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Chor der Beladenen

1

Würden nicht schon der Wiener Polizeipräsident und sogar der Kaiser selber den toskanischen Gast auf die revolutionäre Erschütterung Mittelitaliens aufmerksam gemacht und ihm die persönliche Vorsicht nahegelegt haben, so möchte vielleicht der Großherzog bei der Art seines Charakters weniger geneigt gewesen sein, in Venedig der Warnung des fremden Gesandten zu folgen und das einmal aufgestellte Reiseprogramm, das vor allem doch einen politischen Sinn hatte, in letzter Stunde abzusagen. Er tat es auch nicht ohne die Überlegung einer langen Nacht. Ihn bedrängte nicht so sehr die Angst für sein Leben wie der Gedanke, daß das gereifte und gesicherte Dasein als Beherrscher seines Staates von unreifen und unsicheren Elementen bedroht werden könnte. Was wollten diese Menschen von ihm, wenn sie Österreich haßten und einen wirren Nationalismus auf die Beine zu stellen versuchten? Er war Toskaner und er war ein guter Fürst, der beste Fürst, den sich sein zufriedenes Land wünschen konnte. – Zufriedenes Land! Die fatale Sicht vom Thron aus bemerkt gerne, schaut fast immer zufriedenes Land. Daß nirgendwo der Augenschein trügerischer ist, lehrt die Historie auf jeder Seite. – Der Großherzog ärgerte sich über die kritische Parenthese, die sich eigenmächtig in seine Überlegung einschaltete. Zugleich verblüffte ihn die Zutunlichkeit des menschlichen Geistes, der im Nu mit ganz fremden und gegensätzlichen Argumenten arbeitete. – Nein, er fühlte sich sicher, auch innerlich, auch im heiklen Bereich des Gewissens. Es gab selbst für die sogenannten Patrioten keine Berechtigung für den Angriff auf sein Leben, das will heißen: auf den staatlichen Begriff, den er darstellte. Das wäre mehr als verbrecherisch – das wäre sinnlos; und mehr als sinnlos: ein politisches Unglück. Das sei ganz unpersönlich, seinetwegen gefühllos, mit harten, sachlichen und grundsätzlichen Mitteln zu bekämpfen. Dazu mag als erstes ein Ausweichen gehören, das Manöver der geänderten Route, und als zweites die Gleichgültigkeit gegenüber einem möglichen Nasenrümpfen des unsympathischen Neurasthenikers von Modena, eines Fürsten, der nach einem boshaften Ausspruch des Großherzogs seine Revolution bourbonisch verdiene.

Indessen hatte er am folgenden Morgen noch einmal den fremden Gesandten zu sich ins Hotel Danieli beordert und ihm noch einige Fragen vorgelegt: auf welchen Informationen seine Warnung beruhe; ob er eine bestimmte Stadt als Szene des geplanten Attentats bezeichnen könne oder ob er nur im großen ganzen das Durchreisegebiet als verdächtig erklärt bekommen habe; ob der Urheber der Warnung – und dies sei wichtig – sich in Toskana befände. Der Diplomat war zurückhaltend, aber zugleich voll jener dunklen Bestimmtheit, die schon bei seiner ersten Erklärung ihre Wirkung auf den Großherzog nicht verfehlt hatte. Er sprach mit der korrekten Sicherheit des Ausdrucks und der Haltung, die wie von ungefähr und ohne viel Verbeugung den gebührenden Abstand wahrte und sein Volk dem Großherzog von jeher vorbildlich erscheinen ließ: daß er als politischer Beamter verpflichtet sei, die Information als Staatsgeheimnis zu behandeln, und daß die Gefahr für die Person des Großherzogs in dem Augenblick beginne, in dem der Fürst auf dem Landwege und dem Süden zu Venetien verlasse. Es handle sich offenbar um eine von langer Hand vorbereitete Aktion radikaler Richtung. – Der Herr Gesandte, fragte der Fürst noch einmal, habe die Überzeugung von einer so akuten Gefahr, daß ein nicht unwichtiges politisches Reiseprogramm dahinter zurückzutreten hätte? – Es gehe gewiß nichts über die Wichtigkeit von Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit Leben, erwiderte der Diplomat mit ernster Betonung, und dieses Leben sei unter den erwähnten Umständen unmittelbar bedroht.

Daraufhin hatte der Großherzog, übrigens ohne Angabe der Gründe, für sich, seine Familie und seine Begleitung ein österreichisches Kriegsschiff zur Fahrt nach Rimini angefordert. Zu gleicher Zeit reiste einer seiner Kammerherren auf dem Landwege über Modena und Bologna, wo er seinen indisponierten Souverän entschuldigte. Jener fremde Gesandte bekam noch von Bord der Fregatte einen ziemlich hohen Orden mit huldvollem Handschreiben zugestellt. –

Die Meldungen, die der mit Eilpost fahrende Kammerherr dann nach Florenz brachte, steigerten durch ihre scheinbare Launenhaftigkeit die Nervosität des Palazzo Vecchio. Der alte Chefminister del Monte hatte durch bestimmte Vorgänge der letzten Tage und durch das plötzliche und unheimliche Angstgefühl dem Caminer gegenüber sogar eine ernsthafte persönliche Krisis durchzumachen gehabt und den unerhörten Gedanken erwogen, nach der Heimkehr des Souveräns zu demissionieren. Immerhin wurde die bedeutsame Erschütterung von keinem Menschen in ihrer Schwere erkannt, weder von den Beamten der Umgebung, die die Einsilbigkeit und übersteigerte Ironie des Alten anders aufzufassen gelernt hatten, noch von der Gesellschaft – vielleicht nur in wenigen Sekunden von dem schrecklichen Caminer selber, dessen grober Eifer aber wiederum die Ursache wurde, daß sich der Marchese überwand und einigermaßen die alte Sicherheit des Geistes zurückgewann.

Als der Polizeichef ihm in eifervoller Gestikulation das nächtliche Verhör und die Verhaftung Scaleterras mitgeteilt hatte, war er, unter dem Zwang eines innerlichen Wutanfalls, unüberlegt und aggressiv geworden. Und eben diese Gewaltsamkeit war es, welche gänzlich mißlang und die schwere Depression für ihn zur Folge hatte. Es war keineswegs ein Interesse für den ihm unbekannten Journalisten gewesen, auch nicht für den Fall als solchen, dessen Bedeutung er im ersten Augenblick eher unterschätzte: es war eine unerwartete und heftige Angriffslust, ein Anlauf gegen das gemeine Streben und das stämmige Vorhandensein dieses Menschen, vielleicht gar schon so etwas wie Notwehr gegen die Unaufhaltsamkeit solcher beamteten Dämonie. Er erinnerte sich wohl in diesem Augenblick früherer, nicht ganz einwandfreier Fälle, wo er ebenfalls aus persönlicher Abneigung und sachlich oft aus einem Nichts die Pensionierung oder den Rücktritt der nicht genehmen Persönlichkeit abzuleiten verstand. Kurz, er spürte hinter allen Unklarheiten des gehässigen Gefühls und des drängenden Willens die blanke Absicht, den Präsidenten des Buon Governo zu Fall zu bringen, möglichst rasch und heftig, damit dem Souverän nach seiner Rückkehr nur noch das Faktum unterbreitet zu werden brauchte.

Er öffnete, den Kopf schnell hebend, weit die Augen, und die gerunzelten Brauen überschnitten weiß und streng das scharfe Blau des Blicks. Er sah den Caminer an, wie er es bekanntlich nicht oft tat. Er sah ihm nicht in die Augen, sondern eigentümlich verletzend auf den roten Schopf. Er nahm auch eine frische Zigarette zwischen die Lippen, aber er setzte sie nicht in Brand. Wenn del Monte kalt rauchte und groß blickte, dann wußten die Beamten, die ihn lange kannten, daß eine del Montische Explosion bevorstand, eines jener ganz seltenen Beben der administrativen Erde, die nicht laut waren, aber tief wirkten. Doch Caminer wußte es nicht. Er betrachtete aufmerksam und gleichsam bescheiden wichtig den Chef und schien sich über die Pause vor dessen Äußerung keine Gedanken zu machen. Er wechselte nur, in fast aufreizender körperlicher Gelassenheit, das Standbein.

»Herr Präsident des Buon Governo,« sprach der Minister mit ungewohnter Formalität – und die Zigarette klebte ihm an der Oberlippe, was ihm selten passierte –, »ich habe zweierlei zu bemerken. Zunächst einmal erinnere ich mich sehr gut, daß Sie noch bei Ihrem gestrigen Rapport behaupteten, ein toskanisches Revolutionskomitee sei von Ihnen bislang nicht entdeckt worden. In der gleichen Nacht aber verhaften Sie einen angeblichen Carbonaro, von dem Sie nicht nur die Parteizugehörigkeit, sondern auch die konspirative Stellung und Funktion zu wissen behaupten und dessen Sektion Sie sogar beim gewiß nicht öffentlichen Namen nennen. Wenn Sie nicht, was unglaubhaft ist, Ihre gesamte Wissenschaft und die Struktur einer toskanischen Revolutionspartei erst nach unserer gestrigen Besprechung gewonnen haben, Cavaliere, würde ich Ihnen Ihre unverantwortliche Diskretion mir gegenüber nicht weniger übelnehmen als Ihre Eigenmächtigkeit, von der meine zweite Bemerkung handeln wird.«

Caminer blieb ruhig. Er verteilte nur das Gewicht des Körpers auf beide Beine; und da er zu gleicher Zeit auch den Kopf ein wenig der linken Schulter zu senkte, sah die Bewegung trotz ihrer Winzigkeit gefährlich aus. Del Monte, der eine andere Wirkung seines Angriffs erwartete, hatte das merkwürdige Gefühl, schutzlos und bewegungslos, ein alter zerbrechlicher Mann, vor einem Stier zu sitzen, vor einem Stiermenschen, einem verrückten Mythos, mit aller böser Energie geladen und die tolle Kraft gar noch verstandesgemäß regulierend. Der Marchese wandte den Kopf ab. Caminer sagte mit etwas kehliger Höflichkeit:

»Darf ich Eure Exzellenz bitten, mir gleich auch diese zweite Bemerkung mitzuteilen? Ich möchte nämlich fast glauben, daß meine Rechtfertigung dann beide irrige Punkte zugleich erledige.«

Das war eine ungeheure Dreistigkeit, eine Entgegnung, wie sie dieser Raum seit dreißig Jahren nicht gehört hatte. Dem Minister bebte zwischen den Lippen die kalte Zigarette. – Jetzt mit drei gutgeschliffenen und gutgezielten Sätzen diese zottige Rothaut erledigen und den Kadaver dann von den Abdeckern der Pensionsabteilung aus dem Hause schleifen lassen! – Del Monte richtete sich auf und umklammerte den berühmten Bleistift wie eine Waffe: aber er fand nicht den Hebel, den er wirkungsvoll diesem breitbeinigen Steher anlegen konnte. Die grelle Körperlichkeit des Menschen verwandelte jede Beziehung zu ihm ins Physische. Der Minister fand nur, daß seine Position oder seine Muskulatur schwach war. Und er sah auch, daß Caminer – immer noch schiefen Hauptes – lächelte, höflich und auch ein wenig belustigt.

»Lieber Herr,« sagte del Monte resigniert, »Sie haben eine sonderbare Art der Verhandlung mit Ihren Vorgesetzten. Wenn Sie noch länger die Ehre haben wollen, mit mir zu konferieren, dann antworten Sie gefälligst auf jede meiner Fragen besonders. Ich habe Ihren Rabatt nicht nötig, verstehen Sie mich? Auch nicht Ihr Werturteil über etwas, das ich noch gar nicht ausgesprochen habe.«

Das Verblüffende war, daß Caminer zu lächeln nicht aufhörte. Seine stille Heiterkeit wirkte jetzt fast wie Nachsicht, wie ein liebenswürdiges Bedauern, anderer Ansicht zu sein und Recht zu haben. Der Marchese nahm sich zusammen und steckte, um eine Beschäftigung zu haben, abgewandten Gesichts seine Zigarette an. Er rauchte hastiger als für gewöhnlich.

»Der Irrtum Eurer Exzellenz,« hub Cavalier Pompeo singenden Tones an, »besteht in der Verwechslung von Parteiorganisation und Revolutionskomitee. Über die Zusammensetzung der toskanischen Unabhängigkeitspartei bin ich, weiß Gott, nicht im unklaren. Ich darf Ihnen verraten, Exzellenz, daß ich darüber schon während meiner Mailänder Tätigkeit einigermaßen unterrichtet war. Und daß ich diese Einzelheiten Ihnen nicht unterbreitete, liegt an ihrer Belanglosigkeit – bisher wenigstens. Anders steht es mit dem Komitee, das von der Parteizentrale aus konstituiert wird, und zwar nur vor bestimmten Aktionen größeren Umfangs, das mit der Organisation selber nur in sehr geheimnisvoller und unterirdischer Beziehung steht und das von mir in der Tat noch nicht entdeckt ist … Das heißt,« unterbrach er sich und kniff wie ein Narr die Augen zusammen, »ich bin wohl auf gutem Wege – wie Sie vielleicht ahnen, Exzellenz.«

Dieser Nachsatz hatte einen Unterton, der dem aufhorchenden Marchese die erste vage Erklärung für die unentwegte Impertinenz des Mannes zu geben schien. Del Monte wurde sehr vorsichtig.

»So,« meinte er, »Sie wissen auch, was ich ahne, Cavaliere? Erstaunlich! Aber um auf das andere zu kommen: Sie erinnern sich der Wünsche unseres hohen Herrn und meiner allgemeinen Direktive für das Buon Governo und die Justizkonsulta, daß jeder behördliche Schritt gegen die liberale Presse, Zeitschriften und Literaten mir angezeigt und von mir genehmigt werden müsse. Es handelt sich um die grundsätzliche Toleranz des Staates – des Kulturstaates, der wir nun einmal zu sein oder zu scheinen den Ehrgeiz haben – gegenüber dem freien Wort. Scaleterra ist Redakteur des größten Oppositionsblattes und kein unbekannter Name. Es wäre Ihre Pflicht gewesen, Signore, Ihre schlichte Pflicht als mein Untergebener, sich diese Verhaftung von mir genehmigen zu lassen.«

Wieder zog Caminer den Kopf ein und hob dabei den Kegel des Kinnbarts auf peinliche Art ins Wagrechte. Er schnitt eine Grimasse, die freundschaftlich skeptisch wirkte, etwas augurenhaft, mit dem unausgesprochenen Wunsch, doch die unnötige und schon längst durchschaute Maske fallen zu lassen. Er entgegnete vertraulich und bieder:

»Das ist ja alles recht schön, Exzellenz, und das weiß ich auch; aber Sie werden mich verstehen, wenn ich scheinbar etwas ganz anderes feststelle: meine Leute folgten gestern einem abendlichen Spaziergang des Scaleterra nach Settignano und verloren seine Spur zwischen Settignano und Majano.« – Caminer schnaubte in heimlichem Glück durch die Nase und schloß die Augen. – »Zwischen Settignano und Majano, Exzellenz, liegt bekanntlich die Besitzung der Fürstin Corleone, genannt die Isola.«

Der Marchese preßte die Lippen zusammen und wollte die Zigarette in die Bronzeschale werfen, mit seinem kurzen Schwung aus dem Handgelenk. Aber die Erregung war zu groß und machte ihn ungeschickt. Die Zigarette verfehlte das Ziel und fiel zu Boden. Caminer bückte sich zutunlich und lächelnd, hob sie sorgsam auf und tat sie mit einer gewissen Feierlichkeit in den Behälter.

»Danke,« sagte del Monte sehr leise, fast bekümmert, »aber mir gefällt Ihr Ton nicht, Caminer. Sie gefallen mir ganz und gar nicht. Sie haben im Augenblick mir gegenüber die Haltung und die Gesinnung eines Erpressers.«

Diese nicht zu erwartenden Worte waren so ruhig gesprochen, daß der Cavalier Pompeo doch sein Lächeln verlor. Er war nicht gekränkt, wie ersichtlich wurde, sondern überrascht und auf seine Art zur Anerkennung gebracht: so wie ein Fechtender den Gegner, den er für ermattet hält, mit ganz neuer Technik ausfallen sieht. Er beleckte die Lippe, die grob aus dem Bart blinkte, und zog die Brauen hoch. Er zog auch die Schultern hoch, die Arme, die Hände, mit einer langsamen Bewegung, deren Häßlichkeit erschütternd war.

»Gewiß bedauere ich Sie, Exzellenz,« sprach er mit merkwürdig verdunkelter Stimme, »denn ich kenne aus meiner Erfahrung solche Fälle, in denen die Verschleierung von oben, sogar von ganz oben versucht wurde. Aber jeder Mensch hat seine Leidenschaft, Exzellenz. Damit gebe ich zu, daß es mir gar nicht um die gute oder die böse Sache zu tun ist, sondern um … um …«

Er fand das Wort nicht. Als er sich nach der Zigarette bückte, war er seitlich an den Schreibtisch herangetreten; er war dort stehengeblieben, sprechend sogar um ein weniges noch dem Sessel des Ministers nähergekommen. Del Monte hob jetzt die Hand auf und rief ziemlich laut:

»Bitte, kommen Sie nicht so nahe. Ich liebe das nicht. Gehen Sie wieder hinter den Tisch.«

Caminer gehorchte sofort. Er schritt rückwärts auf seinen Platz und hatte mit einem Male Schweißperlen auf der roten Stirn. Er öffnete und schloß die Hände, in unregelmäßigem Takt, und sprach hastig:

»Deshalb trete ich auch nicht zurück, selbst wenn Sie es wünschen. Und wenn Sie es erzwingen wollen, beantrage ich Disziplinaruntersuchung gegen mich. – Das wird Ihnen durchaus nicht angenehm sein. Ich kann Ihnen also nicht helfen, Exzellenz, so gut ich Ihre …«

Er sprach wieder nicht zu Ende und sah den Minister an, dessen mageres Greisengesicht in diesem Augenblick grau war, als er sich zu lachen zwang. Del Monte lachte auch, trocken und etwas töricht, wie ein alter Mann.

»Ja, was wollen Sie denn,« rief er kurzatmig, »was faseln Sie denn? Sprach ich ein Wort von Ihrem Rücktritt? Sie sind tüchtig, aber unsympathisch, Caminer. Sie können schließlich nichts dafür, daß wir menschlich nicht zueinander passen. Und ich genehmige die Verhaftung nachträglich, verstehen Sie? Ihre Gründe überzeugen mich von der Notwendigkeit dieses Schrittes, verstehen Sie? Und das soll Sie überzeugen, daß Sie Unsinn geschwätzt haben. Aber jetzt befreien Sie mich von Ihrer Gegenwart. Sie kosten mich Nerven. Und ich bin ein alter Mann, Caminer.«

Der Polizeichef blieb noch ein paar Sekunden stehen, wortlos, wie erstarrt, sehr ernst, dann verbeugte er sich und ging.

Das war die vollkommene Niederlage gewesen. –

Gegen den Abend dieses Tages, der für den Regierungspalast nichts weniger als angenehm war, empfing del Monte den Besuch der Corleone, die er durch dringlichen Boten hatte in sein Haus bitten lassen. Die Fürstin kam pünktlich. Ein wenig verwundert bemerkte der Minister, der aus einem bestimmten Interesse vom Fenster aus die Einfahrt ihres Wagens beobachtete, daß sie in großer Karosse kam und daß sowohl der Kutscher als auch die zwei unnötigen Diener auf dem rückwärtigen Trittbrett die stadtbekannte und sehr auffallende Livree ihres pseudo-königlichen Hauses trugen. – Das ist keine Ahnungslosigkeit, überlegte del Monte, das ist wie eine Herausforderung.

Das Erstaunliche an dieser Unterredung war die Gelassenheit der Fürstin, als auch der Staatsmann deutlicher wurde. Del Monte kannte die Neigung des Souveräns für diese Frau von Grund auf und begriff sie von jeher. Seine Freude an schönen Menschen wurde von der Corleone in seltenem Maße erfüllt; denn sie besaß nicht nur Schönheit, sondern auch Haltung. Und Haltung war es, Bewußtsein der Form, Würde, Unbeirrbarkeit der menschlichen Würde, die del Montes noble Auffassung des Schönen nicht entbehren konnte und an der Fürstin als dem besten Exempel darlegte. Er schätzte es, daß der Großherzog trotz seines Vertrauens zu ihm und trotz der langen Spanne der gemeinsamen Arbeit noch niemals ein Wort über das Verhältnis zur Corleone hatte verlauten lassen, niemals ein Wort über die schöne und tiefe Verbindung, deren Notwendigkeit für das Gleichgewicht und die Seelenharmonie des Fürsten kein anderer in einem Maße erkennen und bewerten konnte wie er. Die Diskretion auf seiner und auf ihrer Seite entsprach ihren Naturen. Aber del Monte, der die Menschen kannte, wußte auch, daß trotz ihrer Neigung und ihres Taktes diese beiden Naturen sehr verschieden waren. Er begriff die Dauerhaftigkeit und Weite des Gefühls, die Treue, die Männlichkeit, die bis zum Pedantischen starre und eigenwillige Beständigkeit des Souveräns. Aber er begriff nichts von ihr, sobald es sich um diesen Zusammenhang handelte. Hinter ihrem Selbstbewußtsein, ihrem Stand und ihrem Gefühl für den königlichen Stil blieben alle Möglichkeiten offen – auch alle Leidenschaften. Der alte Marchese, der viele Frauen gekannt und niemals behauptet hatte, auch nur eine von denen, um die sich das Nachdenken lohnte, mit seinem männlichen Geist erfaßt und gleichsam in eine Formel gebracht zu haben, wußte sehr gut, warum ihm Caminers Mitteilung wie Frost über die Haut fuhr.

Die Corleone sah ihn mit Augen an, die ihm zuweilen nicht recht gefielen, mit den ein wenig zugekniffenen Augen, welche den Blick hinter den Wimperschatten verbargen.

»Meine verehrte Exzellenz,« sprach sie sanft, »glauben Sie wirklich, daß dieser Herr Caminer im Begriff ist, den Staat zu retten?«

Del Monte hob die Schultern und sagte ernst:

»Ich glaube, Fürstin, daß er zuvor leider einige Berechtigung hat, Staub aufzuwirbeln, Verwirrung anzurichten, Bestehendes zu erschüttern.«

»Muß das in der Nähe der Isola geschehen?«

»Scheinbar ja, Fürstin.« –

Die Corleone fragte nach einer kleinen Pause, etwas lauter:

»Marchese, halten Sie mich wirklich für fähig, gegen den Souverän, den ich liebe, – hören Sie, den ich liebe! – zu konspirieren?«

Der Minister schwieg eine Zeitlang, den Mund verziehend. Plötzlich antwortete er sehr leise:

»Ich kann nicht nein sagen, ich kann in der Tat nicht nein sagen, Fürstin.«

»Ach,« sagte sie, nicht mehr, und sah ihn an. –

Auch das endliche Resultat dieser Besprechung war merkwürdig. Die Corleone bedeutete dem Staatsmann nicht ganz klar, auch nicht ganz überzeugend, daß die möglichen verdeckten Verbindungen, die sie vielleicht mit der politischen Opposition unterhalte, im Interesse des Großherzogs seien.

»Dieser Herr Caminer,« sagte sie lächelnd, »möge sich vorsehen, daß ich den Staat nicht vor ihm rette.«

Del Monte ließ nicht merken, welchen Wert er diesen Äußerungen beimaß. Er sprach kein Wort darüber. Er saß etwas nach vorne geneigt und in Gedanken und zuckte jetzt nervös mit den Brauen, als das etwas aufdringliche und grelle Glöckchen der Madonna delle Grazie, des nahen Kirchleins am Eingang der Brücke an der Mündung der Via de' Benci, ein hastiges Angelus läutete.

»Wann gedenken Sie in die Stadt zurückzukehren?« fragte er unvermittelt. Die Corleone lachte leise.

»In dieser Woche, del Monte; denn das ist ein kluger, ein sehr kluger Gedanke. Wir haben ja schließlich Mitte Oktober und vom Land genug.« –

Als sie fortgegangen war, ging der Minister mit verkniffenem Gesicht in dem großen, etwas kahlen Raum hin und her, nachdenklich, vieles prüfend und verwerfend, setzte sich auch wieder und fand doch aus aller Unklarheit und Verwirrung den Funken der Zuversicht. – Ein Lumpensammler zog mit Donnerstimme durch die Via de' Benci; sein Brüllen – » Donne chi ha cenci!« – ein Heulen fast, rhythmisch wiederholt und gar noch nach einer bestimmten Melodie, schien die gewiß nicht leise Straße einzuschüchtern und ihre Geräusche aufzusaugen. Jetzt hörte man nichts als jenen lumpenfordernden Kriegsruf. Der Minister kannte die tosende Stimme, fürchtete sie, stampfte mit dem Fuß auf, weil er einen Gedanken verlor – doch schon brach das Gebrüll in einem entfernten, nicht einmal unangenehmen Ruf zusammen: der Lumpensammler, wußte del Monte, war um die Ecke in den Lungarno gebogen. – Der Marchese war mit einem Male in guter Stimmung; er wußte nicht wie.

Er überraschte auch am nächsten Tag den Pompeo Caminer mit einer abgründigen Ironie und rächte sich für die letzte Niederlage mit aller Art Hieben seines geschliffenen Geistes. Er öffnete kaum die Augen, er stach mit haardünnen Rauchworten. Der Polizeichef stand rot und verdutzt.

»Cavaliere,« näselte del Monte schließlich, »ich habe Sie von einer schönen Frau zu grüßen. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie, ohne kriminelle Motive, auf schöne Frauen und ihre Grüße vielen Wert legen.«

»Ich stamme aus Venedig,« entgegnete Caminer mit einer Grimasse.

»Gut,« sagte der Marchese, »die betreffende Dame stammt aus Neapel und bittet Sie, sich vorzusehen, daß sie den Staat nicht vor Ihnen rette.«

»Nicht übel!« lachte Caminer, und die Augen quollen ihm ein wenig hervor.

»Nicht übel,« bekräftigte der Minister, »und ich rate Ihnen, Cavaliere, schon aus Gründen der Staatsautorität, nicht offene – willentlich geöffnete Türen einzurennen. Sie bekommen den Verdienstorden vom Heiligen Joseph auch ohnedem.«

Caminer schwieg, preßte die Lippen zusammen und machte seinen runden Rücken.

Das alles waren gute Augenblicke für den Marchese, ein wohltuendes Zurückfinden zu seiner menschlichen und amtlichen Sicherheit, die Überwindung der Depression, an die zu denken ihm peinlich und beschämend war. Aber dann kam der Kammerherr des Großherzogs mit der kommentarlosen Meldung, daß der Fürst die Besuche in Modena und Bologna abgesagt habe und den Seeweg wähle, und mit dem höchst merkwürdigen Befehl zu einem offiziellen Empfang, an dem die staatlichen und städtischen Würdenträger und die gesamte Garnison teilzunehmen hätten.

 

2

Checca meldete den Guerras die Verhaftung des Journalisten. Es war ein schwerer Gang für sie; und dieses Mal nicht allein, weil der vermessene Oktober immer noch die tolle Sonne auf die Landstraße feuerte, kaum daß die Porta a Pinti passiert war, sondern weil die Frau zudem noch der Vorsicht halber den umfangreichen Korb mit Strohwirkereien mit sich schleppte, als Ausweis ihrer Harmlosigkeit, wie immer in kritischen Stunden. Dieses Mal waren es nicht allein die bösen Augen des Signore, die zu fürchten waren, sondern das böse Schicksal überhaupt, das Gewitter, das über ihnen allen hing, auch über dem Haupt, dem geliebten Haupt Guerras. Checca besaß einen sehr empfindlichen und durch ihre lange Erfahrung fast untrüglichen Sinn für Zeichen, Kraft und Nähe eines politischen Unwetters. Sie spürte schon in den letzten Tagen, als Guerras Arbeit für die Aktion ihre Nerven spannte, Druck und Bewegung des Gegners. Gioias Szene mit dem Abate leitete die schlimme Handlung ein. Und als sie, sehr mißtrauisch, gereizt durch die eigene Gefühlsschärfe und auch durch die Ungewißheit über den Ausgang der gestrigen Nachtsitzung auf der Isola, am Vormittag die Kontrollstellen der einzelnen Quartiere abging – eine ingeniöse Einrichtung Guerras, die eine Art Geheimpost, eine unentdeckbare Nachrichtenübermittlung darstellte –, fand sie an dem vorgeschriebenen Ort der Sektion »Piazza« des Quartiers Santa Croce, in der unbedeutenden Kirche San Stefano a Ponte nahe dem Hauptaltar neben der Grabplatte der Familie Bartolommei den Alarmzettel: ein Stückchen Papier mit zwei Zahlen, einer römischen und einer arabischen, die die Verhaftung des Sektionsführers anzeigten. Checca war ein Mensch, der viel mehr durch seine Ahnungen als durch die Tatsachen selber verwirrt werden konnte. Jetzt arbeitete sie mit klarem Kopf und ihrer Verantwortung bewußt. Sie eilte auf die Zeitungsredaktion, wo das Ereignis noch nicht bekannt war und wo sie es auch nicht bekannt machte. Sie veranlaßte nur einen Sekretär, der dem Bund angehörte, Scaleterras Wohnung aufzusuchen und harmlos im Auftrag der Redaktion nach der Ursache von des Journalisten Abwesenheit zu forschen. Der Zurückkehrende meldete der Frau, die ihn in der Nähe des Zeitungsgebäudes abfing, daß Scaleterras Wohnung polizeilich gesperrt sei und daß die mit der Haussuchung beschäftigten Beamten erklärten, über den augenblicklichen Aufenthalt des Journalisten keine Auskunft geben zu dürfen. Das genügte der Checca. Sie scheute nicht die Mühe, bis zu ihrem Quartier an der Porta Romana zu eilen, um sich den Hausierkorb zu holen und sich dann, schon in der Glut des nahen Mittags, quer durch die ganze Stadt auf den Weg nach Fiesole zu machen, streckenweise Bauernkarren benutzend, die das gleiche Ziel hatten, und mit ihrer trockenen Stimme den Schwatz von Wetter, Wein, Käse und Öl mitschwatzend. Die Last des Tages wurde auch nicht um ein Geringes leichter, als sie, endlich im Borgunto, die Unglücksbotschaft ausgerichtet und weder böse Augen, noch selbst ein gebührendes Entsetzen bemerkt hatte. Aber dafür bemerkte sie anderes, kaum zu Fassendes, nur mit ihrem großen weiblichen Gefühl Ertastetes, das sie absonderlich beschwerte, mit einer ganz neuen Last. Und schließlich kam jener Befehl Guerras. –

Wie immer saß Maria Pia, das Nachbarskind, Tochter einer Büglerin, am Fuß der Treppe und strickte Strohfäden – das weißgesichtige Mädchen Maria Pia mit dem schwarzen Blau der beiden dicken Zöpfe, die der Stehenden bis in die Kniekehlen fielen, ein seltsames Kind, das nie ein Wort mit Madda sprach und mit ihrem dunklen Blick den Signore anfiel, wenn er vorüberging. Checca liebte sie aus irgendeinem Grunde und lächelte ihr zu, so müde und traurig sie war. Maria Pia sagte einen leisen Gruß und sah der Frau nach, wie sie mit abfallenden Schultern, schlaffem Gesicht und den Mund etwas geöffnet, den weißen Haarkranz ganz wirr und an den Schläfen schweißig, die offene Galerie entlang schlürfte und in das Küchenfenster, das neben der Haustür auf den Gang mündete, ein paar leise Worte sprach, um nicht anklopfen zu müssen.

Wie immer war Madda in der winzigen Küche. Wie immer um diese Zeit ruhte der Signore. Die Signorina hatte ein fremdes Gesicht: das fühlte Checca zuerst; übrigens ein böses Gesicht, trotz der Jugend und der schönen Form, die doch auch geblieben waren. Ein Gesicht mit den beiden kleinen Buckeln über der Nasenwurzel, die kleine Nase schmal und streng, der Mund, der wundervoll lachen konnte, ganz hart. – Das ist mehr, viel mehr als eine Laune, dachte Checca, und betupfte mit dem Taschentuch die Lippenwinkel, wie es ihre Gewohnheit war, wenn die Lungen schnell gearbeitet hatten und der Husten drohte. Sie sah dem Mädchen schnell in die Augen, die blank waren wie bei einer Fiebernden. Und dann merkte sie noch an Maddas Lidern, trotzdem sie geschminkt waren, daß sie in den letzten Stunden viel geweint haben mußte.

»Checca? was Schlimmes?« fragte Madda mechanisch. Auch diese Gleichgültigkeit war neu, wenn die Alte auch schon dabei war, triebhaft gleichsam, den Zusammenhang zwischen den Besonderheiten des Mädchens herzustellen. So antwortete sie, zitternde Botin sonst in Guerras Nähe, zu ihrer eigenen Verwunderung sehr ruhig, fast trocken:

»Ja, o ja, Scaleterra ist verhaftet.«

Madda sah auf, den Mund etwas verziehend und die Brauen hebend, gar nicht erschrocken, eher spöttisch. Sie nickte auch leicht mit dem Kopf, als wollte sie die Richtigkeit von Vermutungen oder Prophezeiungen in dieser Richtung sich selber bestätigen. Sie wandte sich zur Tür.

»Dann will ich Gasto wecken,« sagte sie einfach, fast unbeteiligt und ging. Checca sank ein wenig im Stuhl zusammen, hustete unterdrückt, trank Wasser, schloß die Augen und dachte nach. Mit einem Male dünkte auch sie das Ereignis, das sie heraufgetrieben hatte, wenig wichtig. Sie besann es auch nicht in diesen Augenblicken: sie beschäftigte sich mit dem Wort Gasto. Denn es war das erstemal, daß die Signorina im Gespräch mit ihr den Vornamen des Bruders anwandte. Checca hatte ein scharfes Gedächtnis und ihre große Liebe. Guerras Vorname im Munde der Schwester und in jener Sekunde mißfiel ihr – das war seltsam – und Maddas wilde Augen mißfielen ihr, diese heißen Augen im kalten Gesicht, in einem dreisten Gesicht. Checca grub Gedanken aus, die ihr hin und wieder gekommen waren und die sie schnell immer weggeworfen hatte.

Guerra schlief nicht mehr, als Madda eintrat. Aber er war zu träge, aus schweren Sinnen träge gewesen, um aufzustehen, als er Stimmen in der Wohnung gehört zu haben glaubte. Er lag auf dem breiten schwarzen Eisenbett, das den größten Teil des Zimmerchens in Anspruch nahm, stützte, zur Seite gewendet, den Kopf auf die Hand und starrte aus dem Fenster, welches die Laune irgendeines Baumeisters ganz grundlos in venezianischem Spitzbogen schweifte und durch ein barockes Säulchen halbierte. Draußen leuchtete die Mugnonelandschaft, etwas enger, ernster, menschenabgewandter als der unendliche Ausblick auf die Florentiner Ebene und ihre ruhige Götterheiterkeit, die nach Süden hin den Blick begnadete. Doch schön war auch dieser Norden des Mugnonetales mit wenigen Häusern im Schutze mächtiger Zypressen, der weißen Schlange des ausgetrockneten Flußbettes, den aufkletternden Goldtönen der Hügel und den dunkel heranrollenden Bergen. Guerra lächelte ein wenig in der Betrachtung und schien das Eintreten der Schwester nicht zu merken. Aber wer kannte sich in diesem Manne aus? So versteinert, so taub und blind war er schon diesen ganzen Tag, als hätte ihn das unverschleierte Gesicht der letzten Nacht getroffen, wie Lot der Anblick der brennenden Städte, würde er umgeschaut haben gleich seinem Weib. Madda sah ihn an. Sein Haar begann an den Schläfen zu ergrauen. Seine Haut war gelblich geworden, auf der rasierten Fläche bläulich, um die Augen in tausend Fältchen verknittert. Das Mädchen hätte ihn gerne häßlich und verbraucht gesehen. Aber das frühe Altern und die geschärften Züge hatten nur das Gesicht veredelt, das zu glatt und zu schön gewesen war, und die breite Stirn lagerte noch kühn und männlich über dem klaren Profil. Madda gab es sich zu, schloß jetzt erst die Tür hinter sich und sprach nicht eben laut, aber doch hart für die tiefe Mittagsstille ringsum:

»Checca ist da. Scaleterra ist verhaftet.«

Guerras Gesicht zuckte wie unter einem Schlag, doch er sah immer noch durch das Fenster, nur die Stirn faltend. Er prüfte wahrhaftig noch, ob sich die Landschaft unter den Worten eben verändert habe. Aber die Landschaft blieb, der Mittag blieb. Das Auge registrierte gleichsam für sich und teilnahmslos das vertraute Bild. – Es ist keine große Sache um den Menschen, dachte er noch flüchtig.

Madda faßte alles dies anders auf und war gereizt.

»Deine Praktiken wirken prompt,« sagte sie. Guerra wandte den Kopf langsam ihr zu und ließ ihn dabei von der Hand ins Kissen zurückgleiten. Auch er sah die Veränderung in ihrem Gesicht.

»Meine Praktiken,« entgegnete er ruhig, »wirken seit vielen Jahren schon und mehr oder weniger prompt. Aber mit diesem Fall haben sie doch nichts zu tun. Was soll das?«

Das Mädchen antwortete nicht, über ihn hinwegsehend. Guerra sprach leise die gleichen Worte wie in der Nacht:

»Armes Kind! Armes Kind!«

Die Stimme aber war anders, nicht mehr am Rande des Abgrunds, ein Mitleid von fernher. Madda hob die geballten Fäuste vor das Gesicht und zog sie langsam auseinander, als zerreiße sie etwas zwischen ihnen.

»Laß doch das – um Gottes willen – laß doch das …« keuchte sie, das Gesicht rot. Guerra schloß die Augen und drehte den Kopf in den Kissen hin und her.

»Madda, wir wollen uns trennen,« bat er leise.

»Nein!« schrie sie hemmungslos, »nein! nein!«

Guerra schob die Hände unter den Nacken und blieb still. Die Fliegen summten wieder stärker. Auch dieser Schrei der gefolterten Liebe war nicht von Bestand. – Es ist keine große Sache um den Menschen, dachte der Bruder wieder. – Dann hörte man die Alte in der Küche husten.

»Habe die Güte,« sprach Guerra mit einer Höflichkeit, die in diesem Augenblick weh tat, »und rufe Checca herein. Ich bin merkwürdig matt. – Oder öffne nur die Tür,« fügte er hinzu, und als sich das Mädchen nicht rührte, »ich rufe dann selber.«

Madda lehnte an der Tür; auch den Kopf preßte sie ans Holz und die Arme ließ sie hängen, als sei sie durch ihr dreimal geschrienes Nein auf das äußerste erschöpft. Sie nagte, in die Höhe starrend, an der Lippe, und da die Lippen geschminkt waren, färbten sich die Zähne rot. Das sah zugleich grausam und verzweifelt aus. Guerra, der sie jetzt aus den Augenwinkeln beobachtete, machte eine Bewegung – nicht der Ungeduld, sondern des Unbehagens. Aber die Schwester schien dadurch an seine letzten Worte erinnert zu werden und öffnete plötzlich die Tür, auf häßliche Weise mit den Ellenbogen sie aufstoßend.

»Checca,« rief der Mann, »komm herein!«

Madda, die noch immer auf der Schwelle stand, machte der Eintretenden nicht viel Platz. Es war eine ziemlich schmale Tür. Checca mußte seitwärts gehen und berührte doch mit Brust und Schenkeln das Mädchen, spürte seinen Atem und sah die roten Zähne. Bei dem Anblick, dem Anhauch, der Berührung schauderte der Checca die Haut. – Was war es nur? War es wahrhaftig dies? Haß wie auf die Corleone? Mehr noch: Schauder der Sünde, die sie kannte? – Jetzt sah das Mädchen sie an, sehr traurig. Checca wurde verlegen und senkte den Kopf. Das sind so ungeheuerliche Gedanken gewesen, daß sie gut haben das andere Hirn anrühren können. Wer mag es wissen? Und war nicht alles auch sehr traurig: die Sünde und die Liebe, sind sie wahrhaftig da, und das Schreien eben, das Nein, wild, grenzenlos, nicht zu erschüttern? – Was für ein Nein?

Doch der Signore hatte für sie freundliche Augen. Wie war diese Stunde seltsam, tragisch, voll wilder und gegensätzlicher Einreden auf ihr Herz. Der Signore lag vor ihr im Bett, seltener Anblick; das etwas verwaschene Seidenhemd ließ seinen kräftigen Hals frei, ein paar Haarsträhnen waren vom Kissen in die Stirn gespielt worden. Er erschien zugleich alt und jung, entschied Checca.

Er tat einige Fragen, die Scaleterras Verhaftung betrafen. Er fragte wie immer knapp, überlegt und innerhalb einer gedanklichen Arbeit, die schon weiter war als die Frage; nur die Stimme war müde. Checca hatte nicht viel zu antworten; immerhin schien es den Führer zu beruhigen, daß keine andere Sektion Alarmzettel ausgeworfen hatte. Er schwieg eine Weile; dann sagte er, ohne die Stimme zu verändern, zur Schwester hin:

»Madda, wenn sie jetzt kämen und mich holten: ich würde nicht fortlaufen und mich nicht wehren. Ich würde vielleicht gar gerne mitgehen, ginge es nur um mich – und dich. Das mag dann deine Schuld sein. Verstehst du mich, Kind?«

Das Mädchen schüttelte langsam den Kopf.

»Wir sind doch nicht allein, Gasto,« sprach sie leise.

»Wir sind viel zu viel allein,« entgegnete er und ergriff unvermutet die Hand Checcas, die vor ihm stand. »Ja,« sprach er weiter, »Checca hat in ihrem Leben viele dunkle Ecken, Schatten und Schründe gesehen.«

Er sprach die seltsamen Worte mit leiser Feierlichkeit wie ein Gedicht. Madda wollte etwas sagen, vielleicht etwas Böses oder Ironisches; aber sie öffnete nur die Lippen, drehte sich dann um und verließ das Zimmer, die Tür offen lassend. Der Checca brannte das Blut von der angefaßten Hand bis in die Stirn; aber es war kein Glück dabei, nur Angst. Sie sprach auch kein Wort. Guerra ließ ihre Hand los und sagte:

»Deine Liebe ist die beste, Checca. Das glaube ich wenigstens.«

Er richtete sich auf und umspannte die hochgezogenen Knie. Er sprach ohne Übergang wieder von Parteidingen, dem Ergebnis der gestrigen Versammlung, der nahen Aktion, dem vorläufigen Ersatz für den verhafteten Sektionsführer.

»Wird denn,« wagte Checca noch benommen die Frage, »wird denn die Gefangennahme S. G. C.'s die Aktion nicht ungünstig beeinflussen können?«

Die Aktion! Wo sie hindenke! Welchen Begriff sie von der Zwangsläufigkeit der Aktion habe! – Guerra lachte laut, ohne Grund, wie es ihr schien. Dann sann er, einen neuen Gedanken wohl oder, wie es ihr später wahrscheinlicher war, den schon längst gedachten. Er sah ihr grade ins Gesicht.

»Wo ist Gioia?« fragte er.

Dieser Name mußte kommen. Ihre Lippen zitterten; sie ahnte jetzt, wie die dämonische Szene ausgehen und ihre Lasten belasten würde. Dieser armselige Name, der Freude hieß und zwei Leben hoch Leid bedeutete, mußte noch auf sie hinaufgeworfen werden. Ihr unruhiger Blick flirrte über Guerras Gesicht; sie antwortete flüsternd:

»Er hat sich zurückgezogen, wie Sie es gestern befahlen und wie es nach allen Vorgängen das beste ist.«

Guerra ordnete an, wohl ohne recht hinzuhören, daß der Alte wieder auf die Straße müßte, um verhaftet zu werden (was als sicher zu erwarten sei) und auf schon geübte Weise Verbindung mit Scaleterra zu schaffen und Instruktionen zu vermitteln.

Der Checca flatterten die Hände hoch.

»Der alte Mann …« hauchte sie. Guerra überhörte auch dies und redete weiter. Es waren wichtige Dinge. Checca mußte aufmerksam bei der Sache sein. Vielleicht war ihr Mitleid mit dem Vater auch nicht sehr viel wert, nur ein kleiner Stoß aus der ohnedies bewegten Minute, der im Ernst der Instruktion rasch verging. Aber dann schloß Guerra.

»Für die paar Tage wollen wir uns noch das Erbarmen schenken, Checca.«

»Wieso?« fragte sie mit überraschter Bewegung.

»Nun,« meinte er mit etwas peinlichem Lächeln, »wenn ich in paar Tagen das Bargello genommen habe, wird es kein Gefängnis mehr sein, selbst nicht für andere als Scaleterra und den Alten. Ich lasse es nicht demolieren, wie meine Parteikollegen von 89 die Bastille – dazu habe ich zu viel Respekt vor den Gelfen, die dort zuerst andere Leute einkerkerten. Ich mache ein hübsches Museum daraus, Checca.«

Checca wollte ihn nicht ansehen. Er spricht wie ein schlechter Lügner, dachte sie traurig.

 

3

Im Ghetto wohnten die wenig bemittelten oder die armen Juden oder jene, die Gründe hatten, arm zu scheinen, die Juden der » mezza tacca«, wie man sie nannte: die kleinen Händler und Kaufleute, die ihre Wechselstuben, Tuchläden und Kurzwarengeschäfte an den beiden Plätzen, der Via della Nave, wo man auch von ihnen Rosenkränze, Kruzifixe und Kerzen billiger als in der Christenstadt kaufen konnte, und den angrenzenden Straßen und Plätzen außerhalb des Reservats inne hatten; dann die Hausierer, von der Rückenlast geduckte Leute mit traurigen Augen und häßlichen Bärten, gekrümmten Beinen und überlangen Schritten, die pünktlich jeden Morgen durch die eben aufgeschlossenen Ghettotore schritten und holländische Leinwand, hochwertiges Auslandsgeld, bunte Aleppo-Tücher und billige Strümpfe der Stadt und dem Land feilboten. Schließlich die dunklen Existenzen, die unsichtbaren, die wie Asseln in den Mauerritzen lebten und bei denen Religionsunterschiede aufhörten: Diebe, Hehler, Huren, Falschspieler – alle Arten Flüchtige, Schuldige und Unschuldige, Hefe und Bodensatz.

Das waren, in absteigender Linie, die Bevölkerungsgruppen des Ghetto, des alten und des neuen, oder, wie man auch sagen kann, der Piazza della Fonte und der Piazza della Fraternità, die ein mächtiger Mauerbogen verband. Die reichen und vornehmen Juden, Großindustrielle, Bankiers und Ärzte, hatten ihre Paläste in der Stadt und ihre Villen auf dem Land wie die großen Geschlechter. Manche hatten auch frische Wappenschilde oder doch neue Namen von unverdächtigem Klang. – Die anderen, die Verdächtigen durch Name, Gesicht, Sprache, Geste und Gebet, armselig zufriedene Wucherer und Wechsler und die tausend Elenden, Kranken, Mageren, Vergilbten, Ängstlichen wohnten zusammengepfercht in jenen ungeheuerlichen Häusern, die elf Stockwerke und sieben Stockwerke hatten, sich ineinander verschoben, aufeinanderkletterten, toll sich verschlangen und wieder ausspien, auch sie Todfeinde der armen Menschen, die in ihnen lebten, an ihren versteinten Wahnsinn festgeschmiedet, ohne Luft, ohne Licht, ohne Raum, und sich langsam die Lungen von ihnen eindrücken lassen mußten.

Das Ghetto hatte drei Tore, eines zum Mercato Vecchio, nahe der Fischhalle, das andere zur Via della Nave, das dritte zur Piazza del' Olio. Sie wurden um Mitternacht geschlossen und um fünf Uhr früh wieder geöffnet. Nur die Sbirren hatten zu jeder Zeit des Tages und der Nacht Zutritt, um nach Inkulpaten zu suchen. Diese Mühe war zumeist vergebens. Immerhin war es ein Grund für Gioia, den Bettler, auch in der Dunkelheit nicht auf die Straße zu gehen.

Er wohnte im alten Ghetto, das schlimmer, schmutziger, stickiger, feindseliger noch war als das neue – in einem Hausknäuel, die »Cortacce« genannt, dem wütigsten der Judenstadt, das mit schauriger Symbolik und tiefem Hohn auf dem Gemäuer des uralten Gran Postribulo, des Großen Bordells des Trecento aufgehäuft war. Das war ein Steinwall von so verworrener Architektur, daß nur ganz wenige von den dreihundert Menschen, die ihn bewohnten, über die heimischen und nachbarlichen Winkel, Gänge und Treppen hinaus eine geordnete Vorstellung von seiner Anlage, seinen aufeinandergesetzten Flügeln, seinen Übergängen und unterirdischen Verbindungen mit anderen, durchaus nicht immer anstoßenden Hauskomplexen hatten. Es waren eigentlich nur zwei Inwohner mit dem Labyrinth vertraut: Gioia und sein Wirt, der zugleich der Eigentümer des Gebäudes war. Außerdem besaß die Partei einen sehr merkwürdigen, nicht eingeweihten Augen völlig unverständlichen Aufriß des Anwesens und der mit ihm in heimlichem Zusammenhang stehenden Häuser, deren äußerstes jenseits der Ghettomauer in der Via della Nave stand. Dadurch kannte Checca trotz ihrer nicht eben häufigen und immer flüchtigen Besuche das heillose Gestein nicht schlechter als jene beiden.

Gioia war nicht der einzige, der sich in den »Cortacce« wohl fühlte. Der andere war wieder Salomone, der Wirt, übrigens Carbonaro wie nicht wenige Ghetto-Juden und so etwas wie der revolutionäre Führer der Gemeinde, wenn er auch aus taktischen Gründen von der eigentlichen Parteiarbeit ausgeschlossen war und seine politische Bedeutung mit dem Besitz dieser Mauermasse und als Beherberger plötzlich gefährdeter Mitglieder sich erschöpfte. Doch dieser magere, gelbhäutige, kinnknochige Fünfziger mit hoher Schulter, platten Füßen war von einer höchst eigentümlichen, abgekehrten, gleichsam nicht geheuren Zufriedenheit, die sich natürlich von dem Ruhebedürfnis des alten Gioia gänzlich unterschied. Salomone war Schächter, der begehrteste Geflügelhändler der Gemeinde und außerdem der einzige Pferdehändler des Ghetto, auch ein ungewöhnlicher Pferdekenner, mit ausschließlich christlicher Kundschaft. Er war höchstwahrscheinlich sehr wohlhabend. Aber es war wohl nicht einmal Freude am Erwerb oder am Erworbenen, die ihn zufrieden machte; denn er gebrauchte wenig für sich, hatte keine Familie, gab viel und ohne Lärm den Armen, die er an Feiertagen zu Dutzenden bewirtete und kleidete; er gab auch viel der Parteikasse. Es war bei ihm ein undurchsichtiges Gefallen an seinem Dasein, vielleicht auch eine mystische Hoffnung auf irgendein großes Glück, das er sich weder ausschließlich für die eigene Person noch in rein geistigem oder religiösem Sinne vorstellte, eher schon in politischer und lokaler Wirkung: als einen kleinen Sondermessias für sein Florentiner Ghetto. Daß in den Augenblicken seine Gedanken und seine Wünsche klarer wurden, in denen er sich mit dem großen Guerra beschäftigte – er hatte ihn einmal gesehen und gesprochen, als der Führer ihn in seiner Eigenschaft als Parteifunktionär der Judenschaft zu sich beschied –: seine tiefverschlossene und geduldige Liebe für Guerra und für das Ziel verriet er keinem Menschen, auch nicht dem alten Gioia.

Salomone war der einzige, mit dem Gioia hin und wieder einige Worte wechselte. Er schätzte seinen Wirt, weil er zu den ganz wenigen Menschen seines bösen Lebens gehörte, der ihn gut, sogar mit Achtung behandelte. Eine gebührende Freundlichkeit oder gar eine Freundschaft, um die der Hausherr in seiner stillen Art manchmal zu werben schien, gelang dem Alten nicht mehr. Dafür war er zu müde, zu krumm, zu gedemütigt. Aber jüngst, als er nach der fatalen Daumenparade den Gefahren der Straße entronnen war und den beglückenden Befehl empfangen hatte, aus dem Gesichtsfeld der Menschen zu verschwinden, nahm er Wein von Salomone an, der ein scharfes Auge hatte, und duldete seine Gesellschaft während eines ganzen Abends, in rascher Trunkenheit von Checca, dem dicken Lionello und einem Fünflirestück lallend. Salomone sagte plötzlich mit brennenden Augen:

»Es kommt die Zeit, Sor Benedetto, die große Zeit! Er wird sie uns bringen und er wird dann noch kein alter Mann sein …«

»Was … was – wer …« lallte Gioia, mißtrauisch aufblickend. Salomone schwang den Becher:

»Auf sein Wohl, Sor Benedetto, auf sein Leben, das unser aller Leben ist!«

»Nein!« sagte Gioia grob und betrunken, schob den Wein fort und sprach kein Wort mehr. Salomone lächelte still vor sich hin und ging bald. –

Der folgende Tag war so schön und zutunlich, wie ihn sich der Alte wünschte. Er hatte schlafen können – auch das war ein Geschenk – weil der starke Wein den Schmerz in den Knochen betäubte. Er wußte erwachend, daß ihn heute keine Glocke irgendwohin hämmerte, nach Santa Croce, auf den Lungarno, auf die Piazza, um den gelben Eifer der Checca abzufangen und mit irgendeinem Befehl endlos über das Pflaster zu rollen, aufmerksam zu sein, Angst zu haben, Schmerz zu haben – die verstärkten Schmerzen des Körpers in der Bewegung. – Er war frei und durch der Judenstadt Mauern, Elend, Verachtung, Ächtung, Wirrnis, ja selbst durch den Gestank vor den anderen Menschen geschützt. Er liebte die »Cortacce« und ihren Dunst von Nacht, Dreck und Unglück als Bollwerk gegen die Quälgeister. Aus dem gleichen Grunde schätzte er auch die Juden, ohne es ihnen zu zeigen. Er war heute vergnügt, brummte im halben Singsang vor sich hin, verbrachte sogar ein unbestimmtes Gepfeife und war sich bald aus den fetten Gerüchen, die aus der nahen Küche Salomones drangen, klar, welche Speisen er heute zu erwarten hatte. Denn der Padrone, wie er den gutmütigen Wirt wohl als Dank für den stets respektvoll angewandten »Sor Benedetto« oder »Signor Gioia« zu titulieren pflegte, gab ihm gute und reichliche Nahrung, wenn er tagsüber im Hause war.

Dann nahm der Alte seinen Hocker, trug ihn auf den offenen Gang vor der Kammer, dem vergitterten, immer dunklen, immer zerbrochenen Fenster der anderen Hausmauer gegenüber und setzte sich. Das Stückchen Himmel oben brannte vor Sonne. Gioia haßte die Sonne; denn sie gehörte nicht zu den kleinsten Übeln, nur zu den gewohntesten seines täglichen Lebens. Doch jetzt, in den »Cortacce« ließ sie ihn kalt, in jedem Sinn. Sie tat nicht einmal den Augen weh, wagte sich kaum bis zu den ausbrechenden Regentraufen des Dachteilchens, das man sah. Gioia war es zufrieden; er saß geborgen zwischen den verbogenen und verworrenen Rippen des Mauerkörpers, und man fand ihn nicht: die Menschen, die Sonne, die Straßen fanden ihn nicht. Selbst der Lärm, der unaufhörlich wie scharfer Regen niederrann, war noch ein Schutz gegen das Draußen. Das Schreien, das Zetern, das Singen, das Heulen störte ihn nicht, er hörte es nicht. Er hörte, ganz in Träumerei und Muße, mit wackelndem Bart und blinzelnden Augen, seine Musik, Reste einer ohne alles Maß fernen und frühen Lebenssprache – es war noch anders: er sah Musik, die Technik des Geigers, die eigenen Hände, die einmal schlank und schön waren, lange, stumpfkuppige Finger, gute Geigerfinger – er sah sie in bestimmten schwierigen Doppelgriffen, Läufen, Arpeggien, Trillern, Kantilenen, auf dem tiefbraunen und schöngemaserten Holz seiner alten Geige, gewann in merkwürdigen Zusammensetzungen Melodien, tolle Bravourstücke – er lachte vor sich hin – jetzt waren es deutliche Takte aus der Marseillaise – er lachte weiter, selbst als die Musik plötzlich abbrach und die Gedanken allein ließ, bei den Revolutionen, bei der alten und der neuen, dann bei der Aktion, die bevorstand – – zum Teufel! Sie brauchen mich nicht mehr! Ich sitze hier und sie lassen sich draußen zusammenschießen! Das ist gut so, das ist vortrefflich so, sie finden mich hier nicht – Checca findet mich – natürlich …

Checca kam, als der zweite Tag, auf gleiche schöne Art vollbracht, zu Ende ging. Gioia saß noch auf dem Gang, wie die Kammertür geöffnet wurde. Da Salomone niemals ohne eine höfliche Phrase und erst nach wiederholtem Anklopfen einzutreten pflegte und da außer ihm keine Person des Hauses den Raum betrat, wußte der Alte sofort, daß es die Tochter war. Hätte er einen jungen und geschwinden Körper, dachte er noch, so würde er schnell aufgesprungen, die Galerie entlang gelaufen, in irgendeine andere Tür oder durch einen Mauerdurchbruch verschwunden sein … Er besann noch immer, fast spielerisch, die vielen Gelegenheiten der Flucht vor ihr, als sie schon vor ihm stand. Er drückte den Kopf an die Mauerwand, gegen die er lehnte, und schloß die Augen. Er wollte nicht ihr strenges Eifergesicht sehen. Er wollte sie auch nicht hören.

»Guten Abend,« sagte sie. Er blieb stumm.

»Guten Abend!« sprach sie lauter.

»Du bringst mir doch keinen guten Abend, Checca,« murmelte er jetzt, den Kopf auf der Wand hin und her bewegend; Checca blieb so lange die Antwort schuldig, daß er die Augen öffnete und sie anschaute. Sie sah vergrämt aus, nicht befehlsböse. Es mochte aber auch das Zwielicht sein.

»Bist du krank?« fragte sie dann. Das war eine seltene Frage. Er beobachtete sie.

»Nein,« erwiderte er, »oder nicht mehr als immer. Doch was fragst du?«

Checca antwortete ihm darauf nicht, sondern befahl ihm, ins Zimmer zu kommen. Das tat sie immer, wenn sie Order mit sich führte. Gioia rührte sich nicht.

»Komm hinein,« wiederholte sie. Der Alte drückte die Augen zusammen und preßte sich an die Mauer.

»Ich kann nicht aufstehen,« sagte er. Wieder war Checca ein paar Sekunden still, scheinbar unschlüssig. Dann fragte sie ein zweites Mal:

»Bist du krank?«

»Ja,« sagte er und hastig, jämmerlich, viele Male flüsterte er ihren Namen hinzu: »Checca! Checca! Checca!«

»Ich will dir helfen,« sagte sie und faßte ihn unter den Arm. Gioia schrie auf.

»Ich habe Schmerzen,« wimmerte er. »Wo du mich anfaßt, habe ich Schmerzen – wenn du da bist, bin ich krank!«

Checca blieb überlegend vor ihm stehen, so geduldig, daß dem wirren Alten Tränen kamen, nicht aus Rührung, sondern in der Anstrengung, dieses seltsame Mitleid mit allen Mitteln anzupacken.

»Ich könnte ja den Salomone rufen,« meinte Checca nachdenklich. »Der tut dir doch nicht weh?«

Gioia schwieg.

»Aber es geht auch so,« setzte sie rasch hinzu, beugte sich an sein Ohr und flüsterte eine gemessene Zeit. Gioia blinzelte ein paar Mal mit den Augen; dann schloß er sie und bewegte nur noch hin und wieder das Kinn, als kaute er langsam. Jetzt war Checca mit ihrer Instruktion zu Ende.

»Hast du mich verstanden?« fragte sie. Er klappte den riesigen Daumen hoch und nieder, wie blöde verspielt, und antwortete nicht. Sie berührte seinen Arm. Er schaute sie an.

»Ich bin ja taub, Checca,« murmelte er, »höre nichts … höre nichts …«

Checca ließ die Arme sinken.

»Hast du Babbo gesagt?« fragte er plötzlich und tückisch; »das nützt auch nichts mehr.«

Sie schüttelte leicht den Kopf.

»Das ist schlimm – das ist schlimm,« flüsterte sie. Gioia wiederholte:

»Das nützt auch nichts mehr, Checca. Ich bin alt – vergesse alles … verstehst du?«

»Ja, ja,« sagte sie. Der Alte fing an, an allen Gliedern zu zittern, sehr tölpisch, sehr unglaubwürdig.

»Das wird jetzt immer schlimmer, solange du da bist,« erklärte er; »aber wenn du fort bist, geht es mir sofort besser.«

Checca sah zu Boden, als sei sie gescholten. Dann ging sie. Gioia starrte in das Stückchen Himmel mit den paar Sternen. Ihm war seltsam zumute, aber das war keine Freude. Der unerwartete Sieg eben beunruhigte ihn. Oder war es kein Sieg? Oder war ein Sieg etwas, das sich für ihn nicht schickte? – Der Niederschlag des Lärms wurde leiser, weil der Abend kühl war und die Menschen die brüchigen Türen und Fenster schlossen. Den Alten verdroß diese Bemäntelung der freundwilligen und heimlichen Geräusche; es war, als ob man sich von ihm zurückzog, ihn preisgab. Seufzend und schlechter Stimmung stand er auf, schleifte den Hocker in die Kammer und schloß nach kurzem Zögern die Tür. Der Abend war nicht mehr freundlich. Was brauchte es da noch eine Verbindung mit ihm. Er zündete die Kerze an und brummte gegen die Wände. Salomone brachte das Essen, ein gutes Essen wie immer, gebratene Tauben, groß wie kleine Hühner. Gioia beobachtete ihn mißtrauisch. Hatte Checca mit ihm gesprochen – und sei es auch nur wegen der angeblichen Krankheit? Er hätte es vorgezogen, der Padrone ginge mit dem üblichen Wunsch für guten Appetit. Doch Salomone, der die Zinnplatte auf das Tischchen neben dem Bett gestellt hatte, lehnte immer noch am Bettpfosten und schaukelte Kopf und Oberkörper hin und her wie immer, wenn er noch Bedürfnis zum Schwatz fühlte. Gioia glaubte, daß eine deutliche Mißlaune und schmerzhafte Seufzer von Nutzen sein könnten, und zeigte für den anderen kein Interesse.

»Bedeutsame Zeiten, wichtige Zeiten,« wiegte sich Salomone; »ich sage Ihnen, Sor Benedetto, denkwürdige Zeiten!«

Gioia aß schweigsam und geräuschvoll. Er spürte nicht einmal Freude am Essen.

»Die lassen keinen in Ruhe,« redete Salomone auf ihn herunter; »am wenigsten die Männer, die das Glück haben, sie vorzubereiten.«

Der Alte schob den Teller fort und hustete nachdrücklich. Salomone wartete eine Weile, um ihm Zeit zum Sprechen zu lassen. Als Gioia nur leise jammerte, sagte er:

»Als Gesinnungsgenosse beneide ich Sie fast, Sor Benedetto, als Ihr persönlicher Freund – das darf ich doch sagen – bedauere ich Sie, weil ich Ihnen die Ruhe gönne.«

Gioia wandte sich um und war grob.

»Was wollt Ihr eigentlich, Salomone? Ich verstehe das Gerede überhaupt nicht.«

»Nun, nun,« lächelte der Hausherr, »die Signora war hier, nicht nur bei Ihnen, Sor Benedetto, sondern auch bei mir. Sie erhob Geld und signierte die Quittung mit der Chiffre des Alarmzustandes. Da ist doch der Rückschluß nicht schwer.«

Daß Salomone die Checca Signora nannte, war nicht nur Höflichkeit, sondern tiefer Respekt vor ihrer Stellung in der Partei und zum großen Guerra. Da Salomone fast ausschließlich mit ihr zu tun hatte, da sie Hilfsgelder einkassierte, Order ausgab, still und sicher den alten Gioia besuchte und über ihn verfügte, immer im Namen der Partei und fast ihr einziger sichtbarer Ausdruck, mußte er notwendigerweise ihre Bedeutung überschätzen, ohne den kargen und tragischen Hintergrund so vielen Eifers zu ahnen. – Doch er schien jetzt in der Tat nichts von ihrem Gespräch mit dem Vater zu wissen und den Befehl für ihn nur zu vermuten. Gioia wackelte griesgrämig mit dem Kopf. Daß jener nicht kam, ihn zu überreden oder auszuhorchen, gefiel ihm. Aber das Wort vom Alarmzustand setzte sich in seinem Kopf fest und erregte sein Gefühl für Disziplin. Er kannte die Bedeutung des Wortes sehr gut. Er stöhnte, dieses Mal in Wahrheit gequält.

»Es hilft nichts,« sagte Salomone leise, »jeder steht da, wo er stehen muß, und jeder muß tun, was Er für gut hält.« Der Padrone psalmodierte plötzlich, die Hände aufhebend, seltsam feierliche Worte in einem grimmig verbogenen Italienisch: »Er hat bekommen vom Ewigen die Macht über uns, weil er hat bekommen vom Ewigen das große Amt.« Dann sprach er ein paar Sätze in den rauhen und erhabenen Lauten seines Volkes, die den Alten immer erschreckten. – So brüllt der Alte Gott, dachte er. – Salomone lächelte schon wieder, die dicken Brauen aufziehend. »Wollen Sie noch Wein, Sor Benedetto?« fragte er.

»Nein,« erwiderte Gioia unhöflich, »ich will schlafen. Ich muß ja morgen …«

Er sprach nicht weiter, ganz entsetzt über die eigenen Worte. Was mußte er? Er dachte die lange Nacht darüber nach. Er hatte nachzudenken Zeit; denn er schlief nicht. – Es gab keinen Schutz für den Böswilligen, kein Ghetto, die Juden nicht, keine Wirrnis und Misere der »Cortacce« als Wall und Bollwerk. Der böse Wille brach durch wie die böse Sonne durch die Barmherzigkeit einer Wolke oder eines Baumschattens. Der böse Wille brach Raum für die Strafe vom großen Guerra, den er noch niemals gesehen hatte. Das war die Macht, die sein Leben bewegte, immer wieder bewegte. Sein Leben und Checcas Leben. Und kam die Strafe nicht heute, so kommt sie morgen. Und Checca war gut heute – sie war immer noch schön. Und sie kann morgen so böse sein! Oder sie muß fort vom Leben und viele andere auch, war er ungehorsam in seiner Pflicht. Wie sie heute traurig war! – Der Gutwillige aber hat die gute Checca und zuweilen Schutz und Ruhe, gute Ruhe.

Das waren seine schlichten Erkenntnisse.

Am nächsten Morgen stand er auf und ging fort, zur befohlenen Zeit und den befohlenen Weg. Salomone steckte ihm einen Scudo zu, nickte freundlich und bedeutungsvoll. Am Tor nach dem Mercato grüßten ihn etliche von den ausziehenden Hausierern. Gioia war guter Stimmung, ganz warm von der Menschenwürde, die auf ihn schien. Anders war es außerhalb des Tores, im Lärm des sich aufbauenden Marktes, wo sich die laute und grobe Geschäftigkeit der Menschen gewiß nicht um ihn kümmerte und er sich nur so viel um sie, als er sich vor Bauernpeitschen, Karrenrädern und Eselstritten in acht zu nehmen hatte. Daran war nichts zu ändern, und dann hatte er doch noch sein Amt, das wichtiger war als das ganze Getriebe um ihn herum.

Gioia rollte an der schlanksäuligen und anmutigen Fischhalle vorbei in die Pelliceria-Straße, wo die Leineweber, Kupferschmiede, Bäcker und Stoffhändler ihre Stände richteten. Es lagen noch Frühnebel in den Straßen. Der Alte schob, wie er selten tat, die dunkle Brille in die Stirn. Seine Augen waren wimpernlos, rotgerändert, mit dicken Säcken. Das Gesicht, ohne Brille, sah nackt und jämmerlich aus. Aber die feuchte Luft tat den immer brennenden Lidern gut. Kam später wieder Staub und Hitze, dann war der Schutz der Brille um so angenehmer. Man konnte es sich einrichten. Es lag ein zufriedener Eifer in der kühlen Luft und in der Hantierung der geschäftig lauten und beweglichen Menschen. Gioia summte vor sich hin, wandte sich rechter Hand der Via Porta Rossa zu und blieb am uralten Mangano stehen, der öffentlichen Stoffmangel, die aus einem finsteren Torbogen herausglitt wie eine Zunge aus schwarzem Maul. Er überlegte Marschroute und Zeiteinteilung. Die Almosenhand war aus Gewohnheit vorgehalten, bescheiden und rücksichtsvoll, und erwartete nichts. Er sah nachdenklich und ohne etwas zu sehen auf das gepflasterte und häuserbedrängte Geviert der nahen Piazza di Monte di Pietà, aus der wie Rinnsale enge Straßen flossen. Oder er sah auch alle Gassen, Plätzchen, Durchfahrten, Winkel, die er jetzt bis zum Arnoufer durchwandern würde, um dann flußaufwärts zu gehen und von Santa-Croce aus in den belebten Straßen und auf der Piazza umherzutreiben, bis er – ja, bis …

Er bekam doch, in diesem Augenblick, zu ungewohnter Zeit, am wenig gebefreundlichen Ort, ein Almosen, ein großes Geschenk, wieder einen harten Silber-Scudi, und die Hand, die es gab, drückte seine Hand, freundschaftlich, fast zärtlich. Checca sah ihn mit guten Augen an; sie flüsterte auch etwas: er möge die Brille vor die Augen tun, man kenne ihn sonst kaum. Sie sagte auch noch ganz leise und gütig: » Babbo mio.« Das war etwas sehr anderes als das böse Wort von früher, das wie ein aufgehobener Stock drohte. Gioia sah glücklich auf seine reiche Hand. Der Tochter nachzusehen wagte er nicht. Aber ihm zitterte das Herz vor Freude. Er schob die Brille herunter – wie gerne tat er es doch! – und begann seinen Gang.

Es wurde später Nachmittag, bis ihn auf der Piazza del Granduca, wo er ohne Unterlaß, fast schon verzweifelt und dreist bettelnd, sich umhertrieb, ein großer dicker Capo agente erkannte, auf ihn zueilte und ohne Grund brüllte:

»He, alter Gauner, dich suchen wir schon lange!«

Gioia rollte stumm und gehorsam mit. In der Nähe ein paar elegante Dragoneroffiziere mit unförmig geschwungenem Helm und riesigen Säbeln machten schlechte Späße. Einige mitleidige Frauen aus dem Volke schimpften nicht gerade laut hinter den Sbirren her, die rasch auf ein halbes Dutzend angewachsen waren und zwischen denen der kleine Krüppel verschwand.

 

4

Vier Tage später kam Renzo Maddii, der Buchdrucker, welcher Guerras Verbindungsmann mit der Fürstin und zugleich ihre Kontrolle war, aus Settignano nach dem Borgunto und meldete dem Führer die Übersiedlung der Corleone in die Stadt. Guerra schien mit der Nachricht zufrieden und verlangte Rapport der letzten Tage, die nicht unwichtig gewesen seien, wie er sich ausdrückte. Renzo berichtete knapp und sachlich, daß am Morgen nach der Führerbesprechung zu ungewöhnlich früher Stunde ein Jagdwagen leer ausgefahren und vormittags mit dem Baron Steiner zurückgekommen sei, daß die Fürstin selber am Nachmittag mit Karosse und Dienern in Livree in die Richtung auf die Stadt gefahren und abends zurückgekehrt sei und daß dieser Besuch dem Palazzo del Monte gegolten habe, wie er durch einen Lakai in Erfahrung brachte. Außer den regelmäßigen Besuchen des Barons Steiner und einen Besuch des Prinz-Gemahls habe die Fürstin am 12. Oktober für kurze Zeit einen Geistlichen empfangen, der nicht ihr Beichtvater war.

»Groß und dick, ein Weltgeistlicher?« fragte der sehr aufmerksame Guerra. Renzo bejahte es. –

Am gleichen Tag, nur einige Stunden später, kam Checca. Sie war erst am Tag zuvor im Borgunto gewesen, um zu melden, daß Gioia, der zum Glück nicht in Einzelhaft saß, sondern im Landstreicherarrest im Bargelloflügel längs der Via Sant' Apollinare, mittels des verabredeten Kassibers mitgeteilt habe, daß er bereits mit Scaleterra konfrontiert und von ihm verstanden worden sei. Jetzt empfing Guerra die Frau mit strengem Gesicht; denn er hatte ihr befohlen, nicht mehr zu kommen, um in der gespannten Zeit vor der Entscheidung keinen Verdacht zu erwecken. Er selbst wollte gegen Abend nach Pratolino fahren, einem Gebirgsort nördlich von Fiesole, um dort den Kurier der Sektion Bologna mit der entscheidenden Nachricht zu erwarten. Gewiß war seine Strenge nicht echt, weil er gut wußte, daß die Nachricht, die er erwartete, auch einen anderen Weg nehmen konnte. Ihr Gesicht überraschte ihn dennoch; denn es trug weniger die Spannung einer ungeahnten Kunde, als Kummer.

»So Dringliches?« fragte er kurz und vermied in einer plötzlichen Scham, sie anzusehen. Checca nickte.

»Das Dringlichste,« sagte sie ruhig und gedämpft. »Das Allerdringlichste, Signore, Pistoia meldet Heliogramme aus dem Bolognesischen, daß der Großherzog nicht nach Modena gekommen ist.«

»Ach,« machte Guerra und schob die Hände in die Taschen, etwas sich abwendend. Es war ihm nicht möglich, eine größere Überraschung zu zeigen. Was hieß ihn auch, sich vor der Alten zu verstellen? Er hob mit einem Ruck den Kopf und sah sie an. »Nun,« fragte er offensiv, »was folgerst du daraus, Checca?«

Die Frau wurde verlegen, weil sie in diesem Augenblick einsah, daß sie sich nicht von ihm ablösen konnte, durch keinen Abscheu, durch keine Empörung – und es war noch kaum ein Quentchen Abscheu oder Empörung in ihren Gedanken. Er saß zu tief in ihr. Das Leben war zu geizig mit der Liebe gewesen. Sie gab nichts her von ihrer mühsamen Liebe. Nur Gioia tat ihr leid und mehr noch grämte sie sich über Guerras schlechte Lüge, als er den Alten ins Bargello kommandierte. Aber hinter alledem steckte doch ein Sinn, der große Sinn seines Amtes! Wie kam ihr Kritik zu!

»Ich folgere daraus,« antwortete sie viel demütiger als eben noch, »daß der Großherzog gewarnt wurde.«

Er sah sie freundlich an, so freundlich, wie es ihre sachliche Entgegnung nicht verdiente. Er schien zufrieden, und sein schönes Lächeln hielt sie nicht aus, immer noch nicht. Er nahm auch ihre Hand; und weil seine Liebenswürdigkeit und seine Gesten kaum in einem Zusammenhang mit dem Gespräch standen, wurde ihr vor Verwirrung heiß.

»Hast du einen bestimmten Verdacht, Checca?« fragte er.

»Ja, Signore,« gab sie zu, fast unüberlegt. Er schüttelte langsam den Kopf.

»Dein Verdacht ist falsch,« sagte er weich, »du sollst gar nicht mehr in dieser Richtung denken. Die Corleone hat ihn nicht gewarnt.«

Checca sah hilflos zu Boden. Warum sagt er das? quälte sie sich. Wen wollte er anklagen, wen freisprechen? Was war er für ein Mensch – ein böser Mensch?

»Das alles sind Belastungsproben,« sagte Guerra in ihre Gedanken hinein, als läse er sie. Dann gab er die Befehle, die für die veränderte Lage notwendig waren: Aufhebung des Alarmzustandes für die Sektionen, Aufhebung der Aktion überhaupt, eine Neuordnung des Nachrichtenweges zwischen ihm und den Abteilungsführern und anderer Institutionen, die der Polizei bekannt geworden sein konnten – Befehle, die die lange Gedankenarbeit durchaus nicht verheimlichten. Checca ging noch nicht gleich.

»Scaleterra – Gioia …« erinnerte sie schließlich. Er hob die Schultern:

»Es tut mir leid um sie,« meinte er gleichgültig; »aber was kann man tun? – Vielleicht kann man etwas tun,« fügte er überlegend hinzu, »und das Bargello wird doch noch ein Museum, sage ich dir.«

Checca entgegnete nichts; und da sie schon zur Tür gewandt war, sah er ihr Gesicht nicht. Draußen horchte sie zur Küche hin. Guerra verstand sie.

»Die Signorina ist nicht wohl,« sprach er in einem Ton, der keine Frage mehr zuließ. –

Madda lag in der Tat zu Bett. Ob sie krank war, tief verstört oder nur übellaunig, wußte der Bruder nicht oder wollte er nicht wissen. In den letzten Tagen tat sie zur Not die häusliche Arbeit und legte sich dann zu Bett. Sie sah schlecht aus, und Guerra war freundlich zu ihr. Aber es war eine kalte Freundlichkeit, die beiden weh tat. Doch er hatte das Entsetzen vor dem Abgrund jener Nacht nicht verloren. Er hielt an sich und ließ sie leiden. – Was ist das, fragte er sich oft und auch jetzt, als er zu ihr ging – ich liege wie ein Alp auf allen Menschen, die mich lieben oder an mich gebunden sind, und ich liege auf mir selber wie ein Alp – und kann ich heute etwa sagen, daß ich traurig bin?

Maddas kleines Zimmer lag neben der Küche. Das schmale Fenster, wolkig durch das Fliegengitter, ging gleich dem der Küche auf die Hofgalerie. Es herrschte Stille. Das Mädchen, das halb angekleidet auf dem Bett lag, rührte sich nicht. Draußen nur summte die strickende Maria Pia ein Liedchen, und von der Waschküche zu ebener Erde tönte das Geschwätz etlicher Frauen herauf. Madda hatte bloße Arme und Schultern und die Haare offen. – Es ist ein wenig Pose dabei, kam es ihm in den Sinn; das ist meine Schwester.

»Wie geht es?« fragte er gutmütig und setzte sich auf den Bettrand. Sie dankte. »Renzo war da,« fuhr er fort, »und eben auch Checca. Du hast sie gehört?«

Sie schwieg. Er fuhr sacht mit zwei Fingern über ihren Arm und sprach leise, um nicht draußen verstanden zu werden:

»Da der Großherzog, ob gewarnt, ob aus unerwartetem Entschluß, den Besuch in Modena abgesagt hat …«

»Bravo!« unterbrach sie, ohne ihn anzusehen, »gut gemacht, Gasto.« Er ließ sich nicht beirren; er hörte auch nicht auf, sie zu streicheln.

»Gewiß,« sagte er, »ich habe die falsche, die absurde Taktik der Zentrale für dieses Mal paralysiert. Es mag auch Feigheit gewesen sein, gut. Ich bin nur mutig, wenn man es sieht und wenn es sich lohnt. So ungefähr sagte es mir schon vor neun Jahren der große Santarosa, dessen Mut sich wenig verlohnte und der deshalb ein griechischer Märtyrer wurde. Was hat das unabhängige Italien davon? Nichts. – Es wird von meinem Gelegenheitsmut mehr haben. Warte nur ab.«

»Ich bin geduldiger, als ich dachte,« sagte Madda leise.

»Das freut mich,« entgegnete er und drehte sanft ihr Gesicht in seinen Blick. »Es sind jetzt Veränderungen notwendig. Unsere Lage ist sehr schwer, sehr gefährlich. Du darfst ruhig den Doppelsinn bemerken, Madda. Wollen wir uns nicht doch verteidigen, Kind?«

Sie sah gespannt und voller Angst auf seinen Mund.

»Du schickst mich fort, Gasto?«

»Es hebt ein großes Spiel an,« lächelte er, »vielleicht ein amüsantes, vielleicht ein tragisches. Wir lieben doch derlei, kleine Schwester! – Maria Corleone ist klug genug, jetzt in die Stadt zurückzukehren. Sie wird klug genug sein, einzusehen, daß sie für uns erreichbar bleiben muß. Du wirst als irgendeine neapolitanische Kusine ihr für einige Zeit Gesellschaft leisten, gut geschminkt und die Haare rot gefärbt. Du hast doch Übung, dir neue Gesichter zuzulegen. Du hast Zerstreuung und Verantwortung nötig, Kind. Ich garantiere dir für beides.«

Madda sah ihn an, so prüfend, zärtlich, böse, wild und furchtsam, so mit allen Empfindungen in einem endlosen und schamlosen Blick, daß Guerra ihr endlich die Hand auf die Augen legte. Sie blieb ganz still unter seiner Hand. Draußen sang die langzöpfige Maria Pia. Sie hatte eine hübsche kleine Stimme und eine merkwürdige Kenntnis von Liedchen der Tagesmode, die sie durch alle Strophen zu singen pflegte. Madda begann, für sich zu lachen und hielt doch seine Hand fest, als er sie ablösen wollte. Er betrachtete den lachenden Mund, der allein nur sichtbar war. Die Oberlippe, auf reizvolle Art um ein weniges zu kurz, war von den Zähnen geschlüpft; um die Winkel zuckte es böswillig; die Zähne waren sehr weiß und die Lippen rot geschminkt – er dachte bei dem Anblick ihres gleichsam selbständigen Spiels unmittelbar an die Grausamkeit anmutiger Tiere. Er bedachte auch, daß sie um diese paar tierischen Grade unberechenbarer sei als er. Er nahm die Hand fort, ehe sie sich dessen versah. Sie blinzelte ihn durch die Brauen an und sah hinterhältig aus. Sie legte jetzt auch die Hände auf die Brust, als ob sie plötzlich für ihre Blöße fürchte.

»Und du?« lachte sie, »du bleibst natürlich hier?«

»Solange ich hier einigermaßen in Sicherheit bin,« antwortete er ruhig.

»Und Maria Pia wird dir das Bett machen, nicht wahr, Gastino?«

»Ich habe schon daran gedacht.«

»Oh,« sang sie mit ganz hoher Stimme, »du hast es mit den Marien, mit den löwenherzigen und mit den frommen! Das ist sinnvoll, trotz des Dilemmas, daß du für die Frau nicht jung und für das Kind nicht greisenhaft genug bist.«

Guerra beachtete nicht die Ironie, die unsauber war. Er neigte sich über die Hände, küßte sie und sagte ernst:

»O du arme Magdalena.«

»O wir armen Magdalenen,« wiederholte sie und hatte schon Tränen in den Augen. Aber sie weinte nicht und hatte, die Lippen zusammenpressend, einen dünnen bösen Mund.

 

5

Der 17. Oktober war ein unruhiger Tag in der Stadt. Weder das Volk noch die Behörde wußten recht die Gründe. Es geschah auch nichts, zum mindesten nichts Bemerkenswertes, abgesehen von einigen Prügeleien, ein paar Messerstechereien und vereinzelten Zusammenstößen zwischen Studenten und deutschen Soldaten. Es war eine Reizbarkeit zu bemerken, Spannung der Nerven, Erwartung, die an sich selber zweifelte. Konturlose Gerüchte schwirrten vor den Cafés, Bottegen, Trattorien, Kaufständen und Barbierläden auf, nebelhafte Mutmaßungen ohne sachlichen Kern und viele Flüche, die das öffentliche Gleichgewicht wieder herstellen sollten. Man wußte nicht, um was man sich erregte. Die Leute von der Partei, die es wußten – gewiß nicht wenige, aber durch Schwur und Kontrollorganisation diskret und von den Sektionsführern bereits über den Fehlschlag der Aktion unterrichtet, wunderten sich über dieses Nachgrollen eines Gewitters, das sich nicht entladen hatte.

Don Lionello Vacca, begabt mit den feinsten Sinnen für Erschütterungen im Nervensystem der Stadt, bemerkte schon bei seinem Morgenspaziergang durch das Zentrum diese besondere Unruhe ohne Sinn, ohne merkliche Ursache. Er schlenderte zur richtigen Zeit zum Café del Giappone, wo die revolutionären Elemente zusammenzukommen pflegten. Er fand dort erstaunlich wenig Gäste; denn die Radikalen, die dort verkehrten, waren zu jener Stunde noch beschäftigt, die neuen Anweisungen des Führers den Sektionen zu vermitteln, und kannten außerdem schon Guerras Befehl, sich für die nächste Zeit wenig in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Abate war zu scharfsinnig, um nicht auch in dieser Leere das Besondere zu sehen. Er berechnete den Inhalt der wenigen Gesichter, die er als suspekt erkannte, und ärgerte sich zu gleicher Zeit über die eigene Ungewißheit und Unwissenheit, die gut zu den erfolglosen Manövern der letzten Tage paßte. Während der verteufelte Caminer immerhin den radikalen Scaleterra und jüngst den ominösen Parteibettler verhaftete, hatte er auf der Isola eine Frau gefunden, die ihn durch ihren Körper sofort verwirrte (das war sein Unglück den Weibern gegenüber), mit bodenlosem Hochmut sein Anliegen abhörte, ihm dann durch einen Diener zwei Goldstücke für die Franziskanerinnen von San Niccolò geben und die Tür öffnen ließ. Das war das eine Fiasko. Und von jenem boshaften Carbonaro-Krüppel im Bargello, dem der Name Gioia wie eine Lästerung des lieben Gottes stand und der es ersichtlich faustdick hinter den Ohren hatte, bekam er in einem kleinen, mit erbaulichen Sentenzen geschmückten Kreuzverhör so wenig heraus wie der Polizeipräsident selber. – Genug, der Abate war schlechter Laune, schob riesig und kampflustig durch die elegante Menge, die sich unter dem Schutzdach der Post sammelte, wenn sie ihre übliche Promenade durch die Via Calzaiuoli absolviert hatte – auch sie unruhiger und noch neugieriger als sonst, entschied er – und beschloß endlich, den Rapport an Caminer um einige Grade schwärzer zu färben, als nötig war. Schon am späten Vormittag zogen dann Patrouillen von Grenadieren und Jägern durch die Straßen, und das Aufgebot von Sbirren, über die Stadt schwirrend, sorgte dafür, daß auch die Bürger, welche bisher mit einiger Skepsis die Unruhe der Gemüter beurteilten, auf ein Ereignis warteten, das nicht kam. Denn es war schließlich kein Ereignis und kein Ausgleich für die Spannung des Tages, als am Abend der Gonfaloniere für die Stadtverwaltung und der Platzkommandant für die Garnison in wohlstilisierten Anschlägen die Landung des Landesherrn und seiner Familie in Rimini und den feierlichen Einzug für den 19. Oktober verkündeten, zugleich mit den Anordnungen für den Empfang.

An diesem Tage regnete es mit tückischer Geduld und Gleichmäßigkeit. Der alte Marchese del Monte, der schon wegen der körperlichen Strapazen eine starke Abneigung gegen festliche Empfänge, Paraden und fürstliche Einholungen hatte und die Grille seines Herrn um so weniger verstand, als er sich über einen ähnlichen Widerwillen des Souveräns gegen geräuschvolles und programmäßiges Auftreten immer hatte freuen können, erinnerte sich angesichts des nassen Himmels an den ausdrücklichen Wunsch seines Herrn, in solchen belanglosen Fällen seine wichtige Gesundheit nicht aufs Spiel zu setzen, und erwartete die Kortege im Pittipalast, ärgerlich genug über die goldsteife und schwere Galauniform, von der er sich nicht dispensieren konnte. Doch die Florentiner Granden und ihre Frauen, die obersten Beamten, Hofchargen und Offiziere, die Herren der Stadt- und Staatsverwaltung fluchten laut oder leise, verwünschten den Himmel und Österreich, weil sie sich in offenen Karossen ihre Staatsgewänder und vielleicht auch ihre Gesundheit verderben lassen mußten. Die drei unglücklichen Ehrenkämmerer aber, ein Fürst Rospigliosi, ein Marchese Capponi und ein Senator Antinori, die der großherzoglichen Familie bis nach La Pietra entgegenfahren mußten, hatten die tragischen Mienen von Männern vor der Schlacht.

Zum allgemeinen Erstaunen war der Großherzog der einzige, der sich über die Zeremonie hinwegsetzte; denn er hielt seinen Einzug in einem schlichten, geschlossenen Reisewagen. Der Gonfaloniere von Florenz, ein würdiger backenbärtiger Herr, dessen zwei Straußfedern traurig und tropfend über den Zweispitz hingen, mußte an der Porta San Gallo in den nicht eben weit geöffneten Wagenschlag hinein seine Begrüßungsrede halten und sah von seinem Souverän nicht viel mehr als die Hand in braunem Wildleder, Ärmel und Schulterkragen eines Reisemantels, und nur für einen Augenblick das gleichmütige, etwas abgespannte Gesicht, das einen kurzen Dank sagte. Die anderen Herren sahen wohl noch weniger, und die Soldaten, die in endloser Reihe vom Tor bis zum Palazzo Pitti Spalier bildeten, salutierten zumeist nicht die kotbespritzte Kutsche – trotz der Ulaneneskorte nicht –, sondern die vierspännigen Karossen mit griesgrämigen Würdenträgern, die ihr folgten. Auch das Volk, das in ziemlicher Menge am Tor, an der Trinità-Brücke und am Pittiplatz sich eingefunden hatte, beklatschte zumeist die populären Gesichter Florentiner Aristokraten und rief ihr Viva an der falschen Stelle. Selbst der Kanonensalut der Fortezza da Basso litt unter dem Regen. Das Feuerwerk auf der Carraiabrücke, das der Magistrat zu Ehren des Fürsten am Abend abhalten wollte, konnte nicht einmal vorbereitet werden. Die Stadt, noch immer nervös und dunklen Stimmungen zugänglich, nahm diesen Einzug nicht als gutes Omen. Das wochenalte Gerücht, daß die neue französische Regierung eine Revolutionierung Italiens nicht nur dulde, sondern auch fördere, frischte sich wieder auf und gab wenigstens nachträgliche Begründungen der allgemeinen Unruhe.

Schon die erste Unterredung, die der Großherzog noch am Einzugstage mit del Monte hatte, war dem politischen Zustand gegenüber von einer Eindeutigkeit, die der Minister bei allem Unbehagen nicht erwartet hatte. Der Alte bemühte sich noch um Phrasen der Begrüßung, als der Fürst ihn schon am Arm nahm und in die Bibliothek zog.

»Hören Sie doch auf, lieber Freund,« sagte er, die Tür schließend, »Ihnen ist genau so unrhetorisch zumute wie mir und meiner Regenresidenz.«

Er sah sich rasch in dem Raum um, den er liebte wie keinen anderen. Er hatte, als er Ordnung und Unversehrtheit seiner Bücher überflog, die kurze, gewiß herrische, aber zugleich auch humane und interessierte Bewegung des Kopfes, die ihm eigen war. Der Minister, der seinen Fürsten vier Monate nicht gesehen hatte, fand jetzt gute Gelegenheit, ihn zu betrachten und die Physiognomik zu üben, auf die er etwas hielt und auf deren Urteil er gerade in diesen Augenblicken aus unterschiedlichen Gründen neugierig war. Der Großherzog war nicht im eigentlichen Sinne schön, auch seine schmalschultrige Gestalt genügte wenig den Ansprüchen des florentinischen Auges. Aber Würde, Klugheit und überlegene Ruhe des eher runden als ovalen Gesichts, eine reine Stirn, in die das blonde Haar auf einer Seite jugendlich einfiel, Augen von klarer Tiefe und die merkwürdig hellen, verrieselnden, etwas hoffärtigen Brauen, eine männlich sonore und sichere Stimme, sehr schöne und gepflegte Hände überzeugten in einer Weise von der Hoheit dieses Menschen, daß ihn die zu kurze und zu breite Nase, das zu kurze Kinn, welches zwischen den Klammern des Backenbarts zurückwich, und die hängende Unterlippe, das Erbzeichen seines alten Hauses, nicht mehr häßlich oder kleinlich machen konnten. Daß auch in der zweifelhaften Stimmung dieses Empfangstages und einer wenig entgegenkommenden Zeit nichts sich in dem Gesicht verschoben oder beschattet hatte, Adel und Ruhe nicht angerührt waren und selbst die Zeichen der Reisemüdigkeit für das Gleichgewicht der Seele zeugten, konnte den Marchese wieder mit seiner alten Freude am Herrn erfüllen, mit seiner Art Liebe, die ihm, wie er gerade jetzt empfand, für den eigenen Ausgleich sehr notwendig war. Dann kam das kurze Gespräch – der Hof wartete auf das angesagte Defilee im Quartiere delle Stoffe des Palastes – ein unerwartetes Gespräch, so schwer von der Last der gemeinsamen Sorge, wie del Monte es in diesem freundlichen Augenblick nicht mehr vermutete.

Der Großherzog ließ sich in den großen roten Stuhl vor dem Schreibtisch fallen und lächelte vor sich hin.

»Sie sind noch weniger neugierig, del Monte,« sagte er freundlich, »als ich es Ihnen schon zugestehe. Was hielten Sie denn von meinem unvorhergesehenen Bedürfnis nach einer Seefahrt? und nach solchem ridikülen Einzug in meine Haupt- und Residenzstadt?«

Der Minister hatte das dunkle Gefühl, daß in dieser Sekunde sein und des Fürsten Kampf um den Bestand des Staates und der Dynastie beginne, Kampf um die Existenz. Er spürte sein Herz und die Angst vor Alter und Schwäche, die ihm nicht mehr unbekannt war und in unerbittlicher Gedankenverbindung zu dem ersten Erschütterer seiner Person zurückführte: zu Caminer. Der Bargello hat recht, sein Beruf hat recht, sein brennendes Dasein hat recht!

»Ich weiß jetzt, Königliche Hoheit,« erwiderte er sehr ernst, »daß ich mich geirrt habe, als ich hinter diesem Bedürfnis keinerlei äußere Einwirkungen, sondern nur persönliche Stimmungen vermutete. Aber ich kenne nicht die tieferen Gründe.«

»Nein, Sie kennen Sie nicht, lieber Freund,« meinte der Fürst und wandte ihm langsam das Gesicht zu; »ich übrigens auch nicht – die tieferen Gründe nicht, nur die äußeren Einwirkungen, wie Sie formulierten. Die wirkten in der Tat, auch auf die Stimmung. Man hat mich nämlich irgendwo auf dem präsumtiven Landweg totschießen wollen. Ich bin so naiv oder so arrogant und sehe durchaus nicht ein, warum.«

Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und rief viel lauter, beinahe bedrängt:

»Warum, amico mio, warum? Ich frage nicht als Mensch, wenn ich mich auch als Mensch liebe. Als Souverän frage ich! als einer, der weiß, daß in den kritischen Szenen der Fürstendramen Schlechtere aufzutreten pflegen!«

Del Monte war tief erschrocken. Das politische Schicksal war mit einem Male neben ihnen, vielleicht gegen sie. Das verwirrte ihn fast. Distanzierung war das Geheimnis seiner Staatskunst und seine persönliche Forderung. Nähe behinderte ihn. Die gegnerische Zeit, die er als Ferne lässig und sicher zu bekämpfen wußte, entsetzte ihn, als sie ihn wie ein Wolf ansprang.

»Kein Warum, Hoheit!« sagte er heftig. »Die Frage ist wie eine Erniedrigung schon. Außerdem hat es zu jeder Zeit Wahnsinnige gegeben. Und dann mag die Warnung, der Sie mit Recht folgten, immerhin noch keinen realen Hintergrund gehabt haben.«

»Doch, doch, del Monte,« entgegnete der Fürst lebhaft, »die Frage gilt und die Warnung bestand zu Recht. Der sie mir in Venedig sagte, war der Vertreter einer Macht, auf deren Ohren man sich verlassen kann und die keinen Grund hat, meine Person und mein System nicht angenehm zu finden. Und die Frage gilt, wie die Zeit, in der wir leben und wie mein guter Wille, so wie ich bin, in dieser Zeit zu leben. Aus diesem Grund und für alle Fälle – für alle Fälle, die kommen werden – zeigte ich mein Dasein heute so nachdrücklich. Aber das ist nur der Anfang.«

Er fragte nach den politischen Ereignissen der letzten Zeit. Del Monte gab gedrängte Auskunft. Nur den Namen der Fürstin erwähnte er nicht, aus Taktgefühl, vielleicht aus Liebe für den Herrn. Der Großherzog betrachtete seine Hände.

»Der widerliche Caminer ist in der Tat tüchtig und voll Eifer, scheint mir,« sagte er dann.

»Der Präsident des Buon Governo ist der tüchtigste und notwendigste Mann der ganzen Verwaltung,« bestätigte der Minister ernst, »aber – er ist gefährlich wie jedes starke Sprengmittel.«

Der Fürst sah ihn an, über die Bedeutung des letzten Satzes wohl nicht ganz im klaren.

»Ich werde ihn bei der nächsten Gelegenheit zum Commendatore machen,« lächelte er, »ich werde ihm um den Feuerbart gehen.« –

Der Großherzog sah die Corleone ein wenig später während der Cour. Sie kam am Arm des Prinzen George, der eine phantastische rote Uniform trug. Der Souverän verließ die Estrade, auf der er stand, ging ihr ein paar Schritte entgegen und küßte ihre Hand. Das galt aber nicht der Freundin, sondern ihrem königlichen Schein, den er bei solcher Gelegenheit aus Höflichkeit wahrte. Der Prätendent erhielt den vetterlichen Kuß auf die Wange. Der Hof kannte dieses Zeremoniell und verwunderte sich nicht mehr. Die Großherzogin allerdings pflegte aus diesem Grunde bei den Empfängen zu fehlen. Der Souverän sah die Corleone an, klar und mit tiefer Freude, lächelte und sprach ein paar höfliche Worte.

Sie kamen erst zwei Tage später in dem kleinen Villino nahe San Miniato zusammen, das offiziell einem Kammerherrn des Fürsten gehörte, dessen eigentliche Bestimmung aber der Gesellschaft nicht unbekannt war.

Diesen beiden Menschen nahm selbst die Heimlichkeit nichts von ihrer Haltung. Ihre Begrüßung jetzt unterschied sich nicht sonderlich von der Hofcour. Er küßte ihre Hände und sah sie an. Nur sprach er nichts. Er besann die winzige Veränderung ihres Mundes, ihres Lächelns, auch der Stimme, die sein zärtlicher Scharfsinn schon während des Empfanges bemerkt hatte. Er hielt die Hände fest. Endlich sprach er von der Freude, sie wieder zu sehen. In ihren Augen wechselte das Gold und das Gelb. Das war Unruhe, wußte er, und auch Neugierde.

»Warum kamen Sie auf dem Seeweg, caro mio?« fragte sie. Er sah jetzt ihre Augen in die Wimperschatten tauchen, lockend und ein wenig verworfen; er dachte ernst und traurig den alten Gedanken, daß seine Liebe die stärkere sei, die schönere, die reinere, wußte mit einem Male, mit welchen Schmerzen diese Liebe noch getränkt werden könnte. Er lächelte zurück:

»Warum, Maria? – Sagen wir, aus einer Laune des Autokraten.«

Er lachte leise, weil die Corleone ihn voll Erstaunen betrachtete, mit großen Augen, wie erschrocken.


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