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Raymonde

Gilberte war es, die Raymonde in unsere kleine Gruppe einführte. »Raymonde Chanard, die neue Sekretärin des Sohnes. Sie möchte gerne im Quartier Latin frühstücken. Ich habe sie mitgebracht.«

Das junge Mädchen verbeugte sich. Zunächst fanden wir sie zur Not hübsch, mit ihrem nachdenklichen, verschlossenen Gesicht, dessen zarte, flackrige Züge einzig von dem warmen Blond der kurzgeschnittenen Haare lebendigen Glanz empfingen. Nichts Strahlendes, dazu so farblose Augen und den blassen Teint der Rothaarigen, der wie mit Chlor gebleicht schien; im ganzen aber von unverkennbar guter Linie, gertenschlank, durchaus nicht mager oder gar dürr.

Sie sprach wenig während der Mahlzeit und hatte nur ein leises Lächeln für die spaßhaften Vorwürfe, mit denen wir Francia überhäuften. Gilberte gab ihr Aufschlüsse über das Haus Vorland, in das sie eben eingetreten war.

»Der Chef? Gescheit und gerissen, guter Kerl im Grunde, aber etwas laut. Ich schreie noch lauter, und so läßt er mir in meinen Sachen freie Hand. Ich bin es, die das Papier bestellt, die mit den Autoren, den Druckern und den Künstlern verhandelt.«

Sie, nun, Sie werden mit dem Sohn zu tun haben. Nicht sehr bedeutend, der Sohn. Der Eigensinn muß ihm den Willen ersetzen und die Hartnäckigkeit den Verstand. Aber Sie werden mit ihm machen können, was Sie wollen, wenn Sie sich richtig anzustellen wissen.«

Raymonde hörte aufmerksam zu. Regine bot ihr eine Zigarette an, die aber abgelehnt wurde.

Der Kaffee dampfte in den Tassen. Ein weiches Wohlsein überkam uns. Nahe an dem Feuer aus knisterndem Abfallholz saß Léonel mit ausgestreckten Beinen und erklärte: »Du hast einen Diwan, nicht wahr? Machst ihn auf, findest eine Badewanne; ziehst an einem Handgriff, da kommt eine Kommode heraus.«

Laure erhob sich als erste.

»Wohin heute?« fragte Maguy.

»Rettungswerk für jugendliche Prostituierte. Besuch des Heims in Villa-d'Avray. Hundert Zeilen für sieben Uhr.«

Sie stülpte sich ihren engen Hut über die kurzen Locken.

Raymonde schob ihren Stuhl zurück. Sie sagte zu Gilberte:

»Sie entschuldigen mich: ich habe noch ein paar dringende Gänge, bevor ich ins Geschäft gehe . ..« »Auf gleich nachher also«, erwiderte Gilberte und streckte ihr die Hand hin, mit der jungenhaften Unbefangenheit, die nur sie aufbringt.

Sobald die andere gegangen war, erklärte sie uns:

»Ein komisches Mädel. Sie war schon vor einem Jahr bei uns, um sich vorzustellen, mit ich weiß nicht mehr welcher Empfehlung. Nichts für sie. Kürzlich hat sie es nochmal versucht. Da hatte sie Glück. Sie hat den Posten der Sekretärin beim Sohn erwischt; dessen bisherige Inhaberin hatte eben ihre Entlassung erbeten, um sich zu verheiraten.«

»Ausgesprochen unsympathisch«, sagte Maguy in schneidendem Ton. »Wie anmutlos!«

Reine, eine gute Beobachterin, deren Urteil gemeinhin ziemlich sicher ist, bemerkte: »Immer unnachsichtig, Maguy! Ich finde sie gar nicht so gewöhnlich, diese Kleine, sie zeigt ein Maß von Verschlossenheit, das meine Neugierde reizt.«

Gilberte fuhr fort:

»Ich halte sie für geschickt und ehrgeizig. Sie kommt aus ganz kleiner Familie – ihr Vater ist qualifizierter Arbeiter, aber doch Arbeiter; die Mutter, glaube ich, sogar Aufwartefrau. Das kann die Kleine nicht verwinden. Keine Möglichkeit, ihr auch nur ein Wort über ihre Familie zu entlocken. Sie fühlt sich bis aufs Blut gedemütigt durch ihre Herkunft und brennt vor Sehnsucht, das Nest zu verlassen. Und sie wird es auch fertig bringen, dank ihren Ellbogen.«


Knapp vierzehn Tage später fragte uns Raymonde beim Frühstück: »Wissen Sie, wo hier im Quartier Latin ein Zimmer zu vermieten wäre?«

Regine hob die Arme zur Decke:

»So wollen Sie also Ihre Erzeuger verlassen, liebe Freundin?«

»Ich habe diesen Wunsch«, gab Raymonde mit ihrem halben Lächeln zurück. Sie hat ihre bedürftige Familie irgendwo draußen, in Grenelle. Die kümmerlichen Verhältnisse ihrer Leute sucht sie mit allen Mitteln zu verheimlichen. Sie lügt nicht, aber sie verändert die Tatsachen. Aus ihrem Vater, einem ehrlichen Arbeiter, macht sie einen Werkmeister. Ihrer Mutter, die auf Tagarbeit geht, verleiht sie die Würde einer Wäschebeschließerin. Sie leidet unter der Wohnung, unter der Mietskaserne mit den Arbeiterzellen. Ihre Stellung bei Vorland erlaubt es ihr nun, selbst eine kleine Miete zu zahlen.

»Es ist viel zu weit zu mir nach Hause«, fährt sie fort. »Ich verliere zu viel Zeit mit dem Hin und Her.«

»Aber,« meint Maguy, »Sie werden niemals ein ganz ungestörtes Zimmer finden.«

»Lieber Gott, ich stelle hierin keine besonderen Ansprüche«, erwidert Raymonde sanft. »Ich möchte von meiner Freiheit gar nicht den Gebrauch machen, an den Sie denken.«

Maguy begehrt auf:

»Wir alle tun es ... was ist dabei Erstaunliches?«

Ein Schweigen folgt auf Maguys Worte.

Raymonde ißt stumm, ihr blasses, verschlossenes Gesicht über den Kalbsbraten gebeugt.

Dann aber greift sie den Faden wieder auf:

»Ich würde gern ein Zimmer mieten, bei einer gutsituierten Familie.«

Laure, die eben ankommt, erfaßt im Flug Raymondes Worte. Sie nimmt ihren kleinen weichen Filzhut ab und läßt sich nieder.

»Mein Kleines, die gutsituierte Familie werden Sie schwerlich finden. Die alte, alleinstehende Dame, die ihre Einkünfte erhöhen will oder bei Nacht krank zu werden fürchtet – die ja, so oft Sie wollen. Die wird ganz kalt von Ihnen verlangen, daß Sie keine Freundinnen empfangen sollen, weil sie kein Mädchen hat und es sie ermüdet, öffnen zu gehen; oder sie wird verlangen, daß Sie um neun Uhr abends zu Hause sind, und dann werden Sie das Eßzimmer, wo die Alte sich aufhält, durchqueren müssen, um in Ihr Zimmer zu gelangen.«

»Eine etwas lästige Hausordnung,« sagte Raymonde, »aber ich würde mich gerne fügen.«

Maguy ist empört:

»Sie würden diese Abhängigkeit auf sich nehmen?«

Ein Lachen erhellt Regines reizendes Gesicht:

»Meine Liebe, laß doch Raymonde ihre perverse Vorliebe für siebzigjährige Vermieterinnen.«

»Sie müßten große Freiheit verlangen«, beharrt Maguy.

»Warum?« erwidert Raymonde und erhebt ihren kalten Blick zu unserer Freundin. »Ich habe keine Angst vor mir selbst, aber ich will den Verhältnissen keinerlei Möglichkeit geben, sich gegen mich zu kehren.«

Sie erhebt sich, nach einem Blick auf die kleine silberne Uhr an ihrem Handgelenk.

An tausend Einzelheiten ihrer Haltung, ihres Anzugs, ihres Schmucks merkt man, wie sorgfältig sie den guten Ton zu treffen bemüht ist. Alle die geheimen Genugtuungen, die sie empfindet, nachdem ihr Mut und ihr Ehrgeiz sie aus der Masse gelöst haben, sind für sie ebensoviele Belohnungen. Die Seidenstrümpfe, das gute Schuhwerk, das feine Handtäschchen bedeuten für sie nicht, wie etwa für uns, eine einfache Freude. Sie empfindet sie als Vergeltung, als Entschädigung für die Mittelmäßigkeit und Enge der Vergangenheit.

»Auf Wiedersehen«, sagt sie und streift die Handschuhe über.

So lange Zeit hat sie Stoffhandschuhe tragen müssen, nicht einmal Lederimitation, daß sie sich nun, da ihre Finger in echtes Ziegenleder schlüpfen, in ihrer Eitelkeit leise geschmeichelt fühlt.


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