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Der junge japanische Kapitän Masao-Gejo ging durch die Hauptstraße Asakusa und schaute sich aufmerksam, als suche er jemanden, nach allen Seiten um. Er schenkte der belustigten und farbenfreudigen Menge keine Aufmerksamkeit, schaute weder die schreienden Schilder der Teehäuser und der kleinen Schaubuden an, noch blickte er auf das Zirkusgebäude und auf die Bude des berühmten Magiers. Er ging gleichgültig an den Kinos, den Konditoreien und den zum Fechten und Bogenschießen bestimmten Sälen vorbei. Düster und in Gedanken versunken blickte er vor sich hin.
Zwei kleine Geishas warfen ihre Blicke auf das rassige und hübsche Gesicht des Kapitäns und sich gegenseitig mit den Ellbogen stoßend, wendeten sie sich mehrmals nach ihm um.
»Ohe!« rief eine von ihnen. »Er ist nach Asakusa-Ku, in das Viertel des Vergnügens, des Lachens und der Freude gekommen und sieht so traurig drein?«
»Die Blume der Liebe ist wahrscheinlich in seinem Herzen aufgeblüht, doch ist der Morgen noch nicht hell genug und voller Nebel,« antwortete die andere und bedeckte die Augen mit ihrem kleinen Fächer aus goldenem Papier.
Sie lachten beide und gingen weiter, ihre weißen Sandalen nachschleppend. Die Mädchen hatten Recht. In Asakusa ist für Traurigkeit kein Platz. Das riesige Stadtviertel des prächtigen Tokio ist für Vergnügen und Belustigungen aller Art eingerichtet. Alles, was sich die Seele eines Japaners zu diesem Zwecke wünscht, ist vorhanden, ganz gleich, ob es ein einfacher Landbewohner (Heimin) oder ein kultivierter Nachkomme der Samurais, ein in einem amerikanischen College oder in der Pariser Sorbonne europäisierter Gelehrter, Diplomat oder Offizier ist; sie können alle ihr Lieblingsvergnügen in dem freudig ausgelassenen Asakusa-Viertel finden.
Und doch war der Kapitän Masao-Gejo tief traurig. Als er durch die Hauptstraße des verrückten Viertels, zwischen all den Stätten des Frohsinns, an den tausend grellen Kaufläden und Buden vorbeiging, erblickte er endlich am Abhange eines Hügels, der in einen großen Park mündete, einen aus Zypressen und Hinokoholz gebauten Tempel. Die schweren, aber kunstvoll geschnitzten Dächer, gebogen, gekrümmt und bucklig, mit vielfarbigem Lack und Vergoldung bedeckt, überragten diesen Ort der Fröhlichkeit wie ein einsamer Basaltfels die Meereswellen.
Er passierte mehrere Tori (hölzerne Portale) aus dem heiligen Hinokobaume verfertigt und befand sich mit einem Schlag an einem Ort, wo alles ganz verändert war. Das Lachen, der Gesang, die Töne der Musik, die einladenden Rufe der Kaufleute und Schauspieler, die das Publikum in ihre Buden locken wollten, das Klappern der hölzernen Getas (Sandalen), all dies war plötzlich verstummt, als ob je der Schall ehrerbietig zu den Füßen des ersten Tori gefallen wäre, vom Gebete verschlungen. Die Frommen nahmen vor dem letzten Tori ihr Schuhwerk ab und glitten mit leichtem Geräusch in weichen, aus Baumwollstoff angefertigten Strümpfen auf weißen, polierten Steinfliesen in den Tempel hinein.
Etwas Unbestimmtes zog auch den jungen Offizier in diesen Tempel. Er näherte sich einem alten Bonzen, übergab ihm ein paar Sen und, nachdem er von ihm Leinwandfutterale für seine Lackstiefel bekommen hatte, ging er weiter.
Mit langsamen Schritten, hinter sich schauend, noch immer in der Hoffnung, jemand, der vielleicht hinter dem Tore zurückgeblieben war, zu erblicken, stieg Masao-Gejo die breiten Stufen des Tempels hinauf. Die Torflügel standen weit offen und die Frommen schlüpften hinein und hinaus, mit freudigen Mienen, aber in andächtigem Schweigen. Der Kapitän zwängte sich durch die betende Menge und blieb vor dem Altare stehen. Ein langer und breiter, vom Alter geschwärzter Zypressentrog, der schon fast bis zur Hälfte mit Münzen gefüllt war, trennte ihn davon. Der Kapitän warf auch sein Opfergeld hinein, näherte sich dem in der Nähe hängendem Gong und schlug dreimal darauf. Dann verneigte er sich zur Erde, ehe er zu der Statue der Göttin Kwan-Non emporblickte, die auf einer Erhöhung im Schatten einer tiefen Nische stand. Ihr Kopf mit den vielen Gesichtern, der riesige Leib mit vierzig Armen und tausenden von Händen erschien ihm deutlich und die Hände zum Gebet verschlungen, bat der Kapitän um den Schutz der Gottheit, die in ihren Händen alle Erscheinungen des Menschenlebens hält und jedes Menschenlos regiert.
Er beendigte sein kurzes Gebet mit den Worten:
»Doozo!« Ich flehe dich an.
Dann verbeugte er sich nochmals und ging dem Ausgange zu.
Im Vorraume herrschte ein fürchterliches Gedränge. Die fromme Menge fütterte das heilige Pferd der Göttin. Der Kapitän kaufte in einer Bude ein Päckchen mit gekochtem Reis und bat um etwas Papier.
»In welcher Farbe?« fragte der verkaufende Bonze.
»Rosa«, murmelte Gejo leicht verwirrt, da er damit sein Geheimnis preisgab, denn bei jeder Bitte, auf einen Bogen geschrieben, bedient man sich ihrem Inhalt entsprechend einer besonderen, dafür passenden Farbe.
Der Bonze lächelte schelmisch und reichte ihm freundlich einen schmalen Streifen eines dünnen, rosigen Seidenpapiers. Der Kapitän schrieb:
»Wende mir, o gütige Kwan-Non, die Liebe der entzückenden Kenson-San zu! Doozo!« Das letzte Wort rief er fast laut hinaus, rollte dann das Papierchen in ein kleines Röllchen zusammen, und, als er es in dem Reis versteckt hatte, trat er damit an das Pferd heran.
Das gut gefütterte, mit seinen dunklen Augen blitzende Roß streckte seinen Kopf mit der geflochtenen Mähne dem Offizier entgegen und fraß aus seiner Hand. Gejo beobachtete genau, ob auch die kleine Gebetrolle samt dem Reis vom Pferde verschluckt würde.
Dann seufzte er befriedigt auf und fühlte, wie sich seiner Seele eine wunderliche Ruhe bemächtigte. Seine Stirne glättete sich wieder und seine Augen leuchteten freudig auf, sein Atem wurde tiefer und leichter, mit erhobenem Haupte und beflügelten Schritten ging er weiter.
Und jetzt erblickte er endlich diejenige, die er so sehnsüchtig erwartet. Es war eine junge Musmé, behend wie eine kleine Eidechse, frisch und rosig wie eine Kirschblüte. Sie hatte ein einfaches, aber kostbares Kimono an, das guten Geschmack und eine höhere Abstammung verriet. Das Kimono war mit einem farbigen Obi, der rückwärts in eine große kunstvoll gebundene Schleife endigte, zusammengehalten. In der Hand hielt sie einen Sonnenschirm und einen Fächer. An ihrer Seite ging ein hochgewachsener, magerer Jüngling und schaute einfältig die Aushängeschilder der Theater und die Schaufenster der Läden an. Er sprach nur wenig zu seiner Begleiterin und ging manchmal ein paar Schritte voran, als wäre er ihr Ehemann.
Der Kapitän musterte alles mit einem raschen Blick, ordnete dann die Falten seiner Uniform, rückte seinen Säbel und seine Mütze zurecht, und, indem er auf die andere Seite der Straße hinüberging, blieb er vor der Musmé salutierend stehen.
»O Kenson-San!« rief er wie überrascht. »Sie sind hier allein in Asakusa-Ku?« Das »Allein« betonte er leicht.
»Ach nein, ich bin hier mit Jurakuscho-Dori!« antwortete sie empört, indem sie mit ihrem Fächer auf den Rücken des hageren Jünglings wies, der dumm ein riesiges Schild, das mit Tigern und Löwen bemalt war, ansah. Dann fügte sie mit unzufriedener Stimme hinzu:
»Ich gehe niemals allein außer Haus« ...
»Das weiß ich, umsomehr wundert es mich, die reizende Kenson-San hier zu treffen.«
»Ich bin nicht allein, ich habe es schon gesagt!« sagte sie und öffnete mit einer nervösen Bewegung den Sonnenschirm.
»Und ich habe es vernommen!« antwortete er. »Doch dieser ... dieser ... junge Mann schreitet vor Kenson-San, als wäre er ihr Herr und Gebieter. Er wäre nicht im Stande, ihr bei einem Unfall behilflich zu sein. Dieser Jüngling wahrlich, macht mich staunen.«
»Warum? Der junge Mann ist sehr liebenswürdig und gescheit.« Sie zuckte leicht unwillig mit den Schultern.
»O wäre ich an seiner Stelle! Ich würde meine Augen von Kenson-San nicht abwenden, jeden Schritt ihrer kleinen Füße würde ich bewachen und sie vor jedem Windeshauch schützen,« rief Masao-Gejo laut aus. »Ja, so würde ich es tun, anstatt vorauszugehen, um irgendwelche dumme Schilder anzugaffen.«
Kenson-San errötete und sah unwillkürlich mit einem Vorwurf auf die lange, dürre Gestalt Jurakuscho-Doris, die sich in der Menge hin und her wiegte. Dem Kapitän entging das Mienenspiel des Mädchens nicht und so führte er seine Attacke weiter.
»Als ich einst an Kenson-San mit der Bitte herangetreten bin, mir die Ehre zu erweisen und mit mir in den Hibia-Park zu gehen, um die Blüte der Kirschbäume anzusehen, hat sie meine Bitte abgeschlagen. Jurakuscho-Dori scheint der Glücklichere von uns Beiden zu sein: Er scheint Kenson-San schon als sein Eigentum zu betrachten und schenkt ihr keine Aufmerksamkeit mehr ganz so, wie es die Ehemänner in einer abgelegenen Provinz tun ...«
Diese Worte sagte er mit einer gewissen Empörung und beobachtete dabei das kleine Gesichtchen des jungen Mädchens, das sich mit einer jähen Röte übergoß. Sie zog die schwarzen Bogen ihrer Brauen zusammen, senkte das Köpfchen und ihre Stirn bewölkte sich.
»Jurakuscho-Dori ist mir zum Ehemann bestimmt und wird in kurzem mein Bräutigam werden. Unsere beiderseitigen Eltern wünschen diese Verbindung,« sagte sie mit einer leisen Stimme, als wollte sie sich entschuldigen.
»Wahrscheinlich wird es so, weil Kenson-San diesem reichen Kaufmanne ihre Liebe schenkt und ihn schon halbwegs als Gebieter ansieht!«
»Nein, nein!« unterbrach ihn das junge Mädchen lebhaft, indem sie ihren Kopf schüttelte und mit dem Füßchen aufstampfte. Sie wollte noch etwas hinzufügen, als sich Dori plötzlich umwandte und an sie herantrat.
Der Kapitän stellte sich vor.
Der lange Dori machte eine leichte Grimasse und als hätte er nicht verstanden, frug er:
»Kapitän ... Kapitän ...? Bitte, welcher Name?«
»Masao-Gejo ... aus einer alten Familie der Sumarais! Weiß keinen Kaufmann in unserer Familie!«
Jurakascho-Dori schien verlegen zu werden und stotterte seinen Namen heraus.
Der Kapitän hob seine Augen hinauf, als wollte er etwas in seinem Gedächtnisse finden.
»Ja ... Ja ...! jetzt weiß ich schon: Ein Lager emaillierter Hausgeschirre ... irgendwo muß ich schon das Schild »Jurakuscho-Dori« gesehen haben ...«
»Das ist nicht unser Schild! Unsere Firma exportiert Seidenwaren nach Europa!« rief der lange Jüngling lebhaft drein.
»Jedenfalls ein ›Akindo‹, ein Kaufmann, ich habe mich also nicht getäuscht,« sagte mit einem unschuldigen Lächeln der Offizier zu Kenson-San.
Sie stand da aus Ärger oder Verwirrung in Purpurröte getaucht. Als hätte der Offizier es nicht bemerkt, begann er ein Gespräch mit dem jungen Kaufmann und erzählte ihm in freundschaftlichem Tone von den großen Herbstmanövern, machte nebenbei eine geschickte Bemerkung über seine eigenen Erfolge und über seine nahe Beförderung in die Akademie des Generalstabes, die vom Fürstregenten Hiroschito selbst unterzeichnet wird.
Er erzählte dies alles in einer scheinbar leichten Weise, mit den Sporen klirrend und eine Zigarette rauchend.
Kenson-San sah er nicht an und doch fühlte er deutlich, wie sie ihre Blicke von seinem Gesicht auf die dürre Gestalt des jungen Kaufmanns übertrug.
Und jetzt verabschiedete er sich von dem jungen Mädchen und ihrem Begleiter mit der Frage:
»Was für einen Vergnügungsort haben heute Kenson-San und Jurakuscho-Dori gewählt? Wie ich höre, sollen jetzt besonders interessante Vorführungen stattfinden?«
»Wir werden in den Zirkus gehen, ein Löwenbändiger und junge Bären treten auf,« antwortete Dori mit unwilliger Stimme. »Nun müssen wir gehen. Auf Wiedersehen! Sajonara!«
»Sajonara«, sagte der Offizier und salutierte stramm.
»Warte nur du!« dachte der Kapitän im Weiterschreiten, das Paar mit seinen Blicken verfolgend, »ich gehe auch in den Zirkus und werde dich beobachten, wie du junge Mädchen zu unterhalten weißt! Das Klirren des Goldes kann einem Weibe die Musik der Liebesworte nicht ersetzen, seidene Exportfirma du! ...« Er mischte sich unter die Menge und glitt dem jungen Paare unauffällig nach. Obgleich er Grund genug hatte, sich unglücklich und eifersüchtig zu fühlen, war es ihm, als ob etwas in seiner Brust aufjauchze im Vorgefühle eines nahen Glückes.
Als er das junge Mädchen und ihren Begleiter in der Menge verschwinden sah, kaufte er sich eine Eintrittskarte und setzte sich zwei Stockwerke höher in die Nähe des jungen Paares.
Die Vorstellung begann. Auf der mit Sand und Holzabfällen bestreuten Arena führten Clowns ihre Späße vor. Akrobaten setzten das Publikum in Staunen durch ihre Kraft und Geschicklichkeit, schöne Pferde zeigten ihre Kunststücke und grellgeputzte Frauen sangen lustige Lieder und tanzten dazu.
Jurakuscha-Dori, auf die Logenbrüstung bequem gestützt, lachte laut, schrie etwas vor sich hin und wendete sich an Kenson-San nur dann, wenn sie ihn selbst anredete. Sonst sprach er nicht mit ihr. Sie wiederum bewegte unaufhörlich ihren Fächer und nahm jeden Augenblick Zuckerwerk aus einem seidenen Beutelchen, das an ihrem Armband aus Nephrit herunterhing.
Nach der Pause kam der interessanteste Teil der Vorstellung. In die Arena wurde ein Käfig aus dicken Eisenstäben gestellt. Als er fertig war, wurden auf Rollen große, aus dicken Holzklötzen gezimmerte Kisten bis zur Türe des Käfigs geschoben. Ein in seinen Bewegungen äußerst flinker Herr im dunkelblauen galonierten Rocke hob die Gitter der Holzkisten auf. Mit leichtem Sprunge liefen zwei Löwen in die Arena hinaus. Ein leichtes Gruseln lief über die Rücken der Zuschauer. Die Löwen gingen leise im Käfig herum, schauten die Menschenmenge an und sperrten gähnend ihre breiten Rachen weit auf. Sie waren sehr alt und, wie es schien, schon seit langem mit ihrem Artistenlos versöhnt; für das Träumen von den grenzenlosen Ebenen der afrikanischen Wüsten hatten sie nichts mehr übrig.
Zu ihnen gesellten sich bald zwei kleine, junge schwarze Bären, die seit ihrer Geburt für die Rolle der Clowns trainiert worden waren und durch ihre spaßigen Künste das Publikum zu ständigen Lachausbrüchen reizten. Sie tollten herum, sprangen sich gegenseitig über die Köpfe, ahmten den Gang Betrunkener nach und führten eine Menge komischer Bewegungen aus. Dabei schauten sie die Menschen von unten herauf mit einem Schelmenblick an. Die Löwen brüllten erschrecklich laut, sprangen aber trotzdem lustig über Reifen und Stühle, rollten große Lehmkugeln vor sich her und legten zahm ihre großen, mit mächtigen Mähnen geschmückten Köpfe auf den Arm des Bändigers.
Die kleinen Japanerinnen piepsten bei diesem Anblicke und verbargen sich unter die weiten Kimonoärmel der Ehemänner und Väter, ihre kleinen Gesichtchen dabei mit dem Fächer bedeckend. Es waren sogar einige darunter, die den Anblick der fürchterlichen, blutrünstigen Raubtiere nicht vertragen konnten und aufschrieen. In Wahrheit waren diese grausigen Tiere altersmüde und, als sie die Rachen aufsperrten, konnte man deutlich sehen, wie dringend sie der Hilfe der japanischen Zahnärzte bedurften.
Endlich war die Nummer zu Ende. Die alten Löwen hatten alle ihre Künste zum Besten gegeben, die kleinen, fleißigen Bären wiederum hatten das Publikum unaufhörlich zum Lachen gebracht, so daß man ihnen die Ermüdung ansehen konnte. Der galonierte Bändiger öffnete die Tür des großen eisernen Käfigs und trieb durch das Knallen der Peitsche die Tiere in ihre hölzerne Behausung zurück. Die Löwen schienen nicht ungern die Arena verlassen zu wollen, des Beifalls und Applauses müde; einer von den Bären schlüpfte lustig grunzend mit einem letzten Purzelbaum in seine Holzkiste, während der Bändiger den zweiten hineinzutreiben versuchte.
Da geschah ein Wunder ...!
Ein Wunder, das die barmherzige Göttin Kwan-Non geschehen ließ, diese Göttin, die mit ihren tausend Armen das Lebensschicksal der Menschen regiert. Masao-Gejo lernte in diesem Augenblicke die Macht der Göttin verstehen und die Kraft seines Gebetes und seines leidenschaftlichen Ausrufes »Doozo!« womit er sein Flehen im Tempel beendigt hatte.
Das kleine Bärchen, das inzwischen mit ruhigen Schritten bis zur Öffnung seines Käfiges gelangt war, machte plötzlich einen Sprung, warf die Holzkiste um und lief, durch seine Ungeschicklichkeit tödlich erschreckt, in die Arena hinein.
Es rannte einige Male auf und ab, hob sich dann auf seine Hinterbeine und sah sich bestürzt und verwundert um. Zur Verwunderung hatte es wahrlich Grund genug.
Im Publikum war eine allgemeine Panik entstanden. Die Leute liefen wie besessen dem Ausgange zu; sie schrieen, stießen sich gegenseitig und zerstampften die schon am Boden Liegenden. Das Geschrei, das Geheul, die lauten Rufe der bestürzten Zuschauer erschreckten und betäubten das kleine Tier immer mehr. Es raste in der Manege herum, auf der Suche nach einem Unterschlupf. Da erblickte es plötzlich eine Bresche in der flüchtenden Menschenmenge, warf sich hinein und lief geradeaus in die erste, nahe gelegene Loge, wo es sich zitternd verbarg. Doch vom Lärm und den lauten Rufen immer ängstlicher gemacht, lief es wieder davon, erkletterte die Brüstung, die zu der nächsten Logenreihe führte, und stapfte nach der Seite hin, wo sich die Loge der Kenson-San und des jungen Kaufmannes befand.
Jurakuscho-Dori gehörte augenscheinlich nicht zu den Mutigen. Er setzte seine langen Beine in Bewegung und stürzte behend, Bänke und Stühle überspringend, davon. In der Loge blieb die blasse, zitternde Kenson-San allein. Vor Schreck erstarrt, war sie unfähig, sich zu bewegen, als sie den schwarzen, geradeaus auf sie zulaufenden Knäuel erblickte.
Nun war der Bär nur noch zehn Schritte von ihr entfernt, da plötzlich schwang sich der aufmerksame und seiner Liebe ergebene Kapitän Masao Gejo über die Brüstung und fiel geradeaus in die Loge des bestürzten Mädchens hinein.
Kenson-San stieß einen freudigen Schrei aus und abwechselnd weinend und lachend, schmiegte sie sich an ihn mit ihrem bebenden Körper.
Seltsamerweise schien auch das Bärlein erfreut zu sein, daß es endlich ein Plätzchen gefunden, wo es keine rennenden Menschenfüße mehr sah und keine schreienden und heulenden Menschenstimmen hörte. Es blieb zu den Füßen des glückstrahlenden Kapitäns liegen und kauerte sich dicht neben seine schwarzen Lackstiefel.
Masao-Gejo warf einen ängstlichen Blick herunter und preßte die biegsame Gestalt der Musmé stärker an seine Brust. Doch, als er den erschreckten, bittenden Blick des schelmischen Bärleins sah, neigte er sich unauffällig nieder, kratzte das Tier hinterm Ohr und dachte innerlich:
»Arigato, tschisaj-kuma!« Ich danke dir, du kleiner Bär.
Er nahm fester das noch zitternde Mädchen in seinen Arm und führte es durch die Notstiege auf die Straße hinaus.
Als sie sich in der Menschenmenge befanden, hörten sie grausige Einzelheiten über den fürchterlichen Zwischenfall und über die ungewöhnliche Raubgier des riesigen, schwarzen Bären.
»Wenn es so weiter geht, kann ich mir einbilden, ein hundertköpfiges Ungeheuer hinters Ohr gekratzt zu haben!« sagte er zu sich, doch war er klug genug, seine Gedanken nicht laut auszusprechen.
Vor dem Hause der Eltern Kenson-Sans, in der stillen Schimo-Schibuja-Straße machten sie Halt. Die Musmé zögerte hineinzugehen und schwieg beharrlich. Schweigend stand auch der Kapitän vor ihr und beobachtete erfreut die Verwirrung des jungen Mädchens. Es war ein gutes Zeichen.
»Jurakuscho-Dori, Okubiona!« Ein Feigling! rief sie plötzlich aufbrausend und stampfte mit ihrem kleinen Füßchen.
»Kenson-San sollte nicht allzustrenge den liebenswürdigen jungen Mann beurteilen,« antwortete mit milder Stimme der zukünftige Offizier des Generalstabes. »Jurakuscho-Dori hatte Angst bekommen, denn diese riesigen, schwarzen Bären sind wirklich fürchterlich blutgierig ...«
»Nein! Nein, ein Feigling ist er!« und dann fragte sie leicht errötend:
»Warum besucht uns der Kapitän so selten? Kenson-San wird nicht mehr trotzig sein.«
»Was wird Jurakuscha-Dori dazu sagen?« flüsterte Masao-Gejo, sich zu ihr niederbeugend.
»Kenson-San wird ihm niemals mehr Gelegenheit geben, etwas sagen zu können.« »Und der Vater, der die reichen exportierenden Kaufleute so sehr liebt?« Kenson-San hob sich auf die Zehenspitzen ihrer kleinen, in weichen Sandalen steckenden Füßchen, legte das kleine Händchen auf den Mund des Kapitäns und berührte mit den Fingern das eigene, wie eine Granatfrucht rote Mündchen.
»Er wird allem zustimmen, wenn ich ihm vom Kapitän Masao-Gejo erzählen werde« ... flüsterte sie und floh wie ein verscheuchtes Vögelchen in das glyzinienumrankte Tor des Hauses.
Der Kapitän verblieb allein. Er hob sein Haupt zum Himmel, sah hinauf mit seinen glänzenden Augen und es kam ihm vor, als ob die strahlenden Hände der großen Göttin, die über das Menschenschicksal herrscht, sich ihm entgegenstreckten. Er flüsterte mit gerührter Stimme:
»Dank Dir, o gute, barmherzige Göttin Kwan-Non!«