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7. Kapitel

Domgang

Unerwartet, mit wilder Heeresmacht, wie ein Feind, der lange im Hinterhalt auf der Lauer gelegen hat, war nach prangend schönen Sommertagen der Regen- und Sturmherbst über Bardowieck hereingebrochen. Vom Nordermeer her zog in endlosen Geschwadern dunkelgraues Gewölk, und heulend plätscherten die Regengüsse nieder. Wenn ihr Strom einmal auf Stunden versiegte, dann schien es, als senkten die Wolken sich aus der Höhe herab, die erstürmte Stadt um so fester zu halten. Um Türme und Giebel flatterten wie ihre Siegesbanner graue Nebelschwaden. Der Eroberer Herbst hatte auf der ganzen Linie triumphiert, und sein Herold, der Nordwest, verkündete mit schrillend kreischenden Trompetenstößen den Tod des königlichen Sommers.

Die Stadt schien ein einziger See. In allen Gassen, selbst auf dem Marktplatze, dehnten sich endlose Pfützen, die sich immer weiter ausbreiteten und schier in die Häuser hineindrängten. Denn von den Dächern, von den Wasserspeiern des Doms rieselte es in Bächen nieder, selten nur sah man einen tief Vermummten eilig durch die Nässe hüpfen, selten nur zog ein Fuhrmann mit seinem Karren trübselig des Weges. Wie Delphine prusteten seine Öchslein, und dem Begleiter wäre es wahrscheinlich lieber gewesen, wenn sein Wagen statt der Räder Ruder besessen hätte, sonst wagte sich weder Mensch noch Tier in die mißfarbenen Dünste, die mißfarbene Flut hinaus.

Und doch, vom Westergraben her kam leichten Schrittes, immer bemüht, dem Gesumpf auszuweichen, ein Mädchen gegangen. Manchmal blieb sie stehen und lachte zum wolkenverhangenen Himmel auf, gerad' als funkele über ihr lichte Bläue und als stiegen Lerchen jauchzend in die Luft. Daß der Regen ihr ins Gesicht peitschte und der harte Wind in ihre nasse Gewandung fuhr, machte Jussunden nichts aus. Deuchte es sie doch, als wären die Tropfen, die ihre Lippen berührten, Küsse des Freundes. So hüpfte und tririlierte die schlanke den Weg zum Dom, dem sie an keinem Morgen, das Wetter mochte noch so lustig, noch so widerwärtig sein, fernblieb. Und zumal in diesen Tagen strahlenden Glückes nicht, wo es sich an heiliger Stätte, mitten zwischen frommen Gedanken, so lieblich darüber nachsinnen, wo es sich für des Freundes Wohlergehen so zärtlich beten ließ. Und ehe Jussunda durch das hohe Steinportal schritt und Gott abermals aus vollem Herzen für das ihr gespendete überreiche Geschenk, Haralds Liebe, dankte, winkte sie noch einmal den wallenden Nebeln einen Gruß zu. Wahrhaftig, wenn sie nicht so grau dreingeschaut, wenn Sonnenfunken sie durchblitzt hätten, dann wären sie beinahe wie Brautschleier anzusehen gewesen!

Feierlicher, ernster, dunkler als sonst lag das gewaltige Kirchenschiff. Auch sonst drang durch die hohen bunten Fenster das Tageslicht nur gedämpft in den weiten Raum, aber heute hatte die draußen herrschende Regendämmerung alle, auch die letzte Helligkeit aufgesogen. Nur von den Kerzen auf dem Hochaltar, deren Flamme starr und weiß dastand, nur von geweihten Lichtern, die hier und da bei Grabsteinen brannten, fiel matter Flackerglanz auf den marmornen Boden. Niemand außer Jussunda war im schweigenden Gotteshaufe. Leise, auf den Zehenspitzen, schlich sie zum Altar und sank vor dem Bilde Mariens in die Knie. Ein überwältigend herrliches Altargemälde. sie sagten nicht zuviel, wenn sie es für die Perle aller deutschen Kunst erklärten. Da saß zwischen Joseph und der heiligen Elisabeth, die in Ehrfurcht ein wenig hinter sie zurückgetreten waren, die Mutter Gottes, und das heilige Kind stand, mit versonnenen Augen in Unendlichkeiten blickend, auf ihren Knien, sieghafte Ruhe ging von den stillen, dunklen Farben aus. Marias Mantel war in düsterem Rot, Elisabeths in goldenem Braun gehalten, die olivgrünen Kleider blickten darunter hervor. Gleiche Schlichtheit zeigte Josephs Gewand. Wunderbar hob sich von all dieser strenge der Farben und des Faltenwurfs der schimmernde, nackte Körper des Christuskindes ab. Mit feierlichem Ernst schauten Joseph und Elisabeth auf den Heiland. Ihre faltenreichen Gesichter, ihr festgeschlossener Mund, ihre glänzenden blauen Augen gaben der heiligen Szene ein nordisches, echt deutsches Gepräge. Anders als sie freilich blickte Maria. Und selbst Jussund fiel es in dieser Minute, wo ihre Gedanken nur zwischen dem geliebten Mann und dem Erlöser kindlich-fromm hin und her flogen, selbst Jussunden fiel die hinreißende Ähnlichkeit zwischen der Gottesmutter und Maria Holk auf. Heini Hoyer, der gepriesene Schöpfer des Bildes, hatte dem schönen Weibe mit diesem ewigen Kunstwerk die wundersamste Huldigung erwiesen, die einer Sterblichen erwiesen werden kann. Mit seligem Lächeln beugte sich die Mutter über den Sohn-Welterlöser, und unendliches Glück schimmerte in ihren Rätselaugen. Auf sie allein, auf ihr schönes Antlitz, ihr golden rotes Haar fiel ein Abglanz des Wunderlichts, das von dem heiligen Kinde ausstrahlte.

Köstliche Ruhe, frommer Frieden zog in das Herz jedes Gläubigen, der vor diesem Bilde niederkniete. Kündete es doch überwältigend den großen Gott der Liebe, der ergreifender und mächtiger zu unseren Herzen spricht als der rächende Gott des Zorns. So tief war Jussunda, heute ja besonders empfänglich für die himmlische spräche des köstlichen Gemäldes, in ihre Träume versunken, daß sie zusammenschreckte, als hinter ihr leise Schritte sich näherten und gleich darauf eins weiche Hand ihre Schulter berührte.

»Du hier, Jussunda?« fragte Maria Holk erstaunt, sich dem Mädchen zuwendend, »was hast du denn heute von der heiligen Jungfrau zu erflehen oder ihr zu beichten?«

»Du findest mich immer am Morgen im Dom, hochgebietende Frau,« entgegnete das Kind leise. Und es seufzte vor Glückseligkeit. Ach, einem anderen Herzen anvertrauen dürfen, was das eigene Herz so süß bewegte! Maria warf ihr einen mißtrauischen Blick zu. Fast hätte das Wort für sie ein Vorwurf sein können, war es doch ein Gebot für jede adelige Hochzeiterin, daß sie während der ersten sieben Tage nach dem Feste eine Morgenstunde im Dom betend verbringen mußte. Aber wie viele andere fromme Gebräuche der Vergangenheit, war auch dieser in Bardowieck Vergessen worden, so strenge Iso sonst Kirchenzucht hielt.

»Nicht gern ließ ich mich in der Sänfte hierher tragen,« meinte Maria, »denn fast wäre ein Boot heute tauglicher gewesen. Aber du ... du kommst zu Fuß den weiten Weg. Es muß wohl wirklich ein besonderer Anlaß sein.«

»Ach, Frau Maria –«

»Wie?«

»Ich sag' es nicht.«

Halb ironisch, halb gelangweilt betrachtete Maria die Erglühende. Dann stieg vor ihr die Minute auf, wo Jussundas Hand auf Haralds Schwert gelegen hatte. Wie in guter Laune, neckfreudig, meinte sie: »Darfst mir getrost verraten, was dir begegnet ist. Wir Frauen hören alle gern von Liebe. Da ist doch sicher irgendein freundliches Glück zu dir gekommen, um dessen Erhaltung du die Heilige bittest. Nun, wie ich sie kenne, und ich kenne sie ja sehr gut –« dabei ging ein stolzes Glänzen fraulicher Eitelkeit über ihr Gesicht – »wird sie dein Gebet erhören.«

»O mein Glück! Mein geliebtes Glück!« flüsterte Jussunda innig.

»Und wie sieht denn dein Glück aus?« erkundigte sich Maria freundlich. »Hat's krausen Bart? Blaue oder graue Augen?«

Da schämte sich das Mädchen, schluchzte und neigte das purpurüberglühte Antlitz auf die Brust. Maria aber, die es trieb, gütig und heiter zu scheinen, beugte sich zu der Knienden herab und hob sie sacht vom Boden auf. »Nun, beichte nur, Wildfang, welcher Hexenmeister es unserem spröden Hexlein angetan hat! Brauchst es dann dem Priester nicht zu beichten,« lächelte sie. »Hat er dich schon geküßt?« Und während Jussunda schüchtern und doch überselig das Gesicht an ihrer Schulter barg, drängte die schöne Frau, mißtrauisch, erregt und neugierig, weiter in sie: »Nicht wahr, er hat dich doch geküßt? Nun, und wie heißt er denn? Mir, der Frau und Freundin, wirst du's nicht verschweigen wollen.«

Und von der Güte, der Vertraulichkeit Marias überrascht und überwältigt, stolz dabei, so unendlich glücklich zu sein, und glücklicher noch, jemand gefunden zu haben, der ihr das wunderbare Geheimnis zu entlocken verstand, flüsterte sie Haralds Namen in Marias Ohr.

Da fuhr die Königliche empor. Ungläubig, feindselig, zornig blitzten ihre Augen. »Harald? Und du? Wie lächerlich!« sie rang nach Worten. »Närrin! Eitle Närrin! Wann hast du die Tollhausgeschichte geträumt?« Gleichzeitig riß sie sich heftig von Jussund los und trat erzürnt einen Schritt zurück. »Schamlose du!«

Da merkte Wolf Vynkes Tochter, daß sie irgendeinen Fehler begangen hatte, scheu wollte sie sich entfernen.

»Wart' noch!« klang Marias drohende Stimme, »Wie darfst du dich vermessen, du, ein Kind, zu dem Prinzen emporzublicken? Mag sein, daß er leichtsinnig genug gewesen ist, dir ein freundliches Wort zu gönnen, und du hast es mißverstanden, rühmst dich nun seiner Gunst in den Gassen und Kirchen. Aber glaube doch nicht, daß ein Harald sich im Ernst an eine Jussunda Verschwendet! Ja, vielleicht für eine müßige halbe Stunde! Du und der Unersättliche! Du und einer, der nach allen Sternen greift und am liebsten Gott vom Thron stürzen möchte! Ich warne dich, Mädchen! Der taugt nicht für deine Ziele, der ersehnt sich etwas anderes als ein blasses Hausfrauchen. Laß ihn frei, solange es noch Zeit ist, ich rate dir gut. Wie eine Kugel wirst du ihm bald lasten, wie der Gefangene im Turm die Kugel haßt, die ihm beim Gehen hindert und ihm ins Fleisch schneidet, so wird er dich hassen.«

Bleich bis in die Lippen hob Jussunda doch tapfer den Blick. »Sag', was du willst! Ich glaube ihm – an ihn glaub' ich.«

»An ihn, der um meinetwillen nach Bardowieck zurückkam? Ja, wisse, nur um meinetwillen! Wie er um meinetwillen gegangen war! Um meinetwillen trotzt er dem sicheren Tod! Wag' es nicht, dich an ihn heranzudrängen! Er ist mein, mein in Ewigkeit!«

Von unerschütterlicher Liebe und Zuversicht leuchteten die großen schwarzen Augen aus Jussundas weichem Gesicht. »Rühm dich nicht! Und ich lasse nicht von ihm!« »Geh! Geh!« zürnte Maria, ihrer selbst nicht mehr mächtig. »Und hüte dich von heut an wohl vor mir!«

Wie betäubt von heftigen Schlägen, mit gesenktem Haupt, Tränen in den Augen, aber aufrechten Ganges wandte sich Jussunda aus der Kirche.

»Diebin!« Zischte es ihr nach. »Doch ich lasse dir das gestohlene Gut nicht!«

Ruhelos ging Maria zwischen den ragenden Pfeilern hin und her. Sie war außerstande, sich vor Gott zu demütigen, außerstande, ein Gebet zu sprechen. O des namenlosen Unglücks! sie zu vergessen! Warum hatte er ihr diese Schmach angetan! O gewiß, er wußte wohl, daß sie in den Dom kommen würde und hatte dies Mädchen mit dem Auftrag hierhergesandt, ihr triumphierend die Beleidigung ins Gesicht zu schleudern! Aber sie wollte sich rächen, sie wollte Matthias Holk und Rolf Ebelingk dazu zwingen, den überdreisten in seine Schranken zurückzuschleudern, ihn zu strafen, so hart, wie noch nie ein Verbrecher in Bardowieck bestraft worden war. Und wie sie so dachte, überkam sie jäh wieder aller Trennungsschmerz und alle Verzweiflung. Laut weinend stürzte sie vor dem Bilde nieder, das Heini nach ihrer eigenen Schönheit geschaffen hatte, und verging in unsäglichem Jammer und Mitleid mit sich selbst.

Ein Luftzug wehte über sie hin, machte die Kerzen hell flackern. Aus der Tiefe der Krypta war im priesterlichen Schmucke Abt Iso aufgestiegen, sein Blick fiel auf die Weinende. Behutsam trat er näher, legte leise die magere Hand auf ihren Scheitel. »Maria,« sagte er zärtlich. »Du mußt stark sein, meine Tochter, mußt endlich wieder Herrin über dein eigenes Wollen und Wünschen sein.«

»Ich vermag es nicht mehr. Ich gehe zugrunde. Ich vergesse alles über ihn, und wenn du mich nicht rettest, mein Vater ...«

»Es tut nicht gut, daß du dich hier in sündigem Schmerze verzehrst, so zertrümmerst du nicht nur das Glück dessen, dem du alles Glück bedeutest, sondern auch dein eigenes Glück.«

»Hast du mir nichts weiter zu sagen, Hochehrwürdiger?« fragte sie, sich mit Gewalt zur Ruhe zwingend.

»Dir zu sagen, Tochter? Wäre ich reich an Weisheit wie Salomo – was ich sage, würde dir doch nicht genügen. Es sei denn, ich sagte das, was du von mir zu hören erwartest.«

»Du spottest meiner,« weinte Maria.

»Niemand spottet des Lebens, Tochter, der das Leben kennt.«

»Kein Trost, keine Hoffnung? Du willst mich also sterben lassen? Ich sterbe, Vater, wenn ich ihn verliere. Und ich habe ihn verloren. Das Kind vom Westergraben hat mir's eben ins Gesicht sagen dürfen, daß meiner Jugend Freund sich einer andern geneigt hat.«

Iso wiegte leise das graue Haupt. »Wohl weiß ich, daß Harald im Hause am Westergraben ein gern gesehener Gast ist und weiß auch, daß Jussunda sehnsüchtig an ihm hängt. Aber glaube mir, der kurze Traum wird bald verweht sein, wie ich dich kenne, so kenne ich Harald – zwischen euch beide vermag, und ob Welten euch scheiden, nichts auf der Welt zu treten. Doch Verzeih, mein Kind, wenn ich eben jetzt dein schweres Leid nicht so tief zu erwägen vermag, wie es wohl dein und mein Wunsch ist. Schwere Sorgen lasten auf mir. Woran ich seit Jahrzehnten fleißig gebaut, womit ich mir vor des Allmächtigen Thron ein kleines, kleines Lob zu erwerben gehofft habe, das droht jetzt in Trümmer zu stürzen. In Trümmer durch Harald.«

»Wie gern hülfe ich euch bei dem hohen Werke!« erbot sich Maria.

Und wieder bohrten sich die Blicke des Greises in die verfinsterte Ferne. Beklemmendes Schweigen lag um die beiden; nur des Regens eintönige Melodie pochte an die bunten Scheiben. »Wenn ich je mit irgendeinem Menschen dieser Stadt über mein Werk spreche, so wirst du es sein, Maria.« Er sagte es leise, bewegt und innig, als wäre nicht schon Hans Jakob Tysenhusen sein Vertrauter und Eingeweihter.

»Dir werde ich offenbaren, was deinem Vater und deinem Gatten, was den Geschlechtern verschwiegen bleiben muß, weil sie glauben könnten, es gefährde sie. Dir aber will ich, wenn die Stunde gekommen ist, vertrauen, Maria. Vertraue du auch auf mich!«

Ihre Wangen brannten. Sie verstand den Priester.

»Du bringst mich in Sünde, Hochehrwürdiger, wenn ich deinetwegen die meinigen täusche.«

»Nicht von Täuschung spreche ich. Und nicht von Sünde. Was ich plane, Maria, und wozu ich vielleicht deine Hilfe gebrauche, das geschieht allein für die heilige Kirche. Wer für die Kirche sündigt, sündigt nicht, nein, flicht sich damit die Krone der ewigen Seligkeit.«

»Und was soll ich tun?«

»Du hast, wenn du nur willst, meine Tochter, die alte Macht über Harald. Vielleicht, vielleicht werde ich dich bitten, sie zu nützen.«

Ihr Atem ging rasch. »Verstehe ich dich recht –«

»Laß mich heute noch schweigen! Bald genug werde ich dich rufen. Noch aber, obgleich die Gefahr sich wie ein teuflisches Scheusal vor mir aufreckt, sehe ich selber den Weg nicht klar genug.«

Wieder kniete Maria auf dem golddurchwirkten Samtteppich nieder, der zum Hochaltar führte, wieder neigte sie sich tief vor dem blumengeschmückten, kerzenbeleuchteten Grabstein ihrer Mutter. Dann verließ sie das Gotteshaus. Iso war allein. Einen scheuen Blick warf er hinter sich, dann stieg er mit raschen Schritten die Stufen zum Allerheiligsten hinauf. Sein Blick ruhte auf dem prächtigen Bibelfolianten. Ein gar seltenes Stück, aus den Wirren der Völkerwanderung gerettet. »Blicke nicht zornig auf mich herab, gewaltiger Gott,« flehte der priesterliche Greis, »wenn ich vorwitzig in deine Entscheidung einzugreifen wage, vorwitzig den Schleier von der Zukunft heben will. Aber mein Herz ist so voll von Angst und Gram, daß ich schier verzage.« Er öffnete mit zitternden Fingern das heilige Buch und wartete. »Gib mir ein Zeichen, Unerschaffener, gib mir ein Zeichen! wenn du dich von mir wendest, wenn dir mein Unterfangen allzu keck und verwerflich erscheint, so nimm deine Gunst von mir und antworte der Frage nicht. Habe ich aber bislang, dein erbärmlicher Knecht, so gehandelt, wie du mich führen willst, dann, Gott im Himmel, laß mich wissen, was ich nun, wo dem Bau der Zusammensturz droht, tun soll und was dieser Stadt Schicksal sein wird.«

In heißem Gebete, mit Gott ringend, lag er auf den Stufen. Da wehte plötzlich durch klirrende Fenster ein Windstoß in die Halle, und wie von unsichtbarer Hand bewegt, rauschten die Blätter der Heiligen Schrift auf. Fröstelnd vor frommem Grauen und doch in Gier und Sehnsucht erhob sich Iso und starrte auf das vom Wind aufgeschlagene Bibelblatt. Und mit Augen, die ihm vor Erregung tränten, las er die Worte aus dem ersten Buche Mose: »Da wandte Lot sein Antlitz gegen Sodom und Gomorrha und alles Land rundum und schaute, und siehe, ein schwarzer Rauch stieg auf vom Lande, wie der Rauch eines Ofens.« Der Priester taumelte zurück. Entsetzen ohnegleichen machten seine Knie zittern, gläsern starrten seine Augen auf die fürchterliche Prophezeihung. »Erbarme dich, Gott, erbarme dich unserer armen Stadt!« schrie er, seiner selbst nicht mehr mächtig. »Erbarme dich der zehn Gerechten wegen, die in Bardowieck wohnen!«

Und abermals rang er im Gebete.

Wie er langsam die Herrschaft über sich zurückgewann, vertraute er auf ein neues Zeichen aus der Höhe. Die bloße kahle, fürchterliche Vernichtung konnte der Herr über die Stadt nicht aussprechen, die sein Kreuz überragte, in deren Mauern sich fromme Männer unablässig um ihrer Seelen Heil mühten. Aber wie Iso auch hoffte und wartete, nicht zum zweiten Mals griff die Hand von oben ein. Und so trat er, den Höchsten versuchend, aufs neue an den Altar heran. Aufs Geratewohl, mit abgewandtem Antlitz, griff er in das Buch aller Bücher, schlug zweimal, dreimal Blätter um und las dann, fiebernd, mit aufeinander schlagenden Zähnen, gierig die Minuskeln des Pergaments: »Mein trauter Freund ist mein, der unter weißen Rosen im Garten wandelt, und ich bin sein. O Sulamith, meine Freundin, du bist wie Thirza so schön, so lieblich wie Jerusalem und schreckensvoll wie Heeresspitzen, wende deine Augen von mir, denn sie verwirren mich und gießen mir wilde Glut ins Herz.« Nur eine Sekunde lang sann Iso nach. Dann atmete er hoch auf, und ein befreites Lächeln verschönte die verwitterten, faltigen Züge. »Maria! Gott will es!« flüsterte er. Und wagte nun kühn die dritte Frage. Und zum dritten Male ward ihm Auskunft: »Judith aber trat an Holofernes' Lager und betete und sprach: Gott Israels, stärke mich und hilf mir gnädiglich das Werk vollbringen, damit du deine Stadt Jerusalem erhöhest! Nach solchem Gebet trat sie zu der Säule oben am Bette und langte das Schwert, das daran hing, und zog es aus, und ergriff den Holofernes beim Schopf ...«

»Harald Holofernes!« rief der Priester mit dumpfer Drohung. »Schlage ihn, Judith von Bethulien, strecke den Unbändigen nieder, Maria Holk! Der Herr selber befiehlt es dir!«

Ein anderer als er gekommen war, gestrafften Ganges, mit vor Siegeszuversicht glänzenden Augen, stieg Iso die marmornen Stufen hinunter.


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