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Das Leben ist schön

Regine kleidete sich in ihrem Zimmer in Sainte-Maxime an und trällerte dabei.

»Wirklich sehr hübsch, das Rosenholzfarbene. Es hat neulich sehr nett gewirkt und ist gut die sechshundert Franken wert, die ich dafür bezahlt habe. Eine Verrücktheit bleibt es doch. Ach was ...

Sollte ich aber nicht abwechseln? Wie wäre es, wenn ich mich heute Herrn Deferny in Lilienweiß vorstellte? Wenn ich, kurz gesagt, mein anderes Kleid anlegte? Das doch so hübsch ist, wenn auch vorjährig. Unter dem sandfarbenen Mantel wird es tadellos aussehen.«

Im Spiegel ihres Kleiderschranks aus hellem Holz sah sie sich – schlank, biegsam, von flammendem Gold gekrönt, mit frohen Augen in einem Gesicht, das schon erfrischt war durch eine Woche Ruhe, mit samtigen Wangen und ohne Spur von dem, was sie in einem Gemisch aus Scherz und Angst ›die Spuren der Dreißiger‹ zu nennen pflegte.

»Dieses Kleid ist namenlos verräterisch«, stellte die junge Frau fest.

Die feine Seide des Trikots legte sich an die Linien des Körpers an; die harten Spitzen der Brüste drückten der Bluse ihr doppeltes Siegel auf; die Seide schmiegte sich der Senkung der Schultern, den langen Schenkeln an, wie von einem jähen Windstoß dagegengedrückt.

»Es ist fast unanständig, wie das zeichnet«, murmelte Regine.

Sie dachte an Deferny und runzelte in plötzlichem Bedenken die Stirn:

»Ach was, soll es so sein! Übrigens ist es auch zu spät!«

Von weitem kam der Ton einer Autohupe bis zu den Fenstern.

Defernys Wagen bog auf den engen Platz ein. Regine ging hinunter.

»Nun,« sagte Mme. Clères liebe Stimme, etwas gedämpft mit Rücksicht auf den Chauffeur, »wir haben also Deferny, diesen wilden, erobert?«

»Liebe Freundin, wie ist dieser Wilde doch gesittet!«

»Gestehen Sie es nur, er hat Ihnen neulich auf dem Heimweg den Hof gemacht?«

»Kein Gedanke daran, auf Ehrenwort!«

»Das gibt weit mehr zu denken.« Dann besah sie Regine genauer: »Wie strahlend, Kleine!«

»Das Nichtarbeiten bekommt mir sehr gut, nicht wahr? Könnten Sie mich in Paris sehen, fröstelnd, verdrossen und betäubt von Müdigkeit – ach, arme Freundin, dann fänden Sie mich wohl weniger strahlend!«

»Deferny hat recht: eine hübsche Frau sollte nicht arbeiten.«

»Wo bringen Sie Deferny her?«

»Ich habe ihn von jeher gekannt. Mein Mann, der gut fünfzehn Jahre älter war als er, hat ihn zum Bankberuf ausgebildet. Deferny hat viel Geld verdient. Er hat auch von seinem Vater ein schönes Vermögen geerbt und war dadurch in der Lage, sich sehr früh von den Geschäften zurückzuziehen.

Er teilt seine Zeit zwischen Paris und dem Süden, den er über alles liebt. Früher einmal hielt er sich in Bormes oder Saint-Raphael auf. Vor drei Jahren aber hat er sich durch diesen entzückenden Winkel neben Guerrevieille verlocken lassen: Beauvallon. Er war einer der ersten, die dort bauen ließen.

Das Auto verlangsamte die Fahrt. Zur Linken senkte sich ein Fichtenwäldchen zur Küste hinunter. Zwischen den schwarzen, nackten Stämmen zitterte das blaue Meer im Licht, satt und wie kochend von Sonne. Der Wagen bog rechts ab und fuhr eine schwache Steigung hinan.

Auf der Höhe tauchte das Haus auf, nicht sehr groß, würfelig und ganz weiß, mit italienischem Dach und einer Pergola, von zartestem Grün verhängt.

Nach kurzem Schweigen fragte Regine:

»Deferny ist nicht verheiratet?«

»Er war es.«

»Ich dachte mir wohl, daß er irgendwo eine Frau sitzen haben würde! Liebe Freundin, haben Sie beobachtet, daß alle Männer verheiratet waren?«

»Dieser hier ist in aller Form geschieden.«

Mme. Clère lächelte fein.

Auf das Hupensignal erschien Deferny; seine untersetzte Gestalt hob sich wuchtig von dem grellweißen Hintergrund des Vorbaus ab. Das harte Licht der Provence ließ auf seinem müden Gesicht deutlich die schweren Lider erkennen, die hängenden Backen, noch betont durch eine tiefe Falte zu beiden Seiten des Mundes.

»Er ist wirklich recht verwüstet«, dachte Regine.

In Defernys Augen, den müden, ernsten und ein wenig traurigen Augen eines reifen Mannes, sah sie den Widerschein ihrer eigenen strahlenden Jugend vorüberziehen.

Und plötzlich kam ihr das Bewußtsein der eigenen Kraft zurück, überschwemmte sie mit einer fast grausamen Freude.

Es war kurz und brennend, wie das samtige Feuer eines Likörs.

»Wie habe ich nur zweifeln können?« fragte sie sich beglückt.

Während der langen Monate, die sie nun das Leben seine Härten fühlen ließ, war sie dahin gekommen, weder an ihre Schönheit mehr zu glauben, noch an ihren Geist, noch an die bezaubernde Anmut, die ihr früher einmal so geläufig gewesen war.

Ihr jämmerliches Abenteuer mit Frédéric, von dem sie nie etwas hatte erreichen können – nichts als eine passive und bedeutungslose Bindung –, dieses Abenteuer hatte auf eigene Art zu dieser Krise ihres Pessimismus beigetragen.

Während sie lächelnd Deferny ihre Hand zum Kuß hinstreckte, sah sie sich plötzlich an einem Abend des vorhergehenden Winters im kleinen Salon der Rue de Vaugirard.

Das Kinn in die Handflächen gestützt, hörten ihre Freundinnen den singenden Scheiten zu, und sie selbst, Regine, sagte:

»Früher einmal, ja, da hatte ich Zuversicht zum Leben. Aber jetzt ...«

Und Maguy darauf, mit gereckten Krallen:

»Ich habe Zuversicht nur zu mir selbst ...«

Laure, mit aller Entschiedenheit:

»Ich weder zu mir, noch zum Leben.«

Und Reine faßte einen dauernden Seelenzustand zusammen in die Worte:

»Ich habe das Leben nie geliebt ...«

Und da war es, daß tief in dem enttäuschten Herzen der Regine von heute eine Saite von dazumal aufklang:

»Das Leben ist schön.«

»Deferny,« sagte Mme. Clère, »ich komme über den ersten Eindruck nicht hinweg: Ihr Haus ist zu neu, zu weiß, zu glatt. Warum haben Sie sich nicht lieber an den Typ des provençalischen Bauernhauses gehalten?«

»Aber was macht denn das aus,« rief Regine vergnügt, »da dies Zuhause doch harmonisch ist!«

»Deferny hat keine sonderliche Vorliebe für altes Gemäuer!« fuhr Mme. Clère fort. »Meine Pariser Wohnung, am Quai des Grands-Augustins, sagt ihm nichts. Er wohnt in einem Viertel, das durchaus ›Dritte Republik‹ und ›Ausstellung 1889‹ ist, das um den Eiffelturm.«

»Madame Regine wird mich noch für einen Banausen halten«, murmelte Deferny. »Es stimmt, daß mir eine verputzte Mauer lieber ist als Ihre Sandsteinbauten, und mein enger Lift gleichfalls lieber als Ihr unvermeidliches schmiedeeisernes Geländer.«

»Ich schätze sie beide, aus verschiedenen Gründen«, schloß Regine.

Bevor noch der Tee aufgetragen wurde in der wegen der jähen Kühle geschlossenen Veranda, rief Regine ganz kindlich aus:

»Ich hätte Lust, mich in dem Fichtenwald herumzukugeln, zu rennen, bis zum Meer hinunter. Als ganz Kleine liebte ich es, von der Höhe steiler Hänge loszurennen, mit verzückten Augen und ausgestreckten Armen, als wollte ich die Welt umfassen. Immer war ich überrascht und enttäuscht, mich unten wiederzufinden, betäubt, mit leeren Armen, ohne in meinem tollen Lauf etwas erhascht zu haben: ein Abbild meines Lebens.«

»In Ihrem Alter und mit der ganzen Zukunft vor sich so zu reden, ist Ketzerei!« sagte Deferny.

Regine gab heftig zurück:

»Die Zukunft? Seit zehn Jahren tischt man mir diese Formel auf. Mit zwanzig hatte ich eine Zukunft. Es war nichts als die Aufeinanderfolge verdorbener, verlorener Jahre, eine Reihe schlechter Anläufe. Noch zehn andere habe ich vor mir. Ich habe Angst, sie auf gleiche Weise zu verderben, zu sehen, wie sie sich grausam in Enttäuschungen, Unbefriedigung, sinnlose Anstrengung verlieren.

Wenn man jung ist, erscheint einem die Zukunft als ein bestimmter Lebensabschnitt, als ein zu erreichender Punkt – so wie man die Vierziger oder Sechziger erreicht –, der sich einem mit einem Schlag, aus einem Guß darbieten wird wie ein aus allen Hoffnungen, allen Anstrengungen, allen Träumen erbautes Standbild. Aber das ist die Zukunft nicht. Die Zukunft – das ist der Ablauf der Zeit: er zernagt einen Stunde um Stunde, Tag um Tag. Immer ist es ein Morgen, an dem das Leben beginnen soll. Und selbst wenn einem nichts mehr als Asche zwischen den Fingern bleibt, sagt man sich immer noch – so brennend ist der Wunsch, doch noch eines Tages die kleinste Kleinigkeit zu erreichen: ›Ich habe die Zukunft vor mir.‹ Was für ein Mummenschanz! Ich erinnere mich an eine alte Urgroßtante, die mit achtzig Jahren seufzte: ›Mein Gott, mein Gott, wenn ich denke, daß ich nur noch zwanzig Jahre zu leben habe!‹ Auch die hatte die Zukunft noch vor sich!«

»Das Kind redet im Fieber«, schalt Mme. Clère. »Gehen wir in das Wäldchen.«

Sie gingen in den Garten hinunter, überquerten die Straße und kamen in den Schatten der Fichten. Die Nadeln knisterten unter ihren Schritten. Die Zapfen an den Ästen begannen schon dürr zu werden. Nahe an der Küste ließen die verkrümmten Stämme ihre Nadelbüschel fast bis ins Wasser hängen.

Regine nahm einen Anlauf und stürmte in langen Sätzen den Hang hinunter. Unten angelangt, wandte sie sich zu den beiden Begleitern zurück, das Lächeln ihrer Kindheit wieder auf den Lippen und sehr aufrecht, sehr weiß in dem Gewirr schwarzer Stämme. Hinter ihr breitete das Meer, das zu verblassen begann, ein seidiges, taubenfarbenes Dämmern bis über den Himmel.

Deferny legte Mme. Clère die Hand auf den Arm und sagte leise:

»Sehen Sie sie an! Sie sieht aus, als wäre sie aus einer Freske von Puvis herausgetreten.«

Mme. Clère wandte sich ihm lebhaft zu und beobachtete ihn aufmerksam:

»Oh, mein lieber Deferny, ich war vielleicht sehr töricht...«

»Bei Gott, ja«, sagte er mit einem unmerklichen Achselzucken. »Das Furchtbare ist eben, daß das Herz sich nicht ändert. Ah!«

Und in seinem Blick lag eine ängstliche Frage an die Freundin: »Wäre ich nur um zehn Jahre jünger!«

Regine kam auf sie zu, vielleicht ihres Spieles müde; und das Licht, die Stunde, die Landschaft verliehen ihr die strahlende Anmut eines Fabelwesens. Als hätte sie es erraten, daß man von ihr sprach, näherte sie sich ohne Hast, mit hochgehaltenem Kopf, und der Abendwind wehte ihr die Haare wie einen Glorienschein um die Schläfen.

»Ich möchte nicht, daß Sie leiden«, sagte Mme. Clère leise.


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