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Ist es der Duft der Mandarinen, deren zerstückte Schalen heute abend auf dem Arbeitstisch liegen?
... Da sind wir wieder alle fünf in dem öden Hotelzimmer, fünf grundverschiedene Frauen, auf derselben Galeere eingeschifft.
Regine, als Hausherrin, hat sich auf die Erde gesetzt und Laure den hoffnungslos versessenen Lehnstuhl überlassen, Reine den Sessel mit der zu steilen Rückenlehne, während Maguy und Gilberte sich mit schmalen Körpern auf das Bett gedrückt haben, das schon mit Mänteln und Hüten überladen ist.
Und wir plaudern, ein wenig zu laut, ein wenig zu schnell und ohne stets die Antwort abzuwarten – nicht so sehr, um das zu sagen oder zu hören, was wir nur zu gut wissen, als um nicht mehr an uns selbst denken zu müssen, an das, was war, an das, was unser Leben ist.
Man muß sein wie Maguy, um dies enge Dasein mit Verachtung meistern zu können. Ewig knapp, Maguy, obwohl sie mehr als wir alle verdiente: Zwölfhundert Franken monatlich als Privat- (nur zu private!) Sekretärin eines Bankdirektors; doch der Geldmangel verstimmte sie nie.
Mit fünfzehn Franken in der Tasche konnte sie um zehn Franken Blumen kaufen.
»Ah, in meiner Lage ... Wenigstens werde ich eine ungetrübte Freude haben, wenn ich diese Rosen ansehe!«
»Diesen Mantel kann man nicht mehr anziehen«, meinte sie und betrachtete mit Widerwillen ihren Otterpelz. »Der Kürschner verlangt achthundert Franken für die Herrichtung.«
»Hast du die?«
»Wollte man nur das Geld ausgeben, das man hat, dann käme man nicht sehr weit ...«
Und als der Kürschner den Mantel abgeliefert und seine Rechnung vorgelegt hatte, entrüstete sich Maguy:
»Das ist zu arg! Er hat mir seine Rechnung geschickt! Ein großer Kürschner! Er lauert also auf meine achthundert Franken, und dabei verkauft er die Marder dem Schock nach! Was für Krämermätzchen! Der sieht mich nicht wieder! Er wird auf sein Geld warten können!«
Kommt ihr diese hochmütige Verachtung für das Geld daher, daß soviel davon durch ihre Hände geht?
Täglich unterschreibt sie Börsenaufträge: die stellen Summen dar, an die wir nicht im Traum zu denken wagen dürfen ... Denn Maguy ist die wirkliche Leiterin des Hauses, in dem sie einen so knappen Lebensunterhalt verdient. Vier Jahre lang hat sie ungeduldig in den Zügel gedrängt, eine Namenlose unter der namenlosen Schar der Beamten.
Eines Tages war dem Chef dieses kleine diensteifrige Mädchen aufgefallen. Er hatte ihr die Leitung eines lose umgrenzten Dienstzweiges überlassen.
Dann ging der Mitarbeiter des Chefs ab. Ein Mann sollte ihn ersetzen.
»Warum nicht ich?« fragte Maguy.
»Was? Sie? Aber, Sie sind eine Frau ... Hier braucht es kräftigere Schultern als die Ihren ...«
»Probieren wir's. Wollen Sie?«
Nun hatte sie die Unterschrift des Direktors, wohnte den Beratungen bei, vertröstete die Gläubiger ... Diese Beweise von Tatkraft und Entschlossenheit, wie überhaupt das kleine Persönchen dieser Frau, kostbar wie eine Statuette, mit einem Gesicht wie eine Spalierfrucht, hatten den Direktor gewonnen, und er hatte sie zu seiner Geliebten gemacht.
Sie hatte dem verheirateten Manne ohne Widerstand nachgegeben. War sie nicht Apostel der freien Liebe? Die Ehe war, als schmachvoll, aus ihrem Lebensbild verbannt.
Sie liebte diesen Mann, der so herrisch, heftig, klug, und grob war, der sie nicht mehr kannte, sobald es sich um Arbeit handelte, und der nachher doch so zärtlich sein konnte. Sie war überzeugt, daß sie ihr Leben für immer festlegte, und daß alles in diesem Dasein, in dem sich Arbeit und Gefühl wunderbar verbanden, einen bleibenden Einklang gewährleistete.
Es war, als hätte sie, aus Liebe, eine Vernunftehe geschlossen.
Aus der Ehe, von der Maguy nichts wissen wollte, hatte Gilberte ihr ganzes Glück gezogen.
Ihr ganzes Unglück desgleichen – denn der Krieg hatte ihr den Mann und damit zugleich den Geliebten, das Heim und die unbegrenzte Kameradschaft geraubt, die sich zu ihrer Liebe gesellt und sie ergänzt hatte; eine Glückseligkeit, die nichts und niemand je würde ersetzen können.
Doch sie mußte ja leben. Und wenn ihr auch ein kleines persönliches Vermögen einige Freiheit erlaubt hätte, so war sie doch, als Leiterin der Herstellung, bei dem Verleger Vorland eingetreten.
Die größten Drucker von Paris, die mächtigsten Papierkaufleute zitterten vor dieser Velleda mit den schweren Zöpfen um den Kopf, die sie in einem Kontor, enger als eine Küche, empfing und alle Vorschläge und Forderungen haargenau prüfte.
»Sie tut ihre Arbeit besser als ein Mann«, sagte der alte Vorland.
»Und da sie eine Frau ist, zahle ich ihr nur den halben Preis«, fügte er bei sich selbst hinzu.
Doch gab er als erster vor den Wutanfällen dieser Frau klein bei, die größer war als er und deren heller, ein wenig harter Blick keine Nachgiebigkeit kannte.
Eine alte Dame, ganz überzuckert von schönen Gefühlen, kam eines Tages, um ihr die Herausgabe eines Buches vorzuschlagen, das die Kinder zu unbegrenzter Wohltätigkeit erziehen sollte: ›Die Güte, in zwanzig Lektionen, für jeden erreichbar.‹
»Man könnte als Untertitel den göttlichen, den ewigen Satz nehmen: ›Liebet euch untereinander‹.«
»Madame,« sagte Gilberte mit furchtbarer Ruhe, »diese Illusionen sind überholt. Ich kenne nur eine Formel, die der heutigen Zeit würdig wäre, und die lautet: ›Schert euch nicht umeinander ...‹«
»Sich um den andern nicht scheren!« meinte Laure, »das ginge noch! Aber um sich selber ...«
Sie hatte – ein junges Mädchen aus ›guter Familie‹, klug und gebildet, eine von jenen, die nicht für die Arbeit bestimmt waren – nach dem Kriege sich ihr Leben verdienen müssen. Das Schriftstellern hatte sie gereizt.
»Sind Sie Stenotypistin?« fragte man sie.
Nein, das war sie nicht. Es war ihr lieber, nichts davon zu wissen. Erst der Chefredakteur einer Tageszeitung, der etwas intelligenter war als seine Kollegen, erkannte, daß sie schließlich an seinem demokratischen Blatt das kleine Feuilleton und die Lokalnachrichten übernehmen könnte.
So interviewte also Laure die Prominenten, die aus Amerika zurückkamen, und die Vorsteherinnen der Wohltätigkeitsanstalten. Ihre Prosa unterrichtete die Leserinnen in der Provinz von der Reue der verlassenen unehelichen Mütter.
Das verschaffte ihr eine gewisse äußere Unabhängigkeit. Ihr Geist allerdings hatte antiklerikal und proletarisch gerichtet zu bleiben.
»Sie schreiben nicht für den ›Figaro‹,« mahnte sie unaufhörlich der Leiter des Nachrichtendienstes. Ihre Kollegen schätzten sie. Einige machten ihr den Hof:
»Sie haben heute Augen, die ... Augen, aus denen ...«
»Nein, mein Lieber, nicht heute, ... immer ...«
»Immer?«
»Aber ja, es sind immer die gleichen. Und das ist schade. Denn auch Ihr Verslein ist immer das gleiche.«
Und damit machte Laure kehrt. Die Kollegen aber fragten sich:
»Mit wem schläft diese Kleine? Ja, mit wem? Dieses ernste und dabei so zerquälte Gesicht! Und Augen! Augen! ... Diese Augen versprechen und werden wohl auch halten ...«
Doch was bedeuteten für Laure diese Begierden oder die stumme Liebe Jeannins, ihres nettesten, ergebensten Kameraden, oder die beruflichen Enttäuschungen: die zusammengestrichenen oder zurückgestellten Artikel?
Ganz in sich gesammelt, horchte sie nur auf das glückhafte Toben ihres Herzens und glaubte kindlich an ihre Liebe und an das Leben.
Reine glaubte weder an sich noch an das Leben.
Ihr Mund, breit, beweglich, nicht voll ausgeschwungen in der Linie, verriet jede Entmutigung, jeden Zweifel, jede Unentschlossenheit. Dieser Mund nahm wunder in dem jungen Frauengesicht, das wohl nie ein Kindergesicht gewesen war. Die Trauer darin wurde von den Augen gemildert, wenn auch nicht getilgt; Augen, in denen ein düsteres Licht und etwas wie Inbrunst flammte. Man konnte, zugleich, nicht empfindsamer sein als Reine und nicht nüchterner.
Empfindsam – krankhaft fast – in ihren Reaktionen: ein ungerechtes Vorgehen, der Anblick eines Jammers, einer Roheit, setzten sich bei ihr in hundertfaches Leiden um.
Nüchtern infolge des grausamen Mangels an Illusionen, infolge eines fast unfehlbaren Scharfblicks, eines Geistes, der von Natur aus zu durchaus nicht gutmütigem Spott drängte.
Was ihr am meisten fehlte, das war vielleicht die Jugend. Sie hatte nichts davon, nicht den Frohsinn, nicht die jauchzende Verblendung, nicht die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, nicht die stürmische Bewunderung.
Wenn sie auch äußerlich unserem Leben verbunden war, da sie mit Laure und Maguy die Wohnung in der Rue de Vaugirard teilte, sonderte sich Reine doch gerne ab, in einem Bezirk, der von Gleichgültigkeit, Schweigen und ewiger Selbstzergliederung umgrenzt war.
Nach bestandener Staatsprüfung hatte sie die Lehrbefähigung für Knabenschulen eben in dem Augenblick erlangt, als, nach Kriegsende, die Männer zum Lehrberuf zurückkehrten.
Durch diese Maßnahme in ihrem Fortkommen geschädigt, hatte sie sich in Paris niedergelassen und an einer Privatschule einige Unterrichtsstunden übernommen, die ihr, zusammen mit etwas eigenem Geld, das Leben ermöglichten.
Uns gegenüber hatte sie Stunden einer gewissen Hingegebenheit, die aber eine enge, zweifellos von ihr selbst gewollte Grenze nie überstieg.
So wußten wir nichts von ihrem Innenleben, das übrigens, wie hundert Einzelheiten uns bewiesen, aufrührerisch genug sein mochte.
Abwechselnd kamen auch Stunden einer fast wütenden Verschlossenheit, wo sie, zur Kugel zusammengerollt, für jeden von außen kommenden Einfluß sozusagen undurchlässig war.
Mitunter sahen wir sie in ein weiches Hindämmern versinken. Gemeinhin nicht redselig, verschanzte sie sich dann hinter einer bockigen Wortkargheit, das kleine Gesicht hart und verschlossen wie ein Sarg; nur die Augen darin waren erfüllt von einem wehen Träumen, einem Leid, ohne Selbstbescheidung hingenommen.
Nach Ablauf dieser Krisen, während derer sie uns nicht mehr als eine Frau erschien, die sich mit Spott gegen die Entzauberung zu wappnen sucht, sondern als ein armes, mitleidswertes Tier, von frühester Jugend an gemartert von Liebe – nach Ablauf dieser Krise also floh sie für zwei oder drei Tage.
Niemals sagte sie uns, wohin sie ging.
»Ich verreise«, kündigte sie an.
Wir errieten wohl, daß sie sich gegen die eigenen Wünsche zu wehren hatte; denn oft blieb sie nach solcher Ankündigung ohne Erklärung da, wobei sie offenbar einer Aufwallung von Eitelkeit nachgab, die sich im letzten Augenblicke eingestellt hatte. Schließlich fuhr sie aber doch immer weg.
Nach achtundvierzig Stunden, selten später, kam sie zurück, nicht minder verschlossen, nicht minder erschöpft; doch war diese Erschöpfung anderer Art; und trotz allem zeigte ihr Gesicht die Spuren einer Erleichterung, die sie verwandelte und eine Zeitlang für die Formen und Bilder des Lebens weniger gleichgültig machte.
So also waren wir, fünf arme Frauen in einem ärmlichen Zimmer. Die dünnen Wände verboten uns jede Vertraulichkeit.
»Jeden Morgen«, sagte Regine, »könnte ich glauben, daß mein unbekannter Nachbar sich auf meinem Kopfkissen die Zähne putzt. Und auch von seinen Gefühlsergüssen bleibt mir nichts fremd ...«
Unsere Freuden, unsere Hoffnungen, unsere fruchtlose Empörung – all das teilten wir getreulich in diesem häßlichen, schmutzigen, gewöhnlichen Zimmer – dem Unterschlupf, den unsere Freundin mit so viel Mühe gefunden hatte und den sie so teuer bezahlte: dreihundertfünfzig Franken im Monat.
Doch wo etwas Besseres finden? Wir hatten alle Hotels des Viertels abgeklappert:
»Verzeihung, Madame, haben Sie ein Zimmer zu vermieten?«
Offenbar findet man, daß Regine zu hübsch ist, um anständig zu sein. Eine kurze Kopfbewegung, ein gebrummtes Wort: »Nein.«
Und dazu wird sie noch von Kopf bis zu Fuß gemessen, als trüge sie in ihrer Handtasche den für die Gosse bestimmten Leichnam eines Neugeborenen.
Die Hoteliers lieben die Frauen nicht. Dabei geht es nicht so sehr um die guten Sitten. Frauen! – Das ist nie mit was zufrieden; das findet immer, daß das Wasser nicht heiß genug ist und daß die Heizung nicht funktioniert; das arbeitet mit Spirituskochern herum; macht Flecken in die Wäsche; wäscht; hat ein elektrisches Bügeleisen; näht und schneidert; das wirft Fadenenden und Stoffrestchen auf den Teppich. Moral: »Keine Frauen.« Und so wissen sie nicht, wohin. Auch die Privatleute erklären ausdrücklich: »Zimmer zu vermieten an einzelnen Herrn.« Die Frauen? Ah was – die sollen sehen, wie sie fertig werden.
Darum hatte Regine mit diesem Hotel fürlieb nehmen müssen. Auf den ersten Blick übrigens sah es gar nicht übel aus: anständiger Eingang, große Halle mit Spitzenvorhängen vor den Fenstern.
Doch vom zweiten Stockwerk an verliert der Teppich seine Farben, wird zweideutig. Bis acht Uhr abends zieren die Frühstücksbretter die Stiegenabsätze.
Der Zimmerkellner hat ein dummes, müdes Gesicht. Regine hat ihn den ›Ritter vom Flederwisch‹ getauft. Dieses Werkzeug läßt er nicht aus der Hand; darum sind aber die Zimmer nicht etwa sauberer. Regine hat eine Schachtel Bohnerwachs kaufen müssen, um die Nachlässigkeit des Ritters auszugleichen.
Der Waschtisch entehrt das Zimmer mit dem Blütenprunk blauer Chrysanthemen. Und der Teppich, den unsere Füße treten, ist schmutzig, und der gelbe Bettüberwurf erglänzt zwischen dem Nußholzrahmen wie ein Rapsfeld.
»Ich habe nie ein verrufenes Haus gesehen,« sagte Regine, »aber ich vermute, daß man dort Bettüberwürfe wie diesen hier finden muß.«
Doch die Ampel ist mit rosa Seide verhüllt, buntfarbige Tücher sind an die Wände geheftet; auf einem kleinen Gestell stehen ein paar vertraute Dinge; dazu noch Regines Puppe, die schöne Puppe in malvenfarbigem Samt auf dem Tisch –: und so wird auch dieses charakterlose Zimmer zum Heim, zur Zufluchtsstätte, wo man, an vertrauensseligen Abenden, sich ablenken und zu hoffen versuchen kann.