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Einunddreißigstes Kapitel

Die Teufelsmulde (Fortsetzung)

Es war Old Bob. Kein Zweifel! In der weiten Welt gab es nur einen Old Bob von Kenmuir. Das silberne Mondlicht erglänzte auf dem dunklen Kopf und auf dem dichten grauen Fell, beleuchtete den weißen Schild auf seiner Brust.

Und in der Dunkelheit lag James Moore, Gesicht in den Händen vergraben, auf daß er nicht sehen müsse.

Einen Augenblick stützte er sich auf die Ellbogen; seine Augen waren geschlossen, sein Antlitz erhoben wie das eines Blinden, der betet. Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn; dann sank sein Kopf von neuem herab auf seine Brust, und er stöhnte gleich einem Menschen in großer Qual.

Die Dunkelheit erhellte sich vorübergehend; er warf einen verstohlenen Blick auf das, was vor sich ging.

Es war kein Traum: grausam klar sah er im Mondlicht den verkrüppelten Felsblock, das tote Schaf und jene graue Gestalt, schön, regungslos, verdammt in alle Ewigkeit.

Der Großbauer wandte sich ab und schaute, eine stumme rührende Bitte in den Augen, zu Andrew hinüber: allein des Burschen bleiches schreckensstarres Gesicht bot ihm keinen Trost. Wieder senkte er das Haupt; jetzt weinte der willensstarke Mann.

»Hihihi! Verzeiht, wenn ich lache, James Moore – hihihi!«

Eine kleine elende, durchnäßte und zusammengeschrumpfte Gestalt saß auf einem Hügel über ihnen und bog und krümmte sich in tollem Gelächter.

»Der Schlingel – hihi! Der Schelm – hihi«, er drohte dem ahnungslosen Hund neckisch mit der Faust.

»Habt heut wieder einmal meinen Weg gekreuzt – seid mir zuvorgekommen!« Er lehnte sich zurück und schüttelte sich vor krankhaftem Gelächter.

Schwerfällig erhob sich der Mann zu seinen Füßen, die hohe Gestalt schwankte wie im Delirium, und er stöhnte, als er dem Spötter entgegentaumelte. Auf seinem Antlitz stand das geschrieben, was jeder lesen konnte. Selbst Andrew verstand es, Bub, der er war.

»Vater! Vater!« flehte er; ohnmächtig suchten seine Hände, ihn zurückzuhalten.

Der kräftige Mann schüttelte ihn ab und wankte stöhnend weiter; deutlich trat im Mondlicht jener furchtbare Ausdruck hervor.

Vor ihm hockte der kleine Mann im Regen; er bog sich noch immer vor Lachen und dachte nicht an Flucht.

»Immer heran, James Moore! Immer heran!« Boshafte Freude klang aus seiner Stimme, etwas in seiner Rechten funkelte hell auf und verschwand dann wieder im Dunkel.

»Hab' lang' genug auf Euch gewartet.«

Und jetzt würde Schlimmeres noch als Schafmord sich in der schrecklichen Einsamkeit der Teufelsmulde ereignet haben, wäre nicht von hinten ein schwerer Männerschritt erklungen. Eine Hand, gewichtig wie ein Baumstamm, legte sich auf des Großbauern Schulter, und eine Stimme überschrie das Tosen des Sturms: »Mr. Moore! So seht doch, seht!«

Der Großbauer versuchte den Griff abzuschütteln. Doch jener bannte ihn unbeweglich an die Stelle.

»So seht doch, sag' ich Euch!« rief die laute Stimme ein zweites Mal.

Eine Hand schob sich an ihm vorbei nach einer bestimmten Richtung; unwillig wandte sich James Moore um und schaute.

So jäh wie der Wind sich erhoben, legte er sich wieder; der Kleine Mann auf dem Hügel hatte zu kichern aufgehört; Andrews Schluchzen war verstummt; im Hintergrunde schmiegte sich die Herde enger aneinander. Eine Sekunde lang hing die Welt in der Schwebe. Aller Augen starrten nach der einen Richtung.

Mit dumpfen, verständnislosen Blicken tat James Moore, wie ihm geheißen. Dort in nackter Klarheit stand im Mondlicht der Graue Hund und achtete keines der Zeugen; dort, halb innerhalb, halb außerhalb des entstellenden Schattens lag das gemordete Schaf, und dort hockte der verkrüppelte Felsblock.

Er starrte den Schatten an, starrte unaufhörlich. Dann fuhr er zusammen, als hätte ein Schlag ihn getroffen: der Schatten des Felsblocks hatte sich bewegt.

Regungslos mit vorgestrecktem Kopf und hervorquellenden Augen starrte er ihn an.

Ja, ja, ja! Jetzt war er seiner Sache sicher: ein mächtiger, verschwommener Umriß wie von einem kauernden Löwen bewegte sich dort, wo die Finsternis am dichtesten schien. Und jetzt überfiel den Großbauern ein Zittern wie ein Schüttelfrost, so daß er gefallen wäre, hätte jener kräftige Arm ihn nicht gehalten.

Klarer und klarer wurde der kauernde Körper. Schließlich vermochte er deutlich die hochgewölbten Lenden, den Nacken, massig wie bei einem Hengst, den plumpen wackelnden Kopf zu unterscheiden.

Diesmal irrte er sich wahrhaftig nicht. Dort lag er im tiefsten Schatten riesenhaft, schwelgend in seinem scheußlichen Mahl – der Schwarze Würger.

Sie waren Zeugen seines Festes. Jetzt wühlte er tief in dem elastischen Fleisch; jetzt drehte er sich um und schlürfte aus der dunklen Pfütze, die im Mondschein glitzerte wie Rotwein in einem Silberkelch; jetzt hob er den Kopf, um zornig nach dem Regen zu schnappen, und das Licht traf hell die tückisch rollenden Augen und die blutigen Fetzen Fleisch in dem geifernden Maul; dann wieder hob er die mächtige Schnauze, wie um zu heulen, und ließ den köstlichen Nektar langsam in seinen Schlund gleiten.

So ging es weiter in kluger genießerischer Langsamkeit. In den Atempausen zwischen den plötzlichen Windstößen vernahmen sie das Schmatzen seiner Lefzen, und die ganze Zeit über stand der Graue Hund regungslos wie aus Stein.

Endlich drehte der Mörder das mächtige Haupt in die Runde und erkannte jene stille Gestalt. Bei diesem Anblick wich er erschrocken zurück. In der nächsten Sekunde stürzte er sich wild aufheulend, so daß die Wasser des Sees davon erzitterten, zähnefletschend, die Borsten vom Kopf bis zum Schwanz aufragend in nassen Furchen seinem Gegner entgegen.

Die beiden standen Aug' in Auge, kaum einen Meter regengeschwängerte Luft zwischen sich.

Der Wind dämpfte sein Seufzen, um zu lauschen. Bleich und stumm starrte der Mond auf die Szene herab. Ganz im Hintergrunde drängten die Schafe näher heran. Den unermüdlichen Donner und Regen ausgenommen, herrschte Schweigen.

Eine Ewigkeit, schien's, verharrten sie so. Dann zerschnitt eine Stimme klar und doch leise, gleich einem Trompetenstoß aus einer fernen Stadt, die Stille:

»Willie, o Willie!«

Kein Zorn klang aus den Worten, nur unendlicher Vorwurf – des Mannes Herz brach.

Bei dem Ruf sprang der mächtige Hund herum in knurrender scheußlicher Wut. Er sah die kleine wohlbekannte Gestalt sich deutlich gegen den Himmel abheben, und zum erstenmal in seinem Leben fürchtete sich der Rote Will.

Sein Todfeind war vergessen; das tote Schaf war vergessen; alles war vergessen über der Qual des Augenblicks. Er duckte sich zu Boden, und ein Laut entrang sich seiner Kehle, dem einer verlorenen Seele gleich; auf stieg er in die stille Nachtluft und entschwebte klagend – hinaus aus dem einsamen Tal über die verödeten Marken in das Dunkel.

Über dem Roten Will auf dem Hügel stand sein Herr. Des Kleinen Mannes weißes Haar war mitleidslos dem Unwetter preisgegeben; der Regen strömte über seine Wangen; die Hände hielt er auf dem Rücken gefaltet. So stand er und blickte hinab in das Tal, und ein Ausdruck lag auf seinem Gesicht, den zu schildern über Menschenmacht geht.

»Willie, Willie, hierher zu mir!« rief er endlich; und seine Stimme klangmatt und fern, wie eine verwehte Erinnerung.

Jetzt kroch das mächtige Tier heran, winselnd, erbarmungswürdig in seiner Not. Es kannte sein Schicksal, wie das jeder Schäferhund kennt. Allein das bekümmerte ihn nicht. Seine Qual war, daß sein Freund, sein Vater, der ihm vertraut, ihn bei seiner Sünde ertappt.

Es schlich sich zu seines Herrn Füßen, aber der Kleine Mann rührte sich nicht.

»Willie, mein Willie«, sagte er sehr sanft. »Sie sind immer gegen mich gewesen – alle – und jetzt auch du. Eines Mannes Mutter, eines Mannes Weib, eines Mannes Hund – das ist alles, was ich je hatte, und jetzt hat einer von den dreien sich gegen mich gekehrt. Jetzt bin ich wahrhaftig allein.«

Bei diesen Worten erhob sich der mächtige Hund und stemmte beide Vorderpfoten gegen seines Herren Brust, vorsichtig, sanft, damit er den nicht verletze, dessen Wunde jeder Heilung spottete; so überragte er ihn um Haupteslänge, und der Kleine Mann legte beide Hände auf des Hundes Schultern.

Da standen sie und blickten einander an, zwei, die sich liebten.

Nach M'Adams Zuruf hatte Old Bob aufgeschaut und dann erst seinen Herrn erkannt.

Er schien in keiner Weise erschreckt; jetzt trabte er zu dem Bauern hin. Kein Zeichen von Furcht lag in seiner Haltung, keine nagende Blutschuld in den tiefen grauen Augen, die niemals logen, die auch jetzt nach Hundeart fest dem andern ins Gesicht schauten. Dennoch hielt er die Rute gesenkt und er zitterte, als er zu seines Herrn Füßen innehielt. Denn auch er verstand, auch er war erregt.

Seit vielen Wochen war er dem Würger auf der Spur; viele Wochen lang hatte er ihn gejagt, wenn jener bei seinem blutigen Vorhaben Kenmuir gekreuzt; und stets hatte er ihn auf den Marken verloren. Jetzt endlich hatte er ihn gestellt, doch sein Herz war mit seinem Feinde in dessen Not.

»Und ich dachte, du wärst es, Junge!« flüsterte der Großbauer, die Hand auf den dunklen Kopf gelegt, »ich dachte, du wärest es!«

Wie angewurzelt beobachteten die drei die Szene zwischen M'Adam und seinem Roten Will.

Zum Schluß weinte der Großbauer verstohlen, Andrew schluchzte laut und David mußte sich abwenden.

Endlich stahlen sie sich lautlos davon.

»Soll ich – soll ich zu ihm gehen?« fragte David heiser und deutete mit dem Kopf nach seinem Vater.

»Nein, Junge, nein,« entgegnete der Großbauer. »Das ist keine Sache, in der Freunde helfen können.«

So schieden sie von der Teufelsmulde und ließen jene beiden allein.

Kurz darauf, als sie schweigend weitermarschierten, vernahm James Moore hinter sich leise schwankende Schritte.

Er blieb stehen; die beiden anderen gingen weiter.

»Mann!« flüsterte eine Stimme, und ein Gesicht, totenblaß und erbarmungswürdig, blickte in das seine: »Mann – – Ihr werdet's doch nicht weitererzählen? Ich möcht' nicht, daß sie's alle wissen, daß es mein Willie war. Stellt Euch vor, es wäre Euer eigener Hund gewesen!«

»Ihr könnt Euch auf mich verlassen«, antwortete der andere schwer.

Der Kleine Mann streckte eine bebende Hand aus.

»Gebt mir die Hand darauf! Und Gott segne Euch, James Moore.«

So schüttelten die beiden sich im Mondlicht die Hände, ohne jeden anderen Zeugen als ihren Schöpfer.

Und das ist der Grund, weshalb das Geheimnis des Schwarzen Würgers in jenen Grenztälern unaufgeklärt geblieben ist. Viele haben es erraten; jene drei ausgenommen weiß es nur noch ein einziger Mensch – er weiß jetzt, wer von den beiden Hunden, die er in einer gewissen Sommernacht gesehen, der schuldige war, wer der unschuldige. Und Jim, der Postbote, kann schweigen.


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