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Teil V.
Das Mysterium der Mysterien
Der König der Welt

46. Kapitel.
Das unterirdische Königreich

»Halten Sie an!« flüsterte mein alter mongolischer Führer, als wir eines Tages die Steppe in der Nähe von Zaganluk durchquerten. »Halten Sie an!«

Er ließ sich von seinem Kamel hinabgleiten, das sich ohne Weisung des Reiters niederlegte. Der Mongole legte seine Hände zum Gebet vor das Gesicht und begann immer wieder den heiligen Spruch: »Om! Mane padme hom!« zu sagen. Auch die anderen Mongolen hielten sofort ihre Kamele an und beteten.

Was hat sich zugetragen? dachte ich, als ich über das zarte, grüne Gras zu dem wolkenlosen Himmel und den träumerischen, weichen Strahlen der Abendsonne hinaufblickte.

Die Mongolen beteten eine Zeitlang. Dann flüsterten sie untereinander, zogen die Riemen der Packkamele an und setzten den Marsch fort.

»Haben Sie gesehen,« fragte der Mongole, »wie furchtsam unsere Kamele die Ohren bewegten? Wie die Pferdeherde auf der Steppe aufmerksam lauschte, wie die Schaf- und Viehherden am Boden hingekauert lagen? Haben Sie bemerkt, daß die Vögel aufhörten zu fliegen, daß die Murmeltiere auf der Stelle liegen blieben und die Hunde nicht mehr bellten? Die Luft wurde leicht bewegt und trug von weither die Klänge eines Gesanges, der die Herzen von Menschen, Tieren und Vögeln bewegte. Erde und Himmel hörten auf zu atmen. Der Wind legte sich, die Sonne stand still. In einem solchen Augenblick bleibt der Wolf, der sich an das Schaf heranmacht, dort liegen, wo er sich befindet, hält die aufgescheuchte Antilopenherde plötzlich im rasenden Lauf inne, entfällt der Hand des Schafhirten das Messer, das die Kehle des Schafes aufschneiden wollte, und hört das gierige Wiesel auf, sich an die arglose Salga heranzuschleichen. Alle Lebewesen werden unwillkürlich in Gebetsstimmung versetzt und erwarten ihr Schicksal. So war es in diesem Augenblick. Das ist immer der Fall, wenn der König der Welt in seinem unterirdischen Palast betet und das Geschick der Völker der Erde ergründet.«

So sprach der alte Mongole, ein einfacher, rauher Schafhirte und Jäger, zu mir.

Die Mongolei mit ihren nackten und fürchterlichen Bergen und ihren grenzenlosen Steppen, die mit den Gebeinen der Vorfahren des mongolischen Geschlechts übersät sind, hat dem Mysterium Geburt gegeben. Ihr Volk, das von den stürmischen Leidenschaften der Natur in Schrecken versetzt oder von ihrem todähnlichen Frieden eingelullt wird, fühlt ihr Mysterium. Ihre Roten und Gelben Lamas bewahren das Mysterium und umwehen es mit Dichtung. Die Hohenpriester von Lassa und Urga sind im Besitz ihres Mysteriums.

Auf meiner Reise durch Mittelasien hörte ich zum ersten Male von dem »Mysterium der Mysterien«. Ich kann ihm keinen anderen Namen geben. Anfänglich schenkte ich ihm nicht viel Beachtung und maß ihm nicht so viel Bedeutung bei, wie ich es später tat, nachdem ich mancherlei sporadische, nebelhafte und oft widersprechende Hinweise von seiner Existenz analysiert und gesammelt hatte.

Alte Leute am Ufer des Amylflusses erzählten mir, daß einer alten Legende zufolge ein gewisser mongolischer Stamm, um den Anforderungen Dschingis Khans zu entgehen, sich in dem unterirdischen Land verborgen habe. Ein Sojot, der aus der Nähe des Sees Nagan Kul stammte, zeigte mir das rauchende Tor, das einen Eingang zum Königreich von Agharti darstellen soll. Durch dieses Tor sei früher einmal ein Jäger in das Königreich gekommen. Nach seiner Rückkehr habe er zu erzählen begonnen, was er dort gesehen hatte. Darauf hätten ihm die Lamas die Zunge ausgeschnitten, um ihn zu hindern, das Mysterium der Mysterien zu verraten. Als er alt geworden, sei er dann zu der Eingangsstelle der Höhle zurückgekommen und, angezogen durch die alten Erinnerungen, in dem unterirdischen Königreich verschwunden.

Realistischere Mitteilungen über diese Frage erhielt ich vom Hutuktu Jelip Djamsrap des Narabantschi Kure. Er erzählte mir die Geschichte des mehr irdisch aufgefaßten Kommens des mächtigen Königs der Welt aus dem unterirdischen Königreich, von seiner Erscheinung, von seinen Wundern und seinen Prophezeiungen. Erst dann begann ich zu verstehen, daß in dieser Legende, mag es Hypnose oder Massenvision sein, nicht nur Mysterium, sondern auch eine realistische und mächtige Kraft verborgen liegt, die befähigt ist, die Entwicklung des politischen Lebens Asiens zu beeinflussen. Von da ab begann ich Erkundigungen einzuziehen.

Der Lieblingsgelong des Fürsten Chultun Beyle und der Fürst selber erzählten mir einiges von dem unterirdischen Königreich.

»Alles in der Welt,« sagte der Gelong, »befindet sich beständig im Zustand der Wandlung und des Ueberganges – die Völker, die Wissenschaften, die Religionen, Gesetze und Sitten. Wie viele große Kaiserreiche und glänzende Kulturen sind schon untergegangen! Das, was allein unverändert bleibt, ist das Böse, das Werkzeug der bösen Geister. Vor mehr als sechzigtausend Jahren verschwand ein Heiliger mit einem ganzen Menschenstamm unter dem Erdboden, um sich niemals wieder an der Erdoberfläche zu zeigen. Viele Leute haben indessen seitdem dieses Königreich besucht, Sakia-muni, Undur Gheghen, Paspa, Khan Baber und andere; aber niemand weiß, wo das Königreich liegt. Die einen sagen in Afghanistan, andere in Indien. In ihm ist das Volk gegen das Böse geschützt. Verbrechen gibt es in seinen Grenzen nicht. Die Wissenschaft hat sich in ihm ruhig entwickelt, nichts ist in ihm durch Zerstörung bedroht. Das unterirdische Volk hat das höchste Wissen erreicht. Das Land unter der Erde ist jetzt ein großes Königreich. Zu ihm gehören Millionen von Menschen. Sein Herrscher ist der König der Welt. Dieser kennt alle Kräfte der Welt und vermag in den Seelen der Menschheit und in dem großen Buch ihres Geschickes zu lesen. Unsichtbar regiert er über achthundert Millionen Menschen, die die Erdoberfläche bewohnen. Sie sind jedem seiner Befehle unterworfen.«

Fürst Chultun Beyle fügte hinzu: »Dieses Königreich ist Agharti. Es erstreckt sich über alle unterirdischen Gänge der Welt. Ich hörte, wie ein gelehrter Lama aus China dem Bogdo Khan erzählte, daß die unterirdischen Höhlen in Amerika von der ehemaligen Bevölkerung dieses Kontinents bewohnt seien. Alle unterirdischen Völker und unter der Erde befindlichen Räume werden von Herrschern regiert, die dem König der Welt untertan sind. Darin liegt nichts allzu Wunderbares. Sie wissen ja, daß es früher in den beiden größten Ozeanen des Ostens und Westens zwei Kontinente gegeben hat, die unter der Wasseroberfläche verschwanden. Deren Bevölkerung gehört jetzt zu dem unterirdischen Königreich. In den Höhlen unter der Erdoberfläche herrscht besonderes Licht, dem es zu danken ist, daß dort Getreide und Pflanzen wachsen und die Menschen ein langes, von Krankheiten freies Leben führen können. Es gibt dort mancherlei verschiedenartige Völker und Stämme. Ein alter buddhistischer Brahmane von Nepal führte den Willen der Götter aus, indem er einem alten Königreich Dschingis Khans – Siam – einen Besuch abstattete. Dort traf er einen Fischer, der ihm befahl, in seinem Boot Platz zu nehmen und mit ihm auf das Meer hinauszufahren. Am dritten Tage erreichten sie eine Insel, auf der der Brahmane Menschen vorfand, die zwei Zungen hatten und deshalb in zwei verschiedenen Sprachen sprechen konnten. Diese Menschen zeigten ihm besondere Tiere, Schildkröten mit sechzehn Füßen und mit einem Auge, riesige Schlangen mit sehr schmackhaftem Fleisch und Vögel, die Zähne hatten, so daß sie für die Inselbevölkerung Fische fangen konnten. Diese Leute erzählten ihm, daß sie von dem unterirdischen Königreich emporgestiegen seien, und beschrieben ihm gewisse Teile desselben.«

Der Torguten-Lama, der mit mir von Urga nach Peking reiste, gab mir weitere Einzelheiten.

»Die Hauptstadt von Agharti ist von Städten umgeben, die von Hohenpriestern und Männern der Wissenschaft bewohnt sind. Sie erinnern einen an Lassa, wo der Palast des Dalai Lama, der Potala, die Spitze eines Berges darstellt, der mit Klöstern und Tempeln bedeckt ist. Der Thron des Königs der Welt ist von Millionen inkarnierter Götter umringt. Diese sind die Heiligen Panditas. Der Palast selber wird eingefaßt von den Palästen der Goro, die alle sichtbaren und unsichtbaren Kräfte der Erde, der Hölle und des Himmels beherrschen und für das Leben und Sterben der Menschen alles tun können. Wenn unsere wahnsinnige Menschheit einen Krieg gegen das unterirdische Königreich beginnen sollte, so wäre dieses imstande, die ganze Oberfläche unseres Planeten in die Luft zu sprengen und sie in eine Einöde zu verwandeln. Die Bewohner von Agharti können Meere trocken legen, Kontinente in Ozeane verwandeln und Berge zu Wüstenstaub machen. Unter dem Befehl des Königs der Welt können Gräser und Büsche entstehen, werden alte und schwache Menschen wieder jung und kräftig und werden die Toten wieder zum Leben erweckt. In Wagen, die uns fremd sind, rasen die Bewohner des unterirdischen Königreichs durch die engen Spalten im Innern unseres Planeten. Einige indische Brahmanen und tibetanische Dalai Lamas haben bei ihren mühevollen Versuchen, die Spitzen von Bergen zu erreichen, die noch nie ein menschlicher Fuß betreten hat, auf den Felsen Inschriften und in dem Schnee Fuß- und Wagenspuren entdeckt. Der gesegnete Sakia-muni hat auf einer Bergspitze Steintafeln gefunden, die Worte trugen, die nur er im hohen Alter verstehen konnte. Danach ist er zum Königreich Agharti vorgedrungen, von wo er Bruchstücke des heiligen Wissens, die in seinem Gedächtnis haften geblieben waren, mit auf die Welt brachte. In Agharti leben in Palästen, die aus wunderbaren Kristallen gebaut sind, die unsichtbaren Herrscher über alle frommen Menschen, der König der Welt oder Brahytma, der mit Gott sprechen kann, so wie ich jetzt mit Ihnen spreche, und seine beiden Gehilfen, Mahytma, der die Zwecke aller zukünftigen Ereignisse kennt, und Mahynga, der die Ursachen dieser Ereignisse beherrscht.

Die Heiligen Panditas studieren die Welt und alle ihre Kräfte. Gelegentlich treten die gelehrtesten unter ihnen zusammen und senden ihre Boten an Stellen, an die menschliche Augen niemals gedrungen sind. Dieser Vorgang ist von einem Taschi Lama beschrieben worden, der vor achthundertundfünfzig Jahren gelebt hat. Das Verfahren ist folgendes: Die höchsten Panditas bedecken ihre Augen mit einer Hand, die andere Hand legen sie unter den Hinterkopf jüngerer Männer, die sie so in tiefen Schlaf versetzen. Dann waschen sie die Körper der Schlafenden mit einem Aufguß aus Gras, machen sie gegen jeden Schmerz unempfindlich und härter als Stahl, wickeln sie in magische Tücher und binden sie. Dann beten sie zu dem Großen Gott. Die versteinerten Jünglinge liegen mit offenen und wachsamen Augen da. Sie hören, sehen und behalten alles, was um sie vorgeht. Darauf tritt ein Goro an sie heran und heftet einen langen, festen Blick auf sie. Langsam erheben sich sodann ihre Körper von der Erde und verschwinden im Luftraum. Der Goro sitzt währenddessen da und starrt mit festem Blick in die Richtung, in die er die Boten entsandt hat. Unsichtbare Fäden verbinden seinen Willen mit ihnen. Einige von ihnen bewegen sich unter den Sternen und beobachten die dortigen Ereignisse, die unbekannte Bevölkerung der Sternenwelt, ihr Leben und ihre Gesetze. Sie hören, was die Sternenmenschen zu sagen haben, lesen deren Bücher, verstehen ihr Geschick und Leid, ihre Heiligkeit und ihre Sünden, ihre Frömmigkeit und ihre Uebel. Andere der Boten kommen in Berührung mit den Flammen und sehen dort, wie das wilde Feuer entsteht, das ewig kämpft, die Metalle in der Tiefe der Planeten zerschmilzt und zerschlägt, das Wasser für die Geiser und die heißen Quellen kocht, Felsen zerbricht und durch die Berglöcher Lavaströme über die Erdoberfläche gießt. Andere wiederum stürmen mit den unendlich kleinen, durchsichtigen Luftwesen dahin und dringen in die Mysterien ihrer Existenz und in die Zwecke ihres Lebens ein. Andere tauchen in die Tiefen der Meere unter und beobachten das Königreich der weißen Wasserwesen, die über die ganze Erde angenehme Wärme tragen und die Winde, Wellen und Stürme beherrschen ... In Erdeni Dzu hat es einmal einen Pandita Hutuktu gegeben, der von Agharti gekommen war. Als er starb, erzählte er von der Zeit, in der er nach dem Willen der Goro auf einem roten Stern im Osten gelebt, auf dem eisbedeckten Ozean getrieben und zwischen den stürmischen Feuern in der Tiefe der Erde geschwebt hatte.«

Das sind Erzählungen, die ich in den mongolischen Jurten der Fürsten und in den lamaistischen Klöstern gehört habe. Alle diese Geschichten wurden in feierlichem Ton vorgetragen, in einem Ton, der Widerspruch ausschloß.

Mysterium!


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