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»Ich habe Arbeit für Regine«, sagte Gilberte an jenem Tage beim Frühstück. »Sie wird zufrieden sein: die Überarbeitung einer ganz besonders schlimmen Übersetzung: zwölfhundert Seiten. Eine Sache von mindestens zweitausendfünfhundert Franken.«
»Wird sie wirklich so zufrieden sein?« spottet Reine.
Maguy, kurz angebunden wie immer, versichert:
»Gewiß! Sie kommt in vier Tagen zurück, und ihre Hauptsorge war, keine Arbeit vorzufinden...«
»Selbstverständlich«, sagte Reine. »Von diesem Gesichtspunkt aus unterliegt Regines Zufriedenheit nicht dem Schatten eines Zweifels. Aber ich habe den Eindruck, daß Regine von da unten einen ziemlich erheblichen Widerwillen dagegen mitbringen wird, wieder mit der Halskette anfangen zu müssen.«
Gilberte, sehr ausgeglichen, sehr vernünftig, sieht nicht so schwarz:
»Das wird zwei Tage dauern. Dann wird sie nicht einmal mehr daran denken. Wenn ich von einer Reise wiederkomme, dann bin ich großartig aufgelegt, voll neuer Kräfte.«
»Du bist nicht aus demselben Holz geschnitzt wie Regine«, wirft Laure ein. »Ich glaube mit Reine, daß unser Leben – das ja auch seine Reize und Annehmlichkeiten hat – ihr recht erbärmlich vorkommen wird. Es ist ein wahres Pech, daß sie gerade an den Herrn mit der Limousine geraten mußte.«
»Regine ist doch nicht gar so leicht zu beeinflussen«, meint Maguy trocken.
»Ich glaube,« gibt Reine nicht minder trocken zurück, »daß sie es in allerhöchstem Maße ist.«
»Und doch hat sie genau wie wir Neigung zur Unabhängigkeit.«
»Die kann nur bestehen zugleich mit der Arbeitslust. Die Arbeit aber liebt sie nur zeitweilig, in jähen Anwandlungen, und dann kennt sie kein Maß. Und vor allem fühlt sie sich dazu gezwungen. Die Arbeit drückt sie. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß Regine eines Tages ihre augenblicklichen Ketten gegen andere eintauscht, die nicht minder drückend, aber vergoldet sind.«
»Wie entsetzlich!« wirft Maguy ein, als hörte sie der Geschichte einer Untat zu.
»Nun, Liebste, wie war es auf der Reise?« fragt Laures müde Stimme die Freundin, die eben über die Schwelle tritt.
»Grüß Gott, ihr Lieben! Grüß Gott, ihr Schönen!« ruft Regine überschwenglich.
Sie ist eben angekommen. Aus Grauen vor ihrem unwirtlichen Zimmer ist sie zu dieser frühen Morgenstunde in der Rue de Vaugirard gelandet.
Der Pariser April mit seinen jagenden Regenschauern hat ihr die Laune verdorben.
Sie fühlt sich angelockt von dem rauchenden Tee, den dünnen Toastschnitten auf dem vertrauten Tablett und läßt sich häuslich nieder.
»Nun also«, meint sie, halb lustig, halb kläglich. »Gestern, der blaue Himmel, das Meer, die Mimosen. Heute die eiskalten Schauer und der Wind.«
»Aber nein, Regine,« sagt Laure mit erzwungener Heiterkeit, »es geht ja alles gut. Beim ersten Sonnenstrahl ist der Boulevard Saint-Germain voller Reiz.«
Regine lächelt. »Glaubst du ?«
»Francia hat uns frische Radieschen aufgetragen, und Gilberte hat Arbeit für dich gefunden.«
»Sie ist sehr lieb«, meint Regine nachlässig. Dann: »Wo ist Maguy, wo ist Reine?«
»Aber bei ihrer Arbeit natürlich, Liebste! Sie sind doch während deiner Abwesenheit nicht etwa Rentnerinnen geworden! Ich gehe erst um elf Uhr in die Redaktion und bin von der Gemeinschaft beauftragt worden, dich zu empfangen.«
Regine streicht eine Butterschnitte und reicht sie der Freundin zu.
»Nun also?« fragt diese nochmals. »Zufrieden?«
»Meine Liebe,« gesteht Regine, »ich bin ein Scheusal. Ich bin auf dieser Reise zu sehr verwöhnt worden. Sie ist gar zu gut gelungen, sie war zu vollendet schön. Alles in allem genommen, wäre mir etwas mehr Langeweile lieber gewesen. Dann wäre mir nicht soviel Bedauern nachgeblieben, nicht soviel üble Gedanken.
Siehst du, wenn einem der Luxus und die Freuden, die er zu geben hat, nicht bestimmt sind, dann sollte man seinen Kerker nicht verlassen. Ich bin klug genug, nicht in die Geschäfte zu gehen, wo das bescheidenste Kleid den Gegenwert eines halben Monats harter Arbeit darstellt, und ich hatte unrecht, mir die Riviera zu leisten. – So!«
»Man soll nichts bereuen.« Und mit plötzlicher Trauer in der Stimme fügt Laure hinzu:
»Alle diese äußerlichen Einschränkungen haben so wenig zu sagen... wenn nur sonst alles gut geht...«
Regine steht auf, beugt sich zu ihrer Freundin hinüber und küßt sie leise auf die Stirn:
»Und bei dir, Liebste, wie geht es bei dir?«
Laure birgt ihr Gesicht, blaß und zart wie Elfenbein, unter den kurzen Locken, an der schwesterlichen Schulter.
»Unverändert. Es geht nicht besser, nicht schlechter als im Augenblick deiner Abreise. Aber das ist schlimmer als jeder Bruch... etwas, das sich ohne Grund, ohne Vernunft auflöst, einfach weil es enden muß.«
Ein Schluchzen, kurz und rauh wie ein Röcheln, schüttelt sie in den Armen ihrer Freundin.
»Verstehst du? Alles verfliegt, alles entgleitet mir, was einmal war. Er hat sich wieder von seinem Leben einfangen lassen, von diesem geregelten, geordneten, erfüllten Leben, zu dessen Ausgeglichenheit ich nicht nötig bin. Im Gegenteil, ich war das Abenteuer, die Qual. So ist es in Ordnung. Ich aber bleibe zurück, allein, mit all dem Neuen, das er in mir geweckt, mit dem Hunger nach ihm, den er mich gelehrt hat, mit einem neuen Gefühlsleben, neuen Wünschen.«
Die Tränen laufen ihr über die Wangen.
»Sie war mein ganzes Leben, diese Liebe, mein ganzes Leben.«
Vier Worte: Gestern Glück, heute Trauer.
Am Abend des gleichen Tages, nach einem langen Schwatz in der Rue de Vaugirard vor Maguys Teller mit dem Spitzenmuster, hat Regine sich in ihr Schlafgemach verzogen und streckt nun zwischen den baumwollenen Laken ihre reisemüden Glieder aus. Sie ist die Nacht in der zweiten Klasse durchgefahren, wie auf der Hinreise; eine unumgängliche Maßnahme.
Jenseits der Verbindungstüre empfängt der Nachbar Besuch. Er ist ein Exote, mit harter, holpriger Aussprache; und seine Partnerin ein Pariser Modeartikel, wie es sie zu Hunderttausenden gibt, hübsch anzusehen und wohl auch auszuziehen, mit einem rechten Fliegengehirn.
»Hör' doch, du, die Pfoten weg!«
Die gedämpfte Stimme des Mannes murmelt unverständliche Worte. Während einer halben Stunde hatte Regine die Phasen des Abenteuers verfolgt.
»Nö, nö, nö,« sagt die weibliche Stimme, »nö, heut abend schlaf ich nicht mit dir. Du kannst es versuchen, heut abend nicht. Morgen, ja, morgen – da, ich versprech es dir.«
Aber der Exote will nicht bis morgen warten. Er wird böse, und seine Stimme scheint Kiesel mitzuführen, wie ein Wildbach. Ein Wortwechsel, ein Ringen, dann:
»Na also, jetzt, bist du zufrieden? Ich muß wohl höllisch verliebt sein, um gleich so das erstemal mit dir ins Bett zu gehen... was? Ich hab' dich verdammt gern – daß ich gleich so ins Bett geh'...«
»Guter Gott,« denkt Regine, knapp am Weinen, »soll sie doch ins Bett gehen, und reden wir nicht mehr davon.«
Aber das Echo des Liebesturniers dringt zu ihr, und danach die Danksagungen, Ausrufe und sonstigen Ergüsse der kleinen Bacchantin.
Endlich vertrauliche Geständnisse über die Gegenwart und Zukunftspläne.
»Die Abteilungsleiterin, im Atelier – ein schönes Kamel! Heute also, nicht wahr, sang ich. ›Madeleine,‹ sagt sie mir, ›ich verbiete Ihnen zu singen.‹ – ›Was denn,‹ sag' ich ihr drauf, ›wenn ich doch arbeite, kann ich wohl singen.‹ – ›Nein,‹ schnauzt sie, ›wenn Sie singen, arbeiten Sie nicht richtig.‹«
Ein Schweigen. Dann:
»Du wirst mich ausführen, hör', du? Wir werden zusammen in die ›Source‹ gehen? Ich will lachen, ich will nicht neurasthenisch sein.«
Die Männerstimme fragt wuchtig:
»Neu– ras– the–nisch? Was ist das?«
»Die Neurasthenie? Du weißt nicht, was die Neurasthenie ist? Na, was soll ich dir sagen? Die neurasthenischen Leute, nicht wahr? das sind die, die immer traurig sind; die setzen sich eine Idee in den Kopf, immer die gleiche, und dann gehen sie zeitig schlafen, wollen keinen Menschen sehen. Du verstehst? Ich also, ich will nicht neurasthenisch sein. Wir werden in die ›Source‹ gehen...«
Regine denkt an Deferny, der sie vielleicht liebt, der in Paris eine ruhige abgeschlossene Wohnung besitzt und in der Provence ein helles Haus an der Küste des Mittelländischen Meeres.
...Regine wird zufrieden sein.