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Guy half Virginia aus dem großen, luxuriösen Wagen und führte sie die Treppe zu dem großen Haus am Grosvenor Square hinauf.
»Du fürchtest dich doch nicht etwa, Liebling?« fragte er.
»Doch«, gab sie offen zu.
Er streichelte beruhigend ihren Arm.
»Armes Kind! Ich bin aber sicher, daß dir meine Tante gefallen wird.«
Das große Haustor öffnete sich. Ein Diener trat beiseite und ließ sie eintreten. Dann trat ein älterer Mann in einer einfachen, schwarzen Livree aus einem kleinen Büro.
»Ich hoffe, daß Durchlaucht sich wohl befinden?«
»Jawohl, ich danke Ihnen, James. Ist meine Tante zu Hause?«
»Sie befindet sich im Morgensalon«, entgegnete der Alte und streifte Virginia mit einem raschen Blick. »Darf ich Sie anmelden?«
»Ist sie allein?«
»Im Augenblick ja.«
Guy führte Virginia durch die Halle, klopfte an eine Türe und trat dann ein. Eine große, stattliche Dame mit grauen Haaren saß auf einem Sofa. Ein Teetisch stand neben ihr. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und Mildmay war sprechend. Sie reichte ihrem Neffen die Hand, die er mit einer Verbeugung zu den Lippen führte.
»Liebe Tante, kannst du eine große Überraschung vertragen?«
»Das hängt ganz davon ab«, erwiderte sie und betrachtete Virginia. »Meine Nerven sind nicht mehr so stark wie früher. Aber sprich nur.«
»Es ist eine große Sache, die mich zu dir führt. Aber ich habe bestimmte Gründe, die ich dir später erklären werde. Ich habe Miß Virginia Longworth hierhergebracht, um sie dir vorzustellen. Ich möchte dich bitten, lieb und freundlich zu ihr zu sein, denn sie hat versprochen, mich zu heiraten.«
Lady Medlincourt reichte dem jungen Mädchen ihre schlanke, schmale Hand und machte ihr neben sich auf dem Sofa Platz.
»Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Wollen Sie etwas Tee haben? Guy, klingle doch nach dem Diener, damit er frischen Tee bringt. Sie wollen also wirklich meinen Neffen heiraten?«
Virginia schaute ihr einen Augenblick ins Gesicht. »Ja. Hoffentlich sind Sie nicht zu ärgerlich darüber.«
»Ärgerlich! Mein liebes Kind, ich bin nie ärgerlich«, erklärte Lady Medlincourt, »Ich bin so alt geworden, daß ich mir nicht mehr den Luxus gestatten kann, mich aufzuregen. Aber Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich ein paar Fragen stelle? Zuerst möchte ich einmal wissen, wer Sie sind.«
Guy lehnte sich ein wenig vor.
»Sie wird in kurzem die Herzogin von Mowbray sein. Bitte, vergiß das nicht, Tante.«
Lady Medlincourt zog die Augenbrauen hoch.
»Nein, das vergesse ich durchaus nicht, dazu ist die Angelegenheit doch viel zu ernst. Einen Augenblick, ich will nur Auftrag geben, daß wir ungestört bleiben.«
Sie ging zur Türe und ließ die beiden kurze Zeit allein. Sie wechselten einen schnellen Blick, und er mußte über Virginias Gesichtsausdruck lachen. »Laß dich nicht abschrecken«, sagte er. »Du wirst dich noch sehr gut mit meiner Tante verstehen. Sie ist zuerst ein wenig merkwürdig und zeigt ihre Gefühle nicht. Aber im Innern ist sie wirklich sehr gut, Liebling.«
»Sie scheint mich aber doch erst examinieren und prüfen zu wollen.«
»Mach dir keine Sorgen, das ist ihre Art. Du wirst dich sicher bald hier wohlfühlen.«
Virginia schüttelte den Kopf.
»Nein, die Atmosphäre hier sagt mir nicht zu.«
Er nahm ihre Hand in die seine.
»Du kleine Närrin, soll ich dir einen Kuß geben?«
»Ach nein, laß das bitte. Willst du mich auch wirklich heiraten? Wirst du das niemals bereuen?«
»Nein, niemals. Aber du?«
»Ich auch nicht.«
Lady Medlincourt kam wieder herein und setzte sich auf das Sofa. Sie forderte Guy durch eine Handbewegung auf, ihr gegenüber Platz zu nehmen. »Nun bleiben wir wenigstens eine Viertelstunde lang ungestört. Ich freue mich, daß Sie so schön sind«, wandte sich die alte Dame an Virginia. »Nichtssagende Gesichter kann ich nicht leiden. Wie war doch Ihr Name?«
»Virginia Longworth«, entgegnete sie und errötete ein wenig.
»O, das ist ein hübscher Name.« Lady Medlincourt schloß ihr Lorgnon, »Erzähle mir doch bitte alles über sie, Guy.«
»Aber liebe Tante, wir sind noch nicht verheiratet«, entgegnete er lachend.
Seine Tante nickte.
»Zweifellos wirst du später noch viel an ihr zu entdecken haben. Aber wir wollen es anders ausdrücken. Sage mir alles, was ich von der späteren Herzogin von Mowbray wissen muß.«
»Was willst du denn zum Beispiel erfahren?«
»Ich möchte gern Näheres über Ihre Familie hören. Sie sind doch Amerikanerin, wie ich nach Ihrer Aussprache vermute? Man kann Ihren fremden Akzent kaum hören, aber ich habe ihn doch entdeckt. Sie sehen auch etwas ausländisch aus. Solche Augen findet man in England selten.«
»Ja, ich bin Amerikanerin.«
»Wo haben Sie meinen Neffen kennengelernt? Wo sind Sie einander vorgestellt worden?«
Virginia wurde ein wenig bleich.
»Lady Medlincourt, es tut mir leid, aber ich kann im Augenblick Ihre Fragen nicht beantworten.«
Die alte Dame lehnte sich etwas zurück und sah das junge Mädchen erstaunt an.
»Das verstehe ich nicht.«
»Meine liebe Tante,« bat Guy, »ich habe Virginia versprochen, daß sie wenigstens für die erste Zeit nicht mit Fragen gequält werden darf. Ich traf sie während der Überfahrt von Amerika auf dem Dampfer. Das ist alles, was wir dir im Augenblick verraten können.«
Lady Medlincourt sah bestürzt von einem zum anderen.
»Aber ich belästige sie doch gar nicht mit Fragen. Sie kann mir doch ruhig Auskunft über ihre Familie geben?«
»Ihre Verwandten werden in Zukunft auch meine Verwandten sein.«
Die alte Dame holte tief Atem.
»Du kennst sie also erst drei Wochen?«
»Das ist lang genug. Ich weiß, daß sie die Frau ist, auf die ich mein ganzes Leben lang gewartet habe.«
»Wie kannst du von deinem ganzen Leben sprechen, wenn du doch erst achtundzwanzig Jahre alt wirst? Hast du mir wirklich nichts anderes zu sagen? Bringst du mir dieses hübsche junge Mädchen im Ernst hierher und verlangst von mir, daß ich sie als deine Verlobte anerkennen soll, ohne mir die geringste Kleinigkeit über ihr Vorleben zu sagen? Ich möchte doch wissen, wer sie ist, und aus welcher Familie sie stammt.«
Virginia erhob sich.
»Guy, wir hätten nicht hierherkommen sollen. Lady Medlincourt hat gewiß ein Recht, diese Frage zu stellen, und bis wir sie beantworten können, dürfen wir nicht hier erscheinen.«
Guy nahm ihre Hand.
»Tante, kannst du meinem Urteil nicht ein wenig trauen? Sieh dir Virginia doch an! Sie ist das Mädchen, das ich liebe. Ich werde sie heiraten. Kannst du dich nicht wenigstens für den Augenblick damit zufriedengeben?«
Die alte Dame schüttelte den Kopf,
»Nein, Guy. Sei doch nicht töricht. Die zukünftige Herzogin von Mowbray muß ihre Herkunft nachweisen können. Ich muß wissen, ob sie aus anständiger Familie stammt, oder ob sie eine hergelaufene Choristin ist. Heutzutage nimmt man es ja nicht mehr so streng wie früher. Sie mag sein, was sie will, aber ich muß es wissen. Glauben Sie nicht, daß ich brutal bin, mein Liebling. Ihre Erscheinung und Ihr Wesen gefallen mir, und wir werden sicher sehr gute Freunde werden. Aber wenn Sie wünschen, daß ich Sie als die zukünftige Frau meines Neffen ansehen soll, so müssen Sie bedenken, daß die Stellung, die er Ihnen gibt, auch Verpflichtungen und nicht nur Annehmlichkeiten mit sich bringt. Sie müssen sprechen und meine Fragen beantworten. Sonst kann ich leider nichts für Sie tun.«
Virginia wandte sich an Guy.
»Deine Tante hat recht. Es mag sonderbar klingen, aber ich bin zur Lösung einer bestimmten Aufgabe nach England gekommen, und darüber kann ich nicht sprechen.«
»Das müssen Sie natürlich selbst entscheiden,« Lady Medlincourt erhob sich, »Aber ich würde an Ihrer Stelle nicht eigensinnig sein. Ich muß mich jetzt umkleiden, da ich Gäste zum Bridge erwarte. Vielleicht habt ihr beide euren Sinn geändert, bis ich zurückkomme. Zwischen uns darf es keine Geheimnisse geben. Ich hasse Unklarheiten, besonders bei Frauen. Wenn Ihr Vater ein Handelsgärtner ist, so ist es gut. Solange Sie Ihre Herkunft genau erklären können, bin ich zufrieden. Aber es darf keine Rätsel geben. Besprechen Sie es noch einmal mit Guy. Ich komme bald zurück.«
Sie nickte kurz, aber nicht unfreundlich und verließ dann das Zimmer. Guy öffnete die Tür für sie und kam dann langsam zu Virginia zurück. Er legte seinen Arm um sie und küßte sie.
»Willst du das Haus einmal sehen?« fragte er.
»Nein, es ist besser, daß wir gehen.«
»Wir haben aber keine Eile, wir können ruhig noch etwas bleiben und die Sache miteinander besprechen. Man muß zugeben, daß unser Verhalten meiner Tante etwas merkwürdig vorkommen muß. Vielleicht fällt uns noch eine Lösung ein. Wir wollen noch einmal alles durchdenken.«
Virginia lehnte sich in die Kissen zurück.
»Wenn du es gern haben willst, tue ich es natürlich.«
»Schön. Ich traf dich also zuerst auf dem Dampfer, und zwar ohne Begleitung. Das allein ist für meine Tante, wie du dir wohl denken kannst, schon ein merkwürdiger Umstand. Ich habe jedenfalls keinen Anstoß daran genommen, und wir sind ganz gute Freunde geworden. Stimmt das nicht?«
»Doch.«
»Später sahen wir uns bei Luigi wieder. Auch dort fand ich dich wieder allein, obwohl du eigentlich nicht ohne Herrenbegleitung dorthin gehen durftest. Verzeih mir, daß ich dir das alles sage, aber du mußt die Lage genau verstehen und wissen, wie man solche Dinge in unseren Gesellschaftskreisen auffaßt. Ich sah natürlich, daß du von den Herren belästigt wurdest, und kam deshalb an deinen Tisch.«
Virginia seufzte.
»Ja, das stimmt alles. Aber warum wiederholst du es?« fragte sie leise.
»Damals fragte ich dich zum zweitenmal, ob du mich heiraten wolltest. Am nächsten Morgen suchte ich dich in deiner Pension auf, aber du warst verschwunden, ohne eine Nachricht für mich zu hinterlassen. Du hast mich wirklich nicht gut behandelt.«
»Das weiß ich. Aber du hast mir doch verziehen?«
»Natürlich. Ein paar Abende später sah ich dich mit einem Herrn, den ich oberflächlich als einen sehr klugen Kopf und einen Mann von Welt kenne. Du speistest allein mit ihm, und er begleitete dich nach Coniston Mansions. Ich war sehr aufgebracht darüber und wußte nicht, ob ich mich restlos betrinken oder in die Themse stürzen sollte. Aber schließlich ging ich nach Hause und legte mich schlafen.«
»Das war wenigstens vernünftig.«
»Am nächsten Abend sprachst du wieder mit demselben Herrn, aber du gingst allein zu deinem Hotel zurück. Ich folgte dir, und bevor ich fortging, versprachst du, mich zu heiraten. Du warntest mich, daß ich keine Fragen an dich stellen sollte, und ich tat es auch nicht. Ich weiß von dir noch ebensowenig wie auf dem Dampfer. Ich weiß, daß dieser Norris Vine in demselben Hotel wie du wohnt, aber ich stelle keine Fragen. Du mußt es mir jetzt etwas zugute halten, wenn ich neugierig bin. Ich war eben mit der Erkenntnis zufrieden, daß ich mich in das schönste und süßeste Mädchen verliebt habe, das ich jemals sah.«
Sie drückte seine Hand und seufzte.
»Guy, du bist wirklich ein sehr guter, lieber Junge.«
»Was ich von dir weiß, genügt mir auch vollkommen, aber leider genügt es anderen Leuten nicht. Siehst du das nicht selbst ein?«
Virginia rückte ein wenig von ihm fort und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.
»Doch, ich sehe es ein.«
»Das freut mich. Sicher hat meine Tante in gewisser Weise recht. Wäre es unter diesen Umständen nicht besser – du weißt schon, was ich meine.«
»Ich weiß es nicht genau. Bitte, sage es doch.«
Guy sah sie etwas erstaunt an.
»Vielleicht erklärst du meiner Tante doch, was sie zu wissen wünscht. Das würde uns viel erleichtern.«
»Du hast sicher recht«, erwiderte Virginia freundlich. Guy küßte sie.
»Dann will ich jetzt zu ihr gehen und ihr sagen, daß du mit ihr sprechen möchtest.« –
Als er aber kurze Zeit später mit seiner Tante wieder in den Empfangssalon trat, fand er den Raum leer.
Guy sah sich erstaunt um, ging dann in die Halle zurück und winkte James zu sich.
»Die junge Dame ist eben gegangen«, sagte er ehrerbietig. »Ich habe noch ein Auto für sie besorgt. Sie schien in großer Eile zu sein.«
Guy stand einen Augenblick wie vom Blitz getroffen. »Können Sie sich auf die Adresse besinnen, die sie dem Chauffeur angab?«
»Ich bedauere unendlich, Durchlaucht. Leider habe ich sie nicht gehört.«