenze ziehen, sonst verringern sich ja die Tatbestände, die überhaupt noch strafrechtlich erfaßt werden können, in einem Maße, das dem Schutz der Gesellschaft durchaus abträglich ist. Friedrich Mehnert ist normal, und der Medizinalrat Brunke will doch mal sehen, ob jemand gegen sein Gutachten etwas einzuwenden hat.
Dieser Rechtsanwalt Herzmann! Dieser kleine Jude! Der Medizinalrat schäumt vor Wut: »Was will der Mann? Diesen Kerl in einer öffentlichen Anstalt auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen? Das ist doch ... einfach Verschleppungstaktik ist das, weiter nichts. Wenn ich sage, der Mann ist normal, dann ist er normal, meine Herren!«
Die Herren vom Gericht glauben es ihm unbedingt. Auch der Oberstaatsanwalt hebt ironisch die Augenbrauen, wie er von dem Antrag des Verteidigers erfährt. Aber er hat über den Fall Mehnert dem Generalstaatsanwalt Bericht erstatten müssen. Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als sich diesem Antrag anzuschließen. Schade, die nächste Schwurgerichtsperiode beginnt in sechs Wochen und bis dahin hätte man den Fall so schön in Ordnung bringen können, und nun ... Wer denkt noch an Friedrich Mehnert? Wer an die Ermordeten? Der Kampf zwischen dem Medizinalrat Brunke und dem Rechtsanwalt Dr. Herzmann ist ja viel interessanter und wird mit sportlichem Eifer verfolgt. Man schimpft auf den Verteidiger und ermuntert den Medizinalrat, man bemitleidet den Oberstaatsanwalt und schüttelt den Kopf über die unstatthafte Neugier des Generalstaatsanwalts. Die Erinnerung an das Grauen der Tat verblaßt. Friedrich Mehnert ist der unbedeutende Anlaß zu einer juristisch anregenden Komplikation geworden, das ist alles.
Nach einigen Wochen wird der Lustmörder Mehnert schwergefesselt in einem geschlossenen Auto in die Landesirrenanstalt überführt. Der Verteidiger hat gesiegt.
Was ist mit Friedrich Mehnert? Ist er ein Bettnässer? Leidet er an Syphilis? An Gedankenflucht, Verfolgungswahn? Sind irgendwelche Anzeichen dafür vorhanden, daß er an einer organischen Erkrankung des Gehirns leidet? An Affektstörungen, Gefühlsstauungen, übermäßigen Depressionen? Die Psychiater der Landesirrenanstalt geben sich alle Mühe, das Rätsel Friedrich Mehnert zu lösen.
Dann zucken sie die Achseln: Der Mann ist gesund wie ein Fisch im Wasser. Ein junger Assistent der Anstalt findet die Bezeichnung »Sexualnot der Entrechteten«, und damit ist die Ermordung zweier Menschen restlos erklärt. Vokabeln wirbeln durch die Luft, und man beruhigt sich aufatmend damit, das Rätsel wenigstens genau beschrieben und in die Terminologie der Fachwissenschaft eingeordnet zu haben. Das Bild des Lustmörders wird in tausend winzige Mosaikteilchen zerlegt und wieder zusammengesetzt. So entsteht wieder ein Bild, aber es ist nicht dasjenige Friedrich Mehnerts, sondern das eines beliebigen Menschen, der Oberpostsekretär sein könnte, Landgerichtsrat oder Professor der Psychiatrie. Tausend andere Menschen gleichen diesem aufs Haar und sind doch niemals doppelte Lustmörder geworden.
Was tut das? Es ist so unendlich tröstlich und beruhigend, sich hinter das große Geheimnis zurückzuziehen, die Verantwortung für das Geschehene irgendeiner rätselhaften Macht zuzuschieben und zu sagen: »Freiheit des Willens« oder »erworbener Sadismus«. Und der Professor, der, eine Zigarre rauchend, seiner Stenotypistin das Gutachten in die Maschine diktiert, wird niemals vor einer grausamen Klarheit zusammenbrechen und sich fragen, wer Schuld daran sei, daß dieser Mensch so geworden ist. Er wird niemals vor der Tat eines anderen stehen und an seine Brust schlagen und sagen: »Meine Schuld!«
»In absoluter Übereinstimmung mit allen Autoritäten der gerichtlichen Psychiatrie komme ich daher zu dem Ergebnis, daß erworbener Sadismus niemals ein Grund sein kann, an der freien Willensbestimmung des Täters bei Begehung der Tat zu zweifeln. Stände man nicht auf diesem Standpunkt, so würde das die Unmöglichkeit bedeuten, überhaupt je ein Sexualverbrechen zu bestrafen ...«
Und das darf natürlich nicht sein. Der Professor ist ja nicht nur Arzt, er ist auch Mensch und Staatsbürger und hat als solcher seine ganz bestimmten Ansichten über das geltende Strafrecht. Er kann seine Hand nicht bieten zu den Ungeheuerlichkeiten, die jüngere Kollegen heute für letzte fundamentale Weisheiten ausgeben. Ein Verbrecher ist ein Verbrecher und muß bestraft werden, wenn er nicht zufällig verrückt ist. Friedrich Mehnert ist nicht verrückt ...
Und so hockt der Lustmörder auf dem Schemel im Pörgelauer Gerichtsgefängnis. Zweiter Stock, Zelle Nr. 37. Oder er wandert ruhelos auf und ab. Drei Schritte hin, drei Schritte her. Unterdessen rüstet man sich planvoll und gemächlich, die Gesellschaft endgültig vor dem Werwolf zu schützen.
Der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann kennt das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung. Aber er hat zu dem Fall keinerlei andere Beziehung als die allgemeine Überzeugung, die Gesellschaft müsse vor solchen Bestien geschützt werden. Und es ist nicht zu verlangen, daß er sich weitere Gedanken macht. Manchmal gibt es freilich Augenblicke, in denen Dickmann von einer unheimlichen Unruhe gequält wird, wie etwa jetzt, wo Udo von Gröhden im Goldenen Engel melancholisch das Schicksal Friedrich Mehnerts bedauert.
Man muß Udo von Gröhden kennen. Der Rittergutsbesitzer spielt in der Pörgelauer Gesellschaft mit Grazie und Erfolg die Rolle eines Clowns. Weil er klüger und erfolgloser ist als seine Standesgenossen, gefällt er sich darin, sich nicht ernst zu nehmen. Er äußert häufig erstaunliche Dinge, augenscheinlich zu keinem anderen Zweck als dem, Erstaunliches zu sagen. Man weiß niemals, ob er im Ernst oder im Scherz redet. Aber man weiß, daß er ein durchaus unbrauchbarer Mensch ist: sein Gut hat er so heruntergewirtschaftet, daß die Ritterschaft ihm einen Verwalter bestellt hat. So hat er nichts zu tun, als auszureiten, bei gelegentlichen Einkäufen in den Pörgelauer Kramläden mit den Kaufleuten um jeden Pfennig zu schachern und im Goldenen Engel trübsinnig Pilsener Bier zu trinken.
»Tja, –« gähnt Herr von Gröhden diskret, wie er hört, der Prozeß Mehnert würde nun in einigen Wochen stattfinden. »Tja, – eigentlich schade. Da ist nun endlich einmal etwas passiert. Das alte Nest hier fing an aufzuwachen. Es lohnte sich, zu leben. Sensation, das große Grauen, der unbekannte Werwolf, ein Dämon der Urzeit, hervorgebrochen aus den Wäldern, die Welt mit Schrecken zu erfüllen. Und jetzt? Ein armseliger Landstreicher, Sexualnot der Entrechteten, eine simple Schwurgerichtsverhandlung. Das Schwurgericht beehrt sich vorzustellen: den Mann, der die Frauen mordete. Tja, – eigentlich schade, daß sowas so kläglich und blamabel enden muß.« Udo von Gröhden nickt Dickmann freundlich zu: »Finden Sie nicht auch?«
Dickmann räuspert sich energisch. Er nimmt eine offizielle Haltung an: »Sie vergessen, Herr von Gröhden, daß hier zwei Menschen auf viehische Manier abgeschlachtet worden sind.«
»Gewiß, gewiß!« Gröhden verbeugt sich respektvoll. »Und was nun? Werden die beiden armen Wesen davon wieder lebendig, daß man ihren Mörder enthauptet, vierteilt oder rädert?«
Dickmann lächelt überlegen: »Wenn man so argumentieren wollte, dann dürfte es schließlich überhaupt kein Strafgesetz und keine Strafe geben, Herr von Gröhden.« Udo von Gröhden hebt vornehm die Augenbrauen: »Und wer sagt Ihnen, daß ich das Strafgesetz für einen integrierenden Bestandteil des Daseins halte?«
»Ich kann nicht annehmen, daß Sie im Ernst sprechen, Herr von Gröhden. Der Schutz der menschlichen Gesellschaft vor vertierten Wesen ...«
»Sie! Seien Sie vorsichtig!« warnt Gröhden mit erhobener Handfläche. »Seien Sie bloß vorsichtig mit der menschlichen Vertiertheit. Prost! Trinken Sie doch, Dickmann. Ja, was wollte ich doch sagen? Richtig, menschliche Vertiertheit. Wissen Sie, Dickmann, ich habe schon so viele menschliche Tiere gesehen, daß ich bezweifle, ob es überhaupt Menschen gibt. Tja! ...«
Gröhden schweigt träumerisch.
»Und was hat das mit dem Fall des Lustmörders zu tun?« weckt ihn Dickmann.
»Richtig, ich wollte Ihnen Geschichten erzählen, Plaudereien an märkischen Kaminen, tja. Im Krieg war ich Adjutant bei einem Armeestab in Mazedonien. Wir hatten da einen österreichischen Erzherzog. Ein vierzehnjähriger Junge sollte aufgehängt werden, weil er spioniert hatte. Sie wissen ja, bei jähem Todesfall findet nach gemeiner Ansicht bei dem Sterbenden eine ejaculatio seminis statt. Am Abend vor der Exekution wettete Königliche Hoheit mit dem Korpsarzt, ob eine solche auch bei dem vierzehnjährigen Spion eintreten würde. Königliche Hoheit gewann: der Korpsarzt stellte das an der Leiche des Erhängten fest. Tja ... Prost, Dickmann!«
»Und der Fall Mehnert?«
»Tja. Im Jahre 1917 war ich Ortskommandant an der Palästinafront. Da war ein kleines Arabermädchen, dreizehn Jahre alt. Nadjeh hieß sie. Der Name eine phonetische Orgie. Sie war meine Geliebte, Dickmann. Häufig kam es, daß ich sie schlug. Bloß so, ohne Grund. Ich schlug sie zärtlich und melancholisch. Ich schlug sie tierisch und hätte mit ihr weinen mögen vor lauter Traurigkeit. Tja, so ist das ...«
»Ich verstehe Sie nicht ...« Dickmann versteht wirklich nicht. Dieser Gröhden ist einfach ein Schwein ...
»Tja, ich bin eben ein Schwein«, nickt Gröhden freundlich zu Dickmanns Gedanken. »Ein vertierter Mensch sozusagen. Und doch bin ich Rittmeister außer Dienst, meine Ordensschnalle ist achtzehn Zentimeter lang, und meine Tagelöhner sagen ›gnädiger Herr‹ zu mir. Und als jener Erzherzog mit Tode abging, schickte der allerheiligste Vater aus Rom ein Beileidstelegramm. Tja, so ist das!«
»Verrückt!« sagt Dickmann energisch und setzt sich an einen Nebentisch. Seine Zeit ist zu kostbar, um sie durch Gröhdens Blödsinn stören zu lassen. Der Mann gehört ja ins Irrenhaus ...
Aber Friedrich Mehnert gehört nicht dorthin. Das Nachdenken über ein Verbrechen ist eine Verrücktheit, das Verbrechen selbst nicht: das muß mit dem Tode bestraft werden. Rechtens und im Namen des Volkes ... Dickmann scheucht die Gedanken an den Lustmörder fort. Aber ein winziger Zufall, ein ganz belangloses Ereignis reißt ihn plötzlich wieder in den Wirbel der Unruhe und des Zweifels.
»Haben Sie ein Schwein!« sagt Amtsgerichtsrat Wolf neidisch, wie er hört, der Amtsgerichtsrat Dickmann sei unter gleichzeitiger Entbindung von seiner Tätigkeit beim Amtsgericht Pörgelau zum Beisitzer des Schwurgerichts beim Landgericht ernannt worden.
Ja, Dickmann hat Glück: Landgerichtsrat Fleischer, der zum Beisitzer beim Schwurgericht ausersehen ist, wird plötzlich krank, und der Präsident des Landgerichts Dr. Posselt ist Dickmann gut gesonnen. Das liegt keineswegs nur daran, daß Dickmann mancherlei Verbindungen hat zu Kreisen, in denen Dr. Posselt nicht die majestätische Größe ist, als die er in Pörgelau erscheint. Nein, Dr. Posselt sieht in Dickmann den erfreulichen Typus eines modernen Richters, strebsam, fleißig, weltoffen, liebenswürdig, aus guter Familie, ohne arrogant zu sein ... Es gibt Gründe genug, die ihn wünschen lassen, diesem jungen Amtsgerichtsrat eine möglichst umfassende Kenntnis der deutschen Rechtspflege zu verschaffen.
Hollweg, der als alter Strafrichter schon seit Jahren fast ständig Beisitzer im Schwurgericht ist, lächelt, daß seine Schneidezähne sich entblößen, und sein Schnurrbart zittert: »Da wären wir ja Kollegen geworden. Freut mich außerordentlich ...«
Dickmanns Freude über die offensichtliche Bevorzugung ist nicht ungetrübt. Er befürchtet dunkel Verwicklungen und Störungen, die die leichte, genußvolle Fröhlichkeit seines Daseins trüben könnten. Merkwürdig, daß er gerade in der letzten Nacht wieder jenen seltsamen Traum gehabt hat, der ihn jetzt manchmal erschreckt. Er klammert sich um so sehnsüchtiger an die Unbeschwertheit seines Lebens, je mehr er fühlt, daß es schon lange den Keim künftiger Unruhe in sich trägt.
Denn jene Nacht vor dem Morde an der kleinen Grete Böhm hängt an ihm wie ein Bleigewicht. Melanie von Norden ist Anfang und Ende seines Denkens. Immer häufiger geht Dickmann zu ihr, immer wieder verläßt er den Stammtisch, um sie zu besuchen, und der Landrat sagt nicht mehr zu ihm: »Kümmere dich doch um meine Frau.« Dagegen ist er jetzt ganz besonders herzlich zu ihm und gibt ihm auf alle erdenkliche Weise seine völlige Ahnungslosigkeit und Unbefangenheit zu verstehen. Er spricht zu Dritten von Dickmann als »unserem lieben Hausfreund« und tut, als bemerke er das heimliche Lächeln nicht, das er mit solchen Deklamationen bei seinen Gesprächspartnern hervorruft.
Dickmann ist das peinlich. Aber das Geschehene läßt sich nicht ungeschehen machen. Melanie scheut sich nicht, ihn des Abends in seiner Wohnung aufzusuchen, wenn er einige Tage nicht bei ihr gewesen ist. Sie macht ihm Vorwürfe, reizt ihn durch törichte Eifersuchtsszenen zur Wut. Und Dickmann, der korrekte, höfliche Amtsgerichtsrat, gebraucht grobe Schimpfworte, die ihren Zweck nicht erreichen. Denn Frau von Norden lächelt amüsiert und zufrieden: »Du benimmst dich wie ein Zuhälter, lieber Freund«, sagt sie glücklich und schmiegt sich an ihn. Und Dickmann ist zu müde, um sich zu wehren, wenn er spürt, wie diese Frau ihn verändert und mit Tränen und Küssen alle Roheit und Wirrnis weckt, die in ihm liegen. Seine Zornesausbrüche, seine Verzweiflung, die kalte Grausamkeit, mit der er sie behandelt, der heiße Haß seiner Umarmungen, – das ist nicht mehr er selbst, das ist ein anderer Mensch, vor dem er sich fürchtet, und dessen Taten er mit schmerzlichem Unbehagen betrachtet. Sie lächelt, küßt ihn und gibt ihm bewundernde Kosenamen. »Mein kleiner Zuhälter,« sagt sie, »mein wildes Tier ...«
Oft ist Dickmann traurig, und denkt an Zeiten, die lange vorbei sind. Denkt daran, daß die Liebe kein Glück ist, und fragt sich, warum es sein muß, daß in jeder Freude soviel Bangen und Grauen liegen.
Aber beim Studium der Akten »Mehnert, § 211« schlägt Dickmann trotzdem keine Ader schneller. Von seinen dunklen Gefühlen führt keine Brücke hinüber zu dem Tier, das in einem Käfig des Pörgelauer Gerichtsgefängnisses ruhelos auf und abläuft, stumpfsinnig und steinern Stunden um Stunden auf einem Schemel hockt, und das ein Mensch war wie wir. Wenn Dickmann an seinen Augen noch einmal jenes Leben vorübergleiten läßt, dann versinkt sein eigenes Leben in Nichts, ist ausgelöscht, und Dickmann ist so geartet, daß er noch stolz auf diese Tatsache ist. Die Überzeugung, daß hier in die Gemeinschaft der Menschen ein Tier hineingeboren worden sei, mit dem keine menschliche Gefühlsregung eine Verbindung schlagen kann, wird nicht berührt von den Privaterlebnissen des Amtsgerichtsrats Dickmann. Das darf nicht sein: Dickmann ist objektiv, er darf sein kleines Ich nicht mit der Majestät des Gesetzes verquicken ...
Das Schwurgericht.
Sechs festlich gekleidete Männer stehen im Beratungszimmer: der Bürgermeister von Pörgelau, Direktor Feige, ein Rittergutsbesitzer, ein Gutsbesitzer, der Obermeister der Pörgelauer Bäckerinnung und ein Magistratssekretär. Männer von echtem Schrot und Korn. Männer, deren blaue Augen ruhig über rote Backenwülste hinweg in diese Welt sehen. Männer, die ausgezeichnet schlafen, denen das Bier schmeckt, und die niemals in ihrem Leben Hunger oder Gewissensangst erfahren haben. Männer, deren Ideale die gleichen sind wie die der drei Richter: Gottesfurcht, Vaterlandsliebe, ein kleines Vermögen; eine treue Frau und wohlgeratene Kinder, die mit Stolz auf ihren ehrenhaften und geachteten Vater blicken können.
Diese sechs Männer verkörpern die Stimme des Volkes, die Friedrich Mehnert sein Urteil sprechen wird.
Des Volkes?
Unter den Geschworenen des Schwurgerichts Pörgelau hat sich schon seit Jahren kein Arbeiter befunden. Niemand nimmt daran Anstoß. Niemand wagt zu behaupten, das Urteil der Geschworenen sei nicht die Stimme des Volkes, sondern die durch tausenderlei unkontrollierbare Einflüsse bestimmte Ansicht einer engbegrenzten Bevölkerungsklasse. Diese »Männer aus dem Volke« sollen nicht ihren juristischen Verstand, sondern ihr Herz bei ihren Urteilen sprechen lassen.
Der Amtsrichter, der die Listen der Schöffen und Geschworenen aufstellt, ist der pflichteifrige und anständige Amtsgerichtsrat Wolf. Die Gewähr ordentlicher Rechtsprechung ist bei der Auswahl der Laienrichter sein oberstes Prinzip. Niemand kontrolliert ihn, niemand diskutiert mit ihm darüber, ob nicht vielleicht hin und wieder auch einmal ein Arbeiter zu diesen Ehrenämtern herangezogen werden müßte. Was verstehen diese Leute denn schon! Kluge, gebildete Männer sind die besten Laienrichter: ihr Lebenskreis ist der gleiche wie der der gelehrten Richter, es gibt keine Meinungsverschiedenheit, die Beratung geht flott vonstatten, die rechtliche Sache gedeiht. Ein Unternehmer, zwei Agrarier, zwei Beamte und ein heraufgekommener Kleinbürger: die Stimme des Volkes, die Gottes Stimme sein soll.
Die sechs Männer schwören einen heiligen Schwur, sich bei ihrer Richtertätigkeit lediglich von der Wahrheit und der Gerechtigkeit leiten zu lassen. Und in ihren ergriffenen Gesichtern malt sich nicht die bange Frage, die am Anfang alles Urteilens und Denkens stehen sollte: »Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit?« Sie tragen sie in sich ...
Vor dieses Gericht tritt er, dessen Augen drohend und dunkel zu seinen Richtern aufsehen. Durch die Reihen der Zuhörer geht ein Raunen und Murmeln. In den hinteren Reihen stellen sich die Menschen auf die Bänke, um das Raubtier zu sehen. Die Kameraverschlüsse der Pressephotographen schnappen, die Bleistifte der Zeichner rascheln über das Papier, die Berichterstatter halten die Handmuschel vor die Ohren, um kein Wort zu verlieren, das aus Friedrich Mehnerts Munde kommen wird.
Um den Mund des Angeklagten huscht ein bitteres Lächeln. Es wird von allen schnell und gern als Hochmut und Verstocktheit gedeutet. Wer soll sich denn die Mühe geben, die Gedanken des Mörders zu erraten, die in jenem Lächeln endeten?
Monoton plätschert Rede und Gegenrede. Zeugen, Sachverständige. Friedrich Mehnert sagt nicht viel. Es ist auch nicht nötig: sie wissen ja doch, wie diese Verhandlung enden wird. Nur die Journalisten nehmen ihm seine Einsilbigkeit übel. Jedes Wort, das er nicht spricht, bedeutet für sie die Einbuße einiger Pfennige Zeilenhonorar.
Der Verteidiger kämpft wie ein Verzweifelter mit den Sachverständigen, um aus ihrem Munde das Zugeständnis zu hören, es sei immerhin möglich; daß der Angeklagte sich bei der Begehung seiner Taten über die Folgen seines Tuns nicht klar gewesen sei. Umsonst: er rennt gegen eine Wand von Gummi, die ihn immer wieder zurückschleudert. Nur dies Eine erreicht er, daß sich die Lippen der Geschworenen in verächtlichem Erstaunen verziehen: Wie kann ein gebildeter Mensch einen Mörder entschuldigen wollen!
Der Oberstaatsanwalt hat leichtes Spiel. Mit weitausholender Gebärde hakt er seinen Kneifer auf die kurze Nase, streicht sich den eisgrauen Schnurrbart, reckt seine zierliche Greisengestalt in den Hüften und spricht. Seine Stimme bebt vor Rührung, da er der ermordeten Opfer gedenkt und von der Heiligkeit des Lebens spricht. Die Hand, die mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Mörder weist, zittert vor Empörung, – jedes Wort seines Plädoyers sitzt, seine Rede ist messerscharf, seine Verachtung striemend. Oberstaatsanwalt Linde hat heute seinen großen Tag, und er ist nicht gesonnen, sich auch nur eine einzige Nuance entgehen zu lassen, die seine Rolle hergibt. Geschworene und Zuhörer bewundern ihn, und diese schweigende Bewunderung stachelt den Staatsanwalt zu erstaunlichen Redewendungen an, zu höhnischen Pointen, forensischen Höchstleistungen.
Er braucht diese Bewunderung. Denn dieser große Mann ist vom Schicksal gezeichnet: in sechs Monaten muß er wegen Erreichung der Altersgrenze aus dem Amt scheiden, und in der verkrampften Gespanntheit seines Plädoyers liegt die unendliche Angst vor dem tödlichen Nichts, das seinem Ausscheiden aus dem Amte folgen wird.
»... und so bitte ich Sie, den Angeklagten wegen Mordes in zwei Fällen zweimal zum Tode und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu verurteilen ...«
»Herr Rechtsanwalt!«
Dr. Herzmann fühlt bedrückt und gereizt die Augen aller in Spott und Mißbilligung auf sich ruhen. Es ist so gleichgültig, was er sagt, denn seinen Beweisen, daß der Mörder bei Begehung seiner Taten nicht mit Bewußtsein gehandelt haben könne, stehen die Aussagen der Sachverständigen gegenüber, und das sind Männer in Amt und Würden mit runden Bäuchen und ruhigen Augen, nicht ein windiger Advokat, der einen Mörder seiner wohlverdienten Strafe entziehen will. Psychoanalyse, Verdrängungen, Affektstauungen, die sich in einer ungewollten Katastrophe Luft schaffen, – das alles dürfte der Rechtsanwalt sagen, handelte es sich um einen Menschen, den man um geringer Vergehen angeklagt hat. Aber bei einem Mörder?
Wer Blut vergißt, des Blut soll wieder vergossen werden.
Die Geschworenen hören garnicht zu. Man sieht es: immer wieder blickt einer von ihnen in den Zuhörerraum oder zu den Pressebänken hinüber oder döst vor sich hin. Sie haben kein Verständnis für diese Spitzfindigkeiten. Sie verstehen sie nicht und wollen sie auch nicht verstehen.
Vor der Welle von Kälte und Hochmut, die ihm entgegenschlägt, verliert der Rechtsanwalt die Nerven. Er überschreit sich, sein Gesicht wird rot, er fällt aus der Konstruktion, seine Stimme schlägt immer öfter in ein dünnes Fisteln über. Und je mehr er an Boden verliert, desto schroffer, stärker und schärfer bricht aus dem kleinen Mann die Wahrheit hervor. Der Rechtsanwalt Dr. Herzmann weiß, daß man nicht mit der Wahrheit um Recht und Erbarmen kämpfen kann. Und wenn er jetzt die Wahrheit sagt, zeigt er, daß er seine Sache verloren gibt.
»Meine Herren, man sagt uns, hier sei ein Tier in die Gemeinschaft der Menschen hineingeboren worden. Ich glaube es nicht. Ich glaube an die Güte der Menschen, glaube daran, daß auch dieser Mensch zu retten gewesen wäre; daß auch in seiner Brust menschliche Gefühle leben. Friedrich Mehnert ist kein Tier, er ist ein Mensch wie wir. Was er getan hat, ist auch unsere Schuld, die Schuld der Gesellschaft, die ihn frühzeitig aufgab, ihn ausstieß aus ihrer Gemeinschaft und ihn immer weiter hineintrieb in das Gefühl seines Ausgeschlossenseins. Was haben wir getan, um diese Taten zu verhindern? Nichts! Man hat den Angeklagten aus einem Zuchthaus in das andere gehetzt, und am Ende jener grauenhaften zwanzig Jahre, die er in der Einsamkeit der Zelle vegetiert hat, stehen diese Taten. Meine Herren, das ist kein Argument für seine Verworfenheit, es ist ein Argument gegen das System unseres Strafvollzugs. Ist es nicht unsere Aufgabe, die guten Kräfte auch im Verbrecher zu wecken und zu pflegen, anstatt das Böse in ihm immer weiter wuchern und wachsen zu lassen? Nirgendwann und nirgendwo hat dieser Mensch je die Liebe gefühlt, die der Mensch dem Mitmenschen entgegenbringen soll. Mit dem Brandmal des Verbrechers gekennzeichnet von Jugend auf, verloren gegeben, verachtet, verlassen, ausgestoßen, so wuchs in ihm der Haß auf die Menschheit. Wenn die Sachverständigen dem Angeklagten seine völlige Gesundheit bescheinigen, so sage ich: dieser Mensch ist krank. Er ist krank geworden an der Grausamkeit der Gesellschaft, die ihn in die Grausamkeit hineinstieß ...«
Die Stimme des Verteidigers versickert in dem empörten Schweigen des Saales. Landgerichtsdirektor Uhle zuckt mit einer Augenbraue. Hollweg pustet leise vor sich hin. Hinderte sie nicht die Würde des Gerichts daran, die Geschworenen würden die Köpfe schütteln über die Zumutung, sie könnten zu den Taten des Lustmörders in einer anderen Beziehung stehen als der strafender und rächender Richter.
Beratung: Tatbestand, Schuldfrage, Strafmaß, – es geht alles so wohltuend schnell, daß man kaum zur Besinnung kommt. Direktor Uhle bittet die Geschworenen, sich zu äußern, und seine Sachlichkeit wirkt ertötend auf die Gefühle der Empörung und des Abscheus, die noch in den Herzen der sechs Männer zittern.
»Also Mord in zwei Fällen«, sagt er dann abschließend. »Damit ist auch die Frage des Strafmaßes geklärt. Für Mord kennt das Gesetz nur eine Strafe: den Tod.«
Haß und Abscheu bleiben diesem Raum fern. Nach wenigen Minuten kühler Diskussion betritt das Gericht den Saal und verkündet das Todesurteil ...
Alles ist so schnell gegangen. Der Amtsgerichtsrat Dickmann hat kaum gemerkt, daß er sich an der Beratung beteiligt hat. Ihm scheint, als hätte ein fremder Mensch an seiner Statt gedacht und gesprochen. »Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.« Das ist so einfach, so einleuchtend, so beruhigend. Es gibt keine dunklen Rätselhaftigkeiten mehr, kein Grauen und keinen Zweifel, wenn man ein entsetzliches Geschehen auf die Formel eines Paragraphen bringt. Das Blut im Pörgelauer Stadtforst, der furchtbar wissende, letzte Blick des geschändeten Kindes, – Paragraph zweihundertelf.
Ernst und gesammelt geht Dickmann nach Hause und empfindet peinlich scharf, daß dieser Ernst und diese Sammlung nicht echt sind; daß er sich Mühe geben muß, von dem zweifachen Todesurteil anders zu denken als von irgendeinem jener zahllosen Urteile, bei denen er mitgewirkt hat.
Am Abend dieses Tages sitzt er still in seinem Zimmer. Das Dienstmädchen Anna klopft an die Tür und bringt einen Brief, den Dickmann mißmutig öffnet: »Warum kommst du nicht?« steht auf einem elfenbeinfarbenem Briefbogen. Kein Absender, keine Unterschrift ...
Dickmann erschrickt. Irgendein primitives Gefühl für Sauberkeit hat ihn davon abgehalten, am Abend des Tages, an dem er Friedrich Mehnert zum Tode verurteilt hat, zu Frau von Norden zu gehen. Aber was hat denn sein Verhältnis zu dieser Frau mit seiner Eigenschaft als Strafrichter zu tun? Nichts. Lächerlich, daß man diese beiden Dinge zusammen denkt.
Dickmann steht auf und betrachtet sich nachdenklich im Spiegel. Ja, das ist er. Ein gut angezogener Mann mit einem frischen, sympathischen Gesicht und zwei ruhigen blauen Augen. Nein, nicht die leiseste Ähnlichkeit hat dieser junge Amtsgerichtsrat da mit dem Lustmörder Friedrich Mehnert.
Dann geht er.
Nach einigen Stunden wankt er verwühlt und verstört nach Hause zurück. Auf ihm lastet die Erinnerung an einen kurzen Augenblick: er hat seine Hände um einen fetten, weißlichen Hals gepreßt, in ihm wühlt der Haß auf diese Frau, in deren Armen er sich so unheimlich verändert, in den Fingerspitzen fühlt er den irrsinnigen Zwang, seine Finger in dieses mehlige Stück Fleisch zu pressen, zu drücken, zu würgen ... Ihr glückseliges Stöhnen, die gierige Öffnung ihres Mundes, der wie eine widerwärtige Wunde in ihrem Gesicht steht, Scham, Verachtung, Verzweiflung ... Ein Augenblick nur, ein einziger kurzer Augenblick, nicht lang genug, daß man zur Besinnung kommt.
Und der andere? Was weiß Dickmann von dem einen einzigen Augenblick, der über Friedrich Mehnert entschieden hat?
Die Nacht ist regnerisch und dunkel. Aber um Dickmann ist eine grausige Klarheit, vor der er mit einem hilflosen kindlichen Lächeln steht. Und er weiß, daß dieses Lächeln das gleiche ist wie das, das Friedrich Mehnerts Lippen umspielte.
Äußerlich ist Dickmann immer noch der korrekte junge Amtsgerichtsrat, der in jenem Schwurgericht als Beisitzer fungierte, das Friedrich Mehnert zum Tode verurteilt hat. Aber alles, was jetzt mit dem verurteilten Lustmörder geschieht, trifft Dickmann, als geschähe es ihm selbst ...
Der zum Tode Verurteilte ist kein Mensch mehr. Er ist ein staatsrechtliches Problem. Nicht nur, daß sein Leben nicht ihm gehört, sondern Anschauungsmaterial ist, Gegenstand einer pädagogischen Demonstration über die Unzweckmäßigkeit des Verbrechens, – nein: Friedrich Mehnert wird zu einem Symbol der deutschen Republik.
Auf Vereinsabenden und bei Kriegerfesten, in Parlamenten und in Ministerkonferenzen, – überall predigt man seit Jahren den unumgänglich notwendigen Anschluß Deutsch-Österreichs an die deutsche Republik. Würdige Rechtsgelehrte arbeiten daran, die Möglichkeiten einer Angleichung an das österreichische Recht zu prüfen. Aber in Österreich ist die Todesstrafe abgeschafft worden.
In den Justizministerien des Reichs und der Länder sitzen viele alte Beamte, durch deren Hirn noch niemals auch nur der Schatten eines Zweifels an der Vollkommenheit des geltenden Rechts gehuscht ist. Sie haben ein gutes Gewissen, und darum gilt ihnen die Todesstrafe als der Bronzefelsen, auf dem die Staatsautorität ruht. Der millionenfache Ruf nach Abschaffung der Todesstrafe weckt in ihnen feindselige Gefühle der Notwehr und der Verachtung.
Wie sollte es anders sein? Der Wille des Volkes ist kein juristischer Begriff. In der muffigen Luft der Bürozimmer, die kein Sturm der Zeit erreicht, gedeiht nur der Begriff der Staatsgewalt, und der Geheimrat glaubt ernst und innig, daß er die sinnvolle Verkörperung dieser Staatsgewalt sei. Er darf es glauben, denn er weiß: noch nie ist in der deutschen Republik der Wille des Volkes auch nur für die bescheidenste Maßnahme der Regierungen ausschlaggebend gewesen.
Vor fast sechzig Jahren haben sich ehrenwerte Beamte und Gelehrte des Kaiserreichs zusammengesetzt und haben ihre persönliche Ansicht von der Notwendigkeit der Todesstrafe im Strafgesetzbuch niedergelegt. Und das Gesetz ist ewig, es ist unveränderlich, und ein Verbrechen wäre es, daran zu rütteln ...
Der Kopf des Mörders Friedrich Mehnert, der klein und tief auf seinen breiten Schultern sitzt, ist das Objekt eines erbitterten Kampfes zweier Prinzipien. Das Volk, das sich fünfundvierzig Jahre nicht anders um die Existenz dieses Mannes gekümmert hat, als daß es ihn in das Zuchthaus sperrte, nimmt leidenschaftlich Stellung für und wider Friedrich Mehnert. Pathetische Deklamationen über die Grausamkeit und Sinnlosigkeit der Todesstrafe, Debatten in Zeitungen und Parlamenten.
Und ein kaltes, dünnes Lächeln, ein ironisches Achselzucken. Gekrümmte Zeigefinger pochen rechthaberisch auf das Gesetz. Geheimräte und Ministerialdirektoren steifen den Nacken und fühlen sich stark wie nie zuvor: »Wir wollen doch mal sehen ...«
Was nützen alle Appelle an den gesunden Menschenverstand? Man kann eine Maschine nicht mit Vernunftgründen zum Stehen bringen. Die Hand, die den Hebel hält, ist stärker als das Ethos der Menschheit. »Wir wollen doch mal sehen ...«
Die Geheimräte erwachen, die Monteure der Gesetzesmaschinerie, deren Hand den Staatsapparat meistert. Hoch über aller Gerechtigkeit steht ihr hämischer Triumph: »Wenn wir nicht wollen, gibt es keine Menschlichkeit, keine Gerechtigkeit.«
Und sie wollen nicht.
Soll Friedrich Mehnert hingerichtet werden? Einst lag die Entscheidung über Leben und Tod eines Verurteilten in der Hand des Landesfürsten. Das Deutsche Reich ist eine Republik, und das Ministerium eines Landes hat die Gnadengewalt des ehemaligen Souveräns übernommen. Die größtmöglichste Gewähr für die gerechte Beurteilung eines Falles ist gegeben; verkörpern doch die Herren Minister den Willen des Volkes.
Aber der Sitzungssaal des Ministeriums ist gegen die störenden Geräusche der Außenwelt gut abgedichtet, und man hört die Forderung des Volkes nur als undeutliches Gemurmel ...
Die drei Richter des Schwurgerichts Pörgelau werden um ihre Meinung befragt und äußern sich übereinstimmend dahin, daß sie angesichts der Roheit des Verbrechers seine Begnadigung nicht empfehlen können. Der Gnadenbeauftragte im Ministerium unterbreitet diesen Tatbestand dem Ministerium, und das Ministerium beschließt, von dem ihm zustehenden Rechte der Begnadigung im Falle Friedrich Mehnert keinen Gebrauch zu machen, sondern der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen.
Das geschieht am 8. Januar 1928.
Am 16. Januar wird der Rechtsausschuß des Landtages zusammentreten, und jedermann weiß: er wird die Staatsregierung anweisen, im Bereich des Freistaats Preußen künftighin kein Todesurteil mehr vollstrecken zu lassen, solange die Frage der Todesstrafe bei der Beratung des neuen Strafgesetzbuchs nicht endgültig entschieden ist.
Jedermann weiß es. Auch der Justizminister des Freistaats Preußen, auch seine Ministerialdirektoren und Referenten, der Generalstaatsanwalt, das ganze Ameisenvolk, das den weitläufigen Bau der Gerechtigkeit mit wimmelnder Geschäftigkeit erfüllt.
Aber wenn sie nicht wollen? ...
Der gesunde Menschenverstand gebietet, den Beschluß des Parlaments abzuwarten? Die Vollstreckung des Urteils bis dahin aufzuschieben? Die primitive Rücksicht republikanischer Minister auf die Wünsche des Volkes, dessen Beauftragte sie sind, fordert den Aufschub der Hinrichtung?
Wenn sie nicht wollen, dann gibt es keinen gesunden Menschenverstand, keine Rücksicht auf den Willen des Volkes. Wenn die Gottähnlichkeit des Geheimrats angetastet und seine unverantwortliche Verantwortlichkeit angegriffen wird, dann haben das heiße Herz und der kühle Verstand ihre Macht verloren.
In Pörgelau nimmt man mit aufgeregtem Interesse Anteil an den unerhörten Verwicklungen, die der Fall des Lustmörders Friedrich Mehnert hervorgerufen hat.
Auch der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann hat für gut befunden, dem Staatsministerium anzuraten, von seinem Rechte der Begnadigung keinen Gebrauch zu machen. Keine Ader hat ihm dabei schneller geschlagen. Die geheimen Fäden, die ihn mit dem Verurteilten verbinden, – an sie hat er dabei nicht gedacht. Der Amtsgerichtsrat Dickmann ist der Mann, der seine Privatgefühle von den Bedürfnissen der Gerechtigkeit zu trennen weiß. Er sieht den kommenden Ereignissen mit Ruhe entgegen.
Der Oberstaatsanwalt Linde ist kühl bis ins Herz. Er kennt die Maschine seit vierzig Jahren. Er ist imstande, gelegentliche Defekte und den Zeitpunkt ihrer Beseitigung zu berechnen ...
Lange bevor die große Streitfrage entschieden ist, sitzt darum eines Tages auf der schmalen Bank, die im Korridor vor dem Zimmer des Oberstaatsanwalts steht, ein breitschultriger Mann. Seine ruhigen braunen Augen blicken freundlich umher. Im Hintergrund tuscheln zwei Justizwachtmeister miteinander und sehen den Fremden aufmerksam an. Der tut, als bemerke er es nicht. Er sitzt da und wartet, ein gut angezogener Kleinbürger, dem Charakterfestigkeit und Zuverlässigkeit auf dem Gesicht geschrieben stehen.
»Herr Oberstaatsanwalt lassen bitten ...« Eine Türe öffnet sich, der Fremde schlägt die Hacken zusammen und macht eine korrekte Verbeugung. Der Oberstaatsanwalt geht mit raschen, kurzen Schritten auf ihn zu und räuspert sich umständlich. Der Andere überhebt ihn der Peinlichkeit, ihm die Hand zu reichen, indem er umständlich Hut und Schirm in eine Ecke des Zimmers stellt und mit distanzierender Unterwürfigkeit sagt: »Ich stehe zur Verfügung, Herr Oberstaatsanwalt.«
»Bitte nehmen Sie Platz. Hm. Sie wissen ja, worum es sich handelt. Ich darf annehmen, daß Sie bereit sind, die Hinrichtung zu übernehmen?«
Verbeugung: »Jawohl.«
»Es handelt sich also nur noch um die Bedingungen. Ich habe die Exekution einstweilen auf den 13. Januar festgesetzt und rechne damit, daß Sie sich im Laufe des 12. Januar bei mir melden. Hm. Das wäre wohl alles.«
»Der übliche Satz für eine Hinrichtung beträgt fünfhundert Mark, Herr Oberstaatsanwalt«, erinnert der Besucher höflich.
»Ich weiß, ich weiß. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir also gleich den Vertrag ... Ich habe hier schon ein Schema entworfen ... Wollen Sie mich bitte unterbrechen, falls Ihnen ein Vertragspunkt nicht zusagt? ... Also: Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Pörgelau. Zwischen dem Wäschereibesitzer, Herrn Schmidtke, wohnhaft Magdeburg, und dem Oberstaatsanwalt beim Landgericht Pörgelau kommt folgender Vertrag zustande. Der Kontrahent zu 1) verpflichtet sich, die auf den 13. Januar 1928 festgesetzte Vollstreckung des Todesurteils an dem Arbeiter Friedrich Mehnert zu vollziehen ...«
Punkt für Punkt wird Leistung und Gegenleistung festgelegt. Ein klares, einfaches Geschäft, bei dem es keine Mißverständnisse gibt. Der Wäschereibesitzer liefert die Hinrichtung, der Staat zahlt fünfhundert Mark.
»Sonst noch etwas, Herr Schmidtke?«
Der Wäschereibesitzer wiegt bedenklich den Kopf: »Ja, Herr Oberstaatsanwalt, was ich noch fragen wollte ... Findet die Hinrichtung denn bestimmt statt?«
Der Oberstaatsanwalt zuckt die Achseln: »Es ist über einige Anträge der Verteidigung noch nicht entschieden worden. Ich kann natürlich nicht wissen, wie die Beschlüsse der Strafkammer oder des Kammergerichts in der Frage der Vollstreckung ausfallen werden ...«
Herr Schmidtke sieht dem Oberstaatsanwalt offen und frei in die Augen: »Es ist wegen der Spesen«, sagt er schlicht. »Wenn ich mit meinen Gehilfen hierherkomme und die Hinrichtung wird ausgesetzt, wer bezahlt mir dann meine Spesen?«
»Ich weiß nicht, ob ich da eine Bestimmung aufnehmen darf«, sagt der Oberstaatsanwalt nachdenklich.
»Bei meinem letzten Vertrag mit dem Landgericht Neustrelitz sind mir für jeden Tag fünfzig Mark bewilligt worden.«
»So so. Ja, dann wollen wir das noch einsetzen.«
Die Feder des Schreibers knirscht. Die beiden Herren unterschreiben, das Geschäft ist perfekt.
»Darf ich mir meine Referenzen wieder mitnehmen?« fragt Herr Schmidtke höflich.
»Ach so, ja, die Referenzen.« Der Oberstaatsanwalt kramt ein Bündel Papiere zusammen. Jedes trägt Stempel und Unterschrift eines Oberstaatsanwalts, und in jedem wird dem Wäschereibesitzer Schmidtke offiziell bestätigt, er habe die ihm übertragene Hinrichtung zur Zufriedenheit des betreffenden Bestellers ausgeführt. Aus der Zahl dieser Zeugnisse geht hervor, daß Herr Schmidtke in seinem Fach kein Neuling ist und über mangelnde Beschäftigung nicht zu klagen hat.
Er nimmt die Papiere: »Ich werde mich also am zwölften Januar bei Herrn Oberstaatsanwalt melden.«
»Ich bitte darum. Hm.«
Eine Türe fällt ins Schloß. Der Oberstaatsanwalt geht unruhig im Zimmer auf und ab. Der Schreiber betrachtet ihn mit offenem Munde.
»Was wollen Sie noch?« fährt der Vorgesetzte ihn an und sagt etwas milder: »Sie können gehen.«
Dann fährt er sich mit dem Zeigefinger hinter den Kragen, wobei er schmerzlich den Mund verzieht, als sei ihm der Kragen in diesen zwanzig Minuten zu eng geworden.
Er geht zum Waschtisch und wäscht sich lange und nachdenklich die Hände ...
»Der Oberstaatsanwalt hat in so was eine feine Nase. Wenn er schon den Vertrag mit dem Scharfrichter abgeschlossen hat, tippe ich auf Vollstreckung.« Landgerichtsrat Hollweg sagt es im Goldenen Engel mit triumphierendem Unterton in der Stimme.
»Halte fuffzig dagegen!« schreit Herr von Gröhden wie auf einer Auktion.
Hollweg stutzt: »Herr von Gröhden, die Sache ist denn doch zu ernst, um Wetten abzuschließen.«
»Eben das wollte ich Ihnen mit meinem Wettgebot zu Gemüte führen«, gähnt Gröhden gelangweilt und vertieft sich in sein Glas Pilsener. Der Schnurrbart des Landgerichtsrats sträubt sich unschlüssig ...
Um dieselbe Zeit läuft der Rechtsanwalt Herzmann in Berlin von einer Behörde zur anderen. Er sitzt in Wartezimmern. Stunden um Stunden. Man empfängt ihn. Hohe Beamte hören seine Bitten und Beschwörungen an, sachlich interessiert, höflich, teilnehmend, und zucken die Achseln.
Der Landtag wird bestimmen, daß in Preußen keine Todesurteile mehr vollstreckt werden dürfen? Woher wissen Sie das, Herr Rechtsanwalt? Jedes Kind weiß es? Die Spatzen pfeifen es von den Dächern? Man kann es sich nach der Fraktionsstärke im Rechtsausschuß ausrechnen? Ja, ist denn aber der Beschluß des Landtags schon ergangen? Na sehen Sie! Einstweilen gilt noch das Gesetz. Warten? Nur zweiundsechzig Stunden warten? Warum? Der Justizminister könnte den Oberstaatsanwalt veranlassen, die Hinrichtung um acht Tage zu verschieben? Aber warum denn? Weil dann der Landtag die Vollstreckung verboten haben wird? Das ist kein zureichender Grund. Das ist ein Eingriff in ein schwebendes Verfahren. Das Staatsministerium wird der Gerechtigkeit freien Lauf lassen. Der Gerechtigkeit, verstehen Sie, Herr Rechtsanwalt? Es tut uns außerordentlich leid, aber wir können in dieser Sache nichts tun.
Wenn sie nicht wollen ...
»Aber der Justizminister ist überzeugter Republikaner! Er wird das Votum des Parlaments respektieren!«
»Gerade weil der Herr Minister überzeugter Republikaner ist, wird er sich streng an den Wortlaut des Gesetzes halten und die Entscheidung den verfassungsmäßigen Organen überlassen. Und das sind die Herren Minister des Freistaats Preußen, und die haben gesprochen. Es tut uns sehr leid, Herr Rechtsanwalt ...«
Wenn sie nicht wollen ...
Man kann mit der Wahrheit nicht um das Recht kämpfen. Die Wahrheit ist, daß ein Exempel statuiert werden soll, daß sich die Justizbürokratie die Einmischung des Parlaments energisch verbittet und beweisen will, daß die tatsächliche Macht ausschließlich bei ihr liegt. Man kann bitten und beschwören und an den gesunden Menschenverstand appellieren, an den guten Willen, an die Vernunft, – und man erreicht nur ein kaltes Achselzucken. Aber man kann lügen, man kann behaupten, der Verurteilte sei urplötzlich in Wahnsinn verfallen, und es bestehe daher die starke Vermutung, er sei bereits bei Begehung der Straftaten nicht zurechnungsfähig gewesen, – dann kommt die Justizmaschine in Gang, dann werden Gutachten eingefordert, Beratungen abgehalten, Beschlüsse ausgefertigt und das nachfolgende Achselzucken ist nicht die kalte Uninteressiertheit des rechthaberischen Geheimrats, sondern das juristisch einwandfrei fundierte Urteil eines Gerichts.
Man muß lügen, und der Rechtsanwalt Dr. Herzmann lügt. Er behauptet den Irrsinn Friedrich Mehnerts und bittet die zuständige Kammer des Landgerichts Pörgelau um Aufschub der Vollstreckung des Todesurteils, um das Wiederaufnahmeverfahren betreiben zu können.
Die drei Richter sind völlig unvoreingenommen. Sie prüfen sachlich und kühl die vorgetragenen Gründe. Gewiß: sie haben mit Neugier, Spannung und Schadenfreude den Kampf um den Kopf Friedrich Mehnerts aus nächster Nähe verfolgt. Aber niemand darf ihnen nachsagen, sie ließen sich von anderen als rein rechtlichen Gründen leiten, wenn sie das Gesuch des Verteidigers abschlägig bescheiden.
Es gibt gegen diesen Beschluß noch die Möglichkeit einer Beschwerde beim Kammergericht. Dr. Herzmann erhebt sie.
Die Schlinge zieht sich immer enger um den Verurteilten. Nur noch drei Tage, und der Vollstreckungstermin ist da. Zwei Tage, ein Tag. Im Gasthaus zum Hirschen steigen vier Herren ab. Es sind ruhige Leute, die sich in der Gaststube allen Gesprächen fernhalten. Selbst der neugierige Wirt weiß nicht, was für ein Geschäft sie aus Magdeburg nach Pörgelau treibt. Der Wäschereibesitzer Schmidtke meldet sich beim Oberstaatsanwalt.
»Na, alles in Ordnung?«
»Jawoll, Herr Oberstaatsanwalt!«
Verhaltungsmaßregeln, die überflüssig sind, weil Herr Schmidtke das zu erledigende Geschäft doch besser versteht, und die Anweisung: »Setzen Sie sich mit dem Gefängnisinspektor in Verbindung.«
Nur noch achtzehn Stunden, und immer noch kein Entscheid der Beschwerdeinstanz.
Der Oberstaatsanwalt sieht unruhig nach der Uhr: drei Uhr nachmittags. Morgen früh sieben Uhr dreißig soll die Hinrichtung stattfinden. Ärgerlich, diese Verzögerung. Und zu allem Überfluß steht ihm noch die Aufgabe bevor, den Verurteilten von der Tatsache der bevorstehenden Hinrichtung in Kenntnis zu setzen. Wann soll er das denn machen, wenn der Bescheid vom Kammergericht immer noch nicht da ist!
Oberstaatsanwalt Linde stutzt. Das einfachste wäre es, man sagte dem Verbrecher auf alle Fälle, er würde morgen früh sieben Uhr dreißig hingerichtet werden. Dann ist man den Gang zum Gefängnis hinaus los. Was kann schon passieren? Das Kammergericht kann der Beschwerde stattgeben und die Hinrichtung verschieben. Dann ist es ja immer noch Zeit, dem Mann anderen Bescheid zu geben. Die erste Mitteilung gilt nicht, man schickt einen Boten hinaus und läßt sagen: du wirst nicht hingerichtet.
Im allerschlimmsten Fall hat der Mann dann eben ein paar Stunden fälschlich damit gerechnet, hingerichtet zu werden. Und was ist dabei? Wenn der Kerl wirklich mit dem Leben davonkommt, schadet ihm das bißchen Todesangst nichts. Im Gegenteil: es ist ihm sehr gesund.
Der Oberstaatsanwalt zieht sich seinen Mantel an und geht zum Gerichtsgefängnis, um dem Verurteilten Mitteilung von seiner Hinrichtung zu machen, von der er selbst noch nicht weiß, ob sie stattfinden wird ...
Der Oberstaatsanwalt kennt die Maschine seit vierzig Jahren. Er weiß, wie sie funktioniert: gegen vier Uhr nachmittags trifft die Nachricht ein, daß die Beschwerde des Verteidigers abgelehnt ist.
»Also doch!« sagt Rechtsanwalt Herzmann und läßt sich schwer in einen Sessel sinken.
»Also doch!« denkt der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann und beschließt, er habe durchaus mit der Hinrichtung gerechnet. Er hat auch wirklich nur wenig Hoffnung für den Kopf Friedrich Mehnerts gehabt, aber die endliche Gewißheit erschüttert ihn doch, und zu seinem eigenen Erstaunen merkt er, wie fest er auf das große Wunder gewartet hat. Nun ist es soweit. »Auf Wiedersehen also morgen früh sieben Uhr dreißig!« sagt Landgerichtsdirektor Uhle ruhig zu dem jungen Kollegen.
Dickmann zuckt zusammen: »Jawohl, jawohl!« sagt er hastig und unsicher.
Über das harte Ledergesicht des Direktors huscht ein flüchtiger Schimmer: »Haltung, Herr Kollege! Nicht weich werden! Denken Sie an die Sache, der wir dienen, und die dieses Urteil gefordert hat.«
»Selbstverständlich, Herr Direktor!« Dickmann schlägt die Hacken zusammen. »Ich bin mir dessen vollauf bewußt. Nur der Gedanke an die ... daran ... ist im ersten Augenblick nicht angenehm ...«
»Es ist eine schwere Pflicht«, nickt Uhle milde. »Aber es ist eine heilige Pflicht, lieber Kollege!«
»Jawohl, Herr Direktor«, stammelt Dickmann, von der Güte seines Vorgesetzten ganz erschüttert.
Heilige Pflicht? Doch, – die Gesellschaft muß vor solchen Bestien wie Friedrich Mehnert geschützt werden.
Zwei Menschen gemordet, die arme Frau, das arme kleine Mädchen ... Dickmann will sich zwingen, an die Opfer des Mörders zu denken, aber es gelingt ihm nicht, das schaudernde Mitleiden zu empfinden, das ihn so stark machen könnte, den nächsten Tag zu ertragen ... Weg, weg! Nicht daran denken!
Wohin jetzt? Zu Melanie? Dickmann schrickt zusammen. Nein, nein, nicht dorthin, wo ihn soviele schauerliche Erinnerungen von dem Gedanken an die heilige Pflicht abziehen, die er erfüllen muß. Die Nächte, die wilde Gier, der kalte Haß und die heiße Grausamkeit, die ihn an diese Frau ketten. Das ist tierisch, tierisch! Dickmann ist ein anständiger Mensch, er kämpft mit sich und weiß: er wird dieses Tier in sich bezwingen. Er wird es bezwingen!
Der andere konnte es nicht. Der andere, der da in einer Zelle ...
Und da erinnert sich Dickmann wieder an den Traum, der ihn in den letzten Wochen manchmal erschreckte, jenen Traum, der keine Lösung bringt, der nie zu Ende geträumt wird, und der nicht in einer tröstlichen Katastrophe endet: Dickmann geht allein über ein weites Feld. Der Nebel ist so dicht, daß man kaum drei Schritte weit sehen kann. Unter den Füßen knistert es unheimlich, und Dickmann hat das Gefühl, als sei das weite Feld die zugefrorene Fläche eines ungeheuren Sees. Er weiß nicht, wohin er geht, weiß nur, daß er gehen muß und immer weiter gehen wird. Er fühlt den Angstschweiß auf Rücken und Stirn und empfindet gleichzeitig den Zwang, lustig zu sein, zu lachen und sich keine Gedanken darüber zu machen, wo dieser Weg enden wird, und ob er überhaupt ein Ende hat. Der Nebel steht wie eine Wand, der Fuß schleift schwer auf unsicherem Grund, und der Wanderer geht und geht ... Dann wacht Dickmann auf, erinnert sich mühselig an den wüsten Traum und fröstelt in dem heißen Gefühl unmittelbar drohender Gefahr ...
Weg damit, – man muß sich trösten mit dem, was noch da ist: eine Zweckmäßigkeitsfrage. Und jetzt will Dickmann in den Goldenen Engel gehen. Skat spielen, Pilsner trinken, bis es Zeit ist, schlafen zu gehen ...
Gegen zehn Uhr verabschiedet sich Dickmann von der Stammtischrunde. Witzworte fliegen ihm nach. Landgerichtsrat Kuhlmann schreit, daß die kalkigen Adern an seiner Schläfe zu platzen drohen: »Passen Sie man auf, daß der Herr aus Magdeburg nicht aus Versehen die Köppe verwechselt!«
Johlendes Gelächter belohnt den Witz.
Draußen schlägt Dickmann den Kragen hoch. Es ist sehr kalt. Vielleicht kommt es ihm auch nur so vor. Wenn der Direktor oder Hollweg jetzt auf der Straße wären, dann fänden sie es sicher nicht kalt. Die schlafen jetzt längst und sind morgen früh frisch und munter. Schlafen den Schlaf des Gerechten.
Warum auch nicht? Sie können doch nichts dafür.
Dickmann denkt den Mordparagraphen taktmäßig zum Rhythmus seiner Schritte: »Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft ...«
Kein Mensch kann etwas dafür. Kein Mensch.
Immerhin, – einen Menschen abschlachten wie ein Stück Vieh?
Was geht das den Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann an? Hat der doppelte Lustmörder Friedrich Mehnert nicht auch Menschen abgeschlachtet? Grausam, viehisch? Um seinen fleischlichen Begierden zu frönen?
»Fleischliche Begierden«, – genau so hat Direktor Uhle in der Urteilsbegründung gesagt. Dickmanns Gedanken bleiben an dieser törichten Formel hängen. Er lacht albern: nein, – man kann sich nicht vorstellen, daß der Landgerichtsdirektor fleischliche Begierden hat.
Fleischliche Begierden. Warum fällt ihm Melanie ein? Diese verfluchten Gedanken! Was soll diese blödsinnige Erinnerung hier, wie? War nicht ... ja, es stimmt schon. Es ist noch nicht einmal lange her, da hat er seine Hände um ihren fetten, weißlichen Hals gepreßt. In den Fingerspitzen zuckte ihm der irrsinnige Zwang, dieses zitternde, warme Stück Fleisch zu drücken, zu würgen, ihr Röcheln zu hören ...
Dickmann ruft sich zur Ordnung. Damals, das war ein Augenblick vorübergehender geistiger Verwirrung. Und es ist geradezu verrückt von ihm, daß er sich und seine dunklen Liebesstunden in Zusammenhang mit jenem Friedrich Mehnert bringt, dessen Kopf morgen früh ...
Er lächelt trübe. Schlapp ist er, feige und unbrauchbar. Morgen früh sieben Uhr dreißig wird man auf dem inneren Hof des Gerichtsgefängnisses Pörgelau dem doppelten Lustmörder Friedrich Mehnert den Kopf von seinen breiten Schultern schlagen. Und was weiter?
»Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.«
Aber mein Gott: Melanie, ein Augenblick geistiger Verwirrung, – wenn ein Mensch einen anderen seiner fleischlichen Begierden wegen tötet, ihn abschlachtet wie ein Vieh, – kann dieser Mensch denn überhaupt die Tötung mit Überlegung ausführen?
Paragraphen, Kommentare, Reichsgerichtsentscheidung Band 42, Seite 260. Oh, Dickmann weiß Bescheid. »Die Überlegung bei der Tötung geht weit über den Vorsatz hinaus und muß unabhängig vom Vorsatz festgestellt werden.«
Vorsatz, Überlegung. Gibt es überhaupt einen Mord? Kann man mit Überlegung töten? Nein, denkt Dickmann erschüttert und fühlt noch einmal den weichen Hals der Landrätin zwischen seinen Fingern. Doch, denkt er weiter: morgen früh stehen einige zwanzig Herren, unbescholtene, tadellose Ehrenmänner, auf einem schmalen Hof und töten einen Menschen vorsätzlich und mit Überlegung.
Wie kalt es ist. Man wird in dieser sternklaren Winternacht nicht schlafen können. Man muß sich warm machen. Man muß sich körperlich anstrengen, um müde zu werden ...
Der Amtsgerichtsrat Dr. Friedrich Wilhelm Dickmann setzt sich in Trab und macht einen Dauerlauf durch die nachtstillen Straßen der Stadt. Seine Lungen keuchen, sein heißer Atem schlägt ihm stoßweise ins brennende Gesicht. Der Amtsgerichtsrat Dickmann läuft mit seinen Gedanken um die Wette.
Aber sie sind schneller als er.
Denn wie er endlich erschöpft vor seinem Hause steht, die Gartentür aufschließt und die Treppe hinaufsteigt, – denkt er taktmäßig vor sich hin, jedes Wort eine Stufe: »Wer ... vorsätzlich ... einen Menschen ...« Er macht Licht in seinem Zimmer. Die Uhr zeigt halb elf. Halb elf, halb zwölf, halb eins, – noch acht Stunden, dann muß er aufstehen. Noch acht Stunden, dann ist es soweit.
Wie weit? Nicht daran denken!
Dickmann will sich beschäftigen. Er ist auf einmal nicht eine Spur müde. Er wird noch lange nicht einschlafen können. Man muß sich ein wenig ablenken. Sein Blick fällt auf seine Bibliothek. Da ist nicht viel zu holen: ein paar juristische Fachzeitschriften, Kommentare und Gesetzestexte. Rudolf Herzog »Die vom Niederrhein«. Walter Bloem »Der krasse Fuchs«. Der Zarathustra. Ein schmaler Band Hofmannsthal ...
Er blättert unschlüssig in einigen Büchern und Journalen. Es hat keinen Zweck. Was er tut und denkt, was er plant und unterläßt, – irgendwann sind seine Gedanken ja doch wieder bei diesen armseligen paar Worten: morgen früh sieben Uhr dreißig.
Unerträglich still ist es im Zimmer.
Er holt den elektrischen Kocher hervor. Das kochende Wasser verbreitet ein beruhigendes Geräusch. Eine freundliche Lüge: man glaubt, man wäre nicht mehr allein, weil der Teekessel summt.
Dickmann trinkt Tee. Dann liest er: »Sinnlose Trunkenheit ein Strafausschließungsgrund?«. »Das alte und das neue Schwurgericht.« Wie gleichgültig, denn morgen früh ...
Dickmanns Augen bleiben an einem Satz hängen. Seine Gedanken bohren sich tief in das Geheimnis der trockenen Zahlen ein, die da vor seinen Augen tanzen: »Ausweislich der Kriminalstatistik ist auf Todesstrafe erkannt worden im Jahre 1919 gegen 88 Personen, 1920 gegen 177, 1921 gegen 149. Die Todesstrafe ist vollstreckt worden im Jahre 1919 gegen 10 Personen, 1920 gegen 33, 1921 gegen 28 ... Die Todesstrafe steht durchaus im Einklang mit dem Rechtsempfinden des überwiegenden Teils der Bevölkerung und entspricht auch heute den Bedürfnissen des Rechtslebens.«
Ha! Dickmann erhebt sich, reibt sich die Hände, er geht im Zimmer auf und ab und pfeift laut und falsch vor sich hin: »Als noch Arkadiens goldne Tage mich jungen Burschen angelacht ...«
»Ist vollstreckt worden gegen ... Ist erkannt worden gegen« ... Na also, was will er denn eigentlich? Ein Todesurteil und die nachfolgende Hinrichtung sind ganz normale Sachen. Lächerlich, sich deswegen aus der Fassung bringen zu lassen. Wenn nun jeder Richter und jeder Staatsanwalt, der bei einem Todesurteil mitgewirkt hat, deswegen die Haltung verlieren wollte.
Allein in den Jahren 1919 bis 1925, in den ersten sieben Jahren der deutschen Republik, sind ... Dickmann greift zum Bleistift und addiert die langen Zahlenreihen. Aufatmend betrachtet er das Resultat: allein in diesen Jahren sind achthundertvierundzwanzig Todesurteile gefällt worden, und hundertsechzig wurden vollstreckt!
Der Bleistift zuckt in seiner Hand. Er fühlt sich von einem wahren Zahlenrausch ergriffen. An der Fällung dieser Todesurteile haben mitgewirkt: 2472 deutsche Richter und 824 Staatsanwälte. Allein in den letzten sieben Jahren haben vierhundertachtzig deutsche Richter und hundertsechzig deutsche Staatsanwälte in aller Morgenfrühe einmal auf dem inneren Hof eines Gefängnisses gestanden und haben den Kopf eines verurteilten Mörders in den Sand rollen sehen.
Eine großartige Sache, so eine Statistik! Was eben noch so ungewöhnlich und unmöglich zu ertragen schien, das enthüllt sich auf einmal als platte Alltäglichkeit. Vierhundertachtzig Richter! Hundertsechzig Staatsanwälte, denen es einmal ebenso gegangen ist, wie es dem Amtsgerichtsrat Dickmann morgen gehen wird.
Er fühlt eine ungeheure Ruhe über sich kommen: »Im Einklang mit dem Rechtsempfinden des Volkes ... Entspricht den Bedürfnissen des Rechtslebens.«
Der so schrieb, war ein Staatssekretär im Reichsjustizministerium, ein Mann, der an der Abfassung des neuen Strafgesetzentwurfs mitgearbeitet hat, der also wissen muß, was er tut.
Dickmann gießt sich einen Kognak ein. Dann geht er zu Bett.
Er sitzt auf dem Bettrand, die Hosen in der Hand, und lächelt still: das ist noch nicht einmal alles. Wenn man solche Sachen wie die damals bei Mechterstädt noch hinzuzählen wollte, – Hunderte und Aberhunderte. Tausende vielleicht ...
Und darum hat er sich so aufgeregt! Um eine so einfache Sache!
Im Einschlafen denkt er an Melanie. Morgen wird er wieder zu ihr gehen. Er reckt sich und dehnt die Arme: das Leben ist doch schön ...
Hundertsechzig. Einhundertsechzig. Eine kriegsstarke Schwadron des Dragonerregiments Kaiser. Einhundertsechzig abgeschlagene Köpfe. Einhundertsechzigmal ... Dickmann fährt aus dunklem Schreck empor. Hollweg hat es ihm einmal erzählt: das Blut schießt erst in breitem, hellrotem Strom aus der Schnittfläche des Halses, dann rinnt es schwarz und dick im Rhythmus des immer schwächer werdenden Herzschlags.
Einhundertsechzig!
Verflucht, ist das wieder kalt im Zimmer! Das Dienstmädchen heizt nicht richtig. Um so eine halbwarme Dreckbude zu haben, dafür bezahlt Dickmann dreißig Pfennig Heizungsgeld am Tag. Er wird morgen endlich mal Frau Behrholz zur Rede stellen. Das ist eine Sauerei, das geht auf keinen Fall so weiter, auf gar keinen Fall!
Stumpfsinniges Nest, dieses Pörgelau. Zwölf Uhr erst, und kein Schwein mehr auf der Straße. Von fern her dröhnt in unregelmäßigen Abständen eine Autohupe, alle Viertelstunden schlägt die Uhr vom Rathausturm. Sonst ist alles still. Unerträglich still.
Wenn man wenigstens einen Menschen hier hätte, mit dem man reden könnte. Irgendetwas. Blödsinn, ganz belangloses Zeug ...
Dickmann erhebt sich, leert die Wasserkaraffe, die auf dem Nachttisch steht, in den Toiletteneimer und geht in die Küche, um sich die Flasche wieder zu füllen.
Er steht auf dem Treppenflur. Oben schimmert Licht. Das Mädchenzimmer. Anna ist wohl eben erst von ihrem Ausgang zurückgekommen.
Dickmann muß sich mit der Hand gegen die Wand stützen. Er schluckt hoch vor Erregung. Anna. Rot und warm ist ihr Fleisch. Was sie für gute, braune Augen hat. Wie sie ihn immer anlacht!
Er geht in sein Zimmer zurück. Seine Füße sind schwer. Er zieht die Türe hinter sich zu, atmet auf.
»Gerettet!« denkt er. Aber wovor? Ist dies nicht schlimmer als alles andere? Diese unerträgliche, ängstigende Einsamkeit? Diese brüllende Stille?
Er schaltet das Licht aus. Leise schließt er die Tür. Auf weichen Sohlen schleicht er die Treppe hinauf, den Kopf tief vornüber geneigt. Wie die Treppe knarrt. Das Herz schlägt ihm im Halse.
Leicht drückt er gegen die Kammertüre, sie gibt nach, und keuchend steht Dickmann einen Augenblick im Türrahmen. In weißem Nebel sieht er das warme, lichte Rot eines nackten Mädchenkörpers.
Kein Wort spricht er. Stöhnend, mit einem irren Ausdruck in den Augen geht er auf Anna zu.
Sie starrt ihn an. Ängstlich, lüstern, beschämt, stolz ...
Er stürzt über sie. (»Wenn nur Melanie nichts erfährt.«)
Das Mädchen keucht: »Herr Amtsgerichtsrat ...«
Knackender Frost. Fahles Morgendämmern.
Der Fuß tritt auf scharf gefrorenen Lehm.
Fern, am Ende der Chaussee wächst langsam ein großer Schatten: das Gerichtsgefängnis. Vor dem Hauptportal verbreitet eine elektrische Bogenlampe milchigen Nebel.
Dickmann klingelt an der Tür. Im Inneren des Gebäudes gibt der schrille Laut vielfaches Echo wider.
Der öffnende Gefängniswärter erkennt ihn: »Guten Morgen, Herr Amtsgerichtsrat!« sagt er hastig und deutet mit vertraulicher Geschäftigkeit auf eine schwarze Tür. »Die anderen Herren sind schon alle hinten.«
Ein kleines, kahles Zimmer. Dickmann will seinen Mantel ablegen, aber der Gefängniswärter legt ihm mit schüchterner Gebärde die Hand auf den Arm: »Vielleicht behalten Sie ihn lieber an?« Und mit einem kläglichen, mißglückten Versuch, unbefangen zu erscheinen, schüttelt sich der alte Mann, schlägt die Hände um die Schultern und sagt mit törichtem Lächeln: »Kalt heute!«
Dickmann zieht den schwarzseidenen Talar über den Mantel an, setzt das Barett auf und folgt dem Wärter.
Schlüsselklirren, ein Tor, ein Hof, wieder eine Eisentür, – und der Wärter weist mit einladender Handbewegung auf unbestimmbare Schatten.
Dickmann strafft sich. Vor einem Tisch steht Landgerichtsdirektor Uhle, Landgerichtsrat Hollweg an seiner rechten Seite. Der Direktor winkt Dickmann unauffällig heran. Militärischer Gruß, Händedruck ...
Das Gesicht Uhles zeigt seine gewöhnliche Lederfarbe, und die hellen Augen blicken ruhig und kalt wie immer unter den schwarzen Brauen hervor. Die dünnen Lippen bewegen sich kaum.
»Haltung!« befiehlt sich Dickmann und wirft einen scheuen Seitenblick auf den Landgerichtsrat. Auch dessen rundes, rotes Gesicht zeigt keinerlei Erregung. Nur sein Schurrbart sträubt sich dann und wann unter einem verstohlenen Schnaufen, und seine kleinen Augen wandern unruhig hin und her.
Kalt! Kalt!
Dickmann gewöhnt sich langsam an die neblige Dämmerung. Er bemerkt jetzt links von sich den Oberstaatsanwalt Linde, der ein Aktenbündel in der Hand hält.
Im Hintergrund des Hofes einige Herren. Zylinderhüte, hochgestellte Mantelkragen. Sie drängen sich dicht aneinander. Es sind die Zeugen, die man hierher geladen hat, damit sie sich von dem ordnungsmäßigen Verlauf der Hinrichtung des doppelten Lustmörders Friedrich Mehnert überzeugen sollen. Kleine Beamte, Handwerksmeister, Stadtverordnete. Auch zwei oder drei Ärzte sind darunter, die ihr Dabei-sein-dürfen als besonderen Vorzug empfinden.
Irgendwo schlägt eine Uhr zweimal. Sieben Uhr dreißig. Ein dünner, singender Ton, der die scharfe Stille ungebührlich grell durchschneidet.
Kalt! Kalt!
Dickmann versteckt seine unbehandschuhten Hände in den weiten Ärmeln seiner Robe. Sein Gesicht glüht.
Irgendwo, nur ein paar Meter vor ihm, steht eine Bank. Riemen hängen zu ihren beiden Seiten herab. Davor ein länglicher Schatten. Ein Korb? Ein Sarg?
Hinter dem Oberstaatsanwalt einige Männer. Drei von ihnen tragen altmodische, enge Gehröcke, unter denen sich die Muskelpakete ihrer Arme und Schultern abzeichnen. Der vierte steht etwas abseits. Frack, Zylinder, schwarze Weste und Krawatte, eine Aktenmappe unter dem Arm: der Nachrichter, Herr Schmidtke aus Magdeburg.
Vom Bahnhof her tönt der schrille Pfiff einer Lokomotive. Ein Hund bellt. Stille.
Manchmal räuspert sich der Oberstaatsanwalt. Das krächzende Geräusch einer verschleimten Kehle klingt unangenehm, aber Dickmann empfindet es dankbar als eine Linderung des unerträglichen Drucks, der über dieser Szene lastet. Ungreifbar wie der Nebel des Wintermorgens und schwer wie die Aktentasche des Scharfrichters, in der man das Beil vermutet.
Ein nervöser Mann überquert den Hof. Alle Köpfe wenden sich mit scharfem Ruck zu ihm hin. Er tritt auf den Oberstaatsanwalt zu, zuckt die Achseln und reibt sich mit lächerlicher Geschäftigkeit die Hände. »Gleich so weit!« flüstert er kopfnickend. Dann putzt er umständlich seine Stahlbrille.
Warten. Schweigen. Frieren.
Plötzlich klirrt eine schneidige hohe Stimme. Alle fahren erschreckt zusammen. Die Zylinderhüte der Zeugen geraten ins Schwanken. Der Gefängnisinspektor klappt unwillkürlich die Hacken zusammen.
»Wo bleibt denn der Delinquent?« fragt der Oberstaatsanwalt.
Der Beamte verbeugt sich und sagt schuldbewußt, als hätte er wegen eines unverzeihlichen Formfehlers um Nachsicht zu bitten: »Der Herr Pfarrer ist bei ihm. Er empfängt gerade das heilige Abendmahl.«
Der Oberstaatsanwalt ist indigniert. »Darauf können wir doch nicht warten!«
Der Gefängnisinspektor dreht sich auf dem Absatz um und geht mit kurzen, eiligen Schritten auf eine Türe zu, die den düsteren Trakt der Mauern durchbricht.
Qual des Wartens!
Dickmann fühlt langsam eine dicke Kugel vom Magen her in seine Kehle steigen. Seine Backen glühen.
Verworrene Geräusche. Schlurfende Schritte auf Steinfliesen. Schlüsselklirren. Dann ein undeutliches Murmeln.
Es kommt langsam näher, immer näher ...
Dickmann schielt angstvoll nach rechts: Gefängniswärter, zwei schwarze Talare: der Gefängnispfarrer, Quehl und der Verteidiger Dr. Herzmann. Des Pfarrers Hände krampfen sich um ein Neues Testament, und sein blasser Mund formt sich mechanisch zu Bibelsprüchen, die er auf seinen Nebenmann einredet.
Und dieser Nebenmann ist Friedrich Mehnert, der doppelte Lustmörder. Ist er es wirklich? Das ist kein Mensch mehr, – ein Tier schwankt da zwischen den Wärtern her. Seine Kinnlade ist heruntergeklappt. Speichel trieft aus seinem Munde ...
»... den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich, wie die Welt gibt, euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht ... und ob ich schon wanderte im finsteren Tale, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich ... Siehe, ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende ...«
Dort hinsehen! Dort! Wo an der Mauer ein dunklerer Stein sich abhebt!
Aber Dickmanns Sinne sind so seltsam geschärft, daß er doch alles hört und sieht.
Plötzlich ist da wieder die Stimme des Oberstaatsanwalts, hell, knarrend, schneidig: »Im Namen des Volkes! In der Strafsache gegen den Arbeiter Friedrich Mehnert hat das Schwurgericht beim Landgericht Pörgelau in seiner Sitzung vom 13. November 1927, an welcher teilgenommen haben Landgerichtsdirektor Uhle als Vorsitzender, Landgerichtsrat Hollweg und Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann als Beisitzer, für Recht erkannt: der Angeklagte wird wegen Mordes in zwei Fällen zweimal zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.«
Hüsteln.
»Ich mache Sie nunmehr mit dem Erlaß des Preußischen Staatsministeriums bekannt. Berlin, den 8. Januar 1928. Das Preußische Staatsministerium macht von dem ihm zustehenden Rechte der Begnadigung keinen Gebrauch, sondern läßt der Gerechtigkeit freien Lauf.«
Papiere knistern leise. Schweigen ...
»Und hiermit übergebe ich Sie dem Nachrichter!«
Fortlaufen! Fortlaufen! Weit, weit weg!
Dickmann kann es nicht verhindern, daß seine Fingernägel sich tief in den Tisch krallen, der vor ihm steht. Fortlaufen, weit weg, um diesem entsetzlichen Schrei zu entfliehen, der über allem zusammenschlägt, und in dessen gellendem Wirbel alles untergeht: Zeit, Stein, der Wintermorgen, die Angst der Kreatur ... Auch die Kommandorufe des Scharfrichters, dessen Gehilfen ein schlagendes, tretendes, bellendes und geiferndes Tier zur Schlachtbank zerren.
Weg! Weg!
Strammes Mädel die Anna. Wenn sie nur nicht quatscht. Einfach schneiden müßte man diesen Gröhden ...
Dickmann taumelt: Die Stimme des Pfarrers heult plötzlich in der Stille auf: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.«
Der Pfarrer hatte die Augen geschlossen. Er konnte vor Beten nicht das leise Knirschen hören, sah nicht, wie der Kopf fiel. Nun schrie er seinen Trostspruch einem blutenden Fleischklumpen zu ...
Dickmann sieht den kopflosen Rumpf nur einen Augenblick: aus dei Schnittfläche des Halses quillt ein breiter Strom hellroten Blutes. Allmählich wird es schwarz und dick und versickert im Rhythmus des immer schwächer werdenden Herzschlages.
Ein Zeuge hat beide Hände gegen die Mauer gestützt und erbricht sich mit aufheulendem Ton. Der Mageninhalt klatscht dumpf auf das Pflaster.
Der Pfarrer wischt mit einem Taschentuch an seinem Talar herum: er ist zu dicht an die Richtbank getreten, Friedrich Mehnerts Blut färbt seine mageren Hände rot.
Der Verteidiger Dr. Herzmann ist grün im Gesicht. Er hüpft auf einem Bein und nestelt umständlich an seinen Schnürsenkeln.
Das steinerne Grab erwacht: wilde Schreie dringen hinter den Mauern hervor. Brüllen und Kreischen. Der Gefängnisinspektor steht mitten auf dem Hof, dreht sich um die eigene Achse und macht pumpende Armbewegungen. Wie ein entsetztes Huhn, das mit den Flügeln schlägt.
Gefängnisbeamte wollen den verstümmelten Leichnam von der Richtbank losschnallen. Ein Gehilfe des Scharfrichters hindert sie daran mit breiter Überlegenheit. Dickmann hört seine tiefe Stimme: »Nich doch, nich doch! Ruhig ausbluten lassen. Nachher kommt draußen det Blut durch den Sarch, und det macht immer 'n schlechten Eindruck.«
Damit stemmt er zwei riesige rote Hände auf die Schulterblätter des Hingerichteten und drückt: das schwarze Blut rinnt noch einmal stoßweise ...
Dickmann wendet sich zum Gehen. Verabschiedet sich wortlos von den Kollegen und dem Oberstaatsanwalt.
Vor dem Gefängnisportal fängt er einige Gesprächsfetzen auf. Zwei Ärzte unterhalten sich: »Haben Sie die interessanten Reflexbewegungen des Trigeminus bemerkt, Herr Kollege? Wie der Kopf herabfiel, dieses Auf- und Zuklappen der Kiefer ... Komisch übrigens, daß der Kopf direkt auf die Schnittfläche fiel ...«
Hinter Dickmann geht Landgerichtsrat Hollweg im Gespräche mit dem Konrektor Müller: »Ja, lieber Herr, früher, da ging die Sache anders. Ganz anderer Schneid bei der ganzen Schose. Wenn da der Staatsanwalt den Verurteilten mit dem kaiserlichen Erlaß über die Versagung der Begnadigung bekannt machte, dann stand hinter der Richtbank ein Halbzug Infanterie. ›Wir, Wilhelm von Gottes Gnaden Kaiser und König.‹ Ruck, zuck! Stillgestanden! Das Gewärrr überr! Prräsentiert das Gewärrr! Na ja, heute, in der Scheißrepublik ...«
Von der nahen Düngemittelfabrik herüber heult die Sirene Feierabend. Dickmann erwacht. Seine Zunge klebt am Gaumen. Er fühlt, wie schlecht sein Atem riecht. Wie er die Wasserkaraffe ergreift, um sie mit einem Zuge auszutrinken, zittert seine Hand.
Er setzt sich aufrecht und hat Mühe, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Morgen, Abend, heute, – alles ist ein ärgerlich schwieriges Durcheinander, schlecht geschlafen, morgens noch einmal ins Bett. Anna ...
Ach so: Friedrich Mehnert. »... von seinem Rechte der Begnadigung keinen Gebrauch, sondern läßt der Gerechtigkeit freien Lauf.«
Friedrich Mehnert ist tot ... Und Dickmann muß nun wieder leben. Ob der Pfarrer seinen Talar wohl schon gereinigt hat? Blutflecke gehen sehr schwer heraus. Dickmann weiß das von seinen Mensuren her. »Ausgerechnet Bananen.« Komisch, wie einem so eine Melodie in den Kopf kommen kann.
Ja, so ist das nun.
Neblig ist es draußen, bald muß es dunkel werden. Das Zimmer ist unaufgeräumt: das weiße Oberhemd liegt auf dem Sofa, die Unterhosen auf der Kommode, der Kragen auf dem Waschtisch. Schweinerei.
Die Luft stinkt, alles steht auf einem ungehörigen Platz.
Diesen blöden Öldruck da hat er schon längst von der Wand nehmen wollen. Eine dicke nackte Frau reckt sich faul und ordinär. Dickmann braucht alle seine Kraft, um aufzustehen und das Bild vom Nagel zu nehmen. Die bunte Tapete ist an der kahlen Stelle dunkler. Dickmann betrachtet den leeren Fleck gedankenvoll. Es dauert einige Zeit, ehe er merkt, daß er im Nachthemd ist und mit bloßen Füßen auf dem kalten Fußboden steht.
Dann wäscht er sich und zieht sich langsam an. Wozu eigentlich? Man muß irgend etwas tun. Irgend etwas, ganz gleichgültig.
Auf dem Korridor macht sich Anna zu schaffen. Dickmann will mit seinem gewohnten Gruß an ihr vorbeigehen. Dann denkt er an die letzte Nacht. Er wendet sich noch einmal zurück, klopft dem Mädchen mit gelangweiltem Lächeln auf das Gesäß und fragt: »War's schön, Kindchen?«
Anna sieht ihn stolz mit feuchten Augen an, und Dickmann ist sehr weit fort.
Dann steht er auf der Straße und gähnt. Was nun? Kaffee trinken vielleicht. Man müßte dazu in den Goldenen Engel gehen.
Der Kellner Franz will das Licht andrehen. Dickmann wehrt es ihm matt.
Er träumt vor sich hin. Nun muß man wieder leben. Was ist denn schon groß passiert? Die letzten Wochen hat er nicht weiter als bis zu diesem Morgen denken können. Bis zu jenem Augenblick, wo der Kopf Friedrich Mehnerts ... Laß doch! Mit diesem Morgen beginnt ein neuer Abschnitt seines Lebens.
Schnaps muß man trinken. Schönen klaren Korn, der nach fernen Roggenfeldern riecht, wenn man die Augen schließt.
Nach und nach füllt sich das Zimmer. Dickmann hört sich freundliche Worte der Begrüßung sagen. Aber es lohnt nicht, darauf zu achten, was man sagt.
Das muß Hollwegs Stimme sein: »Ging tadellos alles. Eins, zwei, drei, alles erledigt. Früher, da stand hinter der Richtbank immer ein Halbzug Infanterie, und wenn der Staatsanwalt ...«
Später bemerkt Dickmann, daß Udo von Gröhden neben ihm sitzt.
»Darf ich Sie zu einer Flasche Beaujolais einladen?« fragt Gröhden leise, und Dickmann nimmt erstaunt an. Dann trinken sie schweigend.
Gröhden betrachtet seinen Gast aufmerksam. »Ja«, sagt er gedankenvoll. »Da hilft eben nichts als Trinken. Muß nicht so einfach sein.«
Dickmann nickt schwer: »Man muß sich erst wieder ein bißchen zurechtfinden«, sagt er und schämt sich seiner Offenherzigkeit.
Gröhden schweigt.
Schließlich sagt er erstaunt, als hätte er eine überraschende Entdeckung gemacht: »Ich glaube, Sie sind im Grunde genommen ein anständiger Mensch, Dickmann.«
Nicht einmal die Kraft bringt Dickmann auf, sich dieses ungehörige Kompliment zu verbitten, er sitzt, trinkt und schweigt. »Wenn es wenigstens schneller ginge«, sagt er grübelnd.
»Darf es ja nicht«, wirft Gröhden hin.
Dickmann horcht auf: »Wieso?«
Gröhden hebt nicht einmal den Kopf. Er spricht in einem Ton, als sagte er die belanglosesten Dinge. Sorgfältig, mit nervösen Bewegungen seiner schlanken Finger knifft und faltet er an einem Papierschiffchen herum und scheint ganz vertieft in diese Spielerei.
»Nee, schneller gehen darf es auf keinen Fall. Das ist ja gerade der Sinn der Sache. Ihr bestraft einen Menschen ja nicht mit dem Tode, sondern mit der Todesangst. Bitte sehr, das ist ein sehr wichtiger Unterschied. Ich sage dies nicht aus Humanitätsduselei, sondern ganz sachlich und nüchtern. Ihr braucht eben dieses pomphafte Zeremoniell, wie es jetzt Ihr Kollege Hollweg am Nebentisch mit so viel Liebe ausmalt. Wenn man einen Menschen so ganz einfach um die Ecke brächte, ganz ohne Pfarrer und Staatsanwalt und dem ominösen Herrn mit dem Beil zwischen den roten Fleischerpfoten, dann müßten sich alle Rechtgläubigen empören.«
Dickmann schweigt. Er fühlt zwingend, daß er hierzu viel zu sagen hätte, daß er eigentlich nicht so teilnahmlos diese geistreichen Spötteleien anhören dürfe. Er möchte aufstehen, sich retten vor den gefahrvollen Überlegungen. Aber er bleibt sitzen, und Gröhden spricht weiter.
»Sehen Sie, so ist das: ein Mensch mordet, und das darf nicht sein. Die Gesellschaft muß vor solchen Leuten geschützt werden. Wie schützt man sie am einfachsten? Natürlich dadurch, daß man den gefährlichen Schädling umbringt. Klar und einleuchtend. Eine reine Zweckmäßigkeitsfrage. Aber tötet man einen Menschen, nur weil es zweckmäßig ist? Nein, – da fehlt noch etwas. Man muß die brutale Geste der Selbsterhaltung umlügen mit Ethos, Philosophie und dem lieben Gott. Der Pfarrer sabbert Gebete, der Staatsanwalt deklamiert Akten, ein Totenglöcklein läutet ungemein dekorativ und schauerlich. Und was einem an der ganzen Geschichte wirklich imponieren kann, das ist das erfrischend bestialische Tun des Henkers, den ihr liebevoll Nachrichter nennt.«
Gröhden lacht leise auf: »Ihr wollt ja garnicht töten. Ihr wollt quälen. Und weil ihr fühlt, wie widerwärtig und tierisch diese Quälerei ist, darum dieses pomphafte Zeremoniell, diese Operettendramatik. Wenn man einem Verurteilten heimlich und hinterrücks eine Kugel durch den Kopf schösse, dann wäre das barmherzig, und der gewünschte Zweck würde ebenso gut erreicht. Aber von Zweckmäßigkeit ist hier ja keine Rede. Gerechtigkeit sagen wir. Die alten mittelalterlichen Henker waren wenigstens ehrlich: die zwickten ihre Opfer mit glühenden Zangen, brannten sie mit Feuer und peitschten sie auf offenem Markt. Die konnten das, denn sie hatten ein gutes Gewissen. Ihr habt alle ein so jämmerlich schlechtes Gewissen bei eurer gerechten Grausamkeit, daß ihr einem leid tun könnt. Und weil ihr selbst wißt, daß euer Tun viehisch ist, und weil ihr nicht den Mut habt, euch dazu zu bekennen, darum laßt ihr dem lieben Gott den Vortritt und dem Paragraphen 211.«
Dickmann wacht auf. Jetzt muß man etwas sagen, denkt er. Man kann sachlich darüber diskutieren. »Und die Sühne, Herr von Gröhden?« sagt er mit schwerer Zunge.
Gröhden lacht: »Die Sühne? Auge um Auge, Blut um Blut? Sie, vor drei Jahren habe ich mit meinem Wagen ein Kind überfahren. Knacks, war das arme Wurm tot. Peinliche Sache. Ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen ...«
»Aber Sie konnten doch nichts dafür!« wirft Dickmann ein.
»Und die Sühne, wie? Woher wissen Sie denn, ob Ihr kleines Lustmörderchen etwas dafür konnte, wie? Ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen und habe diese Schuld dadurch gesühnt, daß mich das erweiterte Schöffengericht Pörgelau unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Uhle mit Pauken und Trompeten freigesprochen hat. Da drüben sitzt Graf Barnim. Hat einem Mann aus seinem Dorf völlig sinnlos die Nieren zerfetzt. Wenn ich nicht irre, wirkten Sie ja wohl in der Verhandlung mit, in der er als weißgewaschener Ehrenmann dem Leben wiedergegeben wurde. Gehen Sie mir mit der Sühne, lieber Herr. Das ist Humbug wie alles, was mit der irdischen Gerechtigkeit zusammenhängt.« Dickmann trinkt. Sein Kopf ist schwer. »Sie sind also gegen die Todesstrafe«, stellt er abschließend fest.
Gröhden ist plötzlich in sich zusammengesunken. Er macht eine wischende Handbewegung. »Ich bin gegen garnichts«, sagt er müde. »Ich sehe da bloß so zu. Geht mich ja auch nichts an.«
Eine Stunde später hört Dickmann wieder am Nebentisch Hollwegs Stimme. Eine sinnlose Wut steigt in ihm hoch. Er ist jetzt sehr betrunken.
Er erhebt sich mühsam und geht langsam und schwankend zu Hollweg hinüber. Ganz nahe tritt er an ihn heran und beugt sich soweit über ihn, daß ihm Hollwegs steife Schnurrbartenden die Backen kitzeln.
Der Landgerichtsrat springt auf und weicht zurück: »Sind Sie verrückt geworden, Herr Kollege?« schimpft er unsicher und scherzhaft grob.
Dickmann tritt noch einen Schritt näher, blickt ihm starr in die Augen und sagt langsam und deutlich: »Dämlicher Hund!«
Gröhden und Hauptmann Schmidt bringen ihn dann nach Hause. Die Treppen will er allein hinauf gehen. Er wirft sich angekleidet auf die Chaiselongue.
Später ist dann plötzlich Anna bei ihm, zieht ihm die Stiefel aus und streicht ihm scheu über das Haar. Und Dickmann, Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann, legt seinen Kopf an die Brust des Dienstmädchens Anna und weint sich in den Schlaf ...