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Die Pyramide

Hier steht die Zeit still, das ist der sichere Hafen, in dem man geschützt ist vor Zweifeln und Bedrückungen: die kleine Stadt.

Gewiß, auch auf dem Marktplatz der Stadt Pörgelau stehen vormittags Gruppen von Männern, die Hände in den Taschen, die Mütze ins Gesicht gezogen. Arbeitslose. Der Bürger nimmt das kühl und unbeteiligt zur Kenntnis und betrachtet die untätigen Männer mit Mißbehagen und unterdrücktem Ärger. Sie erinnern daran, daß es da draußen ein feindliches, unruhiges und unerfreuliches Leben gibt. Und man will nicht daran erinnert werden ...

Dickmann kann wieder singen, wenn er allein ist. Er kann herzlich lachen und unanständige Schnapsgebete aufsagen, wenn er im Goldenen Engel sitzt.

Man muß sich entscheiden? Ach, es ist so leicht, sich zu entscheiden, wenn man in Pörgelau lebt, wo die Zeit stehen geblieben ist, wo alles so wundervoll selbstverständlich ist; die Liebschaften der Frau Landrat ebenso wie das Zuchthausurteil gegen den jüdischen Arzt, der gegen den Paragraphen 218 des Strafgesetzbuchs verstoßen hat; die Treue gegen das angestammte Herrscherhaus wie die Tatsache, daß man sein Gehalt von der deutschen Republik bezieht.

Dickmann ist wunschlos glücklich und weiß nicht, wie er es sich erklären soll, daß so schnell aus dem unfrohen, grübelnden und zweifelnden Menschen ein fröhlicher und allgemein beliebter junger Amtsgerichtsrat geworden ist. Das sind Dinge, an die man nicht rühren darf. Der Mensch hat die Freiheit des Willens und ist für sein Schicksal verantwortlich. Daß er sich in einer neuen Umgebung so von Grund auf verändert, das kann und darf nicht erklärt werden.

Man muß sich entscheiden? Ach, wie unwichtig das alles geworden ist! Wenn Dickmann über das holprige Pflaster der Pörgelauer Straßen geht und von den unteren Beamten des Gerichts respektvoll gegrüßt wird; wenn der Kellner im Goldenen Engel ihm die Speisekarte mit tiefer Verbeugung reicht; wenn er im Salon der Frau von Norden Konversation macht, das Pörgelauer Reichswehrbataillon mit klingendem Spiel vorbeimarschieren sieht, wenn er mit den Pferden des staatlichen Gestüts ausreitet, – immer überkommt ihn ein Gefühl seliger Geborgenheit.

Hier in dieser märkischen Stadt Pörgelau, wo die Zeit stehen geblieben ist, gibt es keine Probleme. Hier ist Dickmann eingeordnet in einen Kreis tüchtiger, tätiger und froher Menschen. Dies ist die Welt, in die er hineingehört, die Welt seiner Väter und seiner Kaste.

Die rechtliche Sache? Tscheka? Die Angeklagten lächelten, als ihnen ihr Urteil verkündet wurde? Wie weit das zurückliegt! Es gibt so viele andere Dinge, an die man zu denken hat ...

Einweihung des Denkmals für die Gefallenen des Pörgelauer Infanterieregiments. Eine Kompanie des Reichswehrbataillons zieht auf, in der Mitte des Platzes steht das Denkmal, noch von Tüchern verdeckt. Generäle der alten Armee auf der Tribüne für die Ehrengäste, unter denen sich auch Amtsgerichtsrat Dickmann befindet. Hochrufe: Königliche Hoheit erscheint, ein schmaler Herr in der Uniform eines Infanterieobersten. Der Bürgermeister hält eine Rede, die Hüllen fallen: von einer Fahne halbbedeckt, liegt ein sterbender Soldat. Eine Faust reckt sich zum Himmel empor, und vom Sockel des Denkmals leuchtet in Goldbuchstaben die Inschrift: »Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor«. Herr von Ziesar übersetzt es seinen Damen mit nachdrücklichem Pathos: »Aus unseren Gebeinen wird dereinst ein Rächer erstehen«.

Die Musik spielt »Ich hatt' einen Kameraden«, Königliche Hoheit legen die Hand an die Mütze, die Kompanie präsentiert das Gewehr.

Plötzlich steht neben dem Denkmal ein alter General, Exzellenz Sixt von Arnim räuspert sich und spricht: »Ich habe die hohe Ehre, daß Seine Majestät mich beauftragt haben, dieses Denkmal einzuweihen. Wir gedenken Seiner in ehrfurchtsvoller Dankbarkeit und unwandelbarer Treue und sind, so wie er bei uns, im Geiste bei ihm. Ich begrüße den Prinzen Oskar von Preußen, den Sproß des erlauchten Kaiserhauses, die Vertreter der Reichswehr, von der wir bewußt sind, daß sie vom selben Geiste beseelt ist wie das alte Heer. Und in dieser weihevollen Stunde drängt es mich, auszusprechen, was wir alle empfinden: das oberste Gesetz für uns alle ist das der Pflichterfüllung, getreu den Artikeln des Fahneneides, den wir Seiner Majestät geschworen haben ...«

Landrat von Norden tritt vor: »Als Vertreter der staatlichen Behörden gereicht es mir zu ganz besonderer Ehre ...«

Das Deutschlandlied. Die hellen Stimmen der Frauen schweben über den dumpfen Bässen der Männer. Königliche Hoheit singen weitoffenen Mundes. Es singen der Landgerichtspräsident, der Landrat, der Oberstaatsanwalt. Es singt auch der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann.

Vorbeimarsch der Reichswehr, der Veteranen von 1870, des Stahlhelms, des Jungdeutschen Ordens vor Königlicher Hoheit und dem General. Vor den schweren Bauernpferden der ländlichen Reitervereine tänzeln die Vollblüter der Gröhdens, Barnims und Ziesars, die in der Umgebung begütert sind ...

Landgerichtsrat Hollweg drängt sich durch die Menge an Dickmann heran. Sein Schnurrbart sträubt sich, und seine Kneifergläser funkeln: »Herr Kollege,« sagt er mit bewegter Stimme, »Herr Kollege, ein solcher Tag! Eine Freude für jeden kerndeutschen Mann!«

Später das Festessen im Goldenen Engel. Die jüngeren Herren des Gerichts unterhalten sich halblaut darüber, ob die Rede seiner Exzellenz nicht ein wenig scharf gewesen sei. Immerhin ist man ja Beamter der deutschen Republik, vielleicht kann es da noch Unannehmlichkeiten geben. Auf alle Fälle: eine widerwärtige Gesinnungsschnüffelei. Verbieten da die republikanischen Behörden ihren Beamten die Teilnahme an Feiern monarchistischen Charakters. Wer wird sich denn um solche albernen Befehle kümmern!

Am Abend schreibt Dickmann seinen Sonntagsbrief nach Hause, einen ruhigen, zufriedenen Brief. Er erzählt, er sei Königlicher Hoheit vorgestellt worden, spricht von famosen Kollegen und dem reizenden Verkehr auf den Gütern ... (Landgerichtsdirektor Dickmann faltete den Brief nachdenklich zusammen und lächelte still. Er war zufrieden: Pörgelau scheint doch das Richtige für den Jungen gewesen zu sein.)

Er darf zufrieden sein, denn auch sein Sohn ist wunschlos glücklich.

Genia? Man ist auch über den Fall Lenchen Flöter hinweggekommen und wird noch über ganz andere Dinge hinwegkommen ... Dickmann ist nicht gewillt, durch trübe Erinnerungen sich die Zukunft verdunkeln zu lassen, die hell und strahlend vor ihm liegt ...

Der Landrat nimmt sich des Corpsbruders auf eine herzliche und unauffällige Art an. »Du ißt im Goldenen Engel«, hat er ihm neben anderen Verhaltungsmaßregeln befohlen. »Nicht im Grünen Baum. Auf keinen Fall im Grünen Baum. Verschiedene Herren vom Gericht und vom Gymnasium verkehren da, aber das ist kein Umgang für dich.«

Dickmann hat von Norden auch eine lange Liste mit Namen bekommen. »Hier machst du Besuch, und zwar in der Reihenfolge, wie sie hier steht.«

So fährt er an dienstfreien Tagen in einem Auto, das er von dem Fuhrunternehmer Köppke gemietet hat, auf die umliegenden Güter, den Zylinder neben sich in einer Schachtel. Und immer, wenn der Wagen über einen Gutshof fährt und in elegantem Bogen vor der Rampe des Herrenhauses hält, – immer wird Dickmann angenommen, bei Graf Barnim, bei Gröhdens, bei Ziesars, bei Bogens. Der junge Amtsrichter wird mit offenen Armen empfangen.

Einmal, auf einer Gesellschaft bei Graf Bogen, hört er, wie ein Gutsbesitzer den Hausherrn fragt: »Dickmann, wer ist denn das?« Und der andere antwortet: »Sehr ordentlicher Mann. Corpsbruder vom Landrat. Tadellose Familie, ehemaliger Kavallerist. Soll noch eine schöne Karriere vor sich haben, der junge Mann.« Da errötet Dickmann, und er braucht es sich nicht erst ausdrücklich vorzunehmen, sich des allgemeinen Vertrauens würdig zu zeigen.

Frau von Norden hat Besuch. Frau Oberstleutnant Christoph, Frau Direktor Uhle, Frau von Gröhden, eine unverheiratete Schwester der Landrätin. Dickmann wird herzlich begrüßt. »Nein, der Herr Doktor!«

»Ist ja reizend, Herr Amtsgerichtsrat!«

Die Damen haben ihr Lesekränzchen. »Wenn ich mich vielleicht anbieten dürfte«, sagt Dickmann und sitzt dann mit einem Buch in der Hand und liest vor. Die Balladen und ritterlichen Lieder des Freiherrn von Münchhausen.

Dickmann hat eine angenehme Stimme. Auf dem Gymnasium galt er als guter Rezitator. Zuerst ist es ihm ein wenig peinlich. Aber bald findet er sich darein, und seine Stimme klingt markig und fest, wenn er Gedichte und Lobpreisungen des deutschen Adels rezitiert.

»Wir stehn mit starkem Nacken
in des Marktes Feilschen und Placken
in strenger Ritterschaft,
wir wolln in stillem Walten
dem Lande sein Bestes erhalten:
Deutsche Bauernkraft!«

Dann seufzt Frau Superintendent Finke tief auf und sagt: »Jaja, der Adel!« Worauf Gräfin Bogen selbstbewußt und provozierend bemerkt: »So etwas kann eben nur ein Münchhausen sagen.«

Frau Oberstleutnant Christoph lächelt melancholisch: »Ich finde es reizend, wenn ein Herr noch soviel Sinn für Poesie hat wie unser lieber Amtsgerichtsrat.«

Dickmann wird rot. Irgendwoher tönt es in seine Ohren: »... vernehmen wir und reden viele Worte.« Wie fern das ist. Daß es so etwas einmal gab. Er schüttelt unmerklich den Kopf und greift wieder zu dem schmalen Heft, und seine Worte rollen wie Donner:

»Wir alle, wir alle, wir alle schwören
einen heiligen Schwur, und Gott soll ihn hören:
Wie's Vaterunser ins Herz wir schmieden
Wort für Wort den Versailler Frieden ...«

Frau von Norden sieht Dickmann unverwandt an. Ihre spitze Zunge streichelt die vollen roten Lippen. Wenn sie aufsteht und durchs Zimmer geht, bewegen sich ihre Schenkel weich und schwer, und Dickmann darf nicht hinsehen, sonst steigt ihm brennende Röte in die Backen.

»Nimm dich meiner Frau ein bißchen an«, hat der Landrat ihm neulich gesagt. »Sie hat es nicht leicht. Ist viel allein. Du weißt ja, mein Dienst ...«

Dickmann war diese Bitte sehr peinlich. Denn im Goldenen Engel hat ihm neulich jemand vielsagend auf die »schöne Corpsschwester« angesprochen, und ein anderer hat zweideutig gelächelt und vor sich hingemurmelt: »Jaja, der arme Norden ...«

Melanie von Norden gebraucht oft burschikose Ausdrücke. Die Herren lachen dann amüsiert und vertraulich. Die Damen kichern verlegen, und Frau Superintendent bemerkt entschuldigend: »Sie ist nun einmal ein wenig frei, unsere gute Frau von Norden.«

Wenn Frau Landrat Dickmann die Hand gibt, läuft ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Die Hand ist weder besonders gut gepflegt, noch besonders schön. Sie riecht nach billiger Fliederseife. Aber sie ist weich und erregend. Dickmann nimmt sich schon wenige Wochen nach seiner Ankunft in Pörgelau vor, seine Besuche im Hause des Landrats unauffällig einzuschränken. Aber er geht doch immer wieder hin ...

Das ist Frau von Norden. Der alte Baron Bollensdorf, der zwanzig Kilometer von Pörgelau entfernt auf seiner Klitsche sitzt, und als »Roué« gilt, weil er die väterlichen Wälder in grauer Vorzeit verspielt und vertrunken hat, spricht von ihrer »brillanten Büste«. Manchmal nennt er sie ein »fesches Weibchen«, und seine kalkigen Augen mit den ewig geröteten Lidern glänzen matt.

»Wie ich das letzte Mal in Monte war ...« sagt er und schließt träumerisch die Augen. Dickmann wartet respektvoll auf die Erzählung von irgendeinem feschen Weibchen, die nun folgen soll, aber Baron Bollensdorf lächelt nur versonnen.

»Ein Windhund, ein Schürzenjäger, ein Suitier«, so sagt man allgemein von Baron Bollensdorf. Aber das ist schon lange her ...

Es ist hier überhaupt alles so unendlich beruhigend »lange her«. Man spricht von den Pörgelauer Kaisertagen, als lägen sie nur einige Wochen zurück, und Dickmann ist ganz erstaunt, wie er hört, daß man damit den Besuch meint, den der alte Kaiser Wilhelm im Jahre 1882 anläßlich der Kaisermanöver der Stadt Pörgelau abgestattet hat. Ihm imponiert diese selbstverständliche und rücksichtslose Art, die unbequeme Gegenwart einfach auszustreichen und sich dafür an den warmen und freundlichen Erinnerungen zu erfreuen ... Nach dem Nachmittagsbesuch bei Frau von Norden geht er zum Abendbrot in den Goldenen Engel. Im Hinterzimmer, das für bessere Gäste reserviert ist, sitzen schon sieben oder acht Herren beim Dämmerschoppen. Einige spielen Skat, andere erzählen sich Witze, und an einem besonderen Tisch sitzt Graf Barnim und verzehrt ein riesiges Schnitzel. Dickmann hat Barnims Wagen schon vor der Tür stehen sehen. Er begrüßt den kleinen, kugelrunden Herrn sehr höflich.

Graf Barnim streckt ihm mit einem unartikulierten Grunzen die Hand hin, und Udo von Gröhden ruft Dickmann zu: »Lassen Sie ja Barnim zufrieden, Dickmann, ich warne Sie.«

Der alte Sanitätsrat Kroke blinzelt ihm zu: »Na, wo haben Sie denn gesteckt?«

»Ich habe den Landrat besucht.«

Der Sanitätsrat beugt sich weit über den Tisch vor und flüstert geheimnisvoll: »War er denn zu Hause?«

Dickmann verneint und ärgert sich, daß er dabei verlegen wird. Mit todernstem Gesicht hebt der Sanitätsrat ein Glas und spricht feierlich: »Isabella von Castilien mit den Wonneutensilien lädt den Papst zum Coitus; doch der Papst in großen Nöten klimpert mit den heil'gen Klöten und er spricht: non possumus!«

Die Herren lachen dröhnend.

Udo von Gröhden stößt Dickmann mit spitzem Zeigefinger in die Seite und flötet: »Huch nein!«

Barnim kaut sein Schnitzel, und Dickmann bestellt sich ärgerlich sein Bier ...

Später erscheint der Landgerichtspräsident auf einen Augenblick: Dr. Posselt, ein diplomatischer, schlanker Herr, ausgezeichneter Jurist und Verwaltungsbeamter von hohen Graden. Dem starken Eindruck seiner ruhigen Sicherheit kann sich niemand entziehen.

Graf Barnim schießt wie ein Geier auf ihn los: »Sie, Präsident, was ist denn das für eine gottverfluchte Sauerei?« schreit er rücksichtslos. Dann hakt er seinen krummen Zeigefinger dem Präsidenten in den Jackenausschnitt und hält ihn so fest.

Man sieht jetzt erst, daß Graf Barnim eigentlich eine komische Figur ist. Seine Joppe ist viel zu eng. Die grünen Lodenhosen sind zu kurz und lassen über klobigen Stiefeln einen grauen Wollstrumpf sehen. Aber es ist Graf Barnim, Herr auf sechzehntausend Morgen Land, davon viertausend schwerer Weizenboden und achttausend schlagbarer Wald. Skatfreund seiner Majestät, ein gewaltiger Rotweintrinker und Jäger.

Der Präsident macht sich lächelnd von dem Zeigefinger frei: »Vielleicht darf ich mich erst setzen, lieber Graf?«

Barnim pustet vor Aufregung. Dr. Posselt fragt gemessen: »Was hat Sie denn so in Rage gebracht, wie?«

»Also ich sage Ihnen, der Kerl muß hier weg! Ich mache Sie dafür verantwortlich, daß wir diesen Bolschewisten loswerden. Ich muß sagen, ich bin einigermaßen erstaunt, daß so etwas überhaupt möglich ist.«

Der Präsident lächelt höflich: »Um wen handelt es sich, wenn ich fragen darf?«

»Um den Staatsanwalt Fischer, verehrter Herr! Um einen Staatsanwalt, der sich nicht entblödet, mir, mir! einen Gendarmen auf den Hof zu schicken!«

Dr. Posselt zuckt bedauernd die Achseln: »So gern ich zu Ihrer Verfügung stehe, lieber Graf, – Sie überschätzen meinen Einfluß bedeutend. Die Staatsanwaltschaft ist eine Behörde, die der Generalstaatsanwaltschaft untersteht, und diese wieder unmittelbar dem Justizministerium. Ich empfehle Ihnen, sich beschwerdeführend an Herrn Oberstaatsanwalt Linde zu wenden, wenn Sie etwas gegen Herrn Dr. Fischer vorzubringen haben.«

Barnim schüttelt störrisch den Kopf: »Werd' mich hüten. Sie verlangen von mir vielleicht auch noch, ich solle bei diesem Minister, diesem Herrn Irgendwer, antichambrieren? Bei einem Mann, der uns hier einen ausgesprochenen Bolschewisten auf den Hals schickt!«

Dr. Posselt schlägt leicht die Hände zusammen: »Aber, aber, lieber Graf. Bolschewist! Ich bitte Sie, Dr. Fischer steht politisch im äußersten Fall dem rechten Flügel der Deutschen Volkspartei nahe! Gemäßigt liberal allerhöchstens! Und Sie sprechen von einem Bolschewisten!«

»Sie, Präsident,« Graf Barnim ist nicht zu überzeugen, »das sind Flausen. Das geht mich garnichts an. Ich sage nur, wenn ein Mensch so wenig Ahnung von den ländlichen Verhältnissen hat wie der Dr. Fischer, dann soll er in Dreideubelsnamen in Berlin bleiben. Und Sie, jawohl, Sie, mein Lieber, Sie sollten es sich höheren Orts verbitten, daß man Ihnen solchen Kerl aufhalst!«

Der Präsident trinkt in Ruhe sein Bier aus. Dann legt er sich in seinen Stuhl zurück und fragt freundlich: »Und was hat er denn nun eigentlich angestellt, der gute Fischer?«

»Gute Fischer! Gute Fischer!« äfft Barnim dem Präsidenten nach. »Nichts mehr und nichts weniger, als daß er gegen mich ein hochnotpeinliches Verfahren eingeleitet hat, weil ich einen gottverfluchten Aasjäger über den Haufen geschossen habe!«

Die Herren schweigen betreten.

»Noch eins, Herr Präsident?« Herr Müllermann, der Wirt zum Goldenen Engel, bedient den hohen Gast persönlich, wie er auch vorhin dem Grafen höchsteigenhändig sein Schnitzel gebracht hat.

Der Präsident hat es plötzlich sehr eilig. Er zieht die Uhr: »Oh, so spät schon. Nein, ich danke sehr, mein lieber Herr Müllermann. Lieber Graf, – tut mir sehr leid, habe noch eine dienstliche Besprechung ...«

Der Graf gibt ihm brummend die Hand. Wie der Präsident sich gerade von den anderen Herren verabschiedet hat und zur Türe geht, sagt Graf Barnim laut und deutlich: »Kneifen tut er, weiter nischt!«

Der Präsident muß es noch gehört haben.

Dann erzählt Barnim den anderen Herren seine Skandalgeschichte mit dem Staatsanwalt. Landgerichtsrat Hollweg und Amtsgerichtsrat Dickmann vom Land- und Amtsgericht Pörgelau hören aufmerksam zu.

»Geh' ich da neulich durch meinen Wald und sehe schon von weitem, daß da so ein Kerl sich am Boden etwas zu schaffen macht. Ich, Büchse hoch, rangepirscht an das Schwein. Was seh' ich? Mein alter Freund Steguweit. Ein Kerl, der bei mir als Tagelöhner rausgeflogen ist. Faul, frech, – eine reizende Nummer. Wegen Wilddieberei vorbestraft. Wie ich zehn Meter von ihm weg bin, reiß ich die Büchse hoch: ›Halt!‹ Und was soll ich Ihnen sagen? Mein Steguweit, hopp, hopp, hopp, ab durch die Büsche. Ich schrei noch mal und noch mal, – na, und dann hab' ich ihm einen Posten Schrot in den Arsch geknallt.«

Hauptmann Schmidt schüttelt verständnislos den Kopf: »Ist doch alles in Ordnung!«

»Ja, Scheiße, alles in Ordnung!« faucht der Graf. »Wissen Sie, was passiert? Eines schönen Tages kommt der Gendarm auf meinen Hof. Ich schick' ihn zum Inspektor, denke, er hat irgendeine belanglose Sache. Nee, hat er nich. Mich will er sprechen, mich! Ich guck mir den Mann an, als ob er verrückt geworden wäre. Zieht der doch ganz gemütlich ein Stück Papier aus der Tasche: ›Verantwortliche Vernehmung ... als Angeschuldigter‹!«

»Nich zu sagen!« macht Hollweg empört.

»Hilft mir nichts, ich mach' meine Aussagen. Und heute, heute höre ich, daß dieses Würstchen, dieser Staatsanwalt Fischer, gegen mich gefälligst ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung eingeleitet hat! Wegen gefährlicher Körperverletzung, weil ich einen Aasjäger abgeknallt habe!«

»Ist der Mann tot?« fragt der Sanitätsrat sachlich.

»Den Deubel ist der tot! Der Schrotschuß ist ihm in die Nieren gegangen. Weiß ich? Die Nieren sollen zerfetzt sein. Nu schön, wenn einer wegen Wilddieberei vorbestraft ist und auf Anruf im Walde nicht stehen bleibt, sondern ausreißt, knall ich ihn ab. Das war immer so und wird immer so bleiben.«

Udo von Gröhden gähnt hinter der vorgehaltenen Hand: »Im Mittelalter hat man solche Leute auf den Rücken eines Hirschs gebunden und das Tierchen dann laufen lassen. Heute zerfetzt man ihnen die Nieren. Woran man den Fortschritt der Humanität erkennen möge.«

»Gröhden, lassen Sie Ihre Albernheiten!« schimpft Barnim. »Sie scheinen kein Verständnis dafür zu haben, daß ein solcher Mann, der gegen eingesessene Gutsbesitzer derartige Methoden anwendet, unmöglich ist. Bin doch neugierig, ob es in dieser Sache tatsächlich zu einer Verhandlung kommen wird. Hier ist ja einer von den Herren. Sagen Sie, Amtsgerichtsrat, was denken Sie darüber?«

Dickmann windet sich förmlich vor Verlegenheit. Er fühlt, daß Landgerichtsrat Hollweg ihn neugierig fixiert. Dann macht er eine knappe Verbeugung: »Da ich nicht weiß, ob ich mit dieser Sache nicht noch einmal dienstlich befaßt werde, bin ich leider nicht in der Lage, mich zu äußern.«

»Sehr korrekt«, lobt Graf Barnim grimmig. »Zum Kotzen korrekt ...«

Auch das später folgende unverfängliche Gespräch kann Dickmann nicht über das peinliche Gefühl hinweghelfen, es mit dem mächtigsten Mann des Pörgelauer Kreises verdorben zu haben ...

Merkwürdig, daß der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann diese außerdienstlichen Angelegenheiten viel wichtiger nimmt als seinen Dienst. Nicht, als ob er sich irgendeine Nachlässigkeit während der Dienststunden zu Schulden kommen ließe, aber der Dienst ist so einfach, seine Arbeit bewegt sich in so genau abgezirkelten Bahnen, daß er den Kopf für das wirkliche, große Leben frei behält, das jenseits der Paragraphen liegt. Und in Pörgelau ist dieses Leben schön ...

Dickmann bearbeitet als Einzelrichter die Strafsachen beim Amtsgericht und fungiert als Beisitzer im großen Schöffengericht, dessen ständiger Vorsitzender der Landgerichtsdirektor Uhle ist. Das Amtsgericht Pörgelau ist besetzt mit drei Richtern. Die Aufsicht führt Amtsgerichtsrat Dr. Viehweg, ein alter Herr, der die Altersgrenze bald erreicht hat.

Dr. Viehweg ist seit Jahren verwitwet und gilt als Sonderling. Sein großes Haus, das in der Brüssower Vorstadt in einem verwilderten Garten liegt, hat kaum jemals einer der Herren des Gerichts betreten. Als Dickmann sich bei ihm zum Dienstantritt meldete, hat Dr. Viehweg freundlich genickt und gesagt: »Besuch brauchen Sie bei mir nicht zu machen. Ich nehme ihn als genossen hin.« Im übrigen sammelt der Amtsgerichtsrat Schmetterlinge, und ein junger Studienassessor vom Gymnasium hat in Pörgelau das phantastische Gerücht aufgebracht, Dr. Viehweg gelte in Fachkreisen als Autorität und habe sich durch viele Veröffentlichungen auf lepidopterologischem Gebiet einen guten Namen in der wissenschaftlichen Welt erworben. In Pörgelau macht man sich ganz einfach lustig über den alten Herrn, den man im Sommer wie eine Witzblattfigur mit Schmetterlingsnetz und Ätherflasche in den Feldern herumstreifen sieht.

In Kollegenkreisen tuschelt man sich – je nach Temperament entrüstet oder belustigt – zu, Dr. Viehweg kümmere sich um den Dienst nicht mehr, als gerade unbedingt nötig sei, um nicht Anstoß zu erregen, und lasse gern fünf gerade sein. Der Landgerichtspräsident soll sogar einmal dienstlich gegen diese Schlamperei eingeschritten sein!

Das geht natürlich nicht. Dickmann hat bisher Dr. Viehweg für einen famosen alten Herrn gehalten, den man gern haben müsse. Aber dieses Gerücht gibt seiner Wertschätzung einen bedenklichen Stoß. Man erzählt sich ganz tolle Dinge von Viehweg. So soll er zum Beispiel einmal ein paar junge Tagelöhnerburschen trotz erdrückender Schuldbeweise von der Anklage des Obstdiebstahls freigesprochen haben. »Warum nur, warum denn nur, Herr Amtsgerichtsrat?« hat der die Anklage vertretende Assessor ganz entsetzt gefragt. Worauf er von Viehweg die erstaunliche Antwort bekommen haben soll: »Weil das hohe Gericht in seiner Jugend selbst Äpfel gestohlen hat!«

Das kann Dickmann bei aller Hochachtung wirklich nicht verstehen. Er findet es ganz in der Ordnung, daß man dem alten Herrn zwei junge, schneidige Amtsrichter vor die Nase gesetzt hat, die ein bißchen Schwung in die Geschichte bringen sollen. Amtsgerichtsrat Wolf bringt schon seit Wochen die Grundbuchabteilung in Ordnung, in der allerhand nicht stimmen soll. Jedenfalls versichert er es selbst gern und mit gewichtiger Betonung. So sind für Dickmann die Strafsachen übrig geblieben. Er weiß eigentlich selbst nicht, wie er dazu gekommen ist. Es war eben kein anderer da, und dem aufsichtsführenden Richter war es so am bequemsten ...

So ist Dickmann Strafrichter geworden. Warum sollte er es auch nicht? Diesem jungen Mann gibt der Staat die Macht, einen Menschen auf Jahre ins Zuchthaus zu schicken. An seinen wohlgeformten Lippen hängen die Blicke der Angeklagten. Das Wort des Amtsgerichtsrats Dickmann ist ihr Schicksal, bedeutet ihnen Glück oder Verzweiflung, Qual oder Freiheit, Leben oder den bürgerlichen Tod.

Dieser junge Mensch weiß nichts von Not und Elend und weiß nicht, was Hunger heißt. Er kennt von Menschen nur sich selbst, und er will nicht einmal sich selber kennen. Er glaubt an die Freiheit des Willens, weil er nie versucht worden ist, und weil er nicht weiß, woran er sich halten sollte, wenn man ihm diesen Glauben nähme. Er kennt von der Psychologie nur die Vokabel und hält die Psychoanalyse einfach für eine Sauerei. Er hat als Student Vorlesungen über Strafrecht gehört und als Referendar mehrfach als unbeteiligter Zuschauer in Gerichtsverhandlungen gesessen. Die soziologischen Grundlagen des Verbrechens sind ihm nur soweit geläufig, als er weiß, ein Mensch könne stehlen, weil er Hunger habe. Ob Hunger ein ausreichender Strafgrund ist, weiß er nicht, wohl aber, daß man nicht stehlen darf.

Diesem jungen Mann gibt die Gesellschaft die Macht, einen Menschen ins Zuchthaus zu schicken. Ja, wenn es sich um Geld und Geldeswert handelt, – da ist die Macht des Einzelrichters durch ein dichtes Netz von gesetzlichen Schutzmaßnahmen eingeengt. Der qualvolle Gedanke, ein Richter könne über einige hundert Mark eine falsche Entscheidung treffen, hat die gesetzliche Bestimmung hervorgebracht, daß so lebenswichtige Fragen nur von einem Kollegium dreier Landgerichtsräte entschieden werden dürfen. Und damit ja kein Paragraph zu Schaden kommt, müssen die streitenden Parteien sich vor dem Landgericht von gesetzeskundigen Rechtsanwälten vertreten lassen.

Der Amtsgerichtsrat Dickmann darf nicht selbständig darüber entscheiden, wem eine Summe von tausend Reichsmark gehören soll. Aber einen Menschen auf Jahre ins Zuchthaus schicken, das darf er kraft seiner Eigenschaft als Einzelrichter in Strafsachen.

Warum auch nicht? Ob ein Mensch zerbricht an einem Urteil, oder der junge Mann, den der Staat ihm als Richter gesetzt hat, sich irrt, – der Mensch ist kein strafrechtliches Prinzip. Er ist ein Objekt, und ein unwichtiges dazu.

So ist Dickmann Strafrichter geworden. Und es ist alles so einfach! Es gibt ein Strafgesetz, das gewisse Taten mit gewissen Strafen bedroht. Die Arbeit eines Strafrichters besteht darin, einen Tatbestand aufzuklären, ihn auf die Formel eines Strafgesetzparagraphen zu bringen und aus dem weiten Spielraum, den das Gesetz läßt, die passende Strafe nach Augenmaß auszusuchen. »... wird mit Gefängnis bis zu fünf Jahren, jedoch nicht unter drei Monaten bestraft.«

Drei Monate, fünf Jahre, – es ist alles so einfach. Man berücksichtigt die Tat und den Charakter des Täters und hält das eine oder das andere für angemessen: Drei Monate. Fünf Jahre. Eines spricht sich so leicht aus wie das andere, denn jener junge Mensch, dem der Staat die Macht gegeben hat, Urteile zu sprechen, hat niemals ein Gefängnis oder ein Zuchthaus gesehen.

Und diese einfache Aufgabe soll der Amtsgerichtsrat Dickmann nicht erfüllen können? Was tut es, daß er den Menschen nicht kennt, nicht Verzweiflung, Hunger und Elend, wenn nur die rechtliche Sache gedeiht? Hier ist ein Tatbestand, dort ist eine Strafe, und es ist alles so einfach ...

Nein, nein: das kann Dickmann schon. Schwieriger als alle Urteile ist die Heilighaltung der Form, unter der jede richterliche Handlung zu geschehen hat. Es gibt ja nicht nur das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung, es gibt eine Unzahl der verschiedenartigsten Formulare, es gibt die verwirrende Vielfalt von Bestimmungen und Verordnungen, tausend strenge Normen, die sich von Generation zu Generation hinschleppten, und deren endloser Kette jede Generation noch einige neue Glieder anfügten.

Allein über eine so nebensächliche Sache wie die formgerechte Ladung eines Zeugen sind im Laufe von sechzig Jahren über hundert Verordnungen des Justizministeriums ergangen.

Schutzpolizisten und Landjäger behalten den Tschako auf dem Kopf, wenn sie als Zeugen vor Gericht einen Eid leisten. Warum? Weil im Jahre 1868 der König von Preußen eine Verordnung darüber erlassen hat, die nach ihm drei deutsche Kaiser und ein Dutzend republikanischer Minister in Kraft gelassen haben, denn das Gesetz ist ewig und unveränderlich. »Verfügung vom 9. 10. 1868: Für die Frage, ob Militärpersonen vor Gericht und bei Ableistung von Eiden die Kopfbedeckung abzunehmen haben, ist zu entscheiden, ob diese Personen im Amte oder doch in Folge amtlicher Verrichtungen vor Gericht auftreten, oder als Privatmann, sei es als Partei oder als Zeuge. Im ersten Fall erscheinen sie dienstmäßig mit Seitengewehr und mit bedecktem Kopf, im letzteren Falle mit Seitengewehr aber mit unbedecktem Kopf. Hierin findet auch dann keine Abänderung statt, wenn sie einen Eid abzulegen haben: sie bleiben bedeckt.« Und sie werden bedeckt bleiben, solange es Amtsgerichtsräte und Strafgesetzbücher gibt ...

Ein gigantischer Organismus, der die Zeiten überdauert! Und Dickmann ist stolz darauf, sich diesem in die Ewigkeit hineinragenden Organismus einzufügen. Seine respektvolle Bewunderung verdichtet sich zu dem Vorsatz restloser Hingabe und peinlichster Gewissenhaftigkeit.

Obwohl er die Akten der Fälle, die er morgen entscheiden soll, fast auswendig weiß, legt er sie abends noch auf den Nachttisch, nimmt sie wieder vor und vertieft sich in die Protokolle. Es läßt sich nicht leugnen: das Studium der Akten macht ihm Spaß. Es hat immer noch denselben Reiz für ihn, den er schon als junger Referendar empfunden hat, wenn aus den weißen Blättern Schicksale aufstiegen.

Dickmann hat nicht viel Phantasie, seine einsamen Stunden sind ausgefüllt mit leerem Dasein. Aber die Akten, – hier formen sich Vorstellungen und farbige Bilder, und was ernste Arbeit sein sollte, wird zu verschwiegenem Genuß. Es ist gut und schön, daß es Akten gibt ... Dickmann kann sich nicht leicht und schnell ein Urteil bilden, aber wenn er die Akten studiert hat, kommt er mit einem fertigen Bild des Täters und seiner Tat in den Gerichtssaal, und die mündliche Verhandlung ist dann eigentlich nur noch eine Formsache.

Vor seinen Augen rollt sich noch einmal jener belanglose Vorfall ab, der sich in der Nacht vom 14. zum 15. September auf der Landstraße zwischen den Dörfern Bütow und Brüssow ereignet hat. Eine Landstraßenaffäre: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Beamtenbeleidigung, Fahren mit unbeleuchtetem Fuhrwerk ...

In jener Nacht wußte der Kleinbauer Jochen Schütz aus Bütow noch nichts davon, daß sich sein Leben einmal mit dem des Amtsgerichtsrats Dickmann auf seltsame und unheimliche Weise verknüpfen würde. Viehmarkt in Pörgelau. Schütz will eine Kuh verkaufen, und dazu muß man frühzeitig auf dem Markt sein, denn gegen Mittag lassen die Preise nach. Man müßte in der Nacht losfahren. Von Bütow bis Pörgelau sind zwanzig Kilometer Weg, und der Fuchs kann auch nicht mehr so schnell.

Jochen Schütz ist ein vorsichtiger Mann. Fünfzig Jahre harte Arbeit auf kärglichem märkischen Sandboden haben ihn gelehrt, daß es im Leben auch bei den einfachsten Sachen Schwierigkeiten gibt, von denen der kleine Mann nichts weiß. Darf man in der Nacht eine Kuh über die Landstraße transportieren? Man muß ein »Ursprungszeugnis« vom Gemeindevorsteher haben, der bescheinigt, daß die Kuh nicht gestohlen ist. Jochen Schütz bekommt das Zeugnis. Der Gemeindevorsteher wünscht ihm noch guten Erfolg und guten Weg. Das Wetter ist nicht gerade sehr verlockend, um auf stuckerndem Wagen zwanzig Kilometer weit durch die Nacht zu fahren ...

Jochen Schütz spannt den Fuchs an, bindet die Kuh an den Wagen und fährt los. Die Nacht ist stürmisch. Fortwährend geht die Lampe aus. Der Bauer steckt sie zweimal, dreimal wieder an. Man darf nicht mit unbeleuchtetem Fuhrwerk fahren. Aber schließlich kosten Streichhölzer Geld, und Petroleum auch: er läßt die Lampe ausgehen. Bei diesem Wetter werden ja doch keine Gendarmen unterwegs sein.

Er kann ja nicht wissen, daß die Landjäger Fritsch und Rosenow in dieser Nacht im Gasthaus zu Brüssow Skat gespielt haben, und daß sie sich gerade in dem Augenblick angeheitert auf den Heimweg machen, wie Schütz mit seinem Fuhrwerk ratternd und polternd in das Dorf Brüssow einbiegt.

Aus seinem Halbschlummer wecken ihn Kommandostimmen. Eine Taschenlampe blitzt auf, und schuldbewußt hält Jochen Schütz den Wagen an. Pech! Fahren mit unbeleuchtetem Fuhrwerk. Drei Mark Polizeistrafe. Das Geld hätte er besser gebrauchen können ... Die Landjäger Fritsch und Rosenow freuen sich über den Fang, den sie da gemacht haben. Sie haben ordentlich Hochachtung vor sich selbst: was sie doch für tüchtige Kerle sind! Glück muß der Mensch haben. Gerade vor drei Tagen ist eine Verordnung des Landrats herausgekommen, die jeden Viehtransport während der Nacht überhaupt verbietet. Und schon haben die beiden tüchtigen Landjäger so einen verbotenen Viehtransport angehalten. Mitten in der Nacht. Noch um zwei Uhr sind die diensteifrigen Beamten auf den Beinen und wachen darüber, daß die Verordnungen des Herrn Landrats eingehalten werden. Die Anzeige wird einen guten Eindruck machen ...

Sie erklären die Kuh für beschlagnahmt. Jochen Schütz weist das Ursprungszeugnis vor, stammelt irgendetwas, bittet, beschwört. Den Landjägern dauert das zu lange: sie fangen an, die Kuh loszubinden. Jochen Schütz schreit auf: »Meine Kuh!«

»Halt die Schnauze!«

»Woll verrückt geworden? Ruhig Blut, Freundchen!«

Jochen Schütz zerrt an der Leine: »Ji Schinner!« brüllt er die Beamten an.

»Was? Schinder! Ick wer di wat bei Schinner!« Rosenow springt auf den Kutschbock, reißt den Bauern herunter: »Täuw, du Aas!« Ein Faustschlag ins Genick. Der Mann fällt, ein Fußtritt trifft seinen Arm.

Jochen Schütz taumelt, schreit auf, wimmert und brüllt. Die Landjäger packen den blutenden und vor Schmerzen schreienden Mann und schleppen ihn zum Gemeindevorsteher von Brüssow. Der Kerl soll erst mal die Nacht im Spritzenhaus sitzen, um sich zu überlegen, was es heißt, preußische Beamte zu beleidigen.

Der Gemeindevorsteher sieht das Ursprungszeugnis, sieht den elenden Mann und schickt zum Arzt. Der kommt und stellt einen doppelten Armbruch fest.

Die Landjäger Fritsch und Rosenow kratzen sich nachdenklich am Kopf, wie sie wieder auf der Straße stehen. Sie sind plötzlich sehr nüchtern. Schöne Schweinerei! Wer hätte auch ahnen können, daß der alte Bauer so zarte Knochen hat. Aber die Landjäger Fritsch und Rosenow sind nicht umsonst alte, erfahrene Polizeibeamte. Sie wissen, wie man sich in solchen Fällen zu verhalten hat. Und noch in derselben Nacht schreiben sie in Rosenows Wohnung die Anzeige gegen den Kleinbauern Jochen Schütz aus Bütow, der sich in der Nacht vom vierzehnten zum fünfzehnten September des Widerstands gegen die Staatsgewalt, der Beamtenbeleidigung und der Übertretung der Straßenordnung des Kreises Pörgelau schuldig gemacht hat ...

Sechs Wochen liegt der alte Bauer im Krankenhaus. Der Knochenbruch heilt schwer. Aber nicht deshalb magert Jochen Schütz ab: die Kuh ist nicht verkauft. Sein Sohn hat sie am nächsten Tag aus Brüssow abholen müssen. Jochen Schütz brütet dumpf vor sich hin. Und aus Verzweiflung und fassungsloser Wut steigt immer wieder die Frage auf: »Warum?« Er hat doch von der Verordnung des Landrats nichts gewußt, keiner hat ihm etwas gesagt. Warum ist er als achtundsechzigjähriger Mann zum Krüppel geschlagen worden?

Ein mitleidiger Arzt, der noch nicht lange in Pörgelau arbeitet, setzt dem Bauern eine Beschwerde an das Landratsamt auf: die Landjäger hätten ihre Amtsgewalt mißbraucht. Er bekommt keine Antwort. Eine neue Beschwerde an den Regierungspräsidenten. Keine Antwort ...

An dem Tage, an dem Jochen Schütz aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen wird, überbringt ihm der Briefträger ein Schreiben mit amtlichem Siegel. Der Bauer dreht den Brief mißtrauisch in der Hand hin und her. Haben seine Beschwerden nun doch noch Gehör gefunden? Jochen Schütz kann nicht gut lesen. Sein Sohn nimmt den Brief, aber auch der muß lange Zeit vor sich hinmurmeln und wieder von vorn anfangen, ehe er herausgefunden hat, was dieser Brief des Amtsgerichts Pörgelau bedeutet. »Gegen Sie wird hiermit ... auf Antrag der Staatsanwaltschaft ... Termin zur Hauptverhandlung auf den 28. Oktober festgesetzt.«

Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann hat das Aktenstück auf der Bettdecke liegen und träumt vor sich hin. Er hat sich den Fall des Kleinbauern Jochen Schütz Mühe kosten lassen. Er kennt jede Einzelheit des Vorgangs, noch ehe er den Angeklagten überhaupt gesehen hat. Aus den Zeugenprotokollen der Landjäger geht alles mit wünschenswerter Deutlichkeit hervor. Er hat sich zu allem Überfluß auch noch beim Landrat nach den beiden Beamten erkundigt und tadellose Auskünfte erhalten: pflichttreue, diensteifrige Beamte, ehemalige Unteroffiziere, treudeutsche Männer, auf die man sich verlassen kann ...

Dickmann sieht sie ordentlich vor sich, wie sie den Wagen des Bauern anhalten, wie der plötzlich frech wird, mit der Peitsche um sich schlägt, und im Bewußtsein seines schlechten Gewissens die Beamten beschimpft. Denen läuft dann die Galle über, sie wollen den Mann verhaften, der wie ein Rasender um sich schlägt und mit Füßen tritt ... Ja, ja: so ist es gewesen. Dickmann kennt die Akten.

Dickmann gähnt. Wie dieser Bauer sich angestrengt hat, um die Beamten zu beschuldigen. Beschwerde an den Landrat, Beschwerde an den Regierungspräsidenten. Man denke: ein Kleinbauer aus Bütow schreibt an den Regierungspräsidenten! Unerhört! Was sich so ein Kerl eigentlich denkt! Hätte früher auch nicht passieren können!

Scheint kein sympathischer Herr zu sein, dieser Kleinbauer Jochen Schütz. Achtundsechzig Jahre ist der Mann alt. Soll sich was schämen, da noch solche Dummheiten zu machen.

Dickmann ist müde. Das andere Aktenstück interessiert ihn nicht weiter. Angeklagt ist der Kantor Holzapfel aus Petersdorf wegen Körperverletzung! Wie sich das anhört! Als ob der alte Kantor ein Raufbold oder Wegelagerer wäre. Überschreitung des Züchtigungsrechtes. Wichtigkeit. Aber Gesetz ist Gesetz. Wird sich herausstellen morgen ...

Das Verhandlungszimmer des Amtsgerichts Pörgelau ist nicht sehr komfortabel eingerichtet. Ein kahler Raum mit drei großen Fenstern. Die Wände mit hellgrüner Farbe getüncht. Ein Bild des alten Kaisers Wilhelm über der Eingangstür. Der Richtertisch einfaches, helles Fichtenholz. Manchmal tagt hier auch eine kleine oder große Strafkammer des Landgerichts, das in dem selben kahlen Ziegelbau untergebracht ist.

»Die Sache Holzapfel!«

Auf dem Platz des Staatsanwalts sitzt Dr. Fischer, ein jüngerer Beamter, nicht viel älter als Dickmann. Der Gerichtsschreiber dienert höflich beim Eintritt des Richters.

Die erste Verhandlung dauert von der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses bis zum Ende der Urteilsbegründung genau vierundzwanzig Minuten. Dann ist der Kantor und Lehrer Holzapfel von der Anklage der Körperverletzung freigesprochen, weil der Amtsgerichtsrat Dickmann nicht finden kann, das eingerissene Ohrläppchen eines elfjährigen Schulmädchens erfülle irgendeinen Tatbestand des Strafgesetzbuchs. Staatsanwaltschaftsrat Fischer hatte 100 Mark Geldstrafe beantragt.

Der Kantor verbeugt sich tief und linkisch, der Amtsgerichtsrat Dickmann winkt ihm leutselig und gemessen nach.

»Die Strafsache Schütz!«

Der Kleinbauer Jochen Schütz schiebt sich ungeschickt in den Saal. Ja, der Richter hat es sich gedacht, daß der Angeklagte Jochen Schütz so aussehen müsse: eine gekrümmte Gestalt, ein faltiges, braungebranntes Gesicht, tiefliegende kleine Augen, ein verkniffener, zahnloser Mund. Da sind die beiden Landjäger andere Kerle, die in ihren besten Uniformen hackenklappend vor dem Richtertisch stehen: frische, gesunde, vielleicht ein wenig zu fette Leute, die einen vorzüglichen Eindruck machen.

Dickmann achtet nicht auf den gläubigen, hungrigen Blick, mit dem der Angeklagte ihn ansieht, ihn, den jungen Herrn im schwarzen Talar, der dem Bauern zu seinem Recht verhelfen wird.

»Achtundsechzig Jahre alt? Na, hören Sie mal, das ist aber wirklich nicht hübsch, daß Sie als so alter Mann noch vor Gericht kommen!«

»Ick heff nix doahn, Härr!« Der alte Bauer schreit es wie ein Ertrinkender.

»Nun erzählen Sie der Reihe nach, was an dem fraglichen Abend passiert ist.«

Jochen Schütz legt die Hand muschelförmig an die rissigen Ohren: »Hä?«

»Ach du lieber Gott! Schwerhörig sind Sie auch noch?«

Dickmann hält diese launige Bemerkung für einen guten Witz und ist leicht verärgert, daß der Staatsanwalt keine Miene verzieht. Dem Staatsanwalt können die Privatgefühle des Richters freilich gleichgültig sein, nicht aber dem Angeklagten: weil Dickmann sich ärgert, neigt er zu der Ansicht, Jochen Schütz sei ein ganz verstockter Bursche und müsse ein bißchen schärfer angefaßt werden. Wie harmlos der Mann den Vorfall darstellt! Natürlich, die Landjäger sind bösartige Tiere, – ne, damit hat er bei Dickmann kein Glück.

»Erzählen Sie doch keine Märchen, Mann. Die Gendarmen sagen, Sie haben wie ein Wilder mit der Peitsche um sich geschlagen.«

Jochen Schütz' Gesicht verzerrt sich: »Härr! Sei lügen!«

Dickmann fährt auf: »Halten Sie den Mund, Angeklagter! Was reden Sie da für dummes Zeug! Ein preußischer Beamter lügt nicht, merken Sie sich das! Anstatt hier solche Reden zu führen, sollten Sie lieber ein Geständnis ablegen.«

Der Bauer kneift den Mund ein. Seine Augenlider fallen herab. Er sagt gar nichts mehr, schüttelt nur manchmal krampfhaft den Kopf.

Was will der Staatsanwalt? Er hat noch Fragen an den Angeklagten? Fischer scheint allen Ernstes zu glauben, die Landjäger hätten sich ungehörig benommen. Komischer Mensch! Und dabei antworten die Beamten auf alle Fragen so klar und vernünftig, außerdem stehen sie unter ihrem Eid, und der Eid eines preußischen Beamten ist unantastbar. Freilich, – es hört sich doch ein wenig merkwürdig an, wenn diese einfachen Leute sich so gewählter Ausdrücke bedienen, wie etwa: »So nahm ich denn meine Zuflucht zur Gewalt, bis der Widerstand des Angeklagten gebrochen war ...«

»Wie haben Sie das gemacht?« fragt der Staatsanwalt dazwischen.

Der Zeuge Rosenow gibt bereitwillig Auskunft: »Wir forderten ihn auf, vom Kutschbock herunterzusteigen, und als er dieser Aufforderung nicht nachkam, zogen wir ihn mit Gewalt herunter ...«

Der Angeklagte hat keine Fragen mehr an die Zeugen. Jedenfalls entnimmt das Dickmann den zitternden Kopfbewegungen des alten Bauern. Da sieht man's ja: nichts kann der Mann gegen die Aussagen der Landjäger vorbringen!

Der Staatsanwalt plädiert milde und vorsichtig: »Bedenkt man, daß der Angeklagte ein alter Mann ist und augenscheinlich auf einer recht niedrigen Bildungsstufe steht, so kann das Ergebnis dieser Betrachtung zwar nichts an der Tatsache, daß er sich strafbar gemacht hat, wohl aber etwas an der rechtlichen Beurteilung des Falles ändern. Es ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß vielleicht die Landjäger bei ihrer Diensthandlung nicht mit der nötigen Rücksicht vorgegangen sind, vielleicht haben sie den Angeklagten nicht darauf aufmerksam gemacht, was sie eigentlich von ihm wollten, vielleicht hätten sich auch mildere Formen finden lassen, den Bauern vom Kutschbock herunterzuholen, ohne daß er dabei zu Schaden gekommen wäre ... Und beantrage daher eine Geldstrafe von hundert Mark, im Nichtbeitreibungsfalle für je fünf Mark ein Tag Gefängnis.«

Dickmann rechnet aus: hundert Mark, zwanzig Tage Gefängnis ...

Der Amtsgerichtsrat erhebt sich: »Das Gericht wird beraten.«

Dickmann berät sich. Man darf so etwas nicht auf die leichte Achsel nehmen, man muß sich zusammennehmen, man muß die Urteilsbegründung sauber formulieren, das Strafmaß sorgfältig bemessen.

Aus dem Studium der Akten hat Dickmann den ungefähren Eindruck gewonnen, eine Gefängnisstrafe von drei Wochen wäre hier am Platze. Dieser Eindruck kann natürlich in keiner Weise bestimmend sein für sein heutiges Urteil. Nein: keineswegs darf er das! Man muß einzig und allein das Ergebnis der Hauptverhandlung zur Grundlage des Urteils machen. Aber was hat die Verhandlung schließlich ergeben, was nicht schon längst feststand? Nicht das Geringste. Der Angeklagte leugnet, sich strafbar gemacht zu haben: das ist sein gutes Recht, aber man darf nichts darauf geben. Er behauptet sogar, die Landjäger hätten Mißbrauch mit ihrer Amtsgewalt getrieben, und das ist einfach eine Unverschämtheit. Aber auch das hat man ja schon vorher gewußt: die Beschwerden an den Landrat, an den Regierungspräsidenten ...

Die Aussagen des Angeklagten und die der beiden Zeugen gegeneinander abzuwägen, ist in diesem Fall eine Lächerlichkeit. Daß der Angeklagte lügt, ist bombensicher, man braucht ihn doch nur einmal anzusehen: der verkniffene Mund, der scheue Blick, der geduckte Kopf ... Ne, Dickmann läßt sich nichts vormachen: der Angeklagte lügt.

Bleibt die Frage des Strafmaßes. Dickmann ist kein Freund von Geldstrafen. Da langt so ein Bauer in die Tasche, legt einen Hundertmarkschein auf den Tisch, und damit ist die Sache für ihn ausgestanden. Zu Hause brüstet er sich vielleicht noch damit, wie billig er davongekommen ist. Aber Widerstand gegen die Staatsgewalt darf man nicht leicht nehmen, denn diese Straftat ist symptomatisch für die heutige Zeit: es ist kein Respekt mehr im Volk, keine Disziplin. Man muß diesen destruktiven Tendenzen rechtzeitig einen Riegel vorschieben. Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder renitente Bauer auf der Landstraße einen Landjäger mit der Peitsche um die Ohren schlagen darf und dann die Sache mit einem Hundertmarkschein abmacht?

Das geht nicht. Man hat als Richter eine Verantwortung vor der Allgemeinheit!

Hundert Mark! Indiskutabel!

Was nun? Eine Woche Gefängnis, zwei Wochen Gefängnis, drei Wochen Gefängnis ... Drei Wochen Gefängnis? Schön: drei Wochen Gefängnis! Nicht zuviel und nicht zu wenig. Eine gerechte Strafe. Eine ausreichende Sühne für das Verbrechen des Widerstands gegen die Staatsgewalt und der Beamtenbeleidigung. Halt, das Fahren mit unbeleuchtetem Fuhrwerk hätte er beinahe vergessen. Nu schön: sagen wir zehn Mark.

»Stehnse mal auf, Angeklagter!«

Der Kleinbauer Jochen Schütz erhebt sich schwerfällig. Dickmann setzt sich das Barett auf: »Ich verkünde folgendes Urteil: Der Angeklagte wird wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, Beamtenbeleidigung und Fahrens mit unbeleuchtetem Fuhrwerk zu einer Gefängnisstrafe von drei Wochen und zu zehn Mark Geldstrafe verurteilt.«

Ein paar Worte über den Tatbestand, den das Gericht festgestellt hat. Formelhafte Wendungen, die sich dutzendweise in den Entscheidungsgründen der Gerichte finden: »... erschien dennoch in Anbetracht des bei der Begehung der Straftat sich kundtuenden verbrecherischen Willens eine empfindliche Strafe am Platze. Gerade heute, wo alle Begriffe von Autorität und Disziplin in so bedenklicher Weise sich verwirren, erfordert das Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt strenge Bestrafung. Außerdem ist noch zu berücksichtigen, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung keine Spur von Reue über seine Tat gezeigt hat, sondern im Gegenteil die Landjäger einer falschen Aussage bezichtigt hat. Es war daher auf die genannte Strafe zu erkennen. Sie können gehen, Angeklagter, die Sache ist erledigt. Ich schließe die Verhandlung.«

Erledigt. Was noch? Zwei Landstreicher, die gebettelt haben. Wenn's weiter nichts ist! Sieben Minuten Verhandlung für jeden. Verurteilt zu vier Wochen Haft und Überweisung ins Arbeitshaus auf ein Jahr. So das Übliche ...

Ein Händedruck dem Staatsanwalt. Ein Verhandlungstag ist zu Ende. Dickmann wäscht sich die Hände, pfeift vor sich hin und geht mittagessen ...

Am Abend dieses Tages findet der Sohn des Kleinbauern Jochen Schütz seinen Vater im Pferdestall. Er hat einen Strick um den Dachbalken geworfen und sich daran erhängt ...

Das Kreisblatt für Pörgelau und Umgegend nimmt prinzipiell keine Nachricht über Selbstmorde auf. Der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann wird erst wieder an den Kleinbauern Schütz aus Bütow erinnert, wie eines Tages der Gerichtschreiber dem Herrn Rat einige Schriftstücke zur Unterschrift vorlegt, darunter eine Mitteilung an »Herrn Staatsanwalt«, daß die Strafe gegen Schütz rechtskräftig geworden sei, ein Annahmebefehl »dem Gefängnisinspektor« und ein Schreiben an den Verurteilten, er habe sich »zwecks Verbüßung einer Gefängnisstrafe von drei Wochen« im hiesigen Gerichtsgefängnis einzufinden.

Nach einigen Tagen kommt dieses Schreiben mit einem lakonischen Bleistiftvermerk zurück: »Adressat verstorben.«

Dickmann gähnt. Schließlich eine annehmbare Lösung, daß der Mann gestorben ist. So braucht er doch auf seine alten Tage nicht noch ins Gefängnis. Dann schreibt er auf den Strafantrittsbefehl: »Zu den Akten! Dr. Dickmann, Amtsgerichtsrat.«

Nie in seinem Leben wird er wieder an den Kleinbauern Jochen Schütz aus Bütow erinnert werden, der sich erhängte, weil der Staat ihm Unrecht getan hatte. Nie in seinem Leben wird der Amtsgerichtsrat Dickmann davon erfahren, daß in dem Augenblick, wo er diesen Aktenvermerk niederschreibt, in einer Bauernkate zu Bütow der junge Schütz einer alten Frau unbeholfen über das Haar streicht: »Nich weinen, Mudding! Ick segg di, en armen Minschen kann ni Recht behollen gegen en Groten ...«

Und die Großen sind die Landjäger Fritsch und Rosenow. Kleine Beamte. Kurz vor dem Ersten haben sie kein Geld mehr, um sich Zigarren zu kaufen. Aber sie tragen eine Uniform, und hinter ihnen steht groß, gewaltig, ein Riese an Kraft, der Staat und seine Gerechtigkeit ...

Fragt den Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann, wer Jochen Schütz aus Bütow ist! Ein unbestimmbarer Schatten, ein Nichts, einer, den man heute sieht und morgen längst vergessen hat.

Dickmann weiß nicht, wer Jochen Schütz aus Bütow ist. Wie kann er an die Menschen denken, die er einmal verurteilt hat, wenn die Einweihung des Denkmals für die Gefallenen des Pörgelauer Infanterieregiments sich zu einer Staatsaktion entwickelt, die die Gemüter der Stadt im Bann hält. Ein alter General hat die Vertreter republikanischer Behörden an den Fahneneid erinnert, den sie einst als Soldaten dem Kaiser geschworen haben. Er hat sie aufgefordert, diesem Fahneneid die Treue zu halten. Ein General der kaiserlichen Armee hat die Soldaten der republikanischen Reichswehr an ihre Pflicht gegenüber Seiner Majestät dem Kaiser erinnert ...

Der Landrat von Norden ist nach Berlin gerufen worden, und man hat ihm höfliche Vorwürfe gemacht, weil er gegen diese Aufforderung zum Hochverrat nicht eingeschritten ist. Der Oberstleutnant Christoph von der Reichswehr ist nicht einmal zu einem informierenden Bericht an seine vorgesetzte Dienststelle veranlaßt worden. Es lohnt sich nicht, solchen Bagatellen nachzugehen.

Aufforderung zum Hochverrat? Das Reichsgericht verurteilt kommunistische Arbeiter, die in Flugblättern Reichswehrsoldaten und Schutzpolizisten auf ihre Zugehörigkeit zum Proletariat hinweisen, wegen Aufforderung oder Vorbereitung zum Hochverrat zu jahrelangen Gefängnis- oder Zuchthausstrafen. Ein kaiserlicher General, der monarchistische Propaganda in der republikanischen Armee treibt, – der Oberreichsanwalt Ebermayer schüttelt kühl und erstaunt den Kopf über die Zumutung, er solle gegen den General einschreiten. Ein kaiserlicher General begeht niemals Hochverrat, sondern macht nur von dem ihm zustehenden Recht der Redefreiheit Gebrauch.

In Pörgelau gibt der sozialdemokratische Redakteur Große eine Zeitung heraus, die der Schrecken aller Gutgesinnten ist. Dieser Unmensch hat sich nicht entblödet, beim Oberreichsanwalt eine Anzeige gegen den General Sixt von Arnim zu erstatten, und das rein menschliche Kopfschütteln des höchsten deutschen Anklägers verwandelt sich leicht und zwanglos in juristische Beweisführungen: »Leipzig, den 17. Oktober 1925. Ich schreite nicht ein, weil weder die Rede als solche nach ihrem Inhalt und Gedankengang, noch die in der Anzeige herausgegriffene Stelle den äußeren Tatbestand des § 85 StGB, erfüllt. Auch eine andere Strafbestimmung wurde durch die Rede nicht verletzt. Ebermayer, Oberreichsanwalt ...«

Die Herren vom Pörgelauer Land- und Amtsgericht lächeln sich verständnisinnig zu: diese Republikaner vom Schlage Große haben bei der republikanischen Justiz eben kein Glück. Wenn die Kollegen in Leipzig nicht wollen, dann wollen sie nicht.

Man lächelt nicht einmal mehr, wie auf Großes Beschwerde gegen diesen Bescheid das Reichsjustizministerium sich der juristischen Auffassung des Oberreichsanwalts anschließt. Das ist einfach selbstverständlich, denn dieses Schreiben ist unterzeichnet von einem Staatssekretär, ehemaligem kaiserlichen Beamten, der zwei Kaiser und ein gutes Dutzend republikanischer Justizminister überdauert hat, und der erst nach Jahren vom Ministerium mit wärmstem Dank für seine treuen Dienste und unter gebührender Anerkennung seiner großen Verdienste um die rechtliche Sache in Gnaden und Ehren entlassen wird, um schließlich noch einmal Reichsjustizminister zu werden.

Und damit ist die »Staatsaktion«, die die Rede der alten Exzellenz veranlaßt hat, endgültig erledigt. Die republikanische Reichswehr ist nun einmal monarchistisch bis auf die Knochen. Der Amtsgerichtsrat Dickmann kann wirklich nicht einsehen, warum der Oberreichsanwalt vor dieser simplen Tatsache die Augen verschließen sollte. Einen General unter Anklage stellen, das wäre ebenso merkwürdig, als wenn man den Grafen Barnim wie einen gewöhnlichen Angeklagten behandeln wollte.

Der Prozeß gegen den Grafen ist nun tatsächlich eingeleitet worden. Der Staatsanwaltschaftsrat Fischer hat keine Ruhe gegeben, obwohl der Oberstaatsanwalt – wie man sich erzählt – das Verfahren gern eingestellt hätte.

Dickmann versteht den Doktor Fischer einfach nicht. Der Mann macht sich unmöglich. Was in aller Welt kann ihn dazu bewegen, sich ausgerechnet mit dem Grafen Barnim zu überwerfen?

Landgerichtsdirektor Uhle hat neulich Dickmann beiseite genommen. Sehr vorsichtig hat er dem jüngeren Herrn Kollegen zu verstehen gegeben, es wäre vielleicht angebracht, daß er bis zur Erledigung des Prozesses den näheren Umgang mit dem Grafen vermiede. Schließlich könnte das in der Öffentlichkeit falsch aufgefaßt werden.

Als Beisitzer in dem Großen Schöffengericht fungiert der Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann. Vorsitzender ist Direktor Uhle. Ganz zufälligerweise sind die beiden Schöffen Landwirte. Der eine ist der Gutsbesitzer Markgraf, der andere ein Administrator der Ritterschaft. In den Listen der Schöffen und Geschworenen beim Amts- und Landgericht Pörgelau findet sich sehr selten einmal der Name eines Arbeiters. Die »Wahl« der Laienrichter ist der Kontrolle der Öffentlichkeit entzogen. Man weiß, warum.

Der Prozeß gegen den Grafen Barnim ist für Pörgelau eine Sensation: der Zuhörerraum des Schwurgerichtssaals, in den man die Verhandlung hat verlegen müssen, ist gedrängt voll. Gutsbesitzer, Offiziere, Richter mit ihren Damen.

Auf dem Platz des Staatsanwalts sitzt Dr. Fischer. Er ist sehr bleich, aber Dickmann kann kein Mitleid mit ihm haben.

Graf Barnim ist in seinem grünen Lodenanzug erschienen. Man hat für ihn einen zweiten Stuhl an den Tisch des Verteidigers gestellt, damit er nicht innerhalb der Anklagebank Platz zu nehmen brauche. Neben ihm sitzt Justizrat Dethleffsen, der Rechtsanwalt der Pörgelauer guten Gesellschaft ...

»Herr Graf, darf ich bitten?« Der Vorsitzende ist sehr höflich. Graf Barnim ist blaurot im Gesicht vor Ärger und Aufregung. Vergebens bemüht sich der Justizrat, ihn zu beruhigen.

»Mit Vornamen Bolko, von Beruf Rittergutsbesitzer. »Bisher unbestraft«, repetiert der Vorsitzende die Akten.

Graf Barnim fährt auf: »Herr Direktor, ich darf doch wohl bitten ...«

»Es ist meine Pflicht, nach etwaigen Vorstrafen zu fragen«, sagt der Vorsitzende mit einer entschuldigenden Handbewegung.

»Etwaige Vorstrafen ...« Der Graf will augenscheinlich noch irgendetwas sagen, aber sein Verteidiger redet beschwörend auf ihn ein.

Dann der Vorfall: der Graf hat nicht genau gesehen, ob der Mann, den er für einen Wilddieb hielt, auch wirklich Schlingen oder Fallen gestellt hat. Im Rucksack des Verletzten hat man nichts gefunden, was auf diese verbotene Tätigkeit hingedeutet hätte.

»Ich habe dem Kerl nach seiner letzten Bestrafung ein für allemal verboten, meinen Wald zu betreten. Wenn er das doch tut, muß er eben damit rechnen, daß er ein Ding verpaßt kriegt.«

Graf Barnim geniert sich nicht: er nennt die Dinge beim rechten Namen. Soll er hier vielleicht auch noch eine Komödie aufführen und so tun, als bedauere er die Verletzung des Tagelöhners Steguweit?

Sein Verteidiger erhebt sich: »Der Herr Graf hat damit wohl sagen wollen, er nähme an, daß der Steguweit sich nur zum Zwecke des Fallenstellens im Walde aufgehalten hat. Nicht wahr, Herr Graf?«

Der Angeklagte brummt etwas, was man unter Umständen als Zustimmung deuten könnte.

Einige vorsichtige Fragen des Vorsitzenden, dann erhebt sich Dr. Fischer. Er sagt »Herr Angeklagter« zu dem Grafen, und Dickmann findet, daß das wirklich nicht nötig sei. Er könnte doch ebensogut »Herr Graf« sagen.

»Ihnen antworte ich überhaupt nicht!« schreit der Graf.

Direktor Uhle beherrscht die Verhandlung souverän. Mit unendlicher Höflichkeit und Geduld redet er auf den Grafen ein: »Herr Graf, nach den Bestimmungen der Strafprozeßordnung können Sie selbstverständlich die Beantwortung von Fragen, die Ihnen nicht genehm sind, verweigern. Sie brauchen, wenn Sie nicht wollen, überhaupt keine Aussagen zu machen. Aber ich möchte im Interesse der Sache empfehlen, dem Herrn Staatsanwalt doch zu antworten. Es ist vielleicht möglich, daß der Herr Staatsanwalt mir die beabsichtigten Fragen vorlegt, und ich gebe sie dann an Sie weiter?«

Dr. Fischer spielt mit einem Bleistift. Dickmann bewundert seine Ruhe: »Herr Angeklagter, wohin haben Sie gezielt?«

»Aufs Gesäß!« ruft der Graf grimmig, und die Zuhörer lachen.

»Gab es denn nicht noch andere Mittel, den Verdächtigen der strafrechtlichen Verfolgung zuzuführen, als einfach auf ihn zu schießen? Der Mann war Ihnen doch seiner Persönlichkeit nach bekannt ...«

»Das ist mir ganz egal. Wenn ich einen Wilddieb im Walde treffe, versuche ich seine Festnahme mit allen Mitteln. Das ist ein schöner alter Weidmannsbrauch. Wenn der Herr ... Herr Staatsanwalt den nicht kennt, ist es nicht meine Schuld.«

»Dieser Weidmannsbrauch steht im Widerspruch zum Gesetz«, bemerkt Dr. Fischer kühl.

Der Graf faucht: »Das wird sich ja wohl erst noch herausstellen. Darüber hat das Gericht zu befinden, und nicht der Vertreter der Anklage ...«

Direktor Uhle lächelt liebenswürdig: »Ach, Herr Graf, wollen wir diese persönlichen Schärfen nicht lieber aus dem Spiel lassen? Haben Sie noch eine Frage, Herr Staatsanwalt?«

»Jawohl, ich möchte fragen, wie sich der Herr Angeklagte mit dem verletzten Steguweit in materieller Hinsicht auseinandergesetzt hat.«

Der Graf sieht erstaunt das Gericht an, seinen Verteidiger, – der sagt schnell: »Wir lehnen es ab, diese Frage zu beantworten.«

Aber es ist zu spät; der Graf hat schon mit Stentorstimme in den Saal gerufen: »Ich soll wohl noch die Krankenhauskosten bezahlen, was?«

Dr. Fischer plädiert. Zuerst zögernd und verlegen, allmählich wird seine Stimme kräftiger, und seine juristischen Ausführungen bekommen Gewicht und Schärfe: »Fest steht, daß der Verletzte sich weder im Besitz von Schlingen noch sonstigem verbotenen Fangmaterial befunden hat. Es ist also nicht nachgewiesen, daß der Angeklagte ihn auf Begehung einer strafbaren Handlung ertappte. Der verletzte Steguweit hat sich lediglich im Walde, der dem Angeklagten gehörte, aufgehalten. Nun ist dieser Waldkomplex so groß, daß durch ihn hindurch mehrere öffentliche Straßen führen. Ich lasse dahingestellt, ob der Angeklagte überhaupt ein Recht hatte, dem Verletzten das Betreten dieses Waldes zu verbieten. Es kommt ja nur darauf an, zu erwägen, ob der Angeklagte mit Recht annehmen konnte, der Verletzte sei gerade dabei gewesen, eine strafbare Handlung, nämlich die des Wilddiebstahls, zu begehen. Ich verneine diese Frage.«

Graf Barnim schlägt sich mit der flachen Hand auf die Schenkel: »Unerhört!«

»Abgesehen davon aber scheint es mir rechtlich nicht haltbar zu sein, daß man einen Menschen wegen der Vermutung, er habe ein Kaninchen oder einen Hasen im Werte von vielleicht zwei oder drei Mark gestohlen, einfach über den Haufen schießt. Schließlich muß doch wohl der Wert eines Menschenlebens so hoch eingeschätzt werden, daß man solche unangemessenen Mittel zur Festnahme nicht in Anwendung bringt. Es liegt also Körperverletzung mit gefährlichem Werkzeug vor. Das für jedermann bestehende Recht der vorläufigen Festnahme scheint mir weit überschritten zu sein. Ich beantrage daher an Stelle einer an sich verwirkten Gefängnisstrafe von vier Wochen eine Geldstrafe von sechshundert Mark.«

Durch den Zuhörerraum geht eine Bewegung des Erstaunens. Graf Barnim wendet sich zu seinem Verteidiger: »Was sagen Sie dazu, lieber Dethleffsen?« fragt er so laut, daß es jeder im Saale hören kann.

Justizrat Dethleffsen plädiert für Freispruch. Dickmann macht sich Notizen während dieses Plädoyers. Er muß nachher im Beratungszimmer das Ergebnis der Hauptverhandlung vortragen und wird als erster vor den Schöffen seine Stimme abgeben müssen.

Die Beratung. Die beiden Schöffen hören aufmerksam zu, wie der Direktor sie mit den für die Entscheidung in Frage kommenden Paragraphen bekannt macht, mit den Strafbestimmungen für schwere Körperverletzung und dem Paragraphen der Strafprozeßordnung, der die vorläufige Festnahme eines Verdächtigen jedermann gestattet.

Der Direktor lehnt sich in seinen Stuhl zurück, faltet die Hände auf der Tischplatte und spricht. Eintönig, ohne rednerischen Schmuck, klar, vernünftig. Man sieht es den beiden Schöffen an, wie sehr ihnen die ruhige und überlegene Art des Landgerichtsdirektors imponiert: »Es kommt also letzten Endes auf die Entscheidung der Frage heraus, ob Graf Barnim die vorläufige Festnahme des Verdächtigen mit Mitteln herbeigeführt hat, die dem Tatbestand des vermuteten Verbrechens nicht angemessen gewesen sind.«

Der Landgerichtsdirektor lächelt: »Nun, auf diesem Gebiet sind die Herren ja wohl Fachmänner.«

Der Gutsbesitzer räuspert sich: »Wenn ich einen Kerl auf meinem Grund und Boden treffe, der sich in verdächtiger Weise im Walde zu schaffen macht, – ja du lieber Gott, da gibt es doch gar kein anderes Mittel, als die Büchse hochnehmen und losknallen.«

Der Administrator nickt eifrig Zustimmung: »Man kann ja bei diesen Leuten niemals wissen, ob sie nicht gleich schießen. Vor vierzehn Tagen ist der Förster Mann aus Großenberg von einem Wilderer erschossen worden.«

Der Direktor nickt: »Herr Kollege?«

Dickmann ist sehr verlegen, wie er zu sprechen beginnt: »Immerhin liegt der Fall hier aber doch so, daß der Verdächtige nicht etwa Anstalten zum Schießen getroffen hat, sondern ganz einfach weggelaufen ist. Der Graf hat ja über die Gründe, die ihn zum Schießen veranlaßt haben, ausgesagt, er habe den Mann lediglich festnehmen wollen. Von einer vermeintlichen Notwehr hat er nicht gesprochen. Also scheint mir der Einwand der Herren Schöffen hier nicht stichhaltig.«

Der Direktor greift ein: »Meine Herren, meines Erachtens liegt der Fall klar. Der Graf hat die gesetzlich zulässigen Mittel bei der Festnahme nicht überschritten. Ich halte die Rechtsauffassung des Herrn Staatsanwalts für abwegig. Wenn man immer fragen wollte: was hat der Mann gestohlen, den man auf frischer Tat ertappt, dann käme man ja überhaupt zu nichts. Außerdem bestätigen uns die beiden Schöffen, die in diesem Fall als Landwirte und Waidleute sachverständig sind, sie hätten vorkommenden Falls genau so gehandelt wie Graf Barnim. Ich denke, wir können zur Abstimmung schreiten.«

Auf Dickmanns Gesicht malen sich die Qualen einer angestrengten Überlegung. Gewiß, – es ist nicht gerade fein, einem Menschen so ohne weiteres eine Schrotladung hinterher zu schicken, bloß weil man vermutet, er habe einen Diebstahl begangen. Andererseits ist der Graf Barnim doch wohl so turmhoch über den Verdacht eines Rechtsbruches erhaben, daß man sich überlegen muß ...

Es ist dies eben hier wieder einer der Fälle, wo das Gesetz versagt. Wenn Graf Barnim in Ausübung seiner gutsherrlichen Rechte einen Aasjäger stellt, dann kann das doch nicht strafbar sein, aber ... Schnell, schnell! Der Landgerichtsdirektor sieht Dickmann schon so merkwürdig an: man muß zu einem Resultat kommen. Wie erwartungsvoll die Schöffen ihn betrachten. Nicht daran denken! An den Fall des Grafen Barnim mußte man denken! Wenn der Graf in Ausübung seiner Rechte, die ihm von altersher ...

»Herr Kollege, darf ich bitten?« fragt der Direktor höflich und kurz.

»Ich stimme für Freispruch.« War es Dickmann, der hier sprach?

»Ich auch.« »Ich auch.«

»Ich schließe mich an. Also Einstimmigkeit. Herr Kollege, wollen Sie bitte den Protokollführer rufen?«

Dickmann erhebt sich. Es ist alles so schnell gegangen. Vielleicht hätte man doch, – er ist eigentlich noch nicht fertig mit dem Fall. Man hätte doch wohl noch prüfen müssen, ob ...

Zu spät. Nichts mehr zu machen. Der Direktor diktiert dem Gerichtsschreiber bereits die Urteilsformel.

Dickmann hält den Spruch keineswegs für ein Fehlurteil, – es ist durchaus recht und billig, daß man den Grafen freispricht. Aber man hätte vielleicht den Spruch juristisch besser fundieren müssen. Das war doch eigentlich kaum eine Beratung. Die drei Herren hatten ihr Urteil ja schon fertig, ehe man sich noch an den Beratungstisch setzte. Und Dickmann? Wußte er denn nicht auch schon lange vor der Verhandlung, wie er stimmen würde?

Dickmann hat ein unangenehmes Gefühl, wie er hinter dem Direktor wieder den Verhandlungssaal betritt.

»Im Namen des Volkes! Der Angeklagte wird freigesprochen.«

Die Tat des Angeklagten hat sich in den Grenzen gehalten, die der Paragraph 127 der Strafprozeßordnung zieht. Die vorläufige Festnahme rechtfertigte sich durch Verdacht des Diebstahls. Ob ein Diebstahl tatsächlich erfolgt ist oder beabsichtigt war, ist unerheblich. Auch das Mittel eines Schrotschusses erscheint dem Gericht in diesem Falle durchaus dem Zweck angemessen, zu dem dieser Schuß abgegeben worden ist. Daß dieser Schuß für den Verletzten schwerwiegende Folgen gehabt hat, ist nicht Schuld des Angeklagten, sondern ein unvorhergesehener Unglücksfall. Normalerweise pflegt ein Schrotschuß nicht gleich die Nieren zu zerfetzen. Der Angeklagte hat diese Folgen unmöglich voraussehen können.

»... er war daher freizusprechen.«

Direktor Uhle nickt dem Angeklagten zu. Die Sache ist erledigt. Aber Graf Barnim hat plötzlich noch mit seinem Verteidiger zu tuscheln.

Der erhebt sich und fragt sehr leise und unsicher: »Verzeihung, Herr Direktor, die Kostenentscheidung ...«

»Die Kosten fallen der Staatskasse zur Last«, sagt der Landgerichtsdirektor sachlich und ernst.

Man beglückwünscht den Grafen Barnim zu seinem Freispruch. Landgerichtsrat Hollweg, der der Verhandlung als Zuhörer beigewohnt hat, geht mit weitausgebreiteten Armen auf den Grafen zu, als wolle er ihn umarmen.

Dickmann müßte eigentlich zum Mittagessen in den Goldenen Engel gehen. Aber er hat plötzlich eine unerklärliche Angst davor, jetzt Barnims großsprecherische Tiraden mit anzuhören. Er hat Angst vor der improvisierten Siegesfeier, vor dem Rotwein und den unanständigen Witzen, die bald das Hinterzimmer des Goldenen Engels erfüllen werden.

Er will noch einen kleinen Spaziergang machen, redet er sich ein. Das Wetter ist nicht gerade schön, und die Pörgelauer Seepromenade ist in dieser Jahreszeit etwas feucht. Man kann sich leicht die Stiefel schmutzig machen.

Und plötzlich sieht sich Dickmann auf dem schmalen Fußweg dem Staatsanwaltschaftsrat Dr. Fischer gegenüber. Unmöglich, nicht von einander Notiz zu nehmen. Man muß ihm die Hand geben, ihn ansprechen, man wird sich mit ihm über die Verhandlung unterhalten müssen. Dr. Fischers Mantel steht offen. Er hat seinen Hut abgenommen und hält den Kopf tief gegen den Seewind geneigt. Dickmann bemerkt ihn zuerst.

Fischer lächelt verlegen, wie Dickmann ihn begrüßt. »Sie, Herr Kollege?« sagt er erstaunt, als wäre es etwas Unerhörtes, auf der Seepromenade von Pörgelau dem Amtsgerichtsrat Dickmann zu begegnen.

»Ja«, sagt Dickmann gedankenlos und sieht den Staatsanwalt prüfend an. Eigentlich ein ganz sympathisches Gesicht, denkt er. Die hohe Stirn, das wellige dunkelblonde Haar, die hellen Augen, – das ist also der Staatsanwalt Fischer ...

Die beiden Herren stehen einen Augenblick schweigend. Dickmann sucht fieberhaft nach einem Gesprächsstoff, der unverbindlich genug wäre, dem Staatsanwalt einige freundliche Worte sagen zu können. Aber wie er dann zu sprechen beginnt, ist es doch etwas ganz anderes, als das, was er eigentlich hatte sagen wollen: »Haben wohl viel Ärger mit der Geschichte gehabt, wie?« fragt er leise und rücksichtsvoll.

Dr. Fischer sieht ihn groß an. Er scheint erstaunt, daß gerade Dickmann es ist, der ihn dies fragt. Dann lächelt er schmerzlich: »Ärger ist wohl nicht das richtige Wort. Ich weiß selbst nicht, warum mir dieser Fall so nahe geht. Wenn es nicht töricht wäre, möchte ich fast sagen: wo bleibt die Gerechtigkeit?«

Die Gerechtigkeit, – wie lange das her ist.

»Tja, die Gerechtigkeit«, sagt Dickmann versonnen und ist sehr weit fort.

Sie gehen neben einander her und schweigen.

»Darf ich Sie vielleicht bitten, bei mir Mittag zu essen?« fragt der Staatsanwalt plötzlich. »Ich wohne ja hier ganz in der Nähe.«

Dickmann will eigentlich ablehnen, aber es gibt keinen Grund, dem Staatsanwalt seine Bitte abzuschlagen. Eine peinliche Sache. »Ihre Frau Gemahlin?« fragt er zögernd und hofft, damit einen Weg gefunden zu haben, der ihm die Ablehnung der Einladung ermöglicht ...

Aber Dr. Fischer lächelt einfach. Es hilft nichts, der Amtsgerichtsrat Dickmann geht mit dem Staatsanwaltschaftsrat Dr. Fischer zum Mittagessen. In demselben Augenblick, wo im Goldenen Engel das Todesurteil der guten Gesellschaft von Pörgelau über diesen Mann ausgesprochen wird, der nicht weiß, was man einem Grafen Barnim auf Brackendorf schuldig ist ... Der zweite Stock einer Zweifamilienvilla in der Kirchstraße. Schon auf der Treppe riecht es nach gebratenem Fleisch. Dr. Fischer reißt die Tür auf, eine junge Frau kommt ihm entgegen und fragt hastig: »Wie war es?« Dickmann räuspert sich diskret. Die junge Frau steht sehr verwirrt. »Ich habe Besuch zum Essen mitgebracht«, sagt der Staatsanwalt. »Herr Amtsgerichtsrat Dr. Dickmann.«

Der ist wieder auf der Höhe: »Gnädige Frau«, sagt er respektvoll und beugt sich tief über eine warme, weiche Hand, die nach Zwiebeln riecht. »Ich bin unschuldig an dieser Störung ...«

Eine Schönheit ist Frau Fischer wirklich nicht. Sie sieht etwas blaß aus, und vielleicht ist ihre Nase auch ein wenig zu groß. Aber ihre Augen leuchten warm und dunkel.

Im Eßzimmer stehen neue Möbel. Augenscheinlich sind die Fischers keine sehr alte Familie. Nirgends an den Wänden ein alter Stich oder ein verblaßtes Ölgemälde, das einen Vorfahren darstellt. Nirgends ein altes Möbelstück, auch das Tafelsilber scheint erst zur Hochzeit angeschafft zu sein. Dickmann hat einen scharfen Blick für solche Kleinigkeiten, die manchmal aufschlußreicher sein können als lange Erzählungen.

Die Suppe ist nicht überwältigend. Man spricht von Pörgelau, vom Wetter, und plötzlich sagt der Staatsanwalt ganz nebenbei zu seiner Frau: »Übrigens, Graf Barnim ist freigesprochen worden.«

»Soso«, macht Frau Fischer. »Ist freigesprochen worden.« Und Dickmann wünscht sich sehr weit fort.

Deutsches Beefsteak gibt es auch noch. Dickmann ißt es nicht gerne. Aber mit Todesverachtung nimmt er sich das größte Stück und bittet nachher noch um ein zweites. Eine Flasche Wein ist auch da. Dickmann hat das Gefühl, als sei sie eben erst vom Kaufmann geholt worden. Jedenfalls schmeckt der Wein nach dem Korken. Eine peinliche Situation, die man nur durch unbefangenes und herzhaftes Drauflosreden überwinden kann.

Dickmann weiß bald, daß Frau Staatsanwaltschaftsrat die Tochter eines Kaufmanns ist, der in Berlin ein Eisenwarengeschäft hat. Der Vater Dr. Fischers ist Förster in Pommern. Merkwürdig: Dickmann hat den Staatsanwalt immer für einen Revolutionär gehalten, und nun sitzt hier ein harmloser Mensch, der von der väterlichen Försterei spricht, seiner Frau manchmal über die Hände streicht und mit großen Schlucken den billigen Wein hinuntergießt. Ein kleiner Bürger, nichts weiter ...

Aber einmal ist dann doch der Augenblick da, wo Dr. Fischer unschlüssig lächelt: »Wir sind ja häufig verschiedener Ansicht gewesen, Herr Kollege.«

»Ja«, sagt Dickmann verlegen.

Der Staatsanwalt wird sehr eifrig: »Verstehen Sie mich bitte recht: in dieser Feststellung soll nicht der geringste Vorwurf für Sie liegen. Ich habe den Eindruck, daß Sie sich Ihre Entscheidungen nicht leicht machen, daß Sie nachdenken, daß Sie den besten Willen haben, nicht schläfrig sind und lau ... Ich erkenne alles an, aber Sie sind in erster Linie Jurist, und wenn Sie die Wahl haben zwischen einer juristischen Delikatesse und dem, was wir so primitiv Gerechtigkeit nennen, dann gibt es für Sie kein Schwanken. Und auch hier erkenne ich an, daß Sie sich in Übereinstimmung befinden mit dem, was das Reichsgericht tagtäglich tut. Aber das wissen Sie ja alles ...«

Dickmann weiß das alles. Nur hat er lange nicht mehr darüber nachgedacht. Was will der Staatsanwalt von ihm? Warum erregt er sich so? Dickmann hört ihm ja doch nur mit halbem Ohr zu. Der Fall des Vaters, der sein Kind zur Strafe mit dem entblößten Gesäß auf eine glühende Herdplatte setzt, und in zwei Instanzen wegen Körperverletzung mit gefährlichem Werkzeug verurteilt wird, interessiert Dickmann auch dann nicht, wenn er hört, das Reichsgericht habe dieses Urteil aufgehoben: ein Herd sei bekanntlich eine unbewegliche Sache und könne daher nicht als Werkzeug im Sinne des Gesetzes gelten ...

»Und über diesem Irrsinn schwebt das Phantom der rechtlichen Sache.« Dr. Fischer ist seltsam erregt: »Sehen Sie, dem Tagelöhner zerfetzt man die Nieren, der Kleinbauer wird zu Gefängnis verurteilt, der hungernde Landstreicher kommt ins Arbeitshaus, der Graf Barnim wird freigesprochen, und ich bin ein Bolschewist. Da haben Sie die Pyramide unserer Gesellschaftsordnung: aller Druck des Lebens und der Gesetze verstärkt sich, je näher man der Grundlage kommt, auf der dieser Bau sich erhebt. Die Pyramide, Herr Dickmann! Das ist es. Oder die Gerechtigkeit. Wie Sie wollen.«

Es ist still im Zimmer, die beiden Menschen sehen ihn so erwartungsvoll an. Dickmann faßt sich schnell, schnalzt mit den Fingern und sagt gelangweilt: »Tja, – so ist das.«

Und weil er den Blick des Staatsanwalts weiter auf sich ruhen fühlt, zuckt er die Achseln und fragt kühl: »Was wollen Sie tun?«

»Ja, was soll man tun? Man müßte ...« Dr. Fischer bricht ab und sieht Dickmann hilflos an.

»Man muß sich bescheiden, Herr Kollege. Man kann nicht die Welt aus den Angeln heben. Man darf nicht zuviel nachdenken über Dinge, die nicht zu ändern sind ...«

»Aber dies läßt sich ändern!« ruft Fischer erregt. »Es handelt sich hier nicht um welterschütternde Probleme, sondern darum, daß in Deutschland eine bestimmte Gesellschaftsklasse Vorteile genießt, die nicht einmal das von ihr geschaffene Gesetz vorsieht. Oder soll das vielleicht der Sinn des Gesetzes sein? Glauben Sie mir: ich bin kein Umstürzler. Aber man kann einen Grafen Barnim nicht deswegen freisprechen, weil er der Graf Barnim ist, und nachher diesen Freispruch mit fadenscheinigen Konstruktionen als gerecht begründen wollen. Ich mache das nicht mit, diese Stupidität, diese selbstverständliche, unverfrorene Voreingenommenheit der Richter ...«

Dr. Fischer stockt und wird rot. »Ich vergaß, daß Sie ja auch bei diesem Freispruch mitwirkten«, sagt er leise. »Ich bitte Sie um Entschuldigung. Es war nicht meine Absicht ...«

Dickmann müßte hier einschreiten, er müßte dem Staatsanwalt klarmachen, wie beleidigend er ist, er müßte darauf hinweisen, daß dieser Freispruch juristisch notwendig war. Aber er tut es nicht. Er winkt nur leicht mit der Hand und sagt freundlich: »Keine Ursache!« Er kann sich nicht mehr erregen. Das Maß sittlicher Entrüstung, das ihm von der Natur gegeben ist, hat er längst verbraucht. Er will Ruhe haben.

»Ich gebe es auf«, seufzt der Staatsanwalt. »Ich bitte um meine Versetzung. Ich kann in dieser Luft nicht leben. Pörgelau ist stärker als ich ...«

Dickmann sieht nach der Uhr. Oh, so spät schon. Er drückt dem Staatsanwalt warm und herzlich die Hand und sagt: »Vielleicht überlegen Sie sich Ihren Entschluß doch noch einmal.« Er küßt Frau Doktor Fischer die Hand, bedankt sich für den reizenden Nachmittag und geht. Auf der Treppe dreht er sich noch einmal um und winkt freundlich zurück. Dabei denkt er: »Eigentlich ein armer Kerl, der Fischer.« Und das ist dann alles. Dickmann will nicht mehr ...

Die Pyramide? Der Bau unserer Gesellschaftsordnung? Grillen, mißmutige Hirngespinste eines Hypochonders ...

In der Pörgelauer Eisengießerei wird gestreikt. Man sieht an den Straßenecken erregt diskutierende Gruppen, man sieht Arbeiter mit den Händen in den Hosentaschen am hellen Vormittag durch die Straßen gehen. Vorm Tor der Fabrik stehen Streikposten. Dickmann hat sich über diesen Streik keine Gedanken gemacht. Er kennt weder die Lohnverhältnisse der Gießereiarbeiter, noch kann er entscheiden, ob die von der Fabrikleitung beabsichtigte Lohnkürzung angebracht und notwendig ist oder nicht. Hundertzwanzig Arbeiter streiken ...

Der Besitzer der Fabrik, der Direktor Feige, ehemaliger Reserveoffizier des Pörgelauer Infanterieregiments, sitzt im Goldenen Engel und stöhnt über die schlechten Zeiten, die Unverschämtheit der Arbeiter und über das viele Geld, das ihn der Streik kostet. Gerade jetzt liegen große Aufträge vor, die er nicht erfüllen kann, wenn der Streik noch länger dauert, Vertragsstrafen drohen, und an allem sind die Arbeiter schuld:

»Leben wir in einem Rechtsstaat oder nicht? Wo bleibt die Behörde, wenn die streikenden Arbeiter den arbeitswilligen den Eintritt in die Fabrik verwehren? Warum gestattet man das?«

Dickmann zuckt die Achseln. Ihn interessieren die Privatsorgen des Herrn Feige nicht. »Soviel ich weiß, gibt die Reichsverfassung den Arbeitern das Recht zum Streik«, sagt er.

Landgerichtsrat Hollweg lacht gellend: »Nach der Verfassung! Nach der Verfassung! Haben Sie gehört, meine Herren? Nach der Reichsverfassung haben die Arbeiter ein Recht ... Das nennt sich Verfassung! Gottvoll ist das! Sie entschuldigen, Herr Kollege, aber da muß ich doch lachen ...«

»Lachen Sie oder lachen Sie nicht, deswegen ist es doch so«, sagt Dickmann unwillig.

»Kann man denn garnichts dagegen tun?« Direktor Feige ringt die Hände.

»Sie sollten sich an einen tüchtigen Anwalt wenden,« lächelt Hollweg dem Direktor ermutigend zu. »Vielleicht ließe sich doch etwas unternehmen. Ich bin natürlich, wie ich ausdrücklich betonen möchte, keineswegs orientiert über die Rechtsauffassung der für diesen Fall zuständigen Kammer des Landgerichts. Wie gesagt: in keiner Weise orientiert. Aber ich meine ...«

»Man sollte wirklich etwas gegen die Habgier der Leute unternehmen,« bemerkt der Studienrat Bensdorf. »Ich betrachte es als einen Zustand der Anarchie, wenn man mit gebundenen Händen zusehen soll, wie dieses Pack volkswirtschaftliche Werte vernichtet.«

Feige ist wie elektrisiert: »Ach, lieber Herr Landgerichtsrat, Sie meinen wirklich, man könnte auf dem Wege einer Klage ... Ich wäre Ihnen sehr verbunden ...«

Hollweg lächelt, wobei er seine hervorstehenden Schneidezähne entblößt: »Wie gesagt: keine Ahnung von der Rechtsauffassung der zuständigen Kammer! Gehen Sie zu Dethleffsen, lieber Direktor, Dethleffsen wird schon Rat wissen ...«

Hundertzwanzig Arbeiter streiken gegen Lohnabbau. Die Ortsgruppe Pörgelau des Deutschen Metallarbeiterverbands zahlt wöchentlich ein paar Mark Streikunterstützung aus und stellt die Streikposten. Alles geht gut. Die Belegschaft weiß, daß der Direktor den Streik im besten Falle nur noch ein paar Tage durchhalten kann, dann muß er die Arbeit zu den alten Bedingungen wieder aufnehmen lassen.

Die Diskussionen der streikenden Arbeiter am Marktplatz werden immer zuversichtlicher. Im Goldenen Engel werden dem Bürgermeister heftige Vorwürfe gemacht, daß er nicht mit Polizeigewalt gegen diese Störung der öffentlichen Ordnung einschreitet. Major Burkhard nennt als bestes Mittel zur Niederwerfung des Streiks die Verhängung des Belagerungszustands, und in der Pörgelauer Bürgerschaft herrscht kriegerische Stimmung.

Im Verhandlungssaal der Zweiten Zivilkammer des Landgerichts Pörgelau geht es jedoch ganz unkriegerisch zu. Der Justizrat Dethleffsen hat dem Gericht einen umfangreichen Schriftsatz überreicht, und nach einer halben Stunde verläßt er das Gerichtsgebäude mit triumphierendem Lächeln ...

Der Former Walter Ganz, Ortsgruppenleiter des Deutschen Metallarbeiterverbands, Ortsgruppe Pörgelau, erhält den Besuch des Gerichtsvollziehers Knoblauch. Der Beamte macht ein grimmiges Gesicht. »Hier habe ich was für Sie, unterschreiben Sie mal.« Der Former Walter Ganz unterschreibt und öffnet das Schreiben, das der Gerichtsvollzieher ihm aushändigt.

»Einstweilige Verfügung! Durch einstweilige Verfügung wird dem Antragsgegner, dem Deutschen Metallarbeiterverband, Ortsgruppe Pörgelau, vertreten durch den Former Walter Ganz, verboten, den bei der Firma Pörgelauer Eisengießerei Feige & Co. eingeleiteten Streik in irgendeiner Weise zu unterstützen, sei es durch Anweisung an die Streikleitung oder durch Unterstützung von Streikpostenstehen oder durch Gewährung von Streikunterstützung an Mitglieder oder durch irgendwelche andere Mittel, und zwar bei einer vom Gericht für jeden einzelnen Fall festgesetzten Strafe von sechs Monaten Haft ...«

Der Gießereiarbeiter Ganz ist ein Veteran der Gewerkschaftsbewegung. Die Narbe da auf seinem Schädel rührt von einem Säbelhieb her, den er als junger Mann einmal bei einem Streikkrawall von einem Schutzmann erhalten hat. Das war im Jahre 1908, damals regierte in Deutschland Wilhelm II., und das ist lange her. Inzwischen ist der Gießereiarbeiter Walter Ganz vier Jahre lang im Krieg gewesen, inzwischen ging das Kaiserreich zugrunde, und es entstand die soziale deutsche Republik.

Der Arbeiter wischt sich über die Augen. Sein Finger gleitet nachdenklich über die Narbe auf seinem Kopf. Der Former Walter Ganz hat an diese soziale Republik mit allen Kräften seines Herzens geglaubt. Aber die einstweilige Verfügung des republikanischen Landgerichts Pörgelau bleibt trotzdem vor ihm auf dem Tisch liegen. Stempel, Unterschrift ...

Irgendwo steht in der Verfassung dieser sozialen Republik zu lesen, daß dem Arbeiter das Streikrecht zugestanden sei, um das er Jahre und Jahrzehnte trotz Hunger, Gefängnis und Säbelhieben gekämpft hat ... In die Augen des Walter Ganz kommt ein hartes Licht, und seine Lippen zerdrücken einen Fluch.

Das Papier, das er später den streikenden Genossen vorlegt, ist zerknittert, als hätte es eine Faust zerknüllt ...

Am nächsten Tage ziehen die gelben Schwefeldämpfe wieder durch die Hallen der Pörgelauer Eisengießerei, die Gießpfannen glühen in zitterndem Weiß, und die Preßlufthämmer der Gußputzer knattern und dröhnen. Der Former Walter Ganz kniet auf der Erde, und seine schmutzigen Hände bilden aus dem schwarzen Sand die Form der Schiffslukendeckel, die in acht Tagen verladen sein müssen ...

Der Direktor Feige geht um die Mittagszeit durch die Fabrik. Halblinks hinter ihm der Betriebsleiter. Vor dem Former Ganz bleibt er einen Augenblick stehen, sein Fuß streift fast die Hände des Arbeiters. Um die Lippen des Direktors spielt ein dünnes, kaum merkliches Lächeln ...

Abends kommt er in den Goldenen Engel mit der Miene eines Triumphators. »Hab' ich die Brüder doch klein gekriegt!« schmunzelt er und setzt besorgt hinzu: »War aber auch die höchste Zeit.« Den Landgerichtsrat Hollweg behandelt er mit ausgesuchter Höflichkeit. »Lieber Herr Landgerichtsrat, ich gebe da nächstens einen kleinen Herrenabend. Wollte mich nur auf alle Fälle erkundigen, – Sie machen mir doch das Vergnügen, dabei zu sein?«

Landgerichtsrat Hollweg merkt, daß Dickmann die Szene beobachtet. Er reibt sich verlegen die Hände und murmelt: »Schon gut, schon gut.«

Feige genügt diese Einladung als Beweis seiner Dankbarkeit noch nicht. Er dämpft seine Stimme durchaus nicht, wie er zu dem Richter sagt: »Ich danke Ihnen auch noch einmal, daß Sie so liebenswürdig gewesen sind ...«

Hollweg sieht sich unsicher nach Dickmann um. Dann fällt er dem Direktor ins Wort: »Das war keine Liebenswürdigkeit, das war meine Pflicht!« ruft er emphatisch. »Es war meine Pflicht als Richter, Sie mit den Möglichkeiten bekannt zu machen, die das Gesetz Ihnen bei der Bekämpfung jenes ... jenes Zustands der Rechtlosigkeit ... der Ungesetzlichkeit an die Hand gibt. Mein lieber Herr Feige, ich meine, wir ziehen doch alle an einem Strang. Wenn nicht wir Stützen der staatlichen Ordnung ... Sind Sie nicht auch der Meinung, Herr Kollege Dickmann?«

Dickmann nickt ernst und entschlossen: »Gewiß, Herr Landgerichtsrat, wir ziehen alle an einem Strang.«

»... Die Pyramide unserer Gesellschaftsordnung. Die Pyramide, Herr Dickmann! Oder die Gerechtigkeit. Wie Sie wollen ...«


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