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Finale

Zwar gab es für die Regierung an den folgenden Tagen böse Nachrichten genug: die faktische Unabhängigkeitserklärung von Stadt und Provinz Bologna, dann von den Marken, Umbrien, denen bald vier Fünftel des Kirchenstaates folgten, auch die in der österreichischen Interessensphäre liegenden Herzogtümer Parma und Modena, dessen peinlicher Herr noch am vierten Februar nach dem Henker für die Insurgenten verlangte und schon am fünften mit seinen Soldaten und dem verwundeten Rebellenführer ins österreichische Nachbargebiet lief, trotzdem die neuen Herren in Bologna ihm noch nichts taten. Aber in Florenz und Toskana blieb es ruhig. Die Parteigänger, in dem Augenblick ohne Führer und Befehl, wo die Welle der Erhebung spürbar vom Norden nach Umbrien flutete, hüteten sich, dem deutlich und kraftvoll spielenden Militärmechanismus gegenüber in Erscheinung zu treten. Einige Studentendemonstrationen, die mehr antiklerikalen als radikalnationalistischen Charakter hatten, wurden klugerweise toleriert. Ein Häuflein Demonstranten, zumeist Romagnolen und Modenenser, die in einer Festvorstellung der Pergola den Guerra und die Konstitution hochleben ließen, brachte der Großherzog durch seine eigene Person zum Schweigen, durch ein kleines Lächeln und durch die verblüffende Bekräftigung, daß er den Signor Guerra als anständigen und mutigen Mann kennen zu lernen Gelegenheit hatte. Man konnte schon die Garnison aus dem Alarmzustand entlassen und der Stadt das normale Leben und selbst den Karneval gönnen, lange bevor Der von Modena in den ersten Märztagen, mit dem Feldmarschall-Leutnant Bentheim und sechstausend Österreichern im Rücken, sein Herzogtum zurückeroberte und für das gesamte Mittelitalien die Reaktion einleitete.

Die beiden Ereignisse, ganz ohne Zusammenhang auf einen Tag fallend, das eine einen bestimmten Kreis, das andere die Allgemeinheit erregend, störten immerhin den festlichen Verlauf des letzten Karnevalsonntags. Man fand in der Frühe den in der Florentiner Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen bekannten Baron Steiner tot in seinem Bett, leicht zur Seite gekrümmt, die Händchen beinahe zärtlich über einen Dolchgriff gefaltet, der die Embleme der Geheimpartei trug und dessen schmale und lange Klinge tief in der linken Brust stak. Das Absonderliche und einigermaßen Rätselhafte war ein mäßig großes Stück alten Gobelins in den Armen des Toten, das mit dem Messer gleichsam dem Körper angeheftet war. Die Behörde, jedenfalls aus Rücksicht auf die erregte Allgemeinheit, hielt es für richtig, die näheren Umstände zu verschweigen und die Möglichkeit eines Selbstmordes zu betonen – verfehlte Spekulationen als wahrscheinliches Motiv.

Das war das eine Ereignis gewesen, das die Fürstin Corleone veranlaßte, bereits am nächsten Tag nach Rom zu reisen, trotz der ungewissen politischen Lage im Kirchenstaat und entgegen der schriftlichen Bitte des Souveräns, zur Täuschung der scharfäugigen Hofgesellschaft erst nach Karnevalsende die Stadt zu verlassen.

Das andere Ereignis war ein mißlungener und ziemlich lächerlicher Attentatsversuch auf den Großherzog während des traditionellen »Passeggio« der Masken unter den Uffizien. Der Souverän, der das brutale Ende des Täters mit ansehen mußte, zog sich sofort zurück und erschien auch nicht zu dem nächtlichen Galafest in der Pergola, dem vornehmsten Ball des Karnevals, der wie ein Phantasma, eine Legende, eine Vision gewesen sein soll – um die Ausdrücke eines zeitgenössischen Journals zu gebrauchen.

*

Der alte Steiner war in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag in guter Stimmung gewesen. Er wußte nicht recht, warum; vielleicht, weil er sich von den unerfreulichen Ereignissen der letzten Zeit hatte ablösen und wieder einsiedlerisch mit seinen Pretiosen leben können. Die Corleone, im Augenblick eine mürbe Frau, auch irritiert durch des Souveräns merkwürdige Konsequenz, die ihn aus ihrem Zimmer und ihrem Haus führte und sie nicht wieder sehen wollte – die Corleone, überlegte der Alte, wird einige Zeit in Rom leben, gut auch für mögliche Parteirepressalien, sie wird, wenn sie klug ist, sich noch beizeiten einen anderen Liebhaber verschaffen oder nach zwei Jahren zurückkehren und ohne Lärm wieder ihre alte Stellung einnehmen. Und der Pedant, lächelte der Alte, wird in dem Villino bei San Miniato nicht einmal ihre angefangene Stickerei von ihrem Arbeitsplatz nehmen. – Und was den armen Prinzen George betraf, der sie ritterlich begleiten würde, so war seine Zersetzung in einem Grade vorgeschritten, daß seine Prätendentenschaft selbst der nordischen Großmacht als Travestie erschien und der alte Steiner von seinen Kontrollverpflichtungen befreit werden konnte. Er war in der Tat frei und in einem Grade nutzlos, daß der Todesschatten, den er im Bereich seines Atems spürte, ihn ohne Kälte und Schrecken an die Brust griff.

Vielleicht war er fröhlich, weil am späten Nachmittag ein Herr da war, vielmehr eine Maske, die einen gleichgültigen Namen murmelte und ihm ein ungemein schätzbares Objekt anbot: einen jener merkwürdigen selbstgestickten, emblemreichen Behänge, mit denen die römischen Ghettojuden im Seicento bei den Thronbesteigungen der Päpste den Titusbogen hatten schmücken müssen – ein Pelikan, der die Jungen mit seinem Blut tränkte, darüber ein Spruch aus den Psalmen. Der Preis war sehr hoch und der Handel nicht abgeschlossen. Die Maske wollte mit ihrem Auftraggeber sprechen, den sie auf dem Gartenfest bei dem Marchese Torrigiano treffe. Sie bringe um zehn Uhr Bescheid.

Das alles konnte Lüge sein; aber der Gobelin war keine Lüge. Leider hatte der Mißtrauische ihn wieder mitgenommen. Vielleicht kommt er nicht wieder, dachte Steiner und beugte sich aus dem Fenster, als es von San Lorenzo zehn Uhr schlug. Die Umrisse der Kirche waren in der Nebelnacht kaum zu sehen. Die Straßenlaternen hingen müde und grau im Nebelring. Dem Alten war, als stünden an seinem Haus flüsternde Gestalten. Aber er konnte nichts erkennen und gab sich auch keine große Mühe. Einen Augenblick – weil seine Gedanken wieder dem Tod zugewandt waren – dachte er daran, seinen Diener zu wecken. Aber dann knallte unten der Türklopfer – dreimal, wie bei mittelalterlichen Boten des Geheimgerichts, dachte Steiner sprunghaft –, und der Alte ging selber öffnen.

Er sah wieder den gleichen kräftigen, etwas untersetzten Mann in dem schwarzen, schwer erklärlichen Kostüm, Strumpfhose, in den Hüften straffe Jacke, die sich über den kräftigen Schenkeln rockartig bauschte. – Ein bißchen verdüsterter Roger van der Weyden, sagte sich Steiner, oder wie ein scharfer Saint-Simonist. Im Arbeitszimmer angekommen, drehte er die Lampe gegen den Fremden.

»Sie würden mir einen Gefallen tun,« sprach er, »wenn Sie jetzt endlich die Maske abtäten. Ich schätze dergleichen nicht bei Geschäften.«

»Sie wissen ja nicht, lieber Baron,« sagte der Fremde in norditalienischem Idiom, »ob ich nicht meine Gründe dafür habe.«

»So,« sagte Steiner und sah auf das längliche Paket, welches der andere trug; »also zeigen Sie nochmals her.«

Er sprach diese ruhigen Worte, obgleich er mit ungeheurer Klarheit die nächste Minute sah. Er fand das Ende des Lebens weder furchtbar noch unwürdig.

Der Fremde rollte mit sonderbarer Bewegung zugleich mit dem Papier den Stoff auf und hielt die rechte Hand dahinter. Der alte Steiner sah den Pelikan, der sich in die Brust biß. Er sah auch Blut. Und dann war es der Pelikan, der auf ihn zuschoß und ihm den Schnabel mit toller Kraft in die Brust stieß.

Der alte Steiner fühlte keinen Schmerz und drückte das Tier an sich. Der Fremde, schon in einem Nebelkreis wie unten die Laternen, beugte sich über ihn, mit auseinanderfließendem Gesicht, wühlte in seinem Schlafrock nach dem Torschlüssel, war fort.

Der alte Steiner fühlte keine Anstrengung, mit dem Pelikanschnabel in der Brust die zehn Schritte ins Schlafzimmer zu gehen. Er meinte sogar, ein wenig schon wie der Vogel nicht so sehr die Beine als die Flügel für diesen Weg zu gebrauchen. Leicht war das Bett gefunden, Leib und Knie so gut es ging vor den dicken Tropfen durch den gutmütigen und treuen Schlafrock geschützt und die letzte Kraft gefunden, sich auf die linke Seite zu drehen, die doch die schwerere war.

*

Gioia hatte zu gute Beweise von der Nützlichkeit des Bettes und seiner Apathie, als daß er nicht stumm und stumpf liegen geblieben wäre, auch als die Ruhe der Cortacce nicht mehr erschüttert wurde. Salomones Haushälterin, die für ihn sorgte, schmückte jeden ihrer Besuche mit allerlei Berichten; das geschah nicht, weil sie seinem Zustand mißtraute, sondern aus angeborenem Mitteilungsbedürfnis und dem nicht überwindbaren Schrecken über die Vorgänge und die Verhaftung ihres Herrn. Gioia hörte zu und begriff auch die Worte; aber das betäubte Hirn, das nur aus Instinkt und vieler Übung das nächstliegende Mittel für die eigene Sicherheit benutzt hatte, fühlte schließlich selber keine der vielen Verbindungen mit dem eigenen Schicksal mehr. Die Ruhe war gut, die immer wieder gehörten Worte »Verhaftung«, »Polizei«, »Partei« kaum mehr Schatten und Kerben an den Rändern seines flachen und friedfertigen Denkens. Und Checcas Tod war nicht vorstellbar und deshalb unwahrscheinlich, ebenso im Nebel eines kalten Fiebers wie die ganze ferne Szene, in der er davon hörte.

Nach einiger Zeit begann die leise Unruhe, die nicht von außen kam, sondern von innen – aus dem Blut, das zu klopfen anfing, wenn er in einer bestimmten Richtung dachte. Er verließ das Bett und saß seine Tage vor der Kammer gegenüber dem zerbrochenen Fenster mit der guten Spinne, die ohne Vorwurf und Zögern sich auf den dargebotenen Kaffee niederließ, so als hätte es keine lange und dunkle Unterbrechung gegeben. Die Spinne war gut und bemüht, nichts Ungewöhnliches aufkommen zu lassen. Auch das Stückchen Himmel mit viel Grau und wenig Sonne; und wenn sie schien, war sie kraftlos und ohne Haß. Aber diese freundlichen Dinge kamen immer weniger gegen die finstere und pflichtige Geste auf, gegen irgend etwas Gebietendes und Hinweisendes, das in ihm hockte und das weite schöne Rückwärts verstellte wie ein grober Nachbar. Es gelang ihm nichts mehr von seinen heimlichen Freuden, und selbst sein bißchen Musik zirpte hinter dem Hindernis schmächtig und ersterbend, kaum daß er etwas von ihr hatte, zudeckend, statt gebend, nicht mehr zu erkennen Geige noch römische Ecken, noch die frühe Checca. Aber das Schwere, das Sündhafte kam von allen Seiten gekrochen, auch aus der Vergangenheit, und es gab Nächte, in denen er vor Angst schwitzte und schwer atmete, weil das Touloner Zimmer ohne Checca und nur mit Ruch und Fluch auf ihm hockte. Da war ein Grund, grübelte er, ein Versäumnis, eine Pflichtverfehlung. Er wurde hellhörig, hörte, hörte. Schließlich war es deutlich. Er saß vor der Kammer an der Mauer und Checca sprach aus dem Zimmerchen heraus, ohne sich blicken zu lassen, wie dieses und jenes Mal, wenn es sich um unangenehme Aufträge handelte und er mit seiner Krankheit schacherte. Dabei tat er es dieses Mal nicht. Er war weder taub noch blöde noch lahm. Was zu tun war, mußte getan werden: das sah er ein. Er war so hellhörig und scharfsinnig, daß er wußte, wenn Checcas Stimme den Klang und die Worte vom großen Guerra nahm. Er zögerte auch nicht, wie manches Mal, wenn er Nein sagte und eine lange Nacht sich vom Nein zum Ja wälzte. Er sagt kurzerhand Ja und stand auf, tatbereit. Er ging auf die Straße. Die schwatzhafte Haushälterin kreuzte aus gutem Zufall nicht seinen Weg.

Er rollte fort, mühselig zwar infolge der langen Bewegungslosigkeit, sehr langsam, aber er kam doch vorwärts und gewann bald die umständliche Technik seines Schreitens wieder. Straßen und Menschen waren ihm sonderbar und beinahe beglückend gleichgültig, die Menschen mehr noch als die Straßen, die immerhin zum Ziel führten. Es dauerte sehr lange, bis er in das Elendsquartier der Via Campuccio kam; aber er kam hin. Er traf auch Guillotine in seiner Schenke und winkte ihn beinahe gebieterisch in eine stille Ecke.

»Wichtiger Auftrag,« kaute er an den Worten; denn er war vom Sprechen ganz entwöhnt; »brauche Pistol – geladen – Auftrag wichtig.«

»Was?« staunte der Athlet, »du? Jetzt noch?«

»G. G.,« sagte Gioia. Guillotine zog ihn in eine Kammer und gab ihm die Waffe.

»Papier,« verlangte Gioia, »muß aus Papier schießen.«

»Unsinn,« sagte Guillotine, »besser Mantel.«

Er gab ihm so etwas wie einen Reisemantel mit dreifachem Kragen, dessen längster bis zu den Hüften reichte; Gioia schüttelte den Kopf, aber er ließ ihn sich umhängen. Da die Krüppelhand unter dem Umhang die rechte Schultergegend ausbuchtete, sah er noch verkrüppelter aus, als er schon war. Guillotine lachte sogar, soweit es sein Felsenkinn erlaubte.

Dann stand Gioia hinter einer der Doppelsäulen der Uffizien an der Arnofront. Er war etwas verwirrt. Es waren viele Menschen um ihn herum, auch Polizisten. Zwei elegante Dragoneroffiziere standen, auf ihre großen Säbel gestützt, fast unmittelbar neben ihm, an der Kette, welche die Kolonnaden von der Straße trennte, und beobachteten guter Laune die bunte Menge. Die breiten Säbel störten den Alten, weil sie einen Sonnenstrahl fingen und ihn von der Seite in seine empfindlichen Augen stießen. Außerdem wußte er in dem Strom der Masken und Dandys nicht, wer der Großherzog sei. Doch dann kam es wie eine hohe Welle durch die Galerie. Man grüßte, drängte sich, brandete um Ludwig den Vierzehnten, der eine Dame mit Straußfedern im Haar am Arm führte.

» Il Granduca!« rief einer der Dragoneroffiziere und stampfte mit dem bösen Säbel auf.

Gioia riß an der Pistole: aber es war schwer, unter dem Kragen den Lauf gegen den Krüppelarm zu stemmen und den Hahn zu spannen. Es lag wohl auch an der alten Waffe. Gioia flatterte verzweifelt mit der Almosenhand unter dem Umhang. Der eine Dragoneroffizier wurde aufmerksam. Der Schuß ging los, noch ehe der Lauf vom Stoff sich befreite, und traf den Alten in die Kehle. Aber es gab einen Schuß, eine Rauchwolke, viel Verwirrung – und da der Dragoneroffizier die erste Gelegenheit seines Lebens fühlte, den schönen Säbel in allem Ernst zu gebrauchen, hieb er ihn dem um sich selber Drehenden über den Kopf. Das war unnötig, wie er gleich darauf sah.

Der Mantel war vom Stürzenden abgeglitten. Auch die Krüppelhand wollte sich von der Fessel des Lebens lösen. Aber nur der riesige Daumen war aufgerichtet und starrte wie ein abgebrochener Wegweiser in die Luft.

 

Finis

 

*

Druck der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart

Papier von der Papierfabrik Salach in Salach Württemberg

 


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