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28. Kapitel.
Dem Tode nah

Wir erreichten Uliassutai am Tage der Rückkunft des zur Entwaffnung der Wache Wang-Tsao-tsuns ausgesandten Detachements. Dieses Detachement war auf Oberst Domojiroff gestoßen, der ihm befohlen hatte, die chinesische Eskorte nicht allein zu entwaffnen, sondern auch zu plündern. Unglücklicherweise war dieser rechtswidrige Befehl von dem Detachementsführer Leutnant Strigine ausgeführt worden. Es war eine Schande, die russischen Soldaten und Offiziere zu sehen, wie sie chinesische Mäntel, Stiefel und Armbanduhren trugen, die den chinesischen Beamten und der Bedeckung abgenommen worden waren. Alle hatten Silber und Gold erbeutet. Die mongolische Frau Wang-Tsao-tsuns und ihr Bruder kehrten mit dem Detachement zurück und erhoben Klage, weil sie von den Russen beraubt worden waren. Die chinesischen Beamten und ihre Bedeckung erreichten die chinesische Grenze nur mit schwerster Mühe, sie litten unter Hunger und Kälte, denn sie mußten nach der Beraubung ohne jegliche Vorräte reisen.

Wir Ausländer waren höchst verblüfft darüber, daß Oberstleutnant Michailoff Strigine mit militärischen Ehren empfing. Doch wurde uns das bald erklärt, als wir erfuhren, daß Michailoff einen Teil des chinesischen Silbers und seine Frau den schön dekorierten Sattel Fu Siangs erhalten hatten. Chultun Beyle forderte, daß alle den Chinesen abgenommenen Waffen und alles ihnen gestohlene Eigentum ihm ausgehändigt würden, da man es später den chinesischen Behörden zurückgeben müsse. Doch Michailoff schlug dieses Ersuchen aus. Infolgedessen brachen wir Ausländer jede Berührung mit dem russischen Detachement ab. Auch wurden die Beziehungen zwischen den Russen und den Mongolen sehr gespannt. Mehrere russische Offiziere protestierten gegen die Handlungen Michailoffs und Strigines. So entstanden immer häufigere und immer ernstere Streitigkeiten.

Zu dieser Zeit traf eines Morgens eine sonderbare Gruppe bewaffneter Reiter in Uliassutai ein. Diese Leute nahmen in dem Hause des Bolschewisten Bourdokoff Quartier, der ihnen, wie man uns sagte, eine große Menge Silber aushändigte. Sie behaupteten, sie seien ehemalige Offiziere der kaiserlichen Garde. Sie waren die Obersten Poletika, N. N. Philipoff und drei Brüder des letzteren. Sie erklärten, daß sie alle in der Mongolei und China anwesenden weißen Offiziere und Soldaten zusammenziehen wollten, um sie zum Kampf gegen die Bolschewiki nach Urianhai zu führen. Doch zunächst sei es notwendig, Ungern zu vernichten und die Mongolei an China zurückzugeben. Sie nannten sich die Vertreter der Zentralorganisation der Weißen in Rußland.

Die Vereinigung russischer Offiziere in Uliassutai lud die neu Angekommenen zu einer Versammlung ein, untersuchte ihre Papiere und unterwarf sie einem Verhör. Die Untersuchung erwies, daß die Behauptungen dieser Offiziere hinsichtlich ihrer früheren Verbindungen völlig falsch waren, daß Poletika eine wichtige Stellung in dem Kriegskommissariat der Bolschewiki einnahm, daß einer der Philipoffs ein Assistent Kameneffs war bei dessen erstem Versuch, nach England zu gelangen, daß die Zentrale Weiße Organisation in Rußland überhaupt nicht bestand, daß der vorgeschlagene Kampf in Urianhai lediglich eine Falle für die weißen Offiziere war, und daß die Neuangekommenen enge politische Beziehungen zu dem Bolschewik Bourdokoff unterhielten.

Trotz dieser klaren Beweise entstand unter den Offizieren in Bezug auf das, was man mit den Leuten machen sollte, eine scharfe Diskussion, die das Detachement in zwei Parteien spaltete. Oberstleutnant Michailoff trat mit mehreren Offizieren Poletikas Gruppe bei. Gerade zu dieser Zeit traf Oberst Domojiroff mit seinem Detachement in Uliassutai ein. Oberst Domojiroff setzte sich sofort mit beiden Parteien in Verbindung, fühlte zunächst den politischen Boden ab und ernannte dann Poletika zum Kommandanten von Uliassutai, indem er gleichzeitig einen ausführlichen Bericht über die Ereignisse in Uliassutai an Baron Ungern absandte. Dieses Dokument beschäftigte sich auch eingehend mit meiner Person. Ich wurde angeklagt, der Ausführung der Befehle Domojiroffs im Wege zu stehen.

Die Offiziere des mir feindlich gesinnten Obersten überwachten mich nun beständig. Von verschiedenen Seiten wurde ich gewarnt, auf der Hut zu sein. Diese Bande und ihr Führer fragten offen, was für ein Recht dieser Ausländer eigentlich habe, sich in die Angelegenheiten der Mongolei einzumischen. Einer der Offiziere Domojiroffs forderte mich sogar in einer Versammlung in dieser Hinsicht direkt heraus. Meine sehr ruhig gegebene Antwort lautete:

»Und auf welcher Grundlage mischen sich russische Flüchtlinge, die weder in ihrer Heimat noch im Ausland irgendwelche Rechte genießen, in die mongolischen Angelegenheiten ein?«

Der Offizier gab mit Worten keine Antwort; doch in seinen Augen brannte eine klare Erwiderung. Dies bemerkte mein riesengroßer Freund, der neben mir saß, schritt zu dem Offizier, beugte sich über ihn, reckte Arme und Hände weit aus und sagte: »Ich möchte mal ein bißchen boxen!«

Bei einer Gelegenheit wäre ich um ein Haar in die Hände der Leute Domojiroffs gefallen, wenn mich nicht die Wachsamkeit unserer ausländischen Gruppe gerettet hätte. Ich war zur Festung gegangen, um mit dem mongolischen Sait wegen der Abreise der Ausländer zu verhandeln. Chultun Beyle behielt mich lange Zeit bei sich, so daß ich erst um neun Uhr abends zurückkehren konnte. Mein Pferd ging Schritt. Eine halbe Meile vor der Stadt sprangen drei Männer aus einer Grube und liefen auf mich zu. Ich trieb mein Pferd mit der Peitsche an, bemerkte aber in diesem Augenblick, daß noch mehr Männer aus einer anderen Grube kamen, die mich anscheinend abschneiden wollten. Ich hatte mich jedoch getäuscht; denn diese zweite Gruppe stürmte auf die ersten drei Männer zu und nahm sie gefangen. Ich hörte die Stimme eines Ausländers, der mich herbeirief.

An der betreffenden Stelle fand ich drei Offiziere Domojiroffs in den Händen polnischer Soldaten und anderer Ausländer unter der Führung meines braven Freundes vor, der gerade damit beschäftigt war, die Hände der Offiziere zu fesseln, daß ihnen die Knochen knackten. Als er diese Arbeit beendigt hatte, meinte mein Freund mit ernsthafter und wichtiger Miene, dabei seine ewige Pfeife rauchend: »Ich halte es für das Beste, sie in den Fluß zu werfen.«

Ich mußte über seine Ernsthaftigkeit und die Furcht der Offiziere Domojiroffs lachen und fragte die Angreifer, warum sie den Ueberfall gemacht hätten. Sie senkten die Augen und schwiegen. Ihr Schweigen war recht beredt. Wir verstanden sehr gut, was ihre Absicht war: sie hatten Revolver in ihren Taschen.

»Schön,« sagte ich. »Es ist alles sonnenklar. – Ich werde Sie freigeben. Aber Sie müssen dem Manne melden, der Sie entsandt hat, daß er sich das nächste Mal bei Ihrer Rückkehr nicht freuen wird. Ihre Waffen werde ich dem Kommandanten von Uliassutai übergeben.«

Mein Freund entfesselte sie, mit der gleichen schreckenerregenden Sorgfalt, womit er sie gefesselt hatte und sagte immer wieder: »Ich hätte mit Euch die Fische im Fluß gefüttert!«

Dann kehrten wir zur Stadt zurück und überließen die Missetäter sich selber.

Domojiroff fuhr fort, Boten an Baron Ungern zu schicken. Immer wieder bat er, ihm Vollmacht zu erteilen, und berichtete er über Michailoff, Chultun Beyle, Poletika, Philipoff und mich. Mit asiatischer Schlauheit unterhielt er aber gleichzeitig zu allen denjenigen gute Beziehungen, denen er den Tod aus der Hand des gestrengen Kriegers Baron Ungern zugedacht hatte, der so über alles, was sich in Uliassutai zutrug, nur ganz einseitige Berichte erhielt. Unsere ganze Kolonie befand sich im Zustande großer Erregung. Es waren nicht allein die Offiziere in verschiedene Parteien gespalten, sondern auch die Soldaten bildeten Gruppen, erörterten die Tagesereignisse und kritisierten ihre Führer. Unter dem Einfluß einiger der Domojiroffschen Leute ließen sie disziplinwidrige Bemerkungen die Runde gehen. So wurde zum Beispiel folgender bösartige Scherz unter den gemeinen Soldaten in Umlauf gesetzt: »Wir haben jetzt sieben Oberste, die alle den Oberbefehl haben wollen und sich untereinander streiten. Sie sollten einmal alle eine gute Tracht Prügel bekommen, und derjenige von ihnen, der die meisten Prügel ertragen kann, mag dann zu unserem Führer gewählt werden.«

Dieser schlechte Witz zeugte von dem Zustand des russischen Detachements.

»Es scheint mir,« so bemerkte mein Freund gelegentlich, »daß wir bald das Vergnügen haben werden, auch hier in Uliassutai Soldatenräte zu sehen. Hol's der Teufel! Eine Sache ist hier sehr unangenehm; denn es gibt hier keine tiefen Wälder, in denen gute Christen untertauchen und alle diese verdammten Sowjets loswerden können. Diese elende Mongolei ist nackt, furchtbar nackt und bietet uns keine Verstecke.«

In der Tat lag die Gefahr der Errichtung eines Soldatensowjets nahe. Bei einer Gelegenheit bemächtigten sich die Soldaten der Waffen des Arsenals, die von den Chinesen übergeben worden waren, und schleppten sie in ihre Lager. Trunkenheit, Spielsucht und Hader nahmen zu. Wir Ausländer folgten den Ereignissen mit großer Wachsamkeit und beschlossen schließlich, da wir den Ausbruch einer Katastrophe befürchten mußten, Uliassutai, dieses Nest der Streitigkeiten und Denunziationen, zu verlassen. Wir hörten, daß sich Poletikas Gruppe ebenfalls vorbereitete, in einigen Tagen aufzubrechen.

Wir Ausländer teilten uns in zwei Gruppen. Die eine nahm die alte Karawanenstraße, die durch die Gobi sehr weit südlich von Urga nach Kuku-Hoto oder Kweihuatscheng und Kaigan führt. Die andere Gruppe, die aus mir, meinem Freund und zwei polnischen Soldaten bestand, wählte den Weg nach Urga über Zain Shabi, wo Oberst Kazagrandi mich, wie er kürzlich in einem Brief geschrieben hatte, treffen wollte. So ließen wir also Uliassutai hinter uns, das uns so viel Aufregung gebracht hatte.

Am sechsten Tage nach unserer Abreise traf in Uliassutai ein mongolisch-burjettisches Detachement unter dem Befehl des Burjetten Vandaloff und des russischen Hauptmanns Bezrodnoff ein. Dieses Detachement begegnete mir später bei Zain Shabi. Es war von Baron Ungern aus Urga entsandt worden, um in Uliassutai die Ordnung wiederherzustellen und um danach nach Kobdo zu marschieren. Auf dem Wege von Zain Shabi stieß Bezrodnoff auf die Gruppe Poletikas und Michailoffs. Er ließ sie durchsuchen und fand dabei verdächtige Dokumente in ihrem Gepäck und außerdem in dem Gepäck Michailoffs und seiner Frau das Silber und anderes den Chinesen abgenommene Eigentum. Von dieser aus sechzehn Mann bestehenden Gruppe sandte er N. N. Philipoff zu Baron Ungern, ließ drei Mann frei und erschoß die übrigen zwölf. So endigte in Zain Shabi das Leben einer Partei der Flüchtlinge von Uliassutai und die Tätigkeit Poletikas. In Uliassutai angekommen, ließ Bezrodnoff Chultun Beyle wegen Verletzung des mit den Chinesen abgeschlossenen Vertrages erschießen und bereitete außerdem noch einigen bolschewistischen russischen Kolonisten das gleiche Schicksal. Domojiroff wurde von ihm verhaftet und nach Urga gesandt. So stellte er die Ordnung wieder her. Die Voraussage über Chultun Beyle war in Erfüllung gegangen!

Ich wußte, was Domojiroff über mich berichtet hatte. Dennoch hatte ich beschlossen, Urga nicht zu meiden, wie es Poletika tun wollte, als er von Bezrodnoff gefangen genommen wurde. Ich war jetzt daran gewöhnt, der Gefahr ins Auge zu sehen, und entschlossen, dem schrecklichen »blutigen Baron« zu begegnen. Niemand kann sein eigenes Schicksal entscheiden. Ich wußte, daß ich mich im Recht befand, und das Gefühl der Furcht war mir seit langer Zeit fremd geworden. Die Nachricht von dem Tode unserer Bekannten in Zain Shabi wurde uns unterwegs von einem mongolischen Reiter überbracht, der die Nacht mit mir in der Jurte eines Ourton zubrachte und mir im Anschluß an seinen Bericht folgende Todeslegende erzählte:

»Es war vor langer Zeit, damals als die Mongolen über China herrschten. Der Fürst von Uliassutai Baltis Van war wahnsinnig. Er ließ nach Gutdünken jedermann hinrichten, so daß niemand wagte, Uliassutai zu passieren. Deswegen belagerten alle übrigen Fürsten und reichen Mongolen die Stadt, in der Baltis wütete, schnitten überall die Verbindungen ab und erlaubten niemandem ein- und auszugehen. In der Stadt entstand Hungersnot. Alle Ochsen, Schafe und Pferde waren bereits verzehrt. Schließlich beschloß Baltis Van mit seinen Soldaten einen Ausfall in westlicher Richtung zu machen, um das Land eines seiner Stämme, der Olets, zu erreichen. Doch kamen er und alle seine Leute in dem Kampfe um. Die Fürsten vergruben daraufhin die Gefallenen auf Anraten des Hutuktu Buyantu auf den Hängen der Berge um Uliassutai. Sie begruben sie unter Anstimmung religiöser Gesänge und unter Anwendung von Zauberbräuchen, um den Tod der Gewalt daran zu hindern, ihr Land abermals aufzusuchen. Die Gräber wurden mit schweren Steinen bedeckt, und der Hutuktu verhieß, daß der böse »Dämon des Todes der Gewalt« die Erde erst wieder verlassen werde, wenn das Blut eines Menschen auf den Grabsteinen vergossen würde. Diese Legende hat sich jetzt erfüllt. Die Russen haben an der Grabstätte drei Bolschewiki und die Chinesen zwei Mongolen erschossen. Der böse Geist Baltis Vans ist unter dem schweren Grabstein ausgebrochen und mäht jetzt das Volk mit seiner Sichel nieder. Der edle Chultun Beyle ist umgekommen, der russische Noyon Michailoff ist gefallen, und der Tod wird sich von Uliassutai über unsere weiten Ebenen ergießen. Wer sollte imstande sein, ihn jetzt noch aufzuhalten? Wer sollte die Kraft haben, ihm jetzt noch die wilden Hände zu binden? Eine schlimme Zeit ist für die Götter und die guten Geister gekommen. Die bösen Dämonen haben den guten Geistern den Krieg erklärt. Was kann da der Mensch tun? Er kann nur umkommen, nur umkommen ...«


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