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In Nagasaki haben alle den alten Fumio-Jano gekannt. Er war dort mit dem Hafen so verwachsen wie die Muschel (Midzio) mit dem Boden der Fischerbarke. Er wurde nicht Fumio-Jano genannt, sondern einfach »der Alte mit dem Päckchen« und zwar darum, weil man ihn nie ohne ein langes, schmales Päckchen sah, das er immer in mehrere Schichten dünnes Papier und Fetzen gewickelt, bei sich trug. Er trug es immer unter dem Arm und trennte sich nie davon.
»Was sind das für Schätze in diesem Päckchen, Jano?« fragte man den Greis des öfteren. Gewöhnlich lächelte er und antwortete:
»Watákusino tamasi! meine Seele.«
»Gib acht«, lachte man ihn aus, »daß dir die Seele nicht gestohlen wird!«
»Dann sterbe ich!« antwortete er mit einer ernsten Stimme und ging weiter.
Heute fühlte sich der Alte unwohl, schlimmer denn je. Er hatte seine letzten Sen ausgegeben, die er beim Sortieren der feuchten Baumwolle verdiente, und jetzt suchte er seit zwei Tagen schon vergebens nach Arbeit.
Es war gerade tote Saison. Die Fabriken verminderten die Zahl der Arbeiter, die größeren Schiffe blieben aus, daher konnte er sich nicht als Kacugi-Ninbu zum Laden oder Ausladen der Schiffe verdingen. Der Hunger bohrt und quält den alten Jano. Seine Füße zittern aus Schwäche und tragen ihn kaum, grüne Funken flimmern vor seinen Augen.
»Schlecht ist es mit mir bestellt, sehr, sehr schlecht«, murmelte Jano und warf einen forschenden Blick auf das Meer.
»Nichts! Auch nicht die leiseste Spur vom Rauch eines Dampfschiffes!«
Der Alte schüttelt verzweifelt sein Haupt, drückt sein Päckchen fest an sich und schleppt sich hinkend, langsam der Stadt zu. Dort kennt er einen Ort, wo er vielleicht etwas zu essen bekommt. Im schönen Suwa-Tempel, im Haine, der ihn umgibt, wachsen Zedernbäume, unter denen er schon so manchesmal Nüsse gefunden hatte, auch rote Bohnen heben sich dort farbig und einladend vom Rasen ab. Dort wird er auch von den Bonzen des Tempels freundlich und ehrfurchtsvoll behandelt, mit Reis, mit geriebenen Trockenfischen oder einem süßen Dajkon bewirtet. Doch war so ein Bettelgang nicht nach dem Geschmacke des Fumio-Jano, und nur der Hunger trieb ihn dazu.
Als er sich endlich den breiten, hundertundfünfzig Stufen zählenden Treppen näherte, die zu dem verdunkelten, feierlich stillen und immer leeren Tempel führten, erblickte Funio einige in helle Farben gekleidete Mädchen die Stufen hinaufsteigen und einen jungen Japaner in einer eleganten, europäischen Kleidung, der den Tempel, die Treppe und die Mädchen photographierte.
Fumio begrüßt den Japaner mit den Worten: »Goki-gen-jo«, und geht die Treppen hinauf. Als er das Knipsen eines Kodak hinter sich hört, denkt er mit einem Lächeln: »Hat der junge Mann nichts Besseres als mich gefunden?«
Auf der höchsten Terrasse, die zum Tempel führt, begegnet er einem bekannten Bonzen und sagt mit schwacher Stimme:
»Ich komme zu Euch, Diener Gottes, denn nirgends gibt es Arbeit und ... der Hunger peinigt mich.«
»Alter Fumio, geh in die Gaststube«, antwortete der Bonze, »Du wirst sofort ein Abendessen bekommen.«
Da nähert sich dem Bonzen der junge Japaner und beginnt mit ihm ein Gespräch. Jano bleibt aus Neugierde stehen, und hört, wie der Jüngling an den Priester Fragen über den Tempel und seine Geschichte richtet, und Jano kommt es vor, als ob in der Rede des Fremden ein seltsamer Klang und manch fehlerhafter Ausdruck wäre.
Der Bonze führt mit einer Verbeugung den Gast in den Tempel hinein und Jano schreitet ihnen nach. Hier wirft er sich vor einem der Altäre nieder, klatscht in die mageren Hände und flüstert:
»Barmherzige Götter, gebet Verdienst und Nahrung dem alten Fumio. Ich leide Hunger, ich kann Euch nichts opfern, da ich nichts besitze, doch Ihr sollt Euer Opfer erhalten, sobald ich etwas mein Eigen nenne. Erhört mich, wenn nicht um meinetwillen, so doch ihnen zu liebe!« Bei diesen Worten berührt er mit der Hand das Päckchen, das er unter seinem Arm festhielt.
Er machte noch seine Verbeugung, als der Bonze ihm zurief:
»Jano, alter Jano, komm hieher, beeile Dich!«
Der Greis trat heran.
»Dieser junge Mann«, sagte der Bonze, »will einen guten Führer durch Nagasaki haben, niemand kennt sich wohl besser dort aus als Du, willst Du den Sanwo in der Stadt herumführen? Er wird es Dir gut bezahlen.«
»Natürlich, mit tausend Dank!« ruft Fumio-Jano freudig aus.
Nach der Besichtigung des Tempels gehen die neuen Bekannten zum Besuche der Stadt über. Jedoch in der Nähe des Hotels Ikka-Kuro, fühlt sich Jano plötzlich von starkem Schwindel erfaßt und muß sich auf einen Pfeiler neben dem Gehsteig niedersetzen. Er stöhnt laut auf.
»Bist Du krank, Alter?« fragte ihn der Jüngling erschrocken.
»Nein, Sanwo, ich bin nur sehr schwach und sehr hungrig«, fügt er leise hinzu. Ein paar Minuten später sitzt er im Restaurant an einem Tischchen, dem jungen Manne gegenüber. Ein eleganter Hoteldiener bringt auf einer Platte gebratene Fische, dann gebackene Austern, Dajkon mit Honig, und zuletzt Reis, der so weiß ist wie der Schnee vom Gipfel des Fudschiyama und dabei schmackhaft und nahrhaft.
Fumio-Jano genießt mit Entzücken die guten Speisen, und gekräftigt erzählt er dem jungen Manne, der währenddessen ihm einen duftenden Tee eingießt, die Geschichte von Nagasaki. Er beschreibt das Leben und Treiben der früheren Zeit, verbeugt sich dann plötzlich vor seinem Gastgeber mit der Frage:
»Entschuldiget Sanwo, meine Dreistigkeit, seid Ihr von weit hergekommen? Aus Europa vielleicht?«
»Ja«, erwidert der junge Mann, »aus England. Dort bin ich geboren. Mein Großvater mußte Japan nach der Revolution verlassen und unsere Familie ist in England geblieben.«
»Und seid Ihr, Sanwo, jetzt auf immer ins Vaterland zurückgekehrt?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin gekommen, um unseren Stammbaum hervorzusuchen. Falls ich ihn finde, erhalten wir unsere Besitztümer zurück und kommen alle wieder in die Heimat. Sonst bleiben wir weiter in London.«
»Darf ich Euern Namen wissen?« fragte Jano weiter.
»Ich heiße Takiwa-Jano!« antwortete stolz der junge Mann, »wir stammen aus dem berühmten Geschlechte der Samurais, das diesen Namen trägt. Während der Emigration sind uns unsere Papiere und Beweise verloren gegangen, denn ...«
»Was fehlt Euch, Alter«, unterbricht er seine Rede, als er sieht, wie Fumio-Jano blaß und zitternd seinen Kopf auf die Tischkante legt. Mit Mühe gelingt es dem jungen Manne den halbohnmächtigen Greis zur Besinnung zu bringen.
Dann gehen sie auf die Straße hinaus.
Schweigend führt Fumio seinen jungen Freund zum Meeresstrand bis hinter die Felsen am Hafen. Hier sagt er mit zitternder und stockender Stimme:
»Höret mich an! Als Utako-Jano, der tapfere Samurai den Schogun nicht verlassen wollte, da wurde er gezwungen, aus Daj-Nippon zu flüchten. Er überließ seinem Verwandten Tairi-Jano seinen Degen (Too), und die Rechtsurkunde auf seine Besitzung in der Ohama-Gegend. War nicht Deines Großvaters Name Utako?«
»Ja«, antwortet verwundert der Jüngling, »er hieß Utako-Jano«.
»Du bist es also! der Enkel von Utako! Den Göttern sei gedankt! Ich bin der Sohn des Tairi. Mein Vater hinterließ mir die beiden Degen des Samurai und das Dokument mit dem Rechte der Herrschaft über das Land Deiner berühmten Vorfahren. Hier nimm sie in Empfang, ich gebe sie Dir zurück, dem edlen Sproß des tapferen Geschlechtes.«
Ein Jahr später sauste ein Auto zum Suwa-Tempel und, als es vor seinem Tore stehen blieb, entstiegen ihm drei Männer, zwei ältere Japaner und ein Jüngling. Einer von den alten Herren hatte einen reichen, schwarzen Seidenkimono an, mit dem Zeichen des Edelmannes auf der Brust.
Es war Fumio-Jano.
Er kam, um seine Schuld zu begleichen, den barmherzigen Göttern das Dankesopfer darzubringen für ihren gütigen Schutz, als er damals todesschwach und elend war ...
Er kam, wie er es versprochen hatte.