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Herzog Heinrich bewies, daß er noch immer der Löwe war, noch immer die ungeheure Schlagkraft seiner großen Jahre besaß. Kaum war er vor der Stadt angelangt, so ordnete er seine Truppen zum Sturm. Ein überraschender, ungesäumter Nachtangriff schien ihm besonderen Erfolg zu versprechen. Und während er den Hauptstoß auf die stärkste Stelle, das Vorwerk am Westergraben, richtete, bedrängte er gleichzeitig mit Scheinangriffen das umzingelte Bardowieck von Norden und Osten her, die Bürgerschaft dadurch zu angespannter Aufmerksamkeit und Kraftanspannung an jedem Wallabschnitt zwingend. Seine Truppen waren von den Wetterunbilden, Strapazen und angestrengten Märschen der letzten Tage arg mitgenommen, zögerten aber keine Sekunde lang, dem Befehl zu folgen. Und so drängten die Sturmhaufen der Fahne mit dem weißen Sachsenroß wutentbrannt, todverachtend nach. Freilich, wo sie nur zu Täuschungszwecken angesetzt waren und deshalb überwältigende Macht nicht entfalten konnten, gelang es ihnen kaum, den geringsten Vorteil zu erlangen. Heinrich hatte eine Überrumplung für möglich gehalten und versucht, schon weil dadurch seine Verluste verhältnismäßig niedrig geblieben wären, hatte deshalb aber auch auf eine Beschießung der Stadt aus seinen gewaltigen Bliden verzichten müssen. So standen die Reihen der Verteidiger unerschüttert, und wie grimmig immer in der Dunkelheit gerungen wurde, wie entschlossen die verlorenen Haufen die Gräben zu durchwaten, die Wälle zu erklimmen suchten, das Kriegsglück war dem Herzog hier nicht günstig. Seine Leute mußten zurück. Als dann kurze Zeit darauf zahlreiche Brander erschienen und in düsterrotem Glanze die Ilmenau hinuntertrieben, da war auch der Plan gescheitert, mit zusammengebrachten Handkähnen über den Fluß zu setzen. Der Angriff schlief allmählich ein, die Streitenden begnügten sich mit einigen Armbrustschüssen hin und her.
Anders verlief die Schlacht am Westergraben. Hier hielten das starke Schanzwerk, das die Stadt doppelt schützte, die Hafenmänner und eine Schar erlesener Handwerkskämpen besetzt. Keinen Schritt zu weichen, lieber den Tod zu erleiden, als das Werk aufzugeben, war der feierliche Entschluß all dieser Wackeren gewesen. Sie hatten dem Gefecht entgegengejauchzt, wären unter Haralds Führung der Hölle und dem Teufel nicht gewichen. Um so unerwarteter, furchtbarer traf es sie, daß er fern blieb. In Angst und Sorge hielten sie Ausschau nach ihm, sehnsüchtig und vertrauensvoll anfangs, dann von steigender Erbitterung gefaßt. Gerüchte sprangen auf, er wäre von Mördern überfallen und getötet worden. Gerüchte, die jedes Herz mit brennender Wut erfüllten und, als die Viertelstunden verrannen, ohne Harald zu bringen, den Heerbann auseinander sprengten. »Wir haben's den Geschlechtern geschworen, wir kämpfen nur unter Harald!« tobte Riele Haden. »Kein Schwertstreich ohne ihn!« Und die gesamte schwarze Schar, mehr als drei Viertel der Hafenmänner zogen ab, um sich über das Schicksal des Führers zu vergewissern. Die zurückblieben, weil die Liebe zur Vaterstadt über ihren Grimm siegte, waren ein zu schwaches Häuflein, entbehrten der straffen, kriegserfahrenen Leitung. Nun aber setzte gerade gegen sie Heinrichs wuchtigster Angriff ein. Mit wachsender Verzweiflung hofften sie auf das rettende Wunder – doch Harald kam nicht. Immer stärkere Kolonnen des Gegners wälzten sich gegen das Werk vor. Schon lag weit über die Hälfte der Verteidiger tot oder schwer verwundet. Und Harald kam nicht! Gegen den hingeworfenen Vorschlag, beim Rat um einen neuen Obristen und Verstärkung zu bitten, wehrten sich der Stolz der Männer. Mit den verhaßten Waffenknechten Schulter an Schulter gegen den Feind anzutreten, das vermochten sie nicht übers Herz zu bringen. Lieber harrten sie führerlos in der Schreckensnacht aus. Und so trat ein, was unausbleiblich war: Nach immer wiederholten, rasenden Anläufen gelang es den kriegsgewohnten Knechten des Herzogs, in die Schanze einzudringen. Ein letztes, rasendes Ringen hob an, Brust an Brust kämpften die zornmütigen Gegner, und schaurig gellte das Triumphgeheul der Sieger, das verzweifelte Kampfgeschrei der zurückgedrängten Verteidiger durch die Finsternis. Zuletzt war trotz aller verzweifelten Tapferkeit das Werk nicht mehr zu halten, denn von allen Seiten her ergossen sich jetzt Schwärme der herzoglichen Truppen über die Tapferen. Und so wich in leidlich guter Ordnung, ehe es auch dafür zu spät war, der Rest der Besatzung über die Grabenbrücke auf den Wall zurück. Ihrem noch ungebrochenen Mute gelang es, die Zugbrücke zu zerstören, bevor der Feind, der der Dunkelheit wegen nur vorsichtig nachdrängte, sie daran hindern konnte.
Das erste Treffen war verloren, die wichtigste Stellung in der Hand des Feindes und überaus groß die Verluste. Aber auch der Stürmer hatte schwer gelitten und rastete erschöpft von der Blutarbeit. So ebbte der Kampf vorübergehend ab, konnte der Wall selber noch gehalten werden. Die Männer machten es sich beim Lagerfeuer hinterm Walle so bequem wie möglich; starke Wachen auf der Höhe verhinderte weitere verderbliche Überraschungen.
In Wolf Vynkes Haus brannte die ganze Nacht hindurch Licht. Jussunda mit den Mägden war damit beschäftigt, Suppen für die Kämpfer zu kochen, während der greise Kreuzfahrer, der seinem Schwur getreu am Kampfe nicht teilnahm, doch mit letzter Hingebung für die Verwundeten sorgte.
Als sie die müden Krieger alle gesättigt und gestärkt hatte, gelang es Jussunda, für einen Augenblick in Heini Hoyers Nähe zu gelangen.
»Und Harald? Harald ist immer noch nicht gekommen?« fragte sie zitternd.
»Du verhehlst mir, was du weißt,« drang sie von neuem auf ihn ein. »Nichts in der Welt hätte ihn fernhalten können, wenn nicht ein Unglück geschehen wäre. Es ist ein Unglück geschehen, und du darfst es mir nicht verschweigen. Hab' doch Erbarmen mit mir! Ich ertrag' es sonst nicht länger. Die Angst um ihn erwürgt mich. Hast du ihn treu geleitet, wie du mir versprachst? Er ist nicht in Mörderhand gefallen? Und niemand hält ihn gefangen zurück?«
»Das sind viele Fragen auf einmal,« konnte sich Heini Hoyer nicht enthalten, fast spöttisch zu bemerken. »Streng gehorcht habe ich deinem Befehl, Herrin. Und nicht zwecklos. Denn heute abend, als er vom Abt heimkehrte, machte sich eine Schächerbande an ihn heran – nun, sei ganz ruhig, Jussunda, wir haben sie mit derben Hieben auseinandergesprengt. An diese Begegnung werden sie noch lange denken, die Dummköpfe.«
»Und trotzdem ist er ausgeblieben?« Ihr schwindelte. Sie sank auf den nächsten Stuhl.
Heini Hoyer kam zu Entschluß.
»Du darfst nicht immer und immer nur an ihn denken, Jussunda,« bat er. »Kein Mann verdient es, daß du dir seinetwegen Kopf und Herz schwach machst. Harald verdient es so wenig wie einer von uns.«
»Wieder beginnst du ihn zu verleumden!«
»Du willst von mir wissen, ob er irgendwo gefangen sitzt,« stieß Heini hervor. »Nun, vielleicht hält ihn irgend jemand gefangen. Es gibt so viele Gefängnisse und so viele treffliche Wärter. Wärter, denen der Gefangene gar nicht entschlüpfen will.«
»Was meinst du?« Das Mädchen bebte am ganzen Leibe.
»Ich wäre ein Lump, wenn ich's dir länger verschwiege,« stieß er hervor. »Also gut! Damit du mir endlich glaubst und dich von ihm losreißest. Als ich von ihm schied, da gelüstete es mich noch, deinem Befehl gehorsam, ein wenig weiter über ihn zu wachen. Die Buben hätten ja ihren feigen Überfall wiederholen können. Und wie ich so im Dunklen lauerte, huschte eine Frau an mir vorbei, zu ihm ins Haus. Jussunda, ich habe die Frau erkannt, trotz des dichten Mantels, trotz des Schleiers, den sie trug. Es war Maria Holk.«
Jussunda wurde leichenblaß. Doch sie sagte kein Wort. Flüchtig nur streifte ihr Blick des Malers Gesicht. Dann ging sie zu den Mägden zurück, gab einige nötige Anordnungen und sagte dem Vater gute Nacht. Auf ihrem Stübchen aber kleidete sie sich langsam, wie träumend, in das schönste Gewand, das sie besaß, in das Gewand, darin er sie am liebsten gesehen hatte. Um Hals und Arm hing sie ihren bescheidenen Schmuck, und als es stille auf der Treppe war und niemand lauschte, da schlüpfte sie eilig zum Hause hinaus. Die Finsternis der Gasse umfing sie. Es war kälter geworden, und der Wind ging hart, aber das Mädchen spürte nichts davon. Langsam schritt sie die Gasse entlang, unerkannt, unbeachtet. Wer kümmerte sich auch in dieser Nacht des Schreckens um Herumirrende?
Gott selber führte ihr den Freund entgegen. Wie mit überirdischer Macht zog es sie zu der Stätte, wo er verworren und verstört sein Schicksal erwartete. Nicht mehr imstande, Herr seines Grimms zu werden, seines Grimmes über die, die Mörder gegen ihn ausschickten und jeden seiner Gedanken beschmutzten, nach all der erlittenen Kränkung innerlich für immer von dieser Stadt getrennt, umweht noch vom Duft und Glanz Marias, heimlich dabei sich doch ausgestoßen fühlend aus der Gemeinschaft der Treuen, so verbrachte er die Nacht des Zusammenbruchs auf der Gasse, sie hatten, mit ihrem Verrat, sein Herz gemordet – aber war er nicht ein schlimmerer Verräter als sie? ... Plötzlich sah er Jussunda auf sich zukommen, sah sie, die vor Furcht und Kälte erschauerte, dem eisigen Wehen der Herbstnacht schutzlos preisgegeben. Da schlug ihm laut sein Gewissen. Entgeistert blickte er das Kind an und wußte vor Schmerz und Scham kein Wort herauszubringen. Und wie sie aufjauchzend ihm entgegenstürzte, sich an ihn schmiegte; wie die Zauber magdlicher Keuschheit sein Herz mit süßem Hauch aufs neue streifte, da ergriff ihn heißes Mitleid mit ihr, Reue ohne Grenzen. Ihm war, als sollte er sich ihr weinend zu Füßen werfen und die Heilige um Verzeihung bitten. Er bat nicht, er zog Jussunda an sein Herz und küßte den kühlen, roten Mund der Armen, die er frech betrogen hatte.
Durch ihren schlanken Körper rannen heiße Fieberschauer, schwerer und schwerer ward die schwankende in seinem Arm. Und seltsam – wieder stieg ihm die Erinnerung an die unglückliche Mutter auf, die Heinrich mitleidslos um Frühling und Frühlingsglück betrogen hatte, die dann in trüber Nebelnacht in den Wassern der Ilmenau umgekommen war. Als streife sie ihm dicht vorbei, als winke sie ihrem Sohn, als schaue er ihr Gesicht, so deutlich war ihm die Erscheinung.
Nun ja, er, der Bestohlene und Betrogene, hatte Jussunda bestohlen und betrogen, wie ein Schändlicher, Ehrvergessener. Aber was galt es? Noch wußte sie ja nichts, noch traute sie dem Diebe ja. War er nicht trotz allem ein Mann des Glückes, so reich wie keiner mit köstlichsten Kostbarkeiten beschenkt? Diese hier an seiner Brust, die an ihn glaubte, glauben würde bis ans Ende der Tage, verscheuchte allen Spuk der Grüfte. So legte er lächelnd den Arm um sie. »Komm, daß ich dich nach Hause bringe! Komm, süßes Lieb, du darfst nicht länger in der Gassennacht verweilen.«
Doch wie er das sagte, richtete sie sich auf, und all ihr Zittern war verflogen. »Nicht eher gehe ich heim, bis du mir gesagt hast, ob Heini Hoyer lügt, ob du in dieser Nacht nicht nur die Stadt, sondern auch mich verraten hast. Ob Maria Holk bei dir gewesen ist!«
Wie vom Blitzstrahl getroffen, starrte er sie an. Kein Wort kam über seine Lippen.
»Sprich doch, Harald, sag', was du willst, nur brich dies Schweigen! Ich werde ja vergessen, gewiß. Nur die volle Wahrheit mußt du mir sagen. Die heilige Jungfrau wird mir darüber hinweghelfen. Ich bin ja deiner nicht würdig, Harald. Mein Herz ist so arm, und ich kann dir auf deinen Flügen nicht folgen, dir, dem Reichen, Gewaltigen. Aber erbarm dich mein, erbarm dich mein!«
Vom Wall her flammte blutrotes Feuer auf. Sein Licht zog ein Diadem um die reine Stirn. Und Harald wagte es nicht mehr, sie mit trügerischem Wort zu beruhigen. Weltenfern lag es ihm aber auch, ihre Verzeihung zu erflehen. Wieder stürmten Grimm und Zorn, gekränkter Stolz und Überdruß durch seine wilde Seele. »wenn der Schwätzer es dir denn verraten hat – nun ja, es ist wahr. Ich habe mit dieser Stadt, die meine Seele und meinen Stolz mit Füßen trat, ich habe mit den Meineidigen nichts mehr zu schaffen, so vergiß auch du mich. Ich habe mir ein anderes Glück erlesen, ein verbrecherischeres, farbigeres, heißeres Glück. Vergiß mich, Jussunda, wie ich heute nacht dich vergessen habe. Ich bin deiner nicht wert. Ich sehe in frommer Liebe kein Glück mehr, ich sehe nur Ketten, wir taugen nicht zueinander. Laß mich gehen, damit ich dich nicht ins Verderben mitreiße!«
Wild die Hände aufs Herz gedrückt, die Augen starr vor Schreck und Grauen, sah Jussunda dem sich rasch Entfernenden nach. Dann glühte in ihren Augen ein Schein wie von toller Liebe und wildem Hassen, und dann schrie sie auf, wie einer aufschreit, den des Wahnsinns Krallen gepackt haben.
So eisig, eisig kalt war die Nacht. Jussunda weinte vor Kälte. Und doch jagte immer wieder Fieberhitze durch ihre Adern.
Versunken in Schlamm und Finsternis alles, was ihr Glück gewesen was ihr Unglück war! Jetzt blieb ihr nichts mehr als der Frieden, der hinter allem Irdischen lag, nichts als ein dumpfes Sehnen nach Friedhofsruhe, wie unter schwerer Last, im wachen Traum, wandelte sie einsamen Weg weiter. Der Vater mochte wohl nun nach ihr suchen, auch Heini Hoyer mochte durch Haus und Garten eilen – nur sekundenlang und schattenhaft gedachte Jussunda ihrer. Eine Hoffnung allein blieb, tauchte in ihrer ans Marterholz geschlagenen Seele immer wieder auf: wenn er zurückkäme, tröstend wieder seine Arme um sie legte und ihr allen Zweifel mild verziehe. Wenn er zurückkäme, sei es auch nur für eine Stunde, damit zum letztenmal die wilde Wonne wieder über sie dahinraste, die süß und göttlich gewesen war wie Christi Gnadenwort. Nur noch für eine Stunde, dann ginge sie gern in das fremde Land.
Ihr Blick suchte die finsteren, winkligen Gassen zu durchschweifen; wenn ein Mensch schattengleich um die Ecke hastete, flutete freudige Glut in ihr auf, denn sie hoffte, den Freund vor sich zu sehen. Zuletzt schimmerte ihr ein dürftiges Licht entgegen. Jussunda stand vor Kaspars Schenke. Einer plötzlichen Eingebung folgend, klopfte sie an die Tür. Alsbald schlürfte hustend Frau Trud herbei, die so wenig wie andere in dieser Nacht Schlaf gefunden hatte.
»Heiliger Dionys! Jungfräulein! Was treibt dich zu mir? Ach, der Teufel hat heute Macht in Bardowieck. wären sie doch meinem Rat gefolgt! Ich hab's vorausgesehen, ich habe es prophezeit, rot wie Blut war der Mond in jeder Nacht, und drei Flecken zeigten sich. Nun, den Kaspar hab' ich oben im Dach eingesperrt, dem kann nichts begegnen. Immerhin, wenn die schöne, liebe Stadt verlorenginge, Jussunda, was sollte aus mir und meinem Manne werden? Die meisten Bürger stehen in Zechschuld bei mir; wenn Heinrich Bardowieck erstürmt, zahlt doch keiner von ihnen.«
»Ich bitte dich...« begann Jussunda zaghaft.
»Ach,« unterbrach sie Trud, »bitte, um was du willst, es sei dir von vornherein gewährt. Dein Vater, der tapfere Held, ist gewiß im Kampfe gefallen... da suchst du Schutz vor Ungemach und Verfolgern bei mir. Nun, das ist recht. Frau Trud wird dich für ein Billiges wie eine Löwenmutter bewachen.«
»Das ist es nicht,« entgegnete Jussunda leise. »Ich komme, daß mir deine Zauberweisheit, die vielgerühmte helfe, deine Wissenschaft geheimer Dinge.«
»Bei St. Sebastian,« raunte Trud tief erschreckt und preßte die fleckige Hand auf Jussundas Mund. »Du bringst mich auf den Scheiterhaufen. Wer hat dir denn solche Bosheit berichtet? Von Hexenkunst verstehe ich weniger als meine Sau im Stall von Bibelsprüchen. Das heißt...« Sie sah sich wieder ängstlich um und zog Jussunda ins Haus. »Wenn ich dir damit helfen könnte, allerliebstes Kind, aus Freundschaft zu dir täte ich's am Ende. Denn du wirst mich ja nicht verraten und verklagen. Sage doch, was du mitgebracht hast!«
Jussunda zog einen prächtigen Almandinring vom Finger, den sie der Alten schüchtern hinreichte. Trud wog den Ring mit sorgenvoller Miene, ihre Zunge prüfte kennerhaft die Kälte des Steins, daneben aber blickte sie schon begierig auf die schöne Münzenkette, die sich um Jussundas weißen Hals schmiegte.
»Es ist ungeheuerlich, was« ich deinetwegen wage, liebes Mädchen,« beteuerte sie. »Du weißt, wie Abt Iso die klugen Frauen verfolgt, denen der Oberste aller guten Geister Zauberkunst und hohe Wissenschaft verliehen hat. Trotzdem... um deinetwillen... wenn du mir die Kette noch dazu gibst! Du bist nicht geizig, Liebchen, und Wolf Vynke kauft dir gern eine andere. Bedenke, die Gefahr ist zu groß.«
»Morgen sollst du sie haben,« flüsterte Jussunda errötend, »nur heute nicht. Nein, bitte, laß sie mir noch bis morgen.« Dabei blickte sie Frau Trud aus leicht umblauten, tränenfeuchten Augen so rührend an, daß sich die Alte brummend fügte. »Hast sie wohl von deinem Liebsten, dem wilden Prinzen? Nun gut, behalt sie und schick mir eine andere. Du hast ja ganze Truhen voll. Und nun komm!« während sie das Tor sorgsam Versperrte, stieg sie hastig in die Tiefe des Kellers hernieder und schloß dann hinter Jussunda die Falltür.
Das Paar tappte sich durch einen schmalen, feuchten Gang, von dessen wänden Wasser eintönigen Klanges niedertropfte. Der gespenstische Weg endete schließlich in einer, niedriger Grabkammer gleichen, Wölbung. Frau Trud faßte die zitternde Jussunda fest an der Hand und führte sie durch die dicke Finsternis vor eine verhängte Nische – und im selben Augenblick flammten wie durch Zauberkraft an der Kuppel bunte Lämpchen auf, wie Höllensterne flimmernd, wie Edelgestein im Bauch der Erde. Das erschrockene Mädchen faltete bebend ihre Hände zum Gebet, aber Frau Trud riß sie hastig auseinander: »Törin, du! Störe mir die große Stunde nicht! Sprich kein Wort, du werdest denn gefragt! Die erhabenen Geister der Vorzeit nahen. Wehe uns beiden, wenn dein Gebet sie verscheucht!«
Mit steigendem Grauen betrachtete Jussunda die finsteren Symbole ringsum. Da glimmerte es grünlich aus den Augenhöhlen eines Uhus, da hing von der Decke lebloses Gewürm herab, das Zauberkunst vor der Verwesung bewahrt hatte, tanzte farbiges Dämmerlicht über spukhaft schimmernde Gebeine, so daß es schien, als bewegten sie sich. Auf altarähnlicher Erhöhung gloste ein weißer Pferdeschädel. Mitunter lüftete sich von ungefähr der Vorhang, der die Nische verhüllte, und dann blitzte sekundenlang ein menschliches Skelett hervor. Plötzlich rauschte die große Eule mit schwerem Flügelschlage durch die Dämmerung, schwirrte auf Jussunda los – schon fühlte die Entsetzte den eisigen Luftdruck an ihrer Stirn, wie sie laut aufschreien wollte, preßte Frau Trud die knochige Hand auf ihren Mund. Da dampfte Qualm auf, betäubend widrigsüßer Qualm, und rotgoldene Flammen flackerten. Mit wilder Stimme kreischend warf sich, vor Inbrunst schäumend, die Alte auf die Knie: »Blitzstarker Tor, den sie in die Unterwelt gejagt haben, starker Gott unserer Väter, Donnerer, Herr der Nächte durch Zeit und Ewigkeiten, Unüberwundener, immer bereit zur Wiederkehr – erscheine! Deine Gläubigen wenden sich von der Betrügerin und Mörderin Sonne; aller Schwachen Schutz und Heiland ist der Mond, deine Spiegelung! Legen dir und Fluch dem Jungfrauensohne! Erscheine, Tor, erscheine!«
Von Grauen geschüttelt, starrte Jussunda dem rätselvollen Weibe ins Gesicht.
»Die Zeit ist da,« zischte Trud, »du darfst ins Innere der Dinge schauen. Frage!«
Fest hielt ihr nerviger Arm das zusammenbrechende Mädchen. »Ich wage es nicht,« zitterte Jussunda. »Was mich getroffen hat, ist so furchtbar... ich wage nicht zu fragen. Wenn die Antwort... laß uns gehen, Trud, laß uns gehen!«
»Einfältige Dirne!« stieß die Hexe hervor. »Frage, ich rate dir wohl, solange es noch Zeit ist! Die Götter der Urwelt lassen sich nicht narren; wer sie aus tiefem Schlaf geweckt hat, muß ihnen Rede und Antwort stehen, sei nicht feige! Ich schütze dich, ich. Meine Macht reicht weit, und die Dämonen gehorchen mir. Frage doch, Mädchen!«
Jussunda rang, von übermächtigem Schreck bezwungen, noch immer nach Atem. Endlich zuckten ihre feinen Lippen leise, und mehr gedacht als gesprochen bebte aus ihrer müden, furchtgequälten Seele die Frage: »Liebt er mich noch? Gehört mir sein Herz noch? Bleibt es mein? Werde ich ihn wiedersehen, ehe ich sterbe – und – muß ich sterben?«
Sehnsuchtsvoll starrte sie, der Antwort harrend, in die bunten Dämpfe. Trud hatte ihre Flüsterreden nur undeutlich gehört. »Frage doch, frage doch!« ermunterte sie sie. »Noch ist es Zeit.«
Und plötzlich ging ein Klingen und Rauschen durch den Raum wie ferner Sturmwind, noch einmal sausten die Flammen hoch auf, und dann war wieder grabentiefe Stille, feierliches Dunkel im Gewölbe. Doch da...da ... der Vorhang der Nische wallte, wie von unsichtbarer Hand gefaßt, ein wenig zur Seite, nur ein wenig, nur auf Augenblicke, und das Skelett dahinter glimmerte hell auf, hob die Hand und winkte. Mit weißen Lippen brach Jussunda zusammen...
Dann stand sie wieder, von wahnsinnigem Kopfschmerz gepeinigt, wahnsinnigeren Schmerz in der Seele, draußen auf der Gasse, wo die kalte Luft des grauenden Morgens ihre heißen Schläfen umstrich. Traumverloren ging sie ihren Weg. Wohin er führte, wußte sie nicht, es galt ihr auch gleich; bewußtlos folgte sie seinen Krümmungen. Wenn in ihr noch ein Wunsch lebte, dann war es der, jetzt von keinem Menschen mehr gesehen zu werden, keinem zu begegnen, der ihr wohlgesinnt war. Alle hätten ja das Todesurteil auf ihrem Antlitz, in ihren Augen lesen müssen.
Angstvoll schlich sie längs der Gartenzäune hin, sich rasch abwendend, wenn jemand ihr entgegenkam. Mancher fragte sich wohl, wer das fremde adlige Mädchen im Festgewande sein möge, das dort zum Tanze wandelte. Zum Tanze? Heute zum Tanze? Dann aber eilte er weiter. In Bardowieck sorgte zu dieser Stunde jeder um sein eigenes Leben und ließ die anderen treiben, was sie wollten. Allmählich wurden die Häuser immer ärmlicher und kleiner, die schmalen Zeilen immer sumpfiger, statt der Gebäude aus Holz und Fachwerk lehnten nur noch erbärmliche, strohbedeckte Hütten aus Lehm und Weidenruten gebrechlich und verwahrlost aneinander. Bei jedem Schritt spritzte dicker Regenschmutz auf und besudelte Jussunda das Gewand. Doch es galt ihr nichts mehr. Es war der letzte Gruß der Erde. In dem Lande, dahin sie wanderte, brauchte sie kein hochzeitliches, reinliches Kleid mehr. Jeden Erdenflecken würde die Ilmenau heut sorglich fortspülen.
Wie Jussunda das dachte, ging ein Zittern durch ihren schlanken Leib, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nein,« sagte sie laut, »ich will nicht weinen. Nun wird ja alle Kümmernis und Qual von mir genommen, warum sollt ich weinen? Wenn ich weine, möchte Gott im Himmel meine Tränen an ihm, der mich geliebt hat, rächen wollen. Und ich gönne ihm doch alles, alles Glück. Großer Gott, heilige Jungfrau, schützt mir den Geliebten!« Aber der Abschiedsschmerz war stärker als sie. Ein Tränenstrom brach unaufhaltsam aus ihren Augen, sie vermochte nicht mehr dagegen anzukämpfen, legte das Haupt an den Stamm einer alten Buche und ließ die fürchterliche Spannung der Seele sich in wildem Weinen friedlich lösen.
Die Stunde, die sie gerufen hatte, war gekommen, mit ihr wieder die Ruhe und die Fassung, die Kraft zum letzten Gange, plätscherndes Summen und Singen klang in Jussundas Ohr. Es war die Ilmenau. – Grauer Dunst zog vor ihr her. Es waren die Nebel, die still aus den Wassern stiegen. Noch einmal sank das Mädchen andächtig in die Knie und betete. Blickte noch einmal scheu nach der Stadt zurück, als hoffte sie immer noch... ach nein, sie hoffte und wünschte nicht mehr. Und während ein rührendes Entsagen sehnsuchtssüß und traurig auf ihrem schönen weißen Gesicht lag, blickten die Augen träumend himmelwärts, als sähen sie Jussundas Seele schon auf goldenen Schwingen zu Gott schweben. Still löste sie die Kette vom Halse, die Harald ihr geschenkt hatte, und versteckte sie an ihrer jungen Brust, damit kein Räuber der Toten den teuren Schatz entreißen könnte. – – –