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Wenn Phineas Duge auch so reserviert blieb, daß zwischen ihm und den anderen stets eine Schranke stand, so war er doch ein ausgezeichneter Gastgeber und ein vorzüglicher Gesellschafter. Er saß an der Spitze der Tafel und machte einen sehr vornehmen Eindruck in seinem streng modernen Anzug.
Virginia beobachtete ihn von ihrem Platze aus und mußte ihn fast gegen ihren Willen bewundern. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß ihre persönliche Begeisterung für ihn in gewisser Weise nachgelassen hatte. Sie war sich jetzt der Tatsache bewußt, daß er trotz aller Liebenswürdigkeit ihr doch innerlich kalt gegenüberstand. Sie hatte noch niemals ein Zeichen von Zuneigung ihr oder anderen Leuten gegenüber bemerkt, mit denen er in Berührung kam, und sie wußte sehr wohl, wie die Welt über ihn urteilte. Die Zeitungen schrieben von seinem unbeugsamen Willen, von seiner Herzlosigkeit, von seiner Strenge, seinem zähen Charakter und seinem maßlosen Ehrgeiz. War er wirklich so? Hatte sie ihr erster Eindruck getäuscht? Aber dann schämte sie sich solcher Gedanken und dachte beglückt an die frohen, liebevollen Briefe, die sie jetzt von zu Hause erhielt. Sie hatte ihre Eltern und ihre Familie trotz aller Entbehrungen immer zärtlich geliebt. Sie sah auf ihr kostbares Perlenhalsband, auf ihr prachtvolles Kleid und allen Luxus, der sie umgab, und an den sie sich so rasch gewöhnt hatte. Es war besser, daß sie nicht über die Zukunft nachdachte und nicht grübelte, sondern ihrem Onkel dankbar war für alles, was er ihr bot.
Zum Abend waren nur Herren eingeladen, und obwohl sich die Unterhaltung um allgemeine Dinge drehte, ahnte Virginia doch, daß sie sich zu einem bestimmten Zweck getroffen hatten, und daß diese gesellschaftliche Veranstaltung einen besonderen Grund hatte. Mehr als einmal sprachen die Herren leise miteinander, und es wurden Andeutungen gemacht, die sie nicht verstand. Mancher zweifelnde Blick streifte sie. Ihr Onkel bemerkte es und lehnte sich etwas in seinem Sessel vor.
»Meine Nichte wird in meinem Hause den Platz einnehmen, den ich einst für meine Tochter bestimmt hatte«, sage er laut. »Sie können in ihrer Gegenwart alle geschäftlichen Angelegenheiten offen besprechen. Es ist notwendig, daß jemand in meinem Hause lebt, der über jeden Zweifel erhaben ist, und dem ich vollständig vertrauen kann.«
Als sich alle nach ihr umwandten, wurde Virginia ein wenig verlegen. Aber sie erkannte, daß es besser war, nichts dazu zu sagen. Zwei Herren hatte sie heute zum erstenmal kennengelernt. Stephen Weiß war der Präsident eines großen Trusts. Er hatte eine große, hagere Gestalt und undurchdringliche Gesichtszüge. Seine Augen verbargen sich hinter einer dicken Brille. Higgins kontrollierte mehrere Eisenbahngesellschaften. Dann waren noch Littleson und Bradley da, zwei mehrfache Millionäre, die in der Politik eine große Rolle spielten. Alle diese Leute besaßen eine fast unbegrenzte Macht. Wenn man der demokratischen Presse Glauben schenken wollte, so waren sie es, die von dem Reichtum des Landes lebten und den Staat ausnutzten. Littleson lehnte sich jetzt zu ihr und sprach sehr liebenswürdig.
»Ich bin sicher, daß Ihr Onkel eine vorzügliche Wahl getroffen hat. Es gibt Geheimnisse, die zu groß sind, als daß sie nur einem Menschen anvertraut sein dürften. Und außerdem –«
Phineas Duge hob abwehrend die Hand.
»Über das andere können Sie jetzt noch nicht sprechen. Ich habe meiner Nichte bisher die Einzelheiten noch nicht genauer erklärt. Wir wollen den Kaffee in der Bibliothek nehmen.« »Bitte«, er wandte sich an Virginia, »komme in eineinhalb Stunden zu uns, nicht früher.«
Sie zog sich in den kleinen Salon zurück. In der Gesellschaft dieser Herren hatte sie sich etwas bedrückt gefühlt und war froh, daß sie ein wenig allein sein konnte. Sie setzte sich an den Flügel und spielte Chopin. Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein junger Mann trat in das Zimmer.
»Verzeihen Sie, wenn ich störe. Ich habe doch die Ehre, mit Miß Longworth zu sprechen?«
Sie stand sofort auf. Der Herr trug keinen Frack und hatte einen Filzhut in der Hand, benahm sich aber tadellos und schien ein Gentleman zu sein.
»Ja, gewiß. Sie wollen wahrscheinlich meinen Onkel sprechen? Es war ein Fehler, daß man Sie hierher führte.«
»Nein, durchaus nicht«, entgegnete er mit einem bezaubernden Lächeln. »Ich weiß, daß Ihr Onkel sehr beschäftigt ist, deshalb nahm ich mir die Freiheit, Sie um eine Unterredung zu bitten. Es handelt sich um eine so geringfügige Sache, daß es sich nicht lohnt, Ihren Onkel deshalb zu stören. Mein Name ist Carr und ich komme von der Redaktion der ›Sun‹. Ich wollte Sie nur bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Sie sind ein Zeitungsreporter?« fragte sie scharf.
»Ja, Ihr Onkel hat heute abend ein Essen gegeben, und meine Zeitung möchte zu gerne erfahren, wen er dazu eingeladen hat.«
»Ich kann nicht einsehen, was das Ihre Zeitung angeht.«
Er lächelte nachsichtig.
»Miß Longworth, Sie sind noch nicht lange genug in New York, um das Leben hier zu verstehen. Ihr Onkel ist ein berühmter Mann und das Publikum, das heute Zeitungen kauft, interessiert sich selbst für die geringsten Kleinigkeiten, die ihn betreffen. Ich bin tatsächlich hierhergekommen, um mich darüber zu informieren. Ich hätte natürlich auch die Dienstboten fragen können, aber ich ziehe es vor, Familienangehörige um Auskunft zu bitten. Mr. Weiß ist doch heute abend bestimmt hier?«
Virginia zögerte, aber nur einen kurzen Augenblick. »Ich möchte Sie doch bitten, sich direkt an meinen Onkel zu wenden.«
»Aber das wäre doch zu rücksichtslos«, erwiderte er liebenswürdig. »Wir können ihn doch nicht gut wegen solcher Kleinigkeiten stören, und Sie begehen doch keine Indiskretion, wenn Sie mir die Namen der Gäste mitteilen. Die meisten Leute schicken die Liste ihrer Gäste freiwillig zu den Redaktionen.«
»Ich weiß nicht, ob mein Onkel das wünscht. Auf jeden Fall sage ich nichts ohne seine Einwilligung.«
Der junge Mann runzelte leicht die Stirne. Seine Aufgabe war nicht so leicht, wie er es sich gedacht hatte.
»Nun gut, ich kann die Namen Ihrer Gäste ja von der Dienerschaft erhalten, ohne Ihren Onkel zu belästigen. Es muß sehr interessant für Sie sein, Miß Longworth, die Unterhaltung dieser berühmten Leute zu hören.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe nicht die Hälfte von allem, was gesprochen wird.«
»Sicher hat man doch auch bei Tisch von dem Gesetz zur Unterdrückung der Trusts gesprochen, das in einigen Wochen vor den Senat kommt. Sicher haben die Herren interessante Äußerungen darüber gemacht.«
Virginia ging ruhig zur Türe, und bevor der junge Mann ihre Absicht merkte, hatte sie dem Diener schon geklingelt.
»Es ist unverschämt von Ihnen, mich so zu überfallen. Bitte, verlassen Sie das Haus.«
Er zuckte die Achseln und wandte sich zum Gehen. Sein Gesichtsausdruck blieb jedoch vollkommen liebenswürdig.
»Seien Sie bitte nicht ärgerlich, Miß Longworth. Ich tue nur meine Pflicht. Wir müssen eben alle Dinge herausbringen, sonst erhalten wir eine solche Stellung in der Redaktion nicht. Wir hatten erfahren, daß Sie erst vor kurzem vom Lande hierhergekommen waren und vielleicht bereit wären, uns einige Auskunft zu geben.«
»Meiner Meinung nach war es durchaus nicht fair, diesen Versuch zu machen.«
»Von Ihrem Standpunkt aus mag das richtig sein. Aber jede Partei ist über die Absichten der anderen genau unterrichtet. Man kann in New York nichts absolut geheimhalten. Männer wie Ihr Onkel, die ihr Leben und ihre Handlungen verheimlichen wollen, brauchen viel Kraft und Mühe, um uns hinters Licht zu führen. Sie geben sich die größte Mühe, alle Nachrichten von uns fernzuhalten, und gebrauchen die Presse nur zu ihrem Vorteil. Da müssen wir unsererseits natürlich auch sehen, soviel Nutzen wie möglich herauszuschlagen. Gute Nacht, Miß Longworth.«
Als er das Zimmer verlassen hatte, ging Virginia wieder zum Flügel, aber ihre Finger zitterten, und sie konnte nicht mehr spielen. Sie nahm ein Buch und versuchte zu lesen, aber auch das gelang ihr nicht. Schließlich erhob sie sich, um zu den Herren zu gehen. Die eineinhalb Stunden waren vorüber.