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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Schrecken der Finsternis

Es war lange nach Mitternacht, als M'Adam nach Hause wankte.

Den ganzen Abend über hatten seine gegen David gespienen Verwünschungen auch den Verhärtetsten im »Sylvester-Wappen« schaudern gemacht: James Moore, der Graue Hund, des Roten Wills bedrohtes Leben, alles war vergessen über der Leidenschaft, mit der er seinem Sohne fluchte.

Furchtsam wichen die Talleute zurück vor dem triefenden kleinen Irren. Dieses eine Mal in ihrem Leben verstummten jene Männer, die sonst kein derartiger Geiserausbruch einzuschüchtern vermochte. Nur dann und wann warfen sie sich heimlich Blicke zu, wie auf dem Sprung zu einer Verzweiflungstat, dessen Ziel M'Adam sein sollte. Aber M'Adam merkte nichts und argwöhnte nichts.

Als er endlich in die Küche des Kornhofes schlurfte, fand er kein Licht, und das Feuer war fast niedergebrannt. So dunkel war es in dem Raum, daß er einen kleinen Streifen Papier auf dem Tisch übersah.

Schwer ließ sich der Kleine Mann auf einen Stuhl fallen; seine Kleider trieften immer noch, und von neuem begann er sein unermüdliches Anathema.

»Hab' mehr von ihm ertragen, Willie, als ich je geglaubt hätte, daß Adam M'Adam sich von 'nem Menschen bieten lassen würde; und jetzt ist's unhaltbar geworden. Er hat mich geschlagen Willie! Mich, seinen leiblichen Vater, geschlagen! Hast's ja selbst gesehen, Willie! Nein, warst ja nicht dabei. Ach wärst du nur bei mir gewesen, Willie! Er und sein Frauenzimmer! Aber sie sollen Adam M'Adam kennenlernen!«

Er sprang auf und langte nach der alten trichterröhrigen Donnerbüchse, die über dem Kamine hing.

»Wollen ein Ende machen, Willie, das wollen wir – ein für allemal!« Krachend flog die Waffe auf den Tisch. Da lag sie mitten über dem stillen, verhängnisvollen Streifen Papier, und immer noch sah es der Kleine nicht. Wieder ließ er sich auf den Stuhl fallen mit dem festen Entschluß, zu warten.

Er tastete in der Tasche seines Rocks nach einer kleinen steinernen Flasche, die er zärtlich streichelte. Jetzt zog er sie hervor, entkorkte sie und tat einen langen Zug; dann legte er sie neben sich auf den Tisch.

Langsam sank das graue Haupt auf die Brust; die schrumpfige Hand glitt hinunter und hing schlaff an seiner Seite, mit den Fingerspitzen den Boden berührend; so fiel er in schweren Schlaf, während der Rote Will zu seinen Füßen wachte.

Eine Stunde verstrich bis zu Davids Rückkehr. Er war so glücklich, wie es ein Mann nur einmal im Leben sein kann: wenn er sich seine Liebe errungen hat und im Triumph heimkehrt. Seine Nacht hatte sich erhellt; rings herrschte jetzt Licht; sieghaft flammte Liebe in seinen Adern, und er floß über von umfassender Barmherzigkeit. Ja, auf Maggies Zureden hin hatte er sogar beschlossen, eine Unterredung mit seinem Vater zu suchen, ihn des Schlages wegen um Verzeihung zu bitten und ihm die ganze Geschichte zu erzählen; wahrlich, wenn auch nur ein Funken Mitgefühl in des alten Mannes Brust glomm, mußte er ihm vergeben.

Das Haus ohne Licht stand in der Finsternis gleich einem Körper, dessen Seele entflohen ist. Er trat ein, tastete sich zur Küchentür und öffnete sie, entzündete ein Streichholz und spähte auf der Schwelle um sich.

»Nicht zu Hause?« murmelte er, das winzige Flämmchen über sein Haupt haltend. »Bei Gott! Ein Glück, daß ich ihn heut abend nicht in die Finger bekam – ich hätte ihn umbringen können.«

Er hielt das Licht hoch.

Zwei gelbe Augen funkelten gleich zwei Rauchtopasen durch das Dunkel, und eine kleine, schattenhaft in einem Stuhl zusammengekrümmte Gestalt verriet ihm, daß seine Vermutung auf Irrtum beruhte. Wieder und wieder hatte er seinen Vater in diesem Zustande angetroffen, jetzt murmelte er verächtlich:

»Betrunken, das kleine Ferkel! Schläft sich den Rausch aus, vermutlich.«

Dann erkannte er seinen Irrtum. Die Hand über dem Fußboden zuckte und ward wieder ruhig.

Kaltes Schweigen. Eine Maus, kühn geworden durch die Stille, raschelte über den Feuerplatz. Ein blitzschneller Schlag von einer mächtigen Pfote, und das winzige Geschöpf lag zermalmt.

Wieder jene hohle Stille: kein Laut, keine Bewegung; nur die zwei starren Augen, die ihn unentwegt anfunkelten.

Dann durchbrach eine leise Stimme vom Ofen her das Schweigen.

»Betrunken – das – kleine – Ferkel!«

Abermaliges kaltes Schweigen und eine endlose Pause.

»Ich dachte, du wärest eingeschlafen«, meinte David endlich betreten.

»Stimmt, das sagtest du ja – ›schläft sich den Rausch aus‹; hab' dich gehört.« Dann immer noch mit derselben leisen Stimme, die indes fast unmerklich zitterte: »Würdet Ihr Euch herablassen, Herr, und gütigst die Lampe anzünden? ... Oder meinst du, Willie, daß er sich damit die zarten Finger beschmutzt? Sind eher dran gewöhnt, mit den hübschen braunen Locken seiner –«

»Ich leid's nicht,« fuhr der Junge aufbrausend dazwischen, »daß du so von meiner Maggie redest!«

» Seiner Maggie, hast du's gehört, Willi – seiner! Hab's mir doch gleich gedacht, daß es bald so weit kommen würde.«

»Nimm dich in acht, Vater! Dergleichen duld' ich nicht länger!« warnte ihn der Bursche mit erstickter Stimme und begann mit bebenden Händen die Lampe herzurichten.

Von jetzt an wandte sich M'Adam an seinen Roten Will.

»'s hat wohl noch nie ein Mann einen Sohn gehabt, wie den da, Willie. Weißt ja, was ich für ihn getan hab', und wie er mir's lohnte. Hat sich gegen mich aufgelehnt, hat mich beschimpft, hat mir meinen Pokal gestohlen, und zum Schluß hat er mich noch geschlagen vor allen Leuten. Und wir haben uns geplackt, Willie, du und ich; abgerackert haben wir uns, damit er 'n Dach über dem Kopf hätt', derweil er sein Leben verhurte – mit Zechereien in Kenmuir und Schäkereien mit seiner –«

Er schwieg abrupt. Die Lampe leuchtete auf: der Streifen Papier, an die Tischplatte genagelt, fesselte kraß und nackt seinen Blick.

»Was ist das?« murmelte er und lockerte den Nagel, der das Blatt an seinem Platze hielt.

Und er las Folgendes:

»Adam Mackadam – Ihr werdet gewahrnt Eurm Roten Will ein Ehnde zu maachen selbiges wird für iehn und die Schaafe das Behste sein. Diess ist die ehrste Warhnung zwei kommen noch und die dritte wird die letzte sein.«

Es war mit Bleistift geschrieben, die einzige Unterschrift ein Dolch, in groben Umrissen mit Rot unterstrichen.

M'Adam las das Papier, einmal, zweimal, ein drittes Mal. Während er langsam den Inhalt verdaute, wich alles Blut aus seinem Gesicht. Er starrte und starrte es an mit erbleichenden Wangen und aufgeschürzten Lippen. Dann warf er einen heimlichen Blick auf Davids breiten Rücken.

»Was weißt du hiervon?« fragte er endlich mit trockener, dünner Stimme und neigte sich in seinem Stuhl vor.

»Von was?«

»Von dem da«, er hielt das Papier hoch. »Und zwar wirst du mir gütigst die Wahrheit sagen, ausnahmsweise.«

David wandte sich, nahm das Papier, las es und lachte hart.

»Also ist's richtig so weit gekommen?« fragte er, immer noch lachend, aber mit bleichem Gesicht.

»Du weißt, was es bedeutet; hast es womöglich selbst dorthin gesteckt – es vielleicht auch geschrieben. Du wirst's mir erklären.« Der Kleine sprach noch immer mit der nämlichen leisen, gleichmäßigen Stimme, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von seines Sohnes Antlitz zu wenden.

»'s ist doch klar wie der Tag. Haste denn nichts gehört?«

»Nichts – jetzt bitte die Wahrheit, David – wenn du sie sagen kannst.«

Der Bursche lächelte ein erzwungenes, unnatürliches Lächeln und blickte von seinem Vater auf das Papier in seiner Hand.

»Sollst sie haben, aber sie wird dir nicht schmecken. Es ist folgendes: Tupper hat gestern nacht ein Schaf an den Würger verloren.«

»Und wenn er das tat?«

Langsam erhob sich der Kleine. Jeder beobachtete des anderen totenblasses Gesicht.

»Ja, er – verlor – es – auf – was meinste wohl?« Er dehnte die Worte liebevoll, genießerisch.

»Wo?«

»Auf – der – Rothalde.«

Der Sturm war da – unvermeidlich. David wußte es, wußte, daß er ihn nicht verhindern konnte und wappnete sich gegen den Zusammenstoß. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden, und der Atem strich ruckweise durch seine Kehle, dem Winde gleich vor einem Unwetter.

»Was soll das heißen?« Des Kleinen Stimme war so ruhig wie das Meer in Mitsommer.

»Jaa – dein Willie war gestern nacht auf der Halde.«

»Weiter, David.«

»Und das hier«, er hielt das Papier hoch – »sagt dir, daß sie wissen, was ich lang schon wußte, daß dein Willie – der Rote Will – der Schrecken –«

»Weiter.«

»Daß er –«

»Ja?«

»der Schwarze Würger ist.«

Es war heraus. Die gebrechliche Sehne war endlich zerrissen. Blitzschnell langte des Kleinen Hand nach der Flasche vor ihm auf dem Tisch.

»Du – Lügner!« kreischte er und schleuderte sie mit aller Kraft. David wich aus, duckte sich, und die Flasche sauste über seine Schulter.

Krach! traf sie die Lampe hinter ihm und zerspellte an der Wand. Eine Sekunde lang Finsternis, dann ergoß sich der Sprit über den glimmenden Docht und zischte hoch auf.

Bei dem plötzlichen Licht sah David seinen Vater jenseits des Tisches mit krummem Zeigefinger deuten. Neben seinem Herrn stand aufrecht der Rote Will, wachsam, alle Haare gesträubt und die gelben Fangzähne fletschend; zu seinen Füßen lag still und leblos die kleine braune Maus.

»Aus meinem Haus! Zurück nach Kenmuir! Zurück zu deiner –«

Das unverzeihliche Wort schwebte auf seinen Lippen gleich einer schmutzigen Seifenblase, aber sie platzte nicht.

»Keine Mutter diesmal!« keuchte David, während er um den Tisch herumrannte.

»Willie!«

Der »Schrecken« setzte zum Sprung an, aber David warf im Laufen den Tisch um – die Donnerbüchse rasselte zu Boden; polternd türmte sich ein Hindernis dem Hund in den Weg.

»Zurück, du –!« gellte der Kleine Mann, mit beiden Händen einen Stuhl packend. »Zurück, oder ich schlag dir den Schädel ein!«

David warf sich über ihn.

»Willie, Willie! Hierher zu mir!«

Mit einem Geheul wie Meeresbrandung sprang der »Schrecken« ein zweites Mal zu. David empfing ihn mit einem gewaltigen Fußtritt, der ihn voll in die Kiefer traf und den Angriff zurückschlug.

Er packte seinen Vater in den Hüften und hob ihn vom Erdboden. Der Kleine Mann wand sich in jenen eisenharten Armen, schrie, fluchte und hämmerte auf das Gesicht über ihm ein.

»Der Würger! Willste den Würger kennen lernen? Dann geh und frag' nach in Kenmuir! Frag' deine –«

David schwankte leicht und zerdrückte den Körper in seinen Armen, bis es schien, als bliebe keine Rippe mehr heil; dann schleuderte er ihn mit der ganzen Wut der Leidenschaft von sich. Stöhnend, mit dumpfem Aufprall, stürzte der Kleine zu Boden.

Die Flammengarbe in der Ecke lohte auf, zuckte und erstarb. Höllenschwarze Finsternis; Schweigen des Todes.

David lehnte sich gegen die Wand, keuchend, jeder Nerv gespannt wie ein gestrafftes Schiffskabel.

In der Ecke lag leblos und still der Körper seines Vaters, und durch das Zimmer bewegte sich ein anderes, Lebendiges auf ihn zu.

Er klammerte sich an die Wand mit feuchten Händen. Das Grauen des Ganzen, die Dunkelheit, der Mann in der Ecke, das sich bewegende Etwas verwandelte ihn zu Stein.

»Vater!« flüsterte er.

Keine Antwort. Ein Stuhl knarrte unter unsichtbarer Berührung. Ein Etwas kroch, schlich, stahl sich immer näher.

David fürchtete sich.

»Vater!« schrie er in heiserer Qual, »bist du verletzt?«

Die Worte erstickten in seinem Hals. Krachend fiel ein Stuhl um; ein mächtiger Körper traf ihn an der Brust; ein pestgleicher Atem schlug ihm ins Gesicht und wölfische Zähne gierten nach seiner Kehle.

»Komm nur heran, Würger!« schrie er.

Die qualvolle Spannung war behoben. Es war jetzt da, und mit ihm fand er sich selbst.

Zurück, zurück, immer zurück preßte es ihn gegen die Wand. Seine Hände umklammerten den haarigen Hals; er zwang ein mächtiges Haupt mit funkelnden rotglühenden Augen fort; jetzt wappnete er sich zu einer ungeheuren Anstrengung, hob den riesigen Körper an der Brust auf und warf ihn weit von sich. Er fiel gegen die Wand und sank mit dumpfem Aufschlag zur Erde.

Im Ausweichen packte eine Hand ihn am Fuß und suchte ihn zum Fallen zu bringen. Mit aller Kraft trat er zurück und nach unten: ein einziges furchtbares Stöhnen, er taumelte zur Tür und stand draußen.

Dort lehnte er sich tief aufatmend gegen die Mauer.

Er zündete ein Streichholz an und hob seinen Fuß, um zu sehen, wo ihn die Hand gepackt gehalten.

Gott! An seiner Ferse klebte Blut.

Furcht überkam ihn. Ein Aufschrei in seiner Brust wurde durch den Schlag des Herzens erstickt.

Er kroch zur Küchentür zurück und lauschte.

Nicht ein Laut.

Angstvoll öffnete er sie.

Schweigen des Grabes.

Er schlug sie zu. Von neuem öffnete sie sich hinter ihm und das verlieh seinen Füßen Schwingen.

Er fuhr herum, stürzte sich in die Nacht, lief ums liebe Leben durch die Finsternis. Geräuschlos strich eine riesige Eule vorüber und höhnte:

»Um dein Leben! Um dein Leben! Um dein Leben!«


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