E. Phillips Oppenheim
Finanzkönige
E. Phillips Oppenheim

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Kapitel 6.
Wieder Mr. Mildmay

Am dritten Abend, den Virginia in London zubrachte, war sie sehr entmutigt. Weder auf der Gesandtschaft, noch in dem Klub, in dem Norris Vine sonst verkehrte, hatte sie Nachricht von ihm erhalten können. In New York hatte sie sich von seinem Diener eine Liste der verschiedenen Plätze verschafft, wo man ihn eventuell treffen konnte, und hatte nun systematisch mit ihren Nachforschungen begonnen. Aber bis jetzt hatte sie nicht den geringsten Erfolg gehabt. Allmählich begriff sie die Schwierigkeit, wenn nicht gar die Hoffnungslosigkeit ihres Unternehmens. Selbst wenn sie ihn fand, auf welche Weise sollte sie ihn veranlassen, das Dokument zurückzugeben?

Obwohl ihr Wesen bescheiden und zurückhaltend war, und sie sich stets unauffällig kleidete, machte sie nur schlechte Erfahrungen. Die Kellner betrachteten sie von der Seite, wenn sie einen einzelnen Tisch verlangte. Häufig war sie die einzige einzelne Dame, und alle Leute starrten sie an, als ob sie zur Halbwelt gehörte.

Wirkliche Abenteuer hatte sie wenig erlebt, aber eines Nachmittags wurde sie plötzlich mitten in ein aufregendes Ereignis gerissen. Sie saß in einem Café in der Regent Street in der Nähe der Türe und konnte von ihrem Platze aus alle Leute sehen, die das Lokal betraten und verließen. Direkt hinter ihr saßen zwei Herren, die ihr beide fremd waren und sich dauernd leise miteinander unterhielten. Nur ganz zufällig hörte sie, daß der Name Norris Vine erwähnt wurde.

Ihr Herz schlug schneller, aber sie beherrschte sich und drehte sich nicht um. Nach einer kleinen Weile schob sie ihren Stuhl ein wenig zurück und sagte dem Kellner, daß es zöge. Dann nahm sie eine französische Zeitung auf, die jemand hatte liegen lassen, und lauschte angestrengt. Sie wußte von den beiden nur, daß der eine klein, glattrasiert und gutgekleidet war, und daß der andere groß, gesund und kräftig aussah. Offenbar sprach jetzt der erstere.

»Es ist eine Sache, die fünftausend Pfund wert ist«, hörte Virginia. »Zweitausendfünfhundert für jeden. Ohne Risiko. Der Mann ist hier wenig bekannt und hat keine Freunde. Er wohnt in einem Hotel, zu dem man sich leicht Zugang verschaffen kann. Zwei Fahrstühle halten in jedem Stockwerk, und außerdem gibt es noch verschiedene Aus- und Eingänge. Er lebt ganz allein.«

Die Stimmen wurden wieder leiser, und Virginia verstand nichts mehr. Sie rief einen Kellner an und bestellte etwas, ohne eigentlich selbst zu wissen, was sie tat. Schließlich gelang es ihr wieder, ein paar Worte aufzufangen.

»Wenn wir ihn natürlich in New York hätten, wäre die Sache furchtbar einfach. Wahrscheinlich weiß er das selbst und ist deshalb hierhergegangen.«

»Weiß er denn, daß er in Gefahr ist?«

»Nun, es wird ihm wohl klar sein, daß er sein Leben riskiert. Das hat er doch schon vor seiner Abreise nach Europa gewußt. Er wird die ganze Zeit beobachtet, und soviel ich gesehen habe, ist er schon reichlich nervös geworden. Es ist sein eigener Fehler, wenn es ihm schlecht geht. Er hat ein verwegenes Spiel gespielt, aber er hat nicht alle Trümpfe in der Hand.«

Virginia schob ihren Stuhl behutsam noch etwas weiter zurück. Offenbar hatte sie den Verdacht der beiden anderen nicht dadurch erregt, denn kurz darauf hörte sie eine genaue Angabe.

»Nr. 57, Coniston Mansions. Es ist sehr leicht, dort Zutritt zu bekommen. Fast alle Leute, die dort wohnen, stehen irgendwie in Verbindung mit der Bühne, so daß zwischen halb acht und elf fast kein Mensch da ist. Wir wissen ganz genau, was er heute abend vorhat. Er ißt in seinem Klub zu Abend und geht dann kurz vor elf zurück, um sich zu einem Empfang auf der amerikanischen Gesandtschaft umzuziehen.«

»Heute abend ist es noch zu früh«, erwiderte der andere. »Ich muß Zeit haben, mir erst den Platz anzusehen, und muß genau wissen, von welcher Seite Gefahr drohen könnte. Auch der Rückzugsweg muß vorher genau festgestellt sein. Es gibt noch viele, kleine Einzelheiten, die vorbereitet sein müssen, wenn die Sache Erfolg haben soll.«

»Jeder Aufschub ist gefährlich. Die Belohnung ist groß, aber sie kann auch jeden Augenblick zurückgezogen werden.«

Virginia bemerkte, daß die beiden das Lokal bald verlassen wollten, rief deshalb den Kellner, zahlte und trat auf die Straße hinaus. Sie ging langsam zu ihrer Pension, die in der Nähe des Britischen Museums lag. Dort begab sie sich gleich auf ihr Zimmer und setzte sich in einen Sessel, um nachzudenken. Diese beiden Leute waren wahrscheinlich von Littleson engagiert und wollten offensichtlich in dieser Nacht den Versuch machen, Norris Vine beiseitezuschaffen.

Wenn sie ihrem ersten Impuls gefolgt wäre, hätte sie ihn gewarnt. Aber sie hatte auch noch andere Gründe. Das Dokument, das Vine besaß, durfte nicht in andere Hände fallen, sonst war die Lösung ihrer eigenen Aufgabe vereitelt. Littleson und seine Freunde würden das Schriftstück zweifellos sofort vernichten.

Zuerst dachte sie daran, Vine zu telegraphieren, aber dann fiel ihr ein, daß es schon nach sechs war, und daß Vine erst nach dem Abendessen in seine Wohnung zurückkehren wollte. Es blieb ihr nur ein Ausweg: sie mußte ihn persönlich warnen. Wenn sich andere Leute Zutritt zu seiner Wohnung verschaffen konnten, so würde ihr das auch nicht unmöglich sein. Es war nur notwendig, eher zu kommen.

Sie zog sich um und ging dann aus, um in einem einfachen Restaurant zu speisen. In dem hübsch eingerichteten Lokal verkehrten Künstler und Schauspieler, aber selbst hier erregte die Tatsache Aufsehen, daß sie allein in das Lokal gekommen war.

Nach einiger Zeit nahmen drei Herren an einem Tisch ihr gegenüber Platz, die offenbar zuviel getrunken hatten. Sie bestellte und nahm weiter keine Notiz von den Leuten. Aber ihre Gleichgültigkeit genügte nicht, um den einen abzuschrecken. Sie sah, wie er einen Kellner herbeiwinkte und etwas auf eine Karte schrieb. Gleich darauf trat der Kellner zögernd an ihren Tisch, murmelte eine Entschuldigung und reichte ihr die Karte. Ohne einen Blick darauf zu werfen, riß sie das Papier in Stücke.

Plötzlich hörte sie dicht neben sich eine bekannte Stimme.

»Miß Longworth, würden Sie gestatten, daß ich an Ihrem Tisch Platz nehme? Ich verspreche Ihnen, daß ich Sie in Ruhe lasse. Sie sind dann vor den Unverschämtheiten dieser Leute besser geschützt.«

Virginia erkannte zu ihrer Freude, daß Mr. Mildmay vor ihr stand.

Erfreut sah sie ihn an und reichte ihm die Hand.

»Ach, es ist so schön, daß ich Sie wiedersehe!«

»Ich freue mich ebenso wie Sie, Miß Longworth«, entgegnete er herzlich. »Aber wenn ich offen sein soll, so hätte ich Sie lieber in einer anderen Umgebung getroffen.«

Sie errötete und seufzte tief auf. Er war in Abendkleidung und sah darin noch vorteilhafter und besser aus als auf dem Dampfer.

»Vielleicht hätte ich nicht gestatten sollen, daß Sie sich zu mir setzen, wenn es Sie kompromittiert. Bitte sagen Sie es nur, wenn es Ihnen unangenehm ist.«

Aber er legte seinen Mantel ab, setzte sich und griff zu der Speisekarte.

»Haben Sie schon bestellt?« fragte er.

Sie nickte.

»Es tut mir leid, daß ich schon mit dem Essen begonnen habe, aber ich habe es nicht sehr eilig. Sie können mich noch einholen.«

Nachdem er dem Kellner einen Auftrag gegeben hatte, wandte er sich wieder zu ihr.

»Sie müssen nicht so mit mir sprechen. Sie wissen doch, daß ich Sie nur vor solchen Angriffen schützen möchte. Können Sie denn keinen Begleiter mitnehmen, wenn Sie durchaus in solchen Lokalen verkehren müssen?«

Sie lachte leicht auf.

»Nein. Aber vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage, daß meine Nachforschungen heute abend wahrscheinlich zu Ende sein werden.«

»Das freut mich aufrichtig. Aber dann fahren Sie wohl wieder nach Amerika zurück? Das ist allerdings nicht erfreulich.«

»Macht Ihnen das wirklich etwas aus?«

»Wie können Sie nur so gleichgültig fragen!« erwiderte er bitter. »Wenn Sie wüßten, wie ich in der letzten Woche meine Zeit zugebracht habe! Ich bin in keinen meiner Clubs gegangen, habe keinen meiner Freunde gesehen, alle Einladungen abgelehnt und habe ein Café nach dem anderen besucht, weil ich hoffte, Sie irgendwo zu treffen.«

»Aber Mr. Mildmay!« sagte sie erschrocken.

»Sehen Sie mich nicht so ängstlich an. Vielleicht habe ich mich Ihnen am letzten Tage auf dem Dampfer dadurch unangenehm gemacht, daß ich Ihnen meinen Rat aufdrängte, aber jetzt bin ich zufrieden, daß Sie so sind, wie Sie sind. Virginia, Sie brauchen einen Menschen, der für Sie sorgt! Heiraten Sie mich doch!«

Sie setzte das Glas, das sie schon halb zum Munde erhoben hatte, wieder ab, und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Ihre Lippen zitterten.

 


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