E. Phillips Oppenheim
Finanzkönige
E. Phillips Oppenheim

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Kapitel 19.
Die Krisis

Virginia saß in einem kleinen, schlecht möblierten Zimmer eines großen Pensionshauses. Das Mißgeschick verfolgte sie. Ihre leere, kleine Börse und ein paar Silbermünzen lagen auf dem Tisch. Das Paket Banknoten, das ihr Kapital gebildet hatte, war hoffnungslos und unwiederbringlich verschwunden. Sie sah sich einer Katastrophe gegenüber. Sie hatte die Scheine in ihren Koffer eingeschlossen, als sie noch in Coniston Mansions wohnte, aber sie hatte niemals daran gedacht, daß es einem Hoteldieb gelingen würde, ihr diese Barschaft zu stehlen und das Bündel Banknoten gegen eine Rolle Papier zu vertauschen. Zuerst wollte sie zur Polizei gehen, aber diesen Gedanken gab sie bald wieder auf. Sie hatte keine Ahnung, wann oder wo der Diebstahl geschehen war. Traurig und bestürzt dachte sie darüber nach, daß die paar Schillinge, die sie noch hatte, nicht einmal für die Miete ausreichten, die sie schon schuldig war.

Sie trat ans Fenster und schaute über die düsteren Dächer der Häuser. In ihren Augen standen Tränen, und eine tiefe Hoffnungslosigkeit packte sie. Wie elend hatte sie Schiffbruch erlitten! Der Wahnsinn ihrer Reise und ihres ganzen Planes wurde ihr jetzt klar. Reuevoll dachte sie an die wenigen glücklichen Stunden zurück, die sie hatte verleben dürfen. Ob Guy versucht hatte, sie wiederzufinden, nachdem sie aus dem Hotel geflohen war? Auf jeden Fall würde sie ihn nicht wiedersehen. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, nach Amerika zurückzukehren. Sie sah zu den wenigen Geldstücken hinüber und fragte sich, wie sie nun weiterkommen sollte. Aber es gab ja auch noch einen anderen Ausweg aus all ihren Sorgen und Schwierigkeiten. Welchen Zweck hatte das Leben noch für sie, wenn sie nichts mehr erhoffen konnte? Sie öffnete das Fenster und sah hinunter. Die große Höhe machte sie schwindlig. Aber trotzdem blickte sie fasziniert auf das Steinpflaster des kleinen Hofes. Wahrscheinlich war man sofort tot. Sie lehnte sich ein wenig weiter hinaus, aber dann packte sie plötzlich ein Grauen vor dem Selbstmord. Schon um ihrer Familie willen durfte sie das nicht tun. Ruhelos wanderte sie in dem kleinen Raum auf und ab. Sie mußte irgendetwas unternehmen. Schließlich ging sie auf die Straße hinaus. Trotzdem sie von mindestens einem halben Dutzend Detektiven gesucht wurde, hatte man sie noch nicht entdeckt. Sie selbst hatte sich bisher keine besondere Mühe gegeben, sich zu verbergen, denn sie wohnte hier in einer wenig vornehmen Gegend. Jetzt machte sie sich auf den Weg zu einem Passagebüro. Sofort kam ein junger Mann auf sie zu und fragte sie nach ihren Wünschen.

»Ich möchte nach Amerika zurückfahren, habe aber kein Geld. Meine ganze Barschaft ist mir gestohlen worden. Kann ich eine Fahrkarte bekommen und sie später bei meiner Ankunft bezahlen? Natürlich zweiter Klasse.«

Der Herr sah sie etwas sonderbar an.

»Sie haben wohl keine Freunde in London, an die Sie sich wenden könnten?«

»Nein, keinen einzigen.«

»Aber warum senden Sie denn kein Telegramm? Man kann Ihnen doch von Amerika aus telegrafisch Geld anweisen.«

»Das möchte ich nicht tun.«

Der junge Mann zuckte die Schultern.

»Dann bleibt nur übrig, daß Sie sich an Ihre Gesandtschaft wenden. Es wäre möglich, daß man Ihnen dort das Geld vorstreckt.«

Virginia verließ das Büro nachdenklich. Warum sollte sie das nicht tun? Mr. Deane war ein Freund ihres Onkels. Vielleicht würde er ihr das Geld leihen; sie konnte es ihm ja später zurückschicken. Kurz entschlossen begab sie sich zu der Gesandtschaft in Ormande Gardens und verlangte Mr. Deane zu sprechen. Der Diener, der sie eingelassen hatte, zögerte zunächst einen Augenblick.

»Es ist augenblicklich niemand vom Gesandtschaftspersonal anwesend, und Mr. Deane selbst hat gerade Besuch von einem Herrn. Wenn Sie solange in das Wartezimmer treten wollen, werde ich ihn fragen, ob er Sie einen Augenblick sprechen kann, wenn der Herr gegangen ist.«

Virginia setzte sich und wartete. Der Tisch war mit illustrierten Zeitungen bedeckt, aber sie nahm keine auf. Sie saß auf ihrem Stuhl und spielte nervös mit den Fingern. Dann hörte sie plötzlich draußen Stimmen und wurde aufmerksam. Die Tür stand etwas offen, und die beiden Herren blieben gerade davor stehen.

»Natürlich weiß ich nicht, was Sie damit anfangen wollen«, sagte der eine. »Aber wenn Sie meinem Rate folgen, finden Sie bald ein sicheres Versteck. Es tut mir unendlich leid, daß ich Ihnen nicht länger helfen kann. Aber ich weiß, daß Sie mich nicht in Gefahr und Unannehmlichkeiten bringen wollen.«

»Nein, das ist nicht meine Absicht«, entgegnete Vine.

»Ich werde heute abend wohl ein Kabelgramm abschicken, das ein kleines Vermögen kostet.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Das ist eine Angelegenheit, deren Folgen man nicht voraussehen kann. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Glück. Nehmen Sie sich vor allem während der nächsten Stunden persönlich in acht.«

Dann hörte Virginia, daß sich die beiden verabschiedeten, und daß der eine das Haus verließ. Der andere kehrte zu dem Zimmer zurück, aus dem er gekommen war. Virginia zögerte keinen Augenblick länger. Auf Zehenspitzen schlich sie sich in die Halle hinaus. Der Diener, der Vine eben hinausgelassen hatte, stand noch an der Haustüre.

»Ich möchte nicht länger warten«, sagte sie. »Ich werde morgen wiederkommen und mit einem der Sekretäre sprechen.«

Der Mann ließ sie ohne weitere Frage hinaus, und sie sah gerade noch, wie Vine um die Straßenecke bog. Sie folgte ihm atemlos, blieb dann stehen und rief ein Auto an.

»Coniston Mansions!« rief sie dem Chauffeur zu. »Bitte, fahren Sie so schnell wie möglich!«

Nach kurzer Zeit langte sie dort an, ging eilig durch die Halle und zum Fahrstuhl. Der Portier kam auf sie zu.

»Mehrere Leute haben nach Ihrer Adresse gefragt, seitdem Sie fort sind«, bemerkte er.

»Ich werde sie zurücklassen, bevor ich wieder gehe«, erwiderte sie schnell.

Im fünften Stock stieg sie aus dem Lift und ging direkt zu Norris Vines Räumen. Sie war bleich, und sie fühlte eine entsetzliche Abneigung, diese Wohnung wieder zu betreten. Trotzdem zog sie einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und fand, daß sie zuerst angekommen war. Norris Vine brachte das Dokument hierher zurück. Das war ihre letzte Chance.

Rechts von der äußeren Türe stand ein kleiner Kleiderschrank, das einzige Versteck, das sich ihr bot. Sie öffnete ihn mit klopfendem Herzen, trat hinein und zog die Tür soweit wie möglich zu. Gleich darauf wurde auch schon die Türe zum Vorplatz aufgeschlossen. Virginia kauerte sich in eine Ecke und hielt den Atem an, als Vine in das Wohnzimmer ging. Sie hörte, daß er Hut und Mantel ablegte und einen Stuhl an den Tisch zog. Er war also im Begriff, den Text seines Telegramms zu schreiben!

 


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