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Morgen.

»Warum verbirgst du dein Angesicht, o Morgen? Und verhüllst es geheimnisvoll wie in einer dichten Wolke? Willst du dich uns nimmer entschleiern?

Wird es unseren Augen nie vergönnt sein, dein Dunkel zu durchdringen und unseren Herzen, dich voraus zu ahnen? Wirst du uns nach einer hoffnungsvoll verbrachten Nacht als grauenhafte Fratze entgegengrinsen oder werden wir aus dem bangen Nachtdunkel dein Antlitz in heller, milder Schönheit glänzend erblicken? Oh, könnten wir dich vorausahnen! Wie wollten wir so manchen Augenblick schon am heutigen Tage in höchster Wonne genießen!

Und doch ... vielleicht ...

Vielleicht hat die Göttin Kwan-Non in ihrer Barmherzigkeit diesen schwarzen Schleier um dein Antlitz geworfen, damit wir Sterbliche in der Erwartung unserer heißen Wünsche dich doppelt ersehnen?

Was bringst du uns, o Morgen? Wird es die Erfüllung unserer Sehnsucht sein? Die Erleichterung unseren Schmerzen? Der Trost des Vergessens oder das Entschlummern in den Armen des Todes? ...

Wie es auch sei, segnen will ich dich, o Morgen, ich, die ich das Glück hoffnungsvoll erwarte ...«

So dachte träumend die junge Musmé Tinino-Gosari, als sie sich mit leichten Schritten dem »goldenen Tempel« näherte. Sie stieg langsam zur höchsten Terrasse empor und setzte sich nahe der Ballustrade, die wie ein Schwalbennest hoch über einem großen tiefen Teich herunterhing.

Mit ihrer kleinen, braunen Hand reibt sich Tinino den Schlaf aus den Augen und sieht im rosigen Dunst der Morgendämmerung Yokohama vor sich liegen. Sie erblickt ein großes Meer kleiner Bambushäuschen, die massigen Mauern europäischer Gebäude, die Türme der christlichen Kirchen und die phantastischen Dächer der Schinto-Tempel. Und weit, weit in der Ferne liegt das glitzernde, sonnendurchtränkte Meer wie ein großer, blauer Tropfen. Ein leises, dumpfes Rauschen steigt von Zeit zu Zeit herauf, des Ozeans ewige Stimme, der weder am Tag, noch in der Nacht Ruhe kennt.

Sonst ist es still ringsherum, alles in tiefes Schweigen gehüllt. Die Blätter an den Bäumen und die Blumen am Geländer hängen regungslos, die Vögel schweigen, der leise Wind hat sich verkrochen und als ob die Stimme des Lebens die Balkone des Tempels nicht erreichen könnte, stehen die Gottheiten aus Bronze gegossen, aus Elfenbein und dem nephritgleichen Hinokobaum geschnitzt, verlassen und einsam da.

Etwas düster Geheimnisvolles scheint in der Luft, unter den weißen Wolken und im Schatten der Bäume zu schweben ... Die kleine Musmé erblaßt, denn das tiefe Schweigen läßt ihr Herz in Angst erzittern und ruft in ihr eine seltsame Sehnsucht hervor ...

Um dieses Grauen, dieses böse Vorgefühl zu verscheuchen, heftet sie ihre verträumten Augen auf das vor ihr liegende Wasser, an dem sie mit einer leidenschaftlichen Liebe hängt.

Hier, an diesen dunklen, mit smaragdgrünen Bananen und gelben Irisblumen bewachsenen Ufern hat sie als kleines Kind gespielt, ging dann, älter geworden, lesend durch die engen, in Felsen gehauenen Gänge, die im Schatten wunderlicher Kakteen und zwerghafter Zedern um den Teich herumführen. Hier begegnete sie, da sie schon zum jungen Mädchen erwachsen, zum ersten Male dem schönen, hinreißenden Genso Adaschi und hier lauschte sie entzückt seinen Erzählungen, die ihr so farbenreiche Kunde von fernen Ländern brachten. Hier endlich, hat sie die Liebe, diese schöne Blume des Herzens kennen gelernt und hier nahm sie vor ein paar Monaten Abschied von ihm, der in die weite Ferne zog ...

Tinino entnahm ihrem Ärmel das Schreiben, das er ihr gestern geschickt hatte:

»Erwarte mich morgen am goldenen Tempel.«

Den ganzen Tag und die ganze lange Nacht erwartete sie sehnsuchtstrunken den kommenden Tag. Die Stunden dehnten sich ihr zu Ewigkeiten, der Schlaf floh sie und ihre Gedanken kreisten in einemfort um das erwartete Morgen.

Sie glaubte, das bronzefarbige, seegebräunte Gesicht des Matrosen, seine scharfen, an die Ferne gewohnten Augen und seine weißen, glänzenden Zähne zu sehen, es schien ihr, als ob sie die Musik seiner Worte hörte, die einmal voll Tiefe und Wehmut, dann wieder sprühend von Frohsinn und Neckerei waren, und fast fühlte sie schon den Druck seiner warmen, starken Hände. Und jetzt ist der Morgen endlich da! Die Dämmerung ist dem Tage gewichen, und jetzt sitzt sie auf der Terrasse, an ihrem gemeinsamen Plätzchen, wo sie beide so wunderbar glückliche, zauberhafte Augenblicke verlebt haben, dem Traume der schönen Zukunft nachhängend ...

In seligem Erinnern senkt sie den Blick auf die Oberfläche des Teiches. Nichts hat sich hier verändert. So wie einst schwimmen die grünen, wie aus poliertem Lack ausgeschnittenen Blätter der Nenupharen und weiß leuchten ihre kalten Wachsblumen mit den goldenen Herzen. Hoch ragen die langen heiligen, von Buddha Gautama geliebten Lotosstengel in die Luft, gekrönt von weißen, gelben und rosigen Blüten. Teppiche malachitgrüner Wasserpflanzen glänzen unbeweglich in der Sonne. Alles ist, wie es einst gewesen, und doch ... die Musmé erbebt und das kalte Gefühl einer bösen Ahnung läßt sie von Neuem erzittern.

Wie seltsam! Wo sind die kleinen goldenen Fische geblieben, die sich hier meist so lustig herumgetummelt haben und ihre Nahrung aus Blättern der Nenupharen und den Trieben der Lotosblumen suchten? Halten sie sich alle versteckt? Der schöne Teich erscheint ihr auf einmal wie verwaist und ausgestorben.

Tinino legt das Köpfchen in ihre weiche, zarte Handfläche und verfällt in tiefes Sinnen.

Da wird sie plötzlich von einem starken Dröhnen erweckt. Und ebenso plötzlich erbebt der Bau des Tempels. Die Bäume wiegen sich und neigen sich wie unter den Stößen eines unsichtbaren Windes. Ein banges Säuseln durchzittert die Blätter der Bäume und mit einem fürchterlichen Gekreisch fliegen schwarze Raben im Kreise herum. Auf dem Teiche laufen kleine Wellen herbei und kräuseln die bis nun stille Wasserfläche.

Und nun folgt ein furchtbarer Stoß. Alles ringsherum erbebt und schwankt, klatschend fällt ein großer Felsblock, der am Hügel neben einer kleinen Kapelle lag, in den Teich. Klirrend zerspringen die farbigen Gläser an den Fenstern des Tempels. Und von Weitem, von der Stadt her, hört man laute Stimmen von Menschen und allmählich erhebt sich das entsetzte Gebrüll der Menge und braust bis an die Mauern des Tempels.

Ein dumpfes, immer mächtigeres Beben läßt die Erde in ihrer Tiefe erzittern. Wie von einer unsichtbaren Hand gehoben, wankt die kleine Kapelle am Hügel, der uralte »Tori«, der am Abhange steht, stürzt nieder, mit Gedröhn zerbröckelt das gemauerte Tor des Gartens und eine Staubsäule streckt sich in die Höhe, über die Bäume hinaus ...

Die Erde bebt und wälzt sich, als würde sie von Scharen böser und starker, um ihre Freiheit kämpfender Dämonen in Stücke gerissen.

Plötzlich ist auch der Teich mit seinem silberklaren Wasser, seinen goldenen Fischen, Pflanzen und Lotosblumen verschwunden, wie verschlungen in die Tiefe der Erde. Und jetzt sprudelt er gurgelnd wieder hervor, mit Steinen, Pflanzenresten und Fischleichen zu einem dicken, schlammigen Brei vermischt.

Kraftlos, jeder Bewegung unfähig, schreckensgelähmt starrt Tinino mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin und fast bewußtlos sieht sie die fallenden Bäume, die stürzenden Gebäude der Stadt, die sich schlängelnden Flammenzungen und die dicken, schwarzen Rauchwolken über Yokohama, und weit in der Ferne den Ozean, der brausend seine dunklen, hochspringenden Wogen heranwälzt. Das Krachen der stürzenden Häuser, das Zischen des Feuers, das Dröhnen der unterirdischen Stöße, das grollende Brausen des Meeres, das Geschrei, das Jammern, das Stampfen der Füße der hunderttausendköpfigen, flüchtenden Menschenmenge betäubten das junge Mädchen derart, daß sie des Bewußtseins und der Kraft beraubt, regungslos dasitzt. Wie gelähmt sieht sie noch, wie ein Dachvorsprung über ihrem Kopf sausend auf die Terrasse herunterrutscht.

Und mit verwunderten, angsterfüllten Augen liegt sie noch da, als sie schon am Grunde des Teiches unter den Trümmern des goldenen Tempels zu verschwinden beginnt, im tiefen Schlamm versenkt.

*

Das geheimnisvolle, verräterische Morgen hat das riesenhafte Yokohama in Trümmer geschlagen, seine Schätze in Feuer aufgehen lassen und die rasenden, aufgewühlten Ozeanwellen über die Stadtreste geworfen. Die ganze Macht und Schönheit wurde zu Staub und mit ihr wie ein kleines, winziges Tröpfchen im Kelche der Qual, des Schmerzes und der Tränen verschwand auch das Leben der jungen Musmé, ausgelöscht wie die schwache Flamme einer duftenden, rosigen Opferkerze ...


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