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Jetzt, da Regine eine Vernunftehe geschlossen hat und in einem prunkvollen, langweiligen Viertel wohnt –: erinnert sie sich da noch der Zeit, die sie auf dem linken Ufer verlebt hat, unter uns, ihren Freundinnen, berauscht von Unabhängigkeit, besessen von Freiheitsdrang? Neulich abends haben wir bei ihr gespeist.
Es ist Regine, und doch nicht mehr ganz die alte.
An dem Tage, an dem unsere Freundin auf ihre Unabhängigkeit – ach! was bedeutet das Wort für sie, außer dem Gedanken an Kampf, Demütigung, endlosen Jammer? – verzichtet und eingewilligt hat, wieder zur Bürgerin nach altem Brauch zu werden, an dem Tage ist von ihr zu uns etwas Unfaßbares gerissen. Etwas, das eher in den sichtbaren Äußerungen unserer Freundschaft lebte als auf deren tiefstem Grunde, dessen wahre Treue unberührt geblieben ist.
Diese Art Freimaurerei aber, die uns verband, sie und uns, uns und sie, die besteht nicht mehr. Unsere Freundin leidet darunter. Und wenn sie versuchen will, den Faden wieder anzuknüpfen, ohne daß der Knoten allzusehr auffällt, dann ladet sie uns ein, wenn ihr Mann außer Hause ist.
Ganz wie früher, als sie uns noch in ihrem Hotelzimmer empfing und uns auf einem Koffer den Tee auftrug, ganz wie früher sagt sie:
»Bedient euch, zwingt mich nicht, die Hausherrin zu spielen ...«
Aber der Speisesaal, mit Kristall und Schnitzereien, weiß nichts von Ungezwungenheit. Und hinter unserem Rücken geht das Stubenmädchen ab und zu.
»Wir werden also zu Abend essen, an einem richtigen Tisch, ein richtiges Diner?« sagt Maguy beim Verlassen des Lifts, mit schmerzlichem Spott. Denn Maguy, die zur Unduldsamkeit neigt, hat die Heirat Regines nicht leichten Herzens hingenommen. In dem Beinamen ›die Frau mit dem Hispano‹, den sie unserer Freundin wegen ihres zu schönen Wagens gegeben hat, klingt ein wenig Bitterkeit mit.
Denn diese Heirat – als was konnte sie sie empfinden, wenn nicht als Verrat an der Sache, an der Sache der weiblichen Unabhängigkeit, deren Apostel Maguy ist?
Und in ihren Worten, ihrem Gehaben ist etwas wie trockene Verachtung dafür nachgeblieben.
Als das Mahl beendet ist, gehen wir in den Salon hinüber, einen Salon ohne Anmut, doch nicht ohne Pracht, wo unbewegliche Stoffgestalten auf den goldgeschnitzten Rücklehnen der Louis-XIV-Stühle spuken.
Eine Stehlampe auf hohem, geradem Fuß wirft mildes Licht unter dem großen, gestickten, elfenbeinfarbenen Schal hervor, der über ihr Skelett geworfen ist.
Dank einer Aufmerksamkeit Regines krachen und knistern Scheite im Kamin, ganz wie an früheren Winterabenden, als wir, die Hände über den Knien verschränkt, gemeinsam dem wilden Spiel der Flammen zusahen.
»Das ist nett, Regine«, sagt Laure.
Vor dem Verlassen des Speisesaals faßt Reine nach einer kaum berührten Fruchtschale.
»Regine – darf ich sie mitnehmen?«
Regine lächelt nachsichtig:
»Aber ja, gewiß doch, ich vergaß eure wilde Vorliebe für Mandarinen.«
Sie sagt »eure«, nicht »unsere«, und doch: wie viele der schönen Goldfrüchte hat sie mit uns gegessen, in der nicht allzufernen Zeit, da sie noch das Rückgrat unserer Mahlzeiten bildeten!
Wir brauchten davon, gering gesagt, ein halbes Kilo auf den Kopf; und wenn wir aus zwingenden Gründen zwischen zwei Gerichten wählen mußten, wie gerne verzichteten wir da auf die Scheibe Schinken oder das kleine Fleischgericht! Auf alles verzichten, nur nicht auf die Mandarinen! Die haben uns nie gefehlt. Man hat von unserer Generation gesagt, sie nähre sich von Sandwiches. Ja. Und von Mandarinen.
»Du hast unsere Gewohnheiten vergessen, du denkst nicht mehr an früher«, wirft Maguy im Ton zärtlichen Vorwurfs hin.
Auf diese sonderbare Bemerkung erwidert Regine sanft:
»Aber, meine kleine Maguy, die Vergangenheit ist in mir. Ich habe keine Anstrengungen nötig, um sie wachzurufen. Es gibt sogar Stunden, wo sie die Gegenwart übertönt. Dann lasse ich mich von dieser Vergangenheit überkommen, gebe mich ihr gefangen. Doch beim besten Willen, wirklich, ich kann nicht, wie es das Herkommen, wie ihr alle es wolltet, ich kann nicht sagen: »es war die gute Zeit«.«
»Trotzdem,« beharrt Maguy und hebt ihr eigenwilliges Gesichtchen aus den Tiefen des Kissens, in das sie sich hat sinken lassen, unserer Freundin entgegen, »trotzdem ...«
»Nein«, unterbricht Regine mit Festigkeit. »Nein, Maguy, ich sehe die Vergangenheit nicht in versöhnlichen Farben. Ich habe mich dafür vor deiner Unerbittlichkeit zu entschuldigen.«
Schweigen. Wir sehen Regine an, die vor dem hellflammenden Kamin steht. Seidige Glanzlichter spielen auf ihrem dunklen Gewand. Ihre nackten Arme, ihr reines, regelmäßiges Gesicht, die schwarzen Augen mit langen Wimpern und ihr wunderbares Haar, von der Farbe scharfgebackenen Brotes (sie hat sich nicht entschließen können, es abzuschneiden) – all das ist jung, lebendig, voll Anmut und zärtlichen Überschwangs.
Wie herrlich ist sie für die Liebe geschaffen! Und sie hat nur eine Vernunftehe geschlossen.
»Zigaretten?«
Sie läßt die Schachtel in die Runde gehen, einen umgearbeiteten alten Lederband: geflammtes Kalbsleder aus dem 17. Jahrhundert, goldgepreßt, Vorsatz in Blau und Rot.
Wenn in früheren Zeiten Regine einmal nur noch eine Fünffrankennote in der Tasche hatte, dann gab sie sie für Zigaretten aus.
Machen die ihr auch jetzt noch soviel Freude, wo ein aufmerksamer Gatte dafür sorgt, daß das kostbare Behältnis immer gefüllt ist ?
Reine nimmt aus der Schüssel eine Mandarine und schält sie mit einem Griff.
»Es sind die ersten des Jahres«, sagt Regine. »Ich fürchte, sie werden nicht sehr süß sein.«
Der scharfe Duft belebt die Zimmerluft, die schwer war von dem Rauch des blonden Tabaks.
Und wir alle schweigen plötzlich, ein wenig traurig. Aus dem frischen, prickelnden Duft, elfenhaft zart, ist mit einmal eine ganze Vergangenheit erstanden mit ihren schönen Wünschen, dem fiebernden Hoffen, den gemordeten Träumen. Da steht sie vor uns, die bewegteste Zeit aus unserem Frauenleben.
»Ah!« sagt Laure, die, als Journalistin, gerne ihre Gefühle ausspricht, »erkennst du ihn wieder, Regine, diesen Geruch? Es ist der wahre Duft unserer Freiheit. Ich nehme ihn auf mit durstigen Lippen, er lebt in Wehmut in meinem Herzen. Im letzten Jahr, zur gleichen Zeit, als die Mandarinen auf den Händlerwagen erschienen, da waren wir beinahe glücklich.«
»Es hat nicht länger angehalten, als die Mandarinen selbst«, meint Reine ironisch.
Gilberte – sie trägt die Zöpfe um die Stirn gelegt – hebt den Kopf; unter sehr schwarzen Wimpern blitzen sehr helle Augen.
Diese Augen suchen die unseren, die von Träumen verschleiert sind. Ihre Worte wollen wohl unser Gedenken wachrütteln. Aber was vermögen Worte gegen den Schmerz um Tage, die nicht mehr sind?
Laure nimmt eine Mandarine – die dritte, die vierte? – preßt zwischen ihren Fingern die goldene Schale, atmet mit geschlossenen Augen den Duft ein.
»Mein ganzes Leben lang«, murmelt sie, »wird dieser Duft mich an nichts andres gemahnen. An nichts andres als an unsere Abende voll Erwartung und Einsamkeit. Und alle Gärten Spaniens und Siziliens werden daran niemals etwas ändern.«