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Bis der Morgen herangegraut war, hatte Herzog Heinrich den Angriff ruhen lassen. Seine auf den Tod erschöpften Kriegsmannen bedurften der Stärkung und Ruhe; auch schien es den Hauptleuten geraten, Wälle und Mauer erst durch nachdrückliche Beschießung aus den Bliden sturmreif zu machen. Bardowieck hatte sich, das war deutlich zu erkennen, auf hartnäckige Verteidigung eingerichtet, und wenn dem Löwen nicht die Eroberung des Schanzwerkes am Westergraben gelungen wäre, hätte er wenig Hoffnung hegen dürfen, die Stadt rasch zu überrennen. Auch jetzt noch verzagten Rat und Bürgerschaft mit nichten. Zumal in der schwarzen Schar Haralds, die einen festen Kamp bei St. Nicolai besetzt hielt, war die Kampflust ungebrochen. Zu ihren Füßen zog der Strom dahin, weiter drüben dehnten sich sumpfige Wiesen, die die Stadt an dieser Stelle schier unbezwinglich machten. So bedurfte es nur geringer Wachsamkeit, um den Feind abzuwehren. Ein helles Lagerfeuer flammte im Kamp, doch wurde die wachsende Kälte des Morgens nicht nur durch das Feuer, sondern auch durch ein Fäßlein Doppelbier bekämpft, das aus Saladins Vorräten stammte, während Zachäus die fahrenden Fräulein Josa und Brigitt aus dem Torhaus herbeigeholt hatte, wo sie nach Stadtgesetz die Nacht verbringen mußten. Fast schien es, daß jauchzende Lebenslust, ehe sie für immer von Bardowieck schied, wenigstens an dieser Stätte noch einmal toll aufflackern wollte. So übermütig lachten und tollten die Wilden im Kamp, als hätten sie alles Leid, Haralds unerklärliches Ausbleiben, die Schmach der Niederlage vergessen, als schmerzten keinen von ihnen die empfangenen Wunden.
Schwarz-Märten hatte sich offenbar zu gründlich mit dem braunen Saft vertraut gemacht, er lag in seinen Mantel gehüllt und schnarchte, die übrigen aber lauschten den schrillen Klängen der Geige und den frech-verwegenen Possen Heinis. Daß sie sich aber hier doch nicht ganz so heimisch und vertraut fühlen konnten, wie in Kaspars Schenke, dafür sorgte der Feind, der nun unaufhörlich aus seinen Wurfgeschossen schwere Steine herüberschleuderte. Ein gewaltiger Trümmer prallte gerade auf das Bierfaß auf und riß es herum.
»Seltsam zu denken, daß wir hier in unserem Grabe liegen und daß dieser Sand morgen alle unsere Leiber decken wird,« sagte Heini plötzlich. »Gar zu gern hätte ich auf meiner Gruft Blauveilchen und Flieder gehabt, hier aber wächst nicht einmal schnödes Gras.« Er riß Zachäus die Geige fort und schleuderte sie in weitem Bogen zur Ilmenau hinunter. »Laßt uns beten, fallt auf die Knie, ihr Mädel! Es ist alles vorbei.«
Wie er ihnen das höhnend zurief, hielten Josa und Brigitt wie versteinert im Tanz inne, die Krüge sanken herab, und es wurde sehr still. Einer sah dem andern ins Auge und schauderte. Der magere Höpker aber hob seine rechte Hand zum Himmel – die Linke hing ihm zerschmettert und schlaff in blutigem Tuch herunter, und wie auf Kommando scharten sich alle, bis auf Jan Dieter, um den wackeren Getreuen. »Gütiger Gott!« rief er ins Wolkengrau empor, »zieh deine Vaterhand auch jetzt nicht von uns hinweg, laß uns in deinen Worten sterben! Vergib uns, was wir gefehlt haben, besonders ihm gegenüber, dem Führer und Herrn, Harald, unseren Prinzen, den wir alle wie einen Bruder liebten und der uns verloren ist seit dieser Nacht. Mein Herr und Gott –« Er verstummte, weil ihm Schluchzen in die Kehle kam, dessen er sich schämte. Schweigen lag auf der Gemeinde, die Weiber weinten still vor sich hin.
»Dem Verräter heult ihr nach?« schrie Jan Dieter aus seiner Ecke im Kamp auf die anderen zuspringend. »Für ihn betet ihr noch? Wenn du lebst, Gott da droben, wie darfst du verzeihen, was er uns angetan hat? Darfst leiden, daß er sein verfluchtes Haupt noch länger trotzig und selbstbewußt auf den Schultern trägt, daß sein schwarzes Herz auf neue Judaspläne sinnt, die Freiheit zu verraten? Gott im Himmel, bist du der gerechte Richter, der die Frevler haßt und den Trotz der Frechen zertrümmert, bist du der Gott, so schmettere ihn mit deinem Blitz zu Boden! Töt' ihn, töt' ihn!« Mit schauerlicher Inbrunst, totenblaß, die dürre Faust geballt, heulte er es in die Winde. »Schonst du ihn aber, Himmelsherr, und willst seine Verbrechen ungesühnt lassen, weil er ja ein Fürstenkind ist, ein Fürst wie du, so wisse –« Das lästerliche Wort zitterte noch auf Jans Lippen, als ein Steinhagel herüberprasselte, scharf in den Kamp hinein, und Jan, laut aufschreiend, über und über von Blut beströmt, zu Boden stürzte. Vor Entsetzen bleich, wichen alle vor dem Frevler zurück, den Gott so sichtbarlich geschlagen hatte, und drängten sich angstzitternd fern, im äußersten Winkel der Schanze, zusammen. Nur Heini Hoyer blieb bei ihm. Er hob den Verwundeten in die Höhe, bettete ihn vorsichtig, wischte ihm mit dem Rockschoß das Blut vom Gesicht. »Zinnober, Hundesohn!« rief er laut. »Hier, nimm diesen Krug, lauf' zur Ilmenau, hole Wasser! Hörst du? Aber wo steckt die Bestie? Strafe mich der heilige Lukas, auch dieser feige Kerl ist davongelaufen.«
»Heini,« stammelte Jan, »sorge dich nicht mehr um mich. Ich will so verlassen sterben, wie ich gelebt habe. Aber wenn du mir eine letzte Liebe tun willst, Heini, dann schwöre, daß du mich rächen wirst, damit ich ruhig sterben kann.«
Fast zärtlich blickte ihm der Maler in das zerschmetterte Gesicht.
»Räche nicht meinen Tod, Heini, wenig ist an mir gelegen, aber wenn du Jussunda liebst wie ich, so –« Die Stimme brach ihm. Heini jedoch verstand den Sterbenden, drückte ihm noch einmal die Hand und hob dann die Finger zum Schwure. Um Jan Dieters Mund huschte ein schwaches Lächeln. Mühsam brachte er die Linke zur Brust empor, wies auf das Hämmerlein am Bande, das dort versteckt hing, dann auf Heini. Als der ihn auch jetzt verstand und das Heiligtum, des gewaltigen Tor Wahrzeichen, an sich nahm, brach aus Jans blutbefleckten Augen ein letzter Glanz, liebevoll und mild. Die Lippen zuckten, als wollten sie noch etwas sagen, aber ihr Flüstern erstarb.
»Es ist zwar jämmerlich kalt geworden,« brummte Heini Hoyer vor sich hin, »und ob ich, wie die Dinge liegen, noch ein neues Winterkleid erwischen werde, das dünkt mich mehr als fraglich. Immerhin, frierend soll der arme Teufel nicht zur Hölle niederfahren.« Damit riß er seinen grauen Mantel mit kräftigem Ruck in zwei Teile und hüllte den Wunden verdrießlich knurrend in die größere Hälfte. »Übrigens, Zinnober, jetzt wird's wirklich Zeit, hol' Wasser! Wir müssen ihn waschen.« Er pfiff und lockte, aber von Zinnober war nichts zu sehen.
Als im Kamp noch wilde Lust zügellos lärmte, hatte sich der Hund fortgestohlen und war zur Ilmenau hinabgetrottet. Naturschwärmerei zählte nicht zu seinen Schwächen, die Einsamkeit am Wasser hatte ihm immer höchstens nachts gefallen, wenn es Ratten zu jagen galt. Aber heute war der Ekel vorm Bier zu stark in ihm aufgestiegen. Sein Gewissen hatte ihn gedrängt, endlich einmal der Völlerei zu entsagen und einsiedlerhaft mit sich allein zu sein. Gedankenvoll starrte er ins grünlich graue Wasser und sann darüber nach, ob ein kaltes Bad ihn vielleicht von seiner Gicht heilen könnte. Indessen begnügte er sich schließlich damit, die Schnauze in den Sand zu bohren und hinkte dann am Uferrande weiter, immer scharf nach Spatzen äugend. Wie er so eine Weile getrabt war, dann und wann ein melancholisches Hundelied kläffend, schnüffelte er plötzlich, blieb überrascht stehen, witterte genauer und brach dann in ein wieherndes Heulen aus. Mit solchem Jubelton pflegte er immer Jussunda zu begrüßen, wenn er ihr begegnete und den Wunsch hatte, sich von ihren weichen, schlanken Fingern das verrottete Fell krauen zu lassen, seine Nase hatte sie gefunden. Und jetzt sah er sie auch, so schwer ihm der sein Gesicht umwuchernde, wilde Bart das sehen machte. Aber seltsam – Jussunda gab heute keine Antwort, wie dröhnend er immer bellte, um sich bei ihr anzukündigen, sonst pflegte sie alsbald hell zu lachen und ihn heranzulocken; heute aber lag sie stumm und bleich, todestraurig im Flusse. Zinnober krächzte, knauzte, bettelte um ein einziges Wort, doch sie schwieg hartnäckig und kümmerte sich nicht um ihn. Murmelnd hüpften die Wellen um sie her und schaukelten den jungen Körper.
Vollkommen ratlos stand der Hund Zinnober am Ufer. Er war längst nicht mehr stark genug, die Herrin aus der Ilmenau herauszuziehen, in der sie – Weiber sind ja immer etwas leichtsinnig! – beim Baden wohl entschlafen sein mochte, wie er nun über die Möglichkeit, sie trotz alledem herauszuholen, nachgrübelte, hörte er mit zornigem Verdruß zwei Krähen aus der Luft rufen, so wild er zeterte und schalt, die Verwegenen ließen sich nicht schrecken, ja er erkannte, daß sie herabsteigen und die Herrin belästigen wollten. Da litt es ihn nicht länger, und sich schüttelnd, stieg er mutig in die eisige Flut. Es war eine Marter ohnegleichen; tausend feine Nadelstiche durchbohrten ihm das Fell, die gichtgequälten Beine krümmten sich vor Frost – aber Zinnober ließ nicht nach. Und auf der Wasserwurzel des alten Lindenbaumes klomm er, frostdurchschauert, wie ein Seehund triefend, zu der Herrin hin. Treuherzig legte er die Pfoten auf ihr nasses Haupt. Sie aber sprach noch immer kein Wort, lachte noch immer nicht. Die großen Augen waren geschlossen, der Mund blaß, und als er ihr die Wangen leckte, fühlte er, daß sie eisig kalt waren. Da schrie Zinnober grauenvoll auf. Was war geschehen, welch Entsetzliches hatte sich hier zugetragen? Sein rasendes Gebrüll erschütterte die Luft weithin, dröhnte zum anderen Ufer hinüber, wo auf schmalem, nur einem Mann Raum gönnenden Steige just ein Trupp von Heinrichs Knechten vorbeizog. Die Raben flogen entsetzt auf, als sie dies Wolfsgeheul vernahmen, doch Zinnober, der sich jetzt an Jussundas Kleid geklammert hatte, tobte weiter. Wohl ward sein Schreien immer heiserer, die Kälte des Wassers drang ihm immer qualvoller in die Glieder – aber treu hielt er aus und schrie, bis Hilfe herbeikam.
*
Nach dem ersten Schrecken und unterm Einfluß Heinis, der die Fliehenden mit harten Worten schalt, war die Mehrzahl von ihnen, auch Josa und Brigitt, zu dem verwundeten Freund zurückgekehrt. Brigitta legte Jans blutiges Haupt liebreich in ihren Schoß und weinte, während Josa nach Wasser lief. Inzwischen suchte der Maler voller Unruhe den rätselhaft verschollenen Hund, rief unendlich viele Kosenamen in die Lüfte, pfiff und lockte, drohte über die Maßen fürchterlich: aber Zinnober ließ sich nicht mehr sehen. Da bekam Heini es mit der Sorge zu tun und stieg zur Ilmenau hinab. Bald genug fand er im feuchten Sande Zinnobers Spur, und als er ihr aufmerksam folgte, durch Weidengestrüpp und Morast hindurch, hörte er endlich aus weiter Ferne wahnwitziges Koboldrufen, krächzenden Lärm, den zu erzeugen in Bardowieck nur Zinnober imstande war. Nun begann Heini atemlos hinter der Stimme herzulaufen, bis er schließlich endlich schweißtriefend und erschöpft zu dem alten Lindenbaum gelangte, auf dessen Wasserwurzel Zinnober saß, immer noch mit den stumpfen Zähnen Jussundas Kleid festhaltend.
Der Hund grüßte mit letzter Kraft seinen Herrn und plumpste dann ohnmächtig ins Wasser. Heini Hoyer aber stand am Ufer, die Augen noch tiefer in den Höhlen als sonst, sinnberaubt, fassungslos, so, als hätte ein Heidegespenst ihn bei hellem, lichten Tage am Hals gepackt und würgte ihn. Er fühlte, wie seine Knie wankten, er meinte, zu Boden schlagen zu müssen, lachte irrsinnig gellend auf, ein Wutschrei und ein Gebet zugleich brachen von seinen Lippen – und dann war er schon mit mächtigem Satze ins Wasser gesprungen. Gleich danach tauchte er aus der Flut wieder auf und watete hindurch. Denn hier war das Flußbett seicht, hier lief die Furt. Mit einem Griff packte er Zinnober und schleuderte den Bewußtlosen ans Land hinauf, dann faßte er sein bleiches Lieb leise und zärtlich und trug sie aus den tückischen stillen Wassern hinaus. Die Feuchte rieselte von ihren Haaren, aus ihren Kleidern auf ihn herab, und so blaß war Jussunda, wie er die weiße Blume noch nie gesehen hatte. Behutsam legte er am Ufer, selbst wie ein Wassergeist triefend, den teuren Fund nieder, löste behutsam die Gewande, versuchte Schultern und Brust mit dem dürftigen Rest feines Mantels zu trocknen, wärmte ihre starren, kalten Glieder, hauchte dem weichen, kühlen Munde von seinem Atem ein, ließ nicht ab, rastete keinen Augenblick. Und in all seiner angstgepeitschten Liebe blieb er ruhig, schier übermenschlich ruhig. Alles, was er auf seinen Wanderungen Ärzten und Badern abgesehen hatte, übte er nun an der bleichen Freundin.
Und immer wieder schlug ihm das Herz vor Entzücken, überrieselte es ihn mit Wonneschauern, wenn er eine leise Wärme des jungen Körpers zu spüren, Jussundas feine Nüstern beben zu sehen glaubte. Und dabei war doch alles Betrug. Grausiger, unbarmherziger Betrug. Sie regte sich nicht, ihr Mund blieb stumm, stumm auch ihr Herz, ihr armes, totes Herz. Heini ließ sich freilich immer wieder von seliger Täuschung narren. Ohne zu ermatten, mühte er sich weiter, mühte sich und hoffte weiter. Eine Stunde verrann – er hoffte noch. Jussunda lag totenstarr in seinen Armen.
Als er zuletzt erkannte, daß keine Hoffnung, keine Rettung mehr war, stürzte er neben ihr zur Erde und vergrub sein Gesicht in ihrem feuchten Kleide. Er kannte längst keine Tränen mehr, hatte es längst vergessen und verlernt, zu weinen, er, der Lumpenfürst, das trotzige Genie. Und nun erwartete er schweigend das Letzte, selbst daß Zinnober sich zu ihm herangeschleppt hatte und ihm unaufhörlich die Hand leckte, bemerkte er nicht. Die Stunden zogen vorbei, fast wurde es Mittag. Ein Strahl aus der Höhe küßte Jussundas schwarzes Haar und die roten Bänder darin. Da erwachte Heini Hoyer wie aus tiefem Schlafe. Sein Gesicht war versteinert, unbeweglich, aber die Augen, die soviel Köstliches in der Welt gesehen und aufgefangen hatten, flimmerten wie Tigeraugen.
»Ich habe dich in den Tod gejagt«, sagte er leise. »Hätt' ich geschwiegen, dann lebtest du noch ... ja ... ich habe dich in den Tod gejagt. Ahnungslos, ihm weiter vertrauend, wärst du weiter bei uns geblieben. Aber Narrheit, Narrheit ... Du mußtest ja sterben. Du hast den Tod gesucht. Klag' nicht mich an, klag' den Schurken an, den teuflischen Würger, den ... Gewaltiger Herrgott da droben, du weißt genau, all mein Leben lang habe ich dich wenig belästigt und dir nie mit einem wimmernden Gebet die gute Weihrauchlaune verdorben. Wenn du aber heute gerade gnädig bist, Herrgott, dann tue mir die Liebe und schlag ihn tot! Spitzbubenwort darauf, zum zweitenmal wird dich Heini Hoyer um keine Gunst bitten.«
Er hob Jussunda vom Gras empor, trocknete ihr noch einmal das Gesicht, legte die Tote zärtlich auf seine Schultern und wollte gehen. Aber horch ... Durch das Rascheln im welken Laub, durch das Summen im Ilmenauschilf hallte dumpf und schwer, sterbensmüde ein Schritt, wie der Schritt eines, der über hohle Gräber wandelt. Harald trat aus dem Dickicht heraus. Seit Mitternacht war er umhergeirrt, ruhelos, verstört, taumelnd wie ein Trunkener. Hatte er doch die letzten Worte Jussundas, ihre letzte Bitte nicht vergessen können. Und nun die Glutbrände der Nacht verloschen waren, die Welt ihn wüst und finster anstarrte, nun alle rettenden, befreienden Gedanken versunken waren, nun suchte er nichts mehr als den Untergang. Aus dem Becher, den er mit heißer Gier geleert hatte, dunstete ihm jetzt widriges Gift entgegen, und Gift raste ihm im Blute. Zum Ende kommen, aus dem Zusammenbruch seines Stolzes nichts zu retten, auch sich selber nicht, war sein Begehr. So, keck erhobenen Antlitzes, bereit, sich vom ersten besten Hergelaufenen töten zu lassen, durchstreifte er die Gassen, umwandelte die Höfe, suchte Feinde, suchte das Verderben und fand es nicht. Der Tod mied verächtlich die Spur Judas Ischariots, der nicht um dreißig Silberlinge, der um eines Weibes Kuß sich selbst und Gott verraten hatte.
So strich er verwüstet und doch in ungebändigtem Trotz am Strande der Ilmenau dahin. Unerwartet fiel ihn da ein Schrei rasender mordgieriger Wut an, und er zuckte zusammen. Heini Hoyer hatte, als er Harald kommen sah, die Tote behutsam niedergleiten lassen und sprang nun wie eine Tigerkatze dem Feind entgegen. »Da,« heulte er auf, »Teufel, verruchter, sieh dein Werk! Du hast sie in den Fluß gehetzt, du! So viele Liebe, so viel Frühlingsglanz! Wie willst du all die schurkische Niedertracht, den Mord am Jüngsten Tage verantworten!«
Aber ohne ihn zu beachten, war Harald vor der Toten ins Gras gesunken, hatte ihre Hände gefaßt, ihren blassen Mund geküßt. »Für mich gestorben,« stammelte er, »für mich ... Du ... wie meine Mutter ...«
»Rühre sie nicht an!« kreischte Heini und stieß ihn mit solcher Macht von der Toten fort, daß Harald taumelte. »Laß dein Opfer in Frieden ruhn, du Mörder! Schände sie nicht mit deinen Küssen! Und wenn du nicht nur Mädchen zu töten weißt, wenn du auch mit Männern fertig wirst, komm an!«
Sein Degen blitzte, aber es war ein kurzer Kampf. Zwei Hiebe Haralds, und vor der Kunst des Vielgewandten schlug Heinis Klinge zu Boden. »Wacker,« knirschte der Entwaffnete, »du bist gefestet. Wie andere Dirnen, so hält auch Dirne Glück zu dir. Nun, dann rate ich dir gut, großer Sieger, schlag mich nieder! Für uns beide ist hinfort auf Erden kein Raum mehr. Du oder ich! Schone mich nicht, denn ich werde dein nicht schonen.«
»Geh in Frieden deiner Wege,« lächelte Harald grimmig. »Du bist mir ein Freund, beinahe ein Bruder gewesen, bist der einzige, der mich nicht belogen, getäuscht, zum Narren gehalten hat, hast Brot und Wein mit mir immer beinahe so gern geteilt wie mit dem Köter da. Alles in allem bist du der einzige gewesen, der nicht zu schamloses Spiel mit mir getrieben hat. Auch verdanke ich dir mein Leben ... Schade, daß du gestern nacht dazugekommen bist. 's wär besser gewesen für mich. So oder so, wir sind quitt. Und damit lebe wohl, Bruder Heini!«
Harald hatte sich abwenden wollen und den Pfad im morastigen Boden gesucht, dabei waren seine Blicke auf den Fluß gefallen. Jählings funkelte es da in den blauen Augen auf, jählings riß er die Klinge wieder aus der Scheide. Heini folgte seinen Blicken. Im Buschwerk drüben war's lebendig geworden. Man sah Schilde funkeln, hörte nun auch Waffenklirren – und schon stieg ein Fähnlein wohlbewehrter Knechte in den Fluß nieder.
»Die Furt!« schrie Harald auf. »Sie haben die Furt entdeckt. Niemand ist hier, der sie verteidigen kann. Laufe, Heini, hole Hilfe! Sie werden mich auch dieses Verrats schuldig sprechen. Sie werden meinen, ich hätte denen da drüben den Weg gewiesen. Diese eine Liebe tu mir noch, Heini, eile doch, eile!«
»Du ihnen den Weg gewiesen?« spottete Heini. »Dies Verdienst hast du um deinen gekrönten stolzen Vater nicht. Jussunda war's, die ihnen den Weg, die Furt zeigte, Jussunda und sonst niemand. Mag sein, daß sie dir noch im Tod nützen und den Deinen eine Führerin sein wollte, Herr Herzog! Mag sein, daß sie sich just darum von der alten Ilmenau an diesen Lindenbaum tragen ließ. Dort im Wasser habe ich das Kind gefunden, Herzog Harald. Sie lag, als ob sie schliefe oder auf dich warte. Von dort hat Zinnober geschrien, von dort habe ich sie hinausgetragen. Man muß mich und sie bei meinem Samariterwerk wohl gesehen und gehört haben.«
»Als ob sie meiner warte,« wiederholte Harald leise. »Als ob sie riefe, meinst du doch? Ich höre sie. Ich will ihr folgen, will alle Schuld sühnen.« In das von den Dämonen der Nacht gezeichnete Antlitz stieg neue jugendliche Röte, seine blauen Augen leuchteten auf. »Hier ist die Ehre. Hier kann ich die Fahne wiederholen, die verlorengegangen ist, hier mir doch noch den Siegerkranz aufs Haupt drücken. Kämpfend falle ich, für die Heimat kämpfend, und niemand wird es wagen, mich Verräter zu schelten.«
»Irrsinniger Träumer!« fuhr Heini auf, der all seinen Haß vergaß. Haralds unverständlicher, abenteuerlicher Entschluß überraschte ihn, und doch mußte er ihm widerwillig Beifall spenden. »Träumer, drüben stehen deines Vaters Krieger, denen willst du wehren? Die deinetwegen die Stadt stürmen! Nun, treib's wie du magst, was kümmert's mich! So bist du mit aller Welt im Kampf, mit Gott und Rat und Volk, mit dem eigenen Vater und krönst dein tolles Treiben recht nach der Kunst.«
Schon waren die reisigen Knechte in der Mitte des Flusses angelangt, ohne die im Gebüsch Versteckten zu sehen, und tappten sich durch das Wasser weiter den weg. »Mein Vater!« flüsterte Harald. »Ich denke nur noch an meine Mutter. Ich glaube, Heini, sie lag auch hier im Ufergras, ganz wie Jussunda. Verzeihe mir Gott ... auf unserem Hause ruht der furchtbare Fluch, wir treiben erbarmungslos die in den Tod, die uns die Liebsten auf Erden sind. Aber ich will uns vom Fluch erlösen, und ich will dich rächen, Mutter.«
Damit sprang er aus dem Gebüsch heraus, den Kriegern entgegen. Helles Licht der Begeisterung, wie Heini es in glücklicheren Tagen nie schöner, strahlender auf diesem edlen Antlitz gesehen hatte, verklärte seine Züge, und Lächeln spielte um seine Lippen. Schon umrauschte ihn leise die Flut. Erhobenen Hauptes, ohne Zögern und Schwanken, schritt er die Furt entlang, wandte sich plötzlich noch einmal um und senkte die Klinge vor Jussunda, wie zum Gruße. Mit wildem, jauchzendem Schrei sprang er dann dem Feind entgegen, der zermalmenden Übermacht. Sein rasender Stahl traf die beiden ersten tödlich, und nun hob ein Ringen voll wilder Wut an. Zwanzig stürmten auf den Helden ein, der wie ein Kriegsgott aus dem Flusse aufgetaucht war, dem mehr als irdische Kräfte verliehen zu sein schienen, der mit scharfer, überlegener Klinge noch immer jeden Angriff abwehrte. Harald kannte jede Sandbank, jede Strömung, jeden Strudel im Flusse. So gelang es ihm immer wieder, die Feinde fortzulocken und seitwärts zu drängen, bis sie den Boden unter den Füßen verloren und von der Tiefe verschlungen wurden; so sicherte er noch immer die Furt, einer gegen zwanzig. Bis vom anderen Ufer her Armbrustbolzen mitsprachen, bis einer davon auf den jungen Helden losschwirrte, der stolz und trotzig, ein Gott im Sturmgewande, lachend ins Verderben ging.