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Der Sommer verging, gezeichnet durch die blutige Spur des Würgers.
Nacht für Nacht konnte man im »Sylvester-Wappen« mit dogmatischer Faust die Behauptung erhärten hören: »'s ist ›Der Schrecken‹, ich sag's dir!« und nicht minder häufig die aufreizende, unausweichliche Antwort: »Schon gut, aber wo ist der Beweis?«, während um die nämliche Zeit ganz in der Nähe ein einsamer kleiner Mann vor dem niedergebrannten Feuer sich hin- und herwiegte, an den Nägeln kaute und dem mächtigen Hund zumurmelte, dessen Haupt zwischen seinen Knien ruhte:
»Hätten wir nur den Beweis, Willie! Hätten wir nur den Beweis! Meine rechte Hand gäb' ich drum, wenn uns morgen der Beweis dafür würde!«
Von Zeit zu Zeit kam eine Atempause in die Folge der Verbrechen; wenn dann bald darauf ein Schäfer seine Runde machte, sah er wohl seine Schafe in ungewohnter Weise sich zusammendrängen. Eine Krähe flatterte auf, vollgefressen mit Aas, und zog schwerfälligen Fluges davon, und unmittelbar danach stieß er in einer kleinen blutgesprenkelten Bodensenke auf des Mörders jüngstes Opfer.
Verzweiflung bemächtigte sich der Talbewohner. Nirgends eine Spur, eine Hoffnung, eine Aussicht auf das Ende. Was den Schwanzlosen Köter betraf, so war der einzige inkriminierende Beweis mit David verschwunden. Alle Schritte waren gleich fehlgeschlagen; die hundert Pfund Belohnung hatten kein Ergebnis gezeitigt; die Polizei hatte nichts erreicht; ein Spezialkommissar des Landwirtschaftsministeriums war ebenso erfolglos gewesen; nach dem Vorfall im Hexenschoß ließ sich der Würger auf kein Risiko mehr ein, versäumte jedoch auch nie eine Gelegenheit, zu töten.
Endlich, als letztes Mittel, versuchte Jim Mason sein Glück. Er nahm einen Tag Urlaub und verschwand in der Einöde. Drei Tage und drei Nächte ward er von niemand gesehen. Am Morgen des vierten Tages tauchte er von neuem auf, übernächtig, verwahrlost, einen gehetzten, unfreien Ausdruck in den Augen; mürrisch zum erstenmal im Leben – er, der nie mürrisch gewesen war – bekannte er sein Mißlingen. Einem Kreuzverhör unterzogen, beteuerte er mit ungewohnter Wildheit: »Nichts hab' ich gesehen, sag' ich Euch! Wo ist der Schwindler, der behauptet, daß ich was gesehen hätte?«
In jener Nacht jedoch hörte ihn seine Eheliebste langsam, ängstlich flüsternd etwas im Geiste wälzen: »Zweie – zwei Stück von ihnen – einer hinter dem anderen. Der erste groß – stiergleich; der zweite –« in diesem Augenblick gab Mrs. Mason ihm einen tüchtigen Stoß in die Rippen, und schreiend, schweißgebadet, fuhr er hoch: »Wer sagt, ich hätte gesehen, wie –«
*
Die Tage glitten dahin, heiß brütete der Sommer über dem Land und mit ihm war selbst der Schwarze Würger vergessen. Auch David war vergessen; alles versank in Nichts über dem verzehrenden Interesse für das kommende Turnier.
Der lang erwartete Kampf um den Schäferpreis stand dicht bevor; bald würde alles, was von diesem Ringen abhing, endgültig entschieden sein. Der gerechte Anspruch »Des Alten« auf seinen stolzen Titel würde auf ewige Zeiten hin begründet werden. Wenn er gewann, so gewann er für immer – ein Fall, der in den Annalen des Pokals einzig dastände; wenn er gewann, war der Platz Old Bobs von Kenmuir als der erste unter seinen Berufsgenossen für alle Zeiten gesichert. Vor allen Dingen: dieser Kampf war das entscheidende Ereignis in dem sechsjährigen Ringen zwischen Rot und Grau. Es war das letzte Mal, daß die beiden großen Rivalen sich in der Arena begegnen würden. Und Sieg oder Niederlage: es war das letzte öffentliche Auftreten des Grauen Hundes von Kenmuir.
Und mit jeder Stunde, die den großen Tag näherrückte, stieg die Aufregung im ganzen Lande ins Ungeheuerliche. Die Glut der Begeisterung unter den Talbewohnern wurde noch durch ihre fieberhafte Besorgnis gesteigert. Manch einer würde mehr verlieren, als ihm lieb war, wenn »Der Alte« geschlagen wurde. Aber das konnte ja nicht sein; alt war er zwar, zwei ganze Jahre älter als sein mächtiger Rivale; da gab es hundertfaches Risiko, hundertfache Gewinnmöglichkeiten; aber trotzdem: »Wie stehen die Odds gegen Old Bob von Kenmuir? Ich nehme sie an. Wer wettet gegen den ›Alten‹?«
In dieser Atmosphäre, getränkt mit dem ewigen Geschwätz über den alten Hund, mit endlosen Anspielungen auf den unumstößlichen Sieg, während die Ohren ihm dröhnten bei der stets sich wiederholenden prahlerischen Behauptung, der Graue Hund sei der beste Hund im ganzen Norden, ward M'Adam zu dem schweigsamen, übelwollenden Mann des vorletzten halben Jahrs – verbittert, tiefsinnig, argwöhnisch, von Verschwörungen murmelnd, rachebrütend.
Im »Sylvester-Wappen« pflegte er einsam in einem entlegenen Winkel zu hocken, finsterblickend, menschenscheu, ein Hund in den ersten Stadien der Tollwut. Mitunter brach er in einen Paroxysmus irren Gelächters aus, schlug sich auf die Schenkel wie bei einem ungeheuer guten Witz und murmelte: »Ja, ja; schon möglich, daß sie uns schlagen, Willie. Aber vielleicht gibt's da eine Kleinigkeit – eine winzige Kleinigkeit, die wir wissen und die die anderen nicht wissen – nicht wahr, Willie? He, he!«
Er glich einem Menschen, der unablässig an einer geheimen Idee arbeitet. Jetzt plapperte er dem Roten Will leise, hastige Worte ins Ohr; jetzt brach er in eine Salve gedämpften Lachens aus; jetzt versank er urplötzlich wieder in Schweigen, wobei er heimliche, starre Blicke in die Runde warf und in wütender Angst an seinen Nägeln kaute.
Er nahm seine alte Gewohnheit wieder auf, Kenmuir unsicher zu machen. Kaum wagten die Weiber noch, den Hof zu verlassen. Über die Mauer hinweg, zwischen den Gitterstäben des Tores, durch den Vorhang der Zweige lugte seine gelbe Maske hervor. Sam'l erklärte Maggie, ohne Zweifel spähe der Kleine Mann nach dem Geist seines ermordeten Sohnes aus.
Der Großbauer war geneigt, alle derartigen Gerüchte ungläubig von der Hand zu weisen. Sehr bald jedoch erhielt er Ursache, seinen Ton zu ändern. Als er eines schönen Sommerabends im unsicheren Zwielicht an dem Lärchenwäldchen vorbeiging, vernahm er ein Geräusch wie von dem Spannen eines Gewehrhahns.
Er blickte sich um: nichts zu sehen! Er lauschte: Schweigen! Er spähte hinein in den dunklen Wald und entdeckte endlich ein stilles Gesicht, das um die Ecke eines Baumstumpfes nach ihm äugte.
»M'Adam!« rief er, aufs höchste erstaunt.
Also ertappt, trat der Kleine Mann vor. Die Hände hielt er auf dem Rücken, aber dem Auge des Großbauers blieb der hervorguckende Lauf eines Gewehrs nicht verborgen.
»Was macht Ihr da mit dem Gewehr?« fragte er scharf.
»Warten.«
»Auf den Schwarzen Würger.«
Der Großbauer starrte ihn an.
»Um ihn zu erschießen?«
»Ja.«
Der Großbauer war verstimmt.
»'s ist mir lieber, Ihr legt Euch anderswo auf die Lauer. Könntet aus Versehen meinen Bob treffen.«
»Ihr braucht kein Versehen zu befürchten, James Moore. Wenn ich schieße, tu ich's mit Bedacht.«
Der Großbauer wandte sich zum Gehen.
»Hier werdet Ihr den Würger nicht finden, sag ich Euch. Er hat keine große Vorliebe für Kenmuir.«
»Es scheint so, James Moore«, entgegnete der Kleine Mann, ihn zurückhaltend. »Und wie erklärt Ihr Euer Glück, daß Ihr allein bisher verschont geblieben seid?«
Rasch wandte sich der Großbauer und deutete auf den Grauen Hund, der lauschend im Halbdunkel dicht neben ihm stand.
»Der da ist mein Glück.«
M'Adam lachte rauh.
»Hab's mir gedacht; hab's mir gedacht. Vermutlich glaubt Ihr auch, daß Euer Glück« – er nickte dem Grauen Hund zu – »bestimmt in vier Wochen den Pokal gewinnen wird?«
»Ich hoffe: ja.«
»Merkwürdig wär's, wenn er's nicht täte«, meinte der andere nachdenklich.
In des Großbauern Augen flammte es auf. Er erinnerte sich der zahllosen Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen, M'Adams ewigen Herumstreifens auf Kenmuir und des Attentats gegen den alten Hund im vergangenen Jahr.
»Kann mir nicht denken, daß irgendjemand feig genug wäre, ihn zu ermorden!« rief er mit bebender Stimme.
M'Adam beugte sich vor: seine Augen funkelten.
»Man sollt' auch nicht glauben, daß einer so feig wäre, den Sohn zum Mord an seinen Vater aufzuhetzen. Und doch hat einer den Burschen angetrieben, mich zu erschlagen. Gegen mich ist der Versuch mißglückt; jetzt wird man's wahrscheinlich mit Willie probieren.« Rachsüchtig schrillte die dünne Stimme durch das Dunkel. »So oder so; auf gute Art oder auf böse – Willie oder ich, der eine oder wir beide müssen noch vor dem Turnier verschwinden, – nicht wahr? James Moore, nicht wahr?«
Der Großbauer stieß ihn beiseite.
»Ich will nichts mehr hören, M'Adam, sonst könnt' mich der Zorn doch noch packen. Gehabt Euch wohl!« Und er tauchte unter in der Nacht.
Dennoch genügte die Unterredung, seine Furcht zu wecken. Und als zwei Tage darauf Sam'l berichtete, er habe im Heuschober oben in einer Miete den klaren Abdruck eines Mannes, der dort gelegen, gefunden, blickte er ernst drein.
Da in den stillsten Stunden der folgenden Nacht begann »Wächter«, der im Hof angekettete schwarze Köter, heiser und herausfordernd zu bellen. Es war, als hätte der Großbauer auf dieses Signal gewartet, denn noch während das Dunkel das Echo zurückwarf, trat er, Laterne in der Hand, aus dem Haus.
Gleichzeitig kamen Tammas und Sam'l die Bodenstiege hinuntergepoltert.
»Alter!« rief der Großbauer.
Allein keine herbeieilende graue Gestalt antwortete.
Und abermals: »Alter!«
»Wo zum Teufel mag er stecken?« flüsterte Tammas und blickte suchend in den Vorplatz hinein, wo der alte Hund zu schlafen pflegte.
»Ganz in der Nähe, wett' ich«, sagte der Großbauer und wandte sich der vorliegenden Angelegenheit zu. »Los! Stellt die Leiter auf!«
Sie lehnten sie gegen den Heuschober. Den Laternengriff zwischen den Zähnen, begann der Großbauer hinaufzusteigen. Als sein Kopf die Höhe des Schobers erreichte, schaute er sich suchend um und ließ den Lichtschein über das Heu spielen.
»Seht Ihr was, Bauer?« forschte Tammas mit besorgtem Flüstern.
Der andere antwortete nicht, vorsichtig schwang er sich in das Heu hinauf.
»Ist der Alte schon wiedergekommen?« erscholl nach einer Pause eine Stimme von oben.
»Nein.«
»Dann geht hinaus zur Hürde und ruft ihn.«
Tammas gehorchte; dreimal durchdrang sein schriller Pfiff die Nacht, dann kehrte der alte Mann zurück.
»Alter! Alter!« rief er. »Wo in aller Welt steckst du?«
Die Antwort kam aus unerwarteter Richtung. Aus weiter Entfernung über die Moore erklang ein tiefer tönender Schlachtruf.
Tammas hielt den Atem an. Sam'l erstarrte offenen Mundes. Die Laterne blitzte durch die Nacht und fiel klirrend zu Boden.
Die beiden Männer blickten einander an. Keiner sprach. Es war der Ruf der Grauen Hunde.
Die Leiter knirschte unter des Großbauern Tritten.
»Nichts zu sehen«, meinte er kurz, aber seine Stimme zitterte.
Er trat zu den anderen; wortlos warteten die drei am Fuße des Schobers. Die Nacht war stumm wie eine Kirche.
Da, plötzlich ein Knacken und Krachen in der Ferne, und unmittelbar danach ein zweites Geräusch, wie von zwei Kämpfenden, die eine Hecke durchbrechen.
Die drei lauschten; im nächsten Augenblick drang, klar die Stille der Nacht durchschneidend, das Trappeln jagender Füße an ihre Ohren.
Sam'l bebte von Kopf bis zu Fuß.
»Es sind ihrer zwei!«
»Weiß Gott! Und eilig haben sie's auch. Hört nur!«
Kaum waren die Worte gesprochen, als das Hoftor krachte und abermals krachte, wie von fliehenden Füßen getroffen. Zwei gespenstische Gestalten, einander hart auf den Fersen, schnellten vorbei. Quer durch den Hof gleich einem Hagelschauer stürmten sie, Jäger und Gejagter; nahmen mit einem Satz die Mauer; dann ein wütendes Aufschlagen, Tritte gleich Trommeln im Sturm; Dröhnen und Widerdröhnen der Plankenbrücke; zuletzt Schweigen.
»Wächter« machte die Nacht lebendig. Die drei Männer zitterten. Wie ein Tornado war das Ding über sie hereingebrochen, vorbeigefegt und entschwunden. Seit dem ersten Geheul auf den Mooren war kaum eine Minute verstrichen.
»Was ist nur?« keuchte Tammas.
»Gespenster alle beide«, mutmaßte Sam'l.
Nur der Großbauer schwieg.
Sam'l schlupfte davon; die anderen folgten. Türen fielen ins Schloß; Riegel wurden vorgeschoben, und die kleine Gestalt, die rattengleich in einem Spalt zwischen zwei Scheunen sich festklammerte, ließ sich hastig zu Boden fallen und schlich davon.