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Jammer und immer neuer Jammer

An dem Nachmittag ist niemand in der Redaktion. Die Wolke der Berichterstatter ist nach den vier Enden der Stadt zerstoben; die einen stellen Nachforschungen über die neue Pflasterungsart der äußeren Boulevards an; die andern notieren ein paar Preise, ein paar Eindrücke, bei irgendeiner sensationellen Versteigerung, andere endlich interviewen den Großpriester einer kleinen Religion, der sich auf der Durchreise in Paris aufhält.

Laure ist allein. Kein Telephon. Kein Lärm dringt von der Druckerei herauf, wo die Rotationsmaschinen, wie schlummernde, große Raubtiere, die Stunde ablauern, wo sie lostoben können.

Und in dieser großen Stille legt Laure die letzte Hand an eine Novelle, die sie Anselme übergeben will.

Sie überliest das Manuskript, das sie eben beendet hat, verbessert, prüft noch einmal, öffnet dann die Türe und betritt das Zimmer des Chefs der Berichterstattung.

Die Typistin träumt vor der stummen Tastatur.

»Nichts zu tun?« fragt Laure. »Tippen Sie mir das ab, wollen Sie?«

Sie blättert, rechnet:

»Fünfhundert Zeilen. Das werden Sie schnell fertig haben .. .«

Und sie sieht lächelnd die Angestellte an, die schon ihr Papier herrichtet.

»Wie Sie aussehen! . .. Krank?«

»Es ist nichts, – ein bißchen müde.«

»Sie sollten sich ausruhen.«

»Ich kann nicht.«

Laure zieht einen Sessel heran und setzt sich neben den Schreibtisch aus hellem Holz:

»Arbeiten Sie nicht. Sie sehen nicht wohl aus.«

Das arme Frauengesicht lächelt ihr mühsam zu. Ein bläulicher Ring erweitert die Augenhöhlen und überschattet das junge, feingezeichnete Gesicht, aus dem die Augensterne fiebrig starr leuchten.

Die Angestellte kämpft, um sich aufrechtzuerhalten. Plötzlich sinkt sie zusammen, und alles in ihr scheint zu gleicher Zeit nachzugeben, ihr Körper und ihr Wille.

Laure ist mit einem Satz neben ihr und fängt sie in dem Augenblick auf, wo der müde Kopf auf die Maschine aufschlagen will. Und als sie das gebeugte Gesicht zu sich aufhebt, sieht sie es von Tränen überströmt und so zerquält von Angst, daß sie zu erraten glaubt:

»Mein armes Kleines...«

Das Wort des Erbarmens ist ihr, ohne daß sie darauf geachtet hätte, aus schwesterlichem Herzen gekommen.

»Es ist das, nicht wahr?« fragt sie sanft.

»Das ist nicht alles.«

»Reden Sie, erzählen Sie mir. Haben Sie Vertrauen?«

»O ja, Sie sind gütig, immer so freundlich gegen alle.«

Sie schweigt und weint weiter langsame Tränen.

»Sie sind allein?«

»Ja, Kriegswitwe.«

»Sie waren ... unvorsichtig?«

Ein bejahendes Kopfnicken.

»Was werden Sie tun ?«

»Es gab nur eine Art, mir herauszuhelfen; das ist geschehen.«

»Oh!« sagt Laure erschreckt. »Das konnten Sie ...«

»Es ist vielleicht eine Feigheit, aber eine Feigheit, zu der ich verdammt viel Mut nötig hatte.«

Ein Schweigen.

»Was wollen Sie,« hebt sie wieder an, »man kann nicht dauernd auf die Liebe verzichten. Dieses Leben! Auswärts arbeiten, nach Hause kommen, allein, um schlecht zu essen, um wie ein Tier zu schlafen, und am nächsten Tag wieder anfangen, alle Tage, alle Tage des Lebens – das ist nicht menschenwürdig. Man hat das Bedürfnis, geliebkost, geliebt zu werden. Und dann begegnet man einem Mann, nett und einschmeichelnd ... Er verlangt nach einem, und man wirft sich ihm in die Arme, um nicht länger allein zu sein.«

Sie unterbrach sich und schloß dann mit verstärkter Bitterkeit:

»Und zu guterletzt ist man genau so alleine wie vorher. Man kann ihm nichts von dem eigenen Kummer erzählen, von den eigenen Sorgen und Bitternissen, weil er einen nicht genügend liebt, um daran teilhaben zu wollen. Immer lächeln – und lächelt man nicht mehr, dann hat er schon Lust, auszureißen. Zärtlich sein, das ist alles, was er kann. Und das ist das Ergebnis.«

»Haben Sie es ihm gesagt?«

»Was denken Sie! Das wäre das beste Mittel gewesen, ihn zu verlieren. Er ist verheiratet, hat Kinder. Ich bin nur ein Abenteuer für ihn.«

Laures Herz zieht sich schmerzlich zusammen. Ist es denn, in verschiedenen Formen, immer, immer die gleiche Geschichte?

Sie schweigt. Sie will sich nicht lächerlich machen und etwa sagen: »Warum haben Sie das Kind nicht behalten ? Dann wären Sie nicht mehr allein gewesen.« Das paßte in einen mondänen Roman, in ein bürgerliches Theaterstück.

»Wieviel verdienen Sie hier?«

»Fünfhundert. Ich hatte achthundert Franken Ersparnisse, noch aus meiner Ehezeit. Die sind ›dabei‹ draufgegangen. Keinen Sou mehr. Und es heißt durchhalten bis zum Ende des Monats. Wenn ich mich nur nicht vorher zu Bett legen muß. Ich halte es kaum mehr aus. Ich habe noch keine Schmerzen, wohl aber das Gefühl, daß ich lange, lange gelebt habe und das ganze Gewicht eines Lebens auf den Schultern trage. So muß einem zumute sein, wenn man alt ist.«

In Laure übertönt ein unendliches Mitleid den Ekel und die Empörung, die sie kurz vorher empfunden hatte.

Ah – für manche ist das Leben gar zu schwer. Jammer, Jammer, immer und ewig. Jammer und Einsamkeit. Wie dürfte man von einer Frau verlangen, daß sie den Heldenmut aufbringe, dem eigenen Leben, das eine so harte Last ist, ein anderes Leben, eine andere Last anzufügen ?

»Man ist ja keine Heilige,« sagt die Angestellte, »man ist Frau.«

Laures Egoismus, ihr weiblicher Egoismus, den einige Jahre des Kampfes, der Enttäuschungen und Anspannungen gegen fremdes Leid verhärtet haben – dieser Egoismus wird hinfällig vor dem armen Wesen, das da über seiner Maschine kauert, vor dem von Angst zerwühlten Gesicht, vor diesen Augen eines Weibtieres in Not.

So gibt es also Frauen, die noch weniger begünstigt sind als sie, noch härter vom Leben geschlagen, noch mehr versklavt ?

Wie viele unter denen, die arbeiten müssen, sind wohl durch ihre Arbeit vom Manne frei? Oft prunken die kleinen Typistinnen – den Nacken rasiert, die Wangen bemalt – mit feinen Schuhen und teuren Kleidern: ihr Gehalt ist lediglich Nebensache. Die aber, die allen Ernstes allein leben, ohne Geliebten, ohne Gatten, ohne Familie, nagen allen Ernstes am Hungertuch. Sie bitten um Überstunden, um nur im Warmen bleiben zu können, und legen sich, zu Hause angekommen, ins Bett, um kein Feuer machen zu müssen. Es ist nicht mehr menschlich, nein, gewiß nicht.

»Lassen Sie mir Ihre Adresse da. Sie werden Pflege brauchen; ich werde Sie besuchen kommen.«

Die Tür fliegt lärmend auf, von einem heftigen Stoß, kracht wieder zu, von ungeduldiger Hand zugeworfen. Verdier taucht auf: olivenfarbenes Gesicht, braune Augen, ganz ›Bonaparte bei Arcole‹. Er lächelt nicht – noch nicht –, er ist immer schlechter Laune, wenn er seinen Dienst antritt.

Laure erhebt sich, streckt ihm die Hand hin, die er küßt:

»Guten Tag, teure Kollegin.«

Dann wendet er sich zu der Typistin, deren Blässe ihn überrascht:

»Was ist los ? Wie schaun denn Sie aus ? Einfach unmöglich – Sie sind in der Hoffnung ... Los, scheren Sie sich fort, Sie gehören ins Bett. Ich will Sie vor Montag früh nicht wiedersehen.«

»Danke, in ihrem Namen«, sagt Laure.

»Was, wie? Sie auch? Sagen Sie doch, kleine Dame, wir beide, mit dieser Begabung, wir beide könnten vielleicht ein Spital gründen.«


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