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»Raymonde ist wie ich, denkt euch«, erzählt Gilberte. »Jeden Tag wartet sie, bis die Herde der Angestellten das Tor passiert hat, um dann allein, voll Würde, ihren Abgang zu nehmen. Ihr wißt ja, daß es mir ein unerträgliches Gefühl von Sklaverei gibt, wenn ich zugleich mit den andern gehen muß.
Neulich einmal haben wir uns unter dem Torbogen getroffen. Ich habe mich nicht enthalten können, zu lachen: ›Was, Sie auch?‹
Sie hat getan, als verstünde sie nicht, und hat es für nötig gehalten, zu erklären: ›Ich hatte noch rückständige Arbeiten.‹
Auf dem Bürgersteig erwartete sie, auf und ab gehend, ein junger Mensch, korrekt und gleichgültig, dem man, ich weiß nicht warum, etwas unverbesserlich Untergeordnetes anmerkte; einer der Männer, wie man sie, in Auflagen von hunderttausend, auf dem Pariser Pflaster trifft – das, was ich einen biederen Pilz nennen möchte.
Raymonde wurde dunkelrot wie eine Handvoll Kirschen. Ich hörte, wie sie den armen Teufel anpfiff:
›Ich hatte Sie gebeten, nicht zu kommen ... es ist unerträglich ... ich verbiete Ihnen, es nochmals zu tun, Sie verstehen, ich verbiete Ihnen ...‹
Am Nachmittage hatte sie dienstlich in meinem Zimmer zu tun. Ich stellte mich dumm: ›Er sieht sehr anständig aus, der junge Mensch, der Sie heute morgen erwartete ... Ein Bewerber, will ich wetten?‹ Eine ganz innerliche Wut verhärtete ihr kaltes, feines Vampyrgesicht; sie antwortete nichts. Ich beharrte:
›Heiraten Sie, mein Kleines, vorwärts! Das ist noch das beste, was man für die Frau gefunden hat.‹
›Das nun wieder nicht‹, knurrte Raymonde.
›Warum nicht? Er sah mir recht sympathisch aus, dieser Bursche. Ich bin sicher, daß er Sie anbetet... Was ist er von Beruf?‹
Da hat sie ganz nüchtern erklärt:
›Buchhalter im Kragenhaus, achthundertfünfzig Franken monatlich. Den heiraten? Danke schön. Ein Begräbnis erster Klasse für mich‹.«
Einige Tage später sagte uns Gilberte nochmals:
»Kinder, die kleine Raymonde geht aufs Ganze. Sie hat ihre Netze nach dem Sohn ausgeworfen und ist wohl imstande, ihn richtig hochzunehmen.«
»Er wird sich's nicht gefallen lassen«, erklärte Maguy.
Regine, im Glanz ihrer Schönheit, bezweifelte, daß ein Mann sich an Raymonde hängen könnte.
»Was, Teufel, könnte er an ihr finden?«
Wir andern sind der Meinung, daß dieses merkwürdige Wesen, aus Zurückhaltung und Anmaßung gemengt, schon seinen Reiz hat.
»Ich sage euch, sie wird es dahin bringen, daß er sie heiratet. Der Sohn sieht heute schon nur noch mit ihren Augen. Es wird nicht leicht sein, aber sie wird es fertigbringen.«
Beim Anblick dieser schmalen, reinen Stirn, von der das glänzende, kurzgeschnittene Haar zurückgestrichen ist, haben wir alle wohl schon gedacht: »Der Kopf sieht nicht nach Verzicht aus.«
Es ist ein Uhr. Wir lassen uns das außertourliche Rumtörtchen schmecken, das Francia der Wachsamkeit der Wirtsleute abgeluchst hat. Maguy fragt: »Kommt Gilberte?«
»Gilberte kommt nicht«, sagt Raymonde. »Sie hat ihren Einsamkeitsfimmel.«
Sie lächelt, dieses verhaltene Lächeln, das den Ausdruck von Berechnung und Kälte in ihrem Gesicht noch verstärkt.
Maguy greift ein:
»Sie äße besser hier als bei sich zu Hause. Wir würden sie nicht langweilen.«
»Aber, großer Gott!« ruft Laure, deren Haupttugend die Ungeduld ist, »haltet euch doch an Gilbertes Wahlspruch: ›Schert euch nicht umeinander‹. Wißt ihr denn nicht, was das Grauen vor einem Menschengesicht ist? Packt es euch nie?«
Maguy verzieht gekränkt den Mund. Laure macht mit schmeichelndem Lächeln ihre kurze Heftigkeit wieder gut.
»Was sagt denn der Chef zu Gilbertes Krisen?« fragt Regine.
»Er hat Angst. Er wartet, bis sie vorüber sind. Um keinen Preis der Welt möchte er Gilberte verlieren: er versteckt sich, um sie nur ja nicht den Zügel fühlen zu lassen.
An solchen Tagen«, fährt Raymonde fort, »beugt die sozusagen tragische Ruhe, die den Stürmen vorangeht, jeden Nacken im ganzen Hause. Man weiß, daß Gilberte ihren Hörer ausgehängt hat, um durch das Telephon nicht gestört zu werden; daß man vergebens an ihrer verriegelten Türe wird pochen können und daß sie, an ihrem Schreibtisch, mit Rächerstift in den Fahnen herumwütet, die von der Druckerei gekommen sind. Morgen wird der Drucker am Rande der Bogen heftige Weisungen finden: ›Zusammenziehen, Herrgott! ... Umkehren!! ... Zuviel Auslassungen, meine Herren! ... Neue Zeile, gefälligst!!‹
Und zum Schluß eine drohende Anmerkung: ›Miserabler Satz. Das nächste Mal besser aufpassen!‹«
Maguy zündet sich eine Zigarette an und fragt: »Und der Sohn?«
Ihre Kühnheit überrascht uns, erfüllt uns mit Wohlbehagen. Wir mustern Raymonde, die ausweicht:
»Er hat nicht viel mit ihr zu tun. Er kümmert sich vor allem um den Vertrieb.«
»Sie sind seine Mitarbeiterin, nicht wahr?« beharrt Maguy.
Ein kurzes Leuchten erwärmt Raymondes kalten Blick. Maguy hat den Weg zu ihrem Herzen gefunden. Das Wort ›Angestellte‹ oder sogar ›Sekretärin‹ hätte ihrem Ehrgeiz nicht genügt.
Regine und Laure lächeln schweigend. Dieses kleine Match zwischen Maguy und Raymonde ist nicht ohne Reiz. Raymonde sagt leichthin:
»Ich hoffe, es eines Tages zu werden, im wahren Sinne.«
Das ist eine Art von Geständnis. Noch einmal hakt Maguy ein:
»Das Gefühlsleben mit den Existenzfragen in Einklang bringen,« erklärt sie, »ist ein Ideal, das recht wenige Frauen verwirklichen können!«
Doch Raymonde schließt sich plötzlich ab. Genug für heute. Sie zeigt sogar sichtlich Bedauern darüber, daß sie zu viel hat verlauten lassen. Während der nächsten Wochen konnten wir Maguy im wahren Sinne des Wortes sich erhitzen sehen an Raymondes Liebesgeschichte.
Es erscheint ihr sehr wesentlich, daß diese Liebschaft außerehelich bleiben müsse. Die freie Hingabe des eigenen Leibes bedeutet, für sie, den großmütigsten, edelsten, den vollendeten Ausdruck der Leidenschaft. Ihr Steckenpferd.
Die Verbindung des Sohnes mit Raymonde sieht sie in operetten- und feenhaftem Glanze. Man kann nicht zugleich starrer in seinen Grundsätzen und romantischer in ihrer Anwendung sein als Maguy. Sie entfaltet dabei den hohen Edelmut, die wilde Aufrichtigkeit einer Hohepriesterin. Und es ist sehr merkwürdig, in ihr die Entwicklung dieser idealistischen Glaubenssätze zu verfolgen, die auf unbeugsamen Regeln fußen.
Gilberte behauptet, daß Raymonde bei Vorland die Abteilung des Sohnes und den Sohn selbst in der Hand hält.
»Ihr glaubt vielleicht, daß sie ihn herausfordert und sich in Schmachtblicken und Koketterien ausgibt? O nein: Arbeit, Arbeit, und nochmals Arbeit. Lebensernst und Kameradschaft. Musterhafte Haltung. Von Zeit zu Zeit läßt sie eine Schulter sehen, von der im Arbeitseifer das Kleid heruntergeglitten ist. Mit nachlässiger Geste bedeckt sie sie wieder. Wie alle Frauen, die nicht sehr hübsch sind, legt sie Wert darauf, zu zeigen, daß wenigstens etwas an ihr gut ist.«
»Klassisch,« sagt Regine, »der Epaulettentrick.«
»Der Sohn erhitzt sich bis zur Weißglut. Wie wollt ihr eine Frau festkriegen, die den Eisberg spielt? Und dabei in der Arbeit über jedes Lob erhaben. Ich sage euch, sie ist sehr tüchtig. Aber der Vater Vorland wird nicht dafür zu haben sein.«
»Er ist aber doch liberal«, meint Laure.
»Ach was! Als seine Söhne in das vernünftige Alter gekommen waren, hat er ihnen etwa folgende Rede gehalten:
›Kinder, ich werde euch in eure Heiratspläne nie etwas hineinreden. Ihr könnt es damit halten, wie ihr wollt. Ihr könnt euch eure Gefährtinnen nach eurem Geschmack wählen. Aber . .. aber bedenkt, daß eine arme Frau euch nichts als ihre Liebe zu geben hat. Eine reiche Frau dagegen hat noch anderes Glück hinzuzufügen.‹
Von seinen beiden Söhnen wird der eine zweifellos seine Sekretärin heiraten. Der andre ist seit den Flegeljahren mit einer Frau verbandelt, die keinen Pfennig besitzt und im übrigen seine Mutter sein könnte.«
»Es gibt eine Gerechtigkeit«, sagt Regine.