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Das helle Licht des Mondes machte Guerras Laterne überflüssig. Der Schatten der Zypressen hinter der Mauer des Isola-Parkes lag fast taghart quer über der Landstraße. Der Mann hätte gewünscht, es wäre dunkler, und hielt sich dicht an der Mauer. Doch er war seit Majano keinem Menschen begegnet. Es war sehr still, nur hin und wieder bellten in der Ferne Hunde. Die silberne Nacht hing feierlich zwischen den regungslosen Bäumen.
Eine eiserne, kaum mannshohe Pforte, die ein Uneingeweihter in der schwarzen Massigkeit der Mauer nicht bemerkt hätte, war nur angelehnt. Guerra drückte sie auf und ließ sie hinter sich ins Schloß schnappen. Wenige Schritte parkeinwärts stand ein halbzerfallenes Gärtnerhaus. Hinter einem Oleanderbaum neben dem schmalen Eingangstreppchen wartete regungslos ein Mann.
»Renzo!« rief Guerra halblaut und blieb stehen. Der Mann trat vor. Auf dem Weg lagen flirrende Lichtflecken, die sich durch die Bäume gedrängt hatten. Es war indes hell genug, um sich zu erkennen.
»Hier, Signore,« sagte Maddii, der Buchdrucker. Guerra reichte ihm kameradschaftlich die Hand.
»Sind alle da?« fragte er.
»Ja.«
Sie gingen ins Haus. Die Tür war solid und in gutem Zustand. Das Äußere des Hauses schien verwahrloster zu sein als das Innere. Zumal das Erdgeschoß, das die beiden betraten, hatte festschließende Fenster mit schweren Eisenläden. So konnte man erst auf dem inneren Korridor bemerken, daß ein Raum beleuchtet war.
»Hat die Fürstin heute abend Besuch?« fragte Guerra und blieb vor der Zimmertür stehen.
»Nein,« entgegnete Maddii, »nur Ihre Schwester.«
»War im Laufe des Tages jemand bei ihr, Renzo?«
»Nur der Baron Steiner, wie gewöhnlich zum Frühstück. Er fuhr gegen zwei Uhr in die Stadt zurück. Dann gab ich die Ankündigung ab.«
»Und im Laufe des Nachmittags? Vielleicht ein Geistlicher?«
Maddii sah ihn verwundert an.
»Ein Geistlicher, Signore? Gewiß nicht. Überhaupt kein Besucher, zum mindesten nicht durch das Hauptportal, das ich kontrollierte.«
»Schön, Renzo. Aber Sie müssen noch einige Tage in Settignano bleiben und gut aufpassen.«
Guerra öffnete die Tür. Etwa zehn Männer, die leise miteinander sprachen, erhoben sich, ein respektvolles Schweigen wahrend. Es waren zumeist jüngere Leute, Distriktführer aus Florenz und Verbindungsleute der Untersektionen Livorno, Pistoia, Volterra und Siena, unter ihnen der Journalist Scaleterra. Guerra begrüßte sie freundlich und reichte jedem einzelnen die Hand. Dann wandte er sich wieder an Maddii, der bescheiden neben der Tür stehen geblieben war.
»Es ist besser, Renzo,« sagte er zu ihm, »Sie bleiben draußen auf Ihrem Wachtposten. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Außerdem sind Sie ja für Ihre Person instruiert.«
Maddii verließ schweigend das Zimmer und schloß die Tür leise.
»Signori,« sagte Guerra mit gleichmütiger Stimme, »Sie wissen, es ist so weit. Der Großherzog hat Wien verlassen und reist über Venetien. Heute ist der zehnte Oktober. Der Großherzog wird voraussichtlich am fünfzehnten Oktober in Modena eintreffen, zum Besuch des Herzogs. Voraussichtlich am fünfzehnten Oktober also erheben sich unsere Brüder in Modena, auf das Signal zweier Schüsse, die nicht blinde Schüsse sein werden. Voraussichtlich am siebzehnten werden unsere Brüder in Bologna zugleich mit uns losschlagen.«
Er schwieg und sah die Männer an, die durch die Mitteilung wenig erregt schienen. – Sind diese Hirne denn stumpf, dachte Guerra etwas gequält, oder ahnungsvoll? – Er sah ein paar kluge nüchterne Augen auf sich gerichtet. Er senkte plötzlich den Blick. – Dieser Scaleterra, sagte er sich, ist nicht stumpf; er sieht scharf, er wird wieder opponieren.
»Losschlagen …«, sagte der Journalist leise, etwas gedehnt, »Losschlagen, Bruder G. G., ist noch nicht Gewinnen.«
»Gewiß nicht,« erwiderte Guerra spöttisch, »aber es geht doch wohl nicht, daß ich damit beginne, Sie zum Kultusminister zu ernennen.«
Scaleterra schwieg, die Schultern hochziehend. Guerra begann jetzt, den einzelnen Funktionären Anweisungen zu geben. Er sprach kalt und sachlich. Er bemühte sich, durch nüchterne Orders und sichere Worte die Atmosphäre der Mutlosigkeit zu bekämpfen, die er selber zu verbreiten glaubte. Die Bewaffnung der toskanischen Sektion war seit geraumer Zeit durchgeführt. Ermöglicht wurde sie durch die fünftausend französischen Gewehre und Pistolen, die korsische Schmuggler bei Piombino an Land gebracht hatten. Guerra erwähnte es kurz, um durch die Erinnerung an dieses letzte gute Parteiereignis die Zuversicht zu stärken. Dann ging er unverzüglich an den wichtigsten Teil der abendlichen Besprechung, den einzelnen Stadtsektionen die Kampftaktik und das Ziel ihres Angriffs bekanntzugeben. Seine Befehle waren klar und bewiesen lange Überlegung und genaue Kenntnis der militärischen Situation. Die Hauptangriffspunkte waren der Palazzo Vecchio, der Sitz der Regierung, des Kriegsdepartements, des Generalstabs und des Platzkommandos, und dann die Kasernen der beiden Infanterieregimenter im Belvedere, der Nobelgarde an der Via Guicciardini, die den Palazzo Pitti bewachte, des Artilleriebataillons in der Fortezza da Basso und der Dragonerschwadron auf dem Corso dei Tintori.
»Außerdem ist zu hoffen,« schloß er, plötzlich nervös, »daß etliche, von ausländischen Elementen freie Kompagnien, die durch unsere Propaganda erfaßt sind, neutral bleiben oder sogar zu uns übergehen werden.«
»Darauf ist nicht zu hoffen,« erklärte Scaleterra ruhig. »Unsere Propaganda ist viel zu intellektuell, weil sie von Literaten und Studenten ausgeht; und sie hat gewiß noch keine Kasernentür geöffnet. Ferner gibt es keinen Truppenteil ohne deutsche Unteroffiziere. Und die werden schießen: verlassen Sie sich darauf.«
Guerra sah ihn böse an. Das alles wußte er so gut wie jener. Zum Teufel, er wußte auch, warum er es verschwieg und noch etliches andere dazu. Durfte er sich nicht einmal mehr auf die Disziplin seiner Unterführer verlassen!
» Amico,« sagte er leise und scharf, »behalten Sie Ihre Meinung für sich, bis ich Sie darum frage. Ich will auch nicht hoffen, daß Ihre nicht einmal versteckte Obstruktion über diese erlaubte Grenze zu gehen beabsichtigt.«
Der Journalist hatte eine knochige, etwas schiefe Nase, die in den Augenblicken der Erregung rot wurde und unaufhörlich ihre fleischigen Flügel bewegte. Guerra kannte das und wußte jetzt schon, daß der andere sich nicht einschüchtern ließ und zum fatalen Angriff übergehen würde. Er preßte unruhig den Mund zusammen.
»Mit allem Respekt, Bruder G. G.,« begann Scaleterra kehlig, »und in aller Subordination: wir haben hier so etwas wie einen Kriegsrat, in dem Meinungen und Fragen erlaubt sein müssen. Auch diese Frage: ob Sie mit den Hinterladern, die Herr Lafayette ausrangiert hat, auch die Mauern der Fortezza da Basso mitsamt den schweren Geschützen der Festungsartillerie zusammenschießen wollen?«
Guerra wurde blaß vor Wut; aber er nahm sich zusammen.
»Ja, Verehrtester,« sagte er trocken; »und meine Geduld erlaubt Ihnen noch die andere Frage, die Hauptfrage, die Ihnen sozusagen schon aus dem Mund heraushängt.«
»Danke,« versetzte Scaleterra, und blähte die Nüstern, »ich mache von der Erlaubnis Gebrauch. Ich gestehe, ich begreife in diesem Fall nicht die Politik der Zentrale uns gegenüber. Warum gibt sie nicht zu, daß es sich um ein schlichtes Attentat gegen den Großherzog handelt und um den Propagandatod von ein paar hundert toskanischen Patrioten, die die eigentliche, viel spätere Revolutionsernte zu düngen haben? Denn wenn auch das Attentat gelingt, wird es nur Verwirrung anrichten, aber noch keinen Umsturz bringen. Das Land ist in seiner politischen Form der festgefügteste Staat Italiens. Man wird in etwa drei Stunden die paar hundert Tote beieinander haben, und dann wird es vorläufig so bleiben, wie es ist.«
Guerra ließ wie erheitert die Hände auf den Tisch fallen.
»Bravo,« sagte er, sich zum Lächeln zwingend, »sehr schön und schwer zu widerlegen. Denn ich gehöre nicht zur Zentrale, sondern wohl zu den zukünftigen Propagandatoten. Ich werde nämlich, wenn ich das Signal von der Nordgrenze habe, in eigener Person der Sektion ›Piazza‹ den Marschbefehl geben und sie zum Palazzo Vecchio führen. – Ihnen, mein Freund, gestatte ich, in der Redaktion zu bleiben und sich für das Siegesbulletin zu erhalten. Sie können es ja, sollte es unangebracht werden, wieder zerreißen.«
Scaleterra war ein kluger Mann und merkte an dem etwas schartigen Spott des Führers, daß sein Hieb gesessen hatte, mehr noch, daß Guerra im Grunde nicht viel anders dachte. Das genügte ihm sonderlicherweise; denn seine Opposition war etwas eigentümlicher, aber keineswegs unkollegialer Art. Er sah auch sofort ein, daß Guerras verdeckte Haltung taktisch notwendig war – daß seine Lage nicht eben einfach schien. So antwortete er mit einer Handbewegung, die für den anderen die scharfen Worte entschuldigte:
»Das ist nicht sehr witzig, Bruder G. G., auch unsachlich. Meine Person steht gar nicht zur Debatte. Ich werde selbstverständlich dort sein, wo meine Leute sind. Und ich vertrete hier die Sektion ›Piazza‹. Ich erkenne auch in aller Form an, daß meine Einrede vor der Entscheidung der Parteizentrale, die von einem höheren Standpunkt aus die Dinge sieht, nicht bestehen kann. – Meine letzte Frage: wenn die beiden Schüsse in Modena Fehlschüsse sein sollten oder wenn sie durch irgendeine Wendung des Schicksals überhaupt nicht abgefeuert werden sollten – was dann?«
Guerra antwortete nicht gleich. Er schien abgespannt und unruhig. Er sah auf die Uhr.
»Fehlschüsse,« entgegnete er dann mit müder Stimme, »sind nicht sehr wahrscheinlich. Denn es braucht ja nicht bei zwei Schüssen zu bleiben. Auch ein hemmendes Ereignis sollte wenig möglich sein. Doch um Ihre Frage zu beantworten: dann würden wir ruhig bleiben.«
Der Journalist nickte mit dem Kopf. Die Instruktion ging weiter und betraf das ländliche Gebiet und die Provinzplätze. Die Verbindungsmänner wiederholten monoton ihre Orders. Dann trat Stille ein. Guerra überlegte, was zu sagen sei. Der Journalist sah ihn wieder an, als suche er die heimlichen Gedanken hinter seiner Stirn. Plötzlich fragte er, ganz leise:
»Und die Fürstin?«
Guerra fuhr auf. Aber sein Gesicht war nicht zornig, sondern fast hilflos. Er sprach so laut wie kaum während des ganzen Abends:
»Diese Frage verstehe ich nicht!«
Die Fürstin wurde schon müde. Zudem war Madda Guerra heute ein belastender und ziemlich wortkarger Gast. Und Maria Corleone besaß das feine Taktgefühl, sie niemals etwas zu fragen, was den Bruder anging und was mitzuteilen oder zu verschweigen nur ihm zustand. Sie hatte auch zwei Stunden früher nicht viel gefragt, als das erschütterte Mädchen zu antworten geneigt schien. Die Ereignisse hockten hinter dem dünnen Wall des Schweigens.
Die Fürstin wußte seit geraumer Zeit, daß eine Aktion bevorstand. Seitdem war Unruhe in ihrem Herzen. Sie ahnte wohl, daß ihre etwas bequeme Unverantwortlichkeit, für die sie Guerra insgeheim sehr dankbar war – das Nichtkennen, Nichtsehen, Nichthören des revolutionären Uhrwerks neben sich – nicht mehr lange dauern konnte. Sie war träger geworden wie ihr Körper. Sie liebte das Leben, wie es war. Ihre passive Mitgliedschaft innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung genügte ihr durchaus, zumal sie durch ihre Geldspenden doch eine genügende Rolle spielte und Guerra auf manche Weise nützlich sein konnte. Außerdem hatte sie sich daran gewöhnt, Toskana als eine Art neutrales Gebiet zu betrachten, das wohl für den italienischen Gedanken seinen platonischen Wert hatte, aber nicht für einen Kriegsschauplatz in Betracht kam. Mit dieser Auffassung der Dinge mochte sie sich auch hinsichtlich des Großherzogs Absolution erteilt haben. Dann kam die Julirevolution, deren Donner ihre schwanke Theorie umwarf. Ihr graute vor Ereignissen, die ihr Leben ändern konnten und sie selber dem Spruch ihres bedrängten Gewissens überlieferten. Noch niemals hatte sie sich durch eine Abreise des Souveräns in einer Weise erleichtert gefühlt wie damals. Dafür begann Guerra, der im nachbarlichen Fiesole saß, sie stärker zu beanspruchen. Sie mußte in der ersten Zeit ein paarmal in das Borgunto mit seinem fatalen Armeleutegeruch fahren und dann sogar auf dem Territorium der Isola einen geheimnisvollen Versammlungsort einrichten, weil Florenz nicht nur für den Führer Guerra ein heißer Boden geworden war. Zusammenkünfte Guerras und seiner Funktionäre im Gärtnerhaus der Isola waren nicht gerade häufig, und die Fürstin wurde auch nicht in ein tieferes Vertrauen gezogen, auf das sie gerne verzichtete: aber es hätte nicht mehr der ernsten Warnung des alten Baron Steiner bedurft, um sie auf ihre böse Lage hinzuweisen. Guerras Aktivität war augenscheinlich. Ihre Sorge um die Entwicklung der Dinge wuchs in dem Grade, als sie ihrer Person unheimlich nahekam und doch außerhalb ihrer Beeinflussung bleiben mußte. Heute mittag, als Steiner bei ihr speiste, wußte sie noch nicht einmal, daß sie am Abend wieder werde unsichtbare und gefährliche Gäste beherbergen müssen. Vielleicht hatte es der Alte, dieser absonderliche Mentor und Schrittmacher ihres Schicksals, besser gewußt; denn er fuhr gerade heute mit seinen nicht verlangten Geständnissen fort und hatte ihr von der Rolle erzählt, die er im neapolitanischen Aufstand gespielt hatte. Es war ein böses Spiel gewesen: Geld für die Insurgenten und Geld für die Reaktion. Die Fürstin schüttelte den Kopf.
»Ja,« lächelte Steiner, »jene große Macht liebt weder Frankreich noch Österreich. Sie liebt begreiflicherweise nur sich und interessiert sich darum lebhaft für die Sorgen und Achillesfersen ihrer möglichen Konkurrenten.«
»Nein, Baron,« hatte sie bedrückt erwidert, »Sie wollen mich mißverstehen. Mich interessiert nicht mehr jene Zeit mit ihren Sorgen und Achillesfersen, und Sie auch nicht mehr – das weiß ich wohl. Sie lieben in letzter Zeit Analogien, Steiner; aber sie sind doch nach dem halben Geständnis, das ich Ihnen vor nicht langer Zeit machte, nicht mehr nötig.«
»Das weiß ich nicht, Altezza,« sagte der Alte ernst. »Ein halbes Geständnis mag leichter wiegen als eine runde Analogie. Und mein Kreis ist fest geschlossen, wenn Sie wissen, daß meine Beziehungen zur Pariser Zentrale der Unabhängigkeitspartei zwar anders geartet, aber doch auf jeden Fall älter sind als die von – sagen wir: von Gasto Guerra.«
Der Erregten waren die Tränen gekommen, vor Hilflosigkeit, vor Angst. Das Schicksal rannte von allen Seiten gegen sie an und verlegte schon die Wege, die sie noch frei glaubte.
»Sprechen Sie doch nicht mehr weiter,« flehte sie und saß dabei gerade, ohne eine Bewegung in ihrem Sessel. Steiner war von dieser schmerzlichen Starre betroffen.
»Nein, nein, mein Kind,« sprach er ungewöhnlich weich das erste vertrauliche Wort ihrer langen Freundschaft; »ich spreche nichts mehr.«
Die Corleone hatte seine dünnen Händchen ergriffen, als wollte sie sich festhalten. Sie flüsterte hastig:
»Ich weiß ja nichts, Steiner! Man sagt mir nichts – wahrhaftig …«
Er streichelte leicht ihre Finger.
»Ich glaube es Ihnen, Maria,« sprach er sanft; »aber es könnte sein, daß Sie es bald erfahren und daß Sie dann nicht mehr weiter wissen. Es gibt Situationen, zumal für Frauen, die sich mit ihrem Gefühl zu weit vorgewagt haben – es gibt Situationen, Altezza, die am äußersten Rand des Lebens angelangt zu sein scheinen. – Ich möchte dann – verzeihen Sie den Hinweis, Maria – ja, ich möchte dann vielleicht doch weiter wissen. Ich habe vor Ihnen nichts weiter voraus, als vierzig Jahre; aber sie sind angefüllt mit vielen und manchmal überraschenden Aspekten des Lebens.« –
Er war dann fortgegangen. Sie hatte viel nachgedacht und schließlich ein wenig Ruhe gewonnen. Schon kam der Diener mit einem Brief, den ein Mann beim Pförtner abgegeben hatte. Er enthielt die Ankündigung in der üblichen Form: die kurze Bitte, den Wagen für sechs Uhr an die Wegkreuzung unterhalb des Monte Ceceri zu schicken. Maddalena Guerra pflegte allein und als Erste zu kommen, zu einer Zeit, die für eine Freundin der Fürstin nicht ungewöhnlich war, um die Zusammenkunft des Abends vorzubereiten und dafür zu sorgen, daß weder die Fürstin noch das Gesinde mit den Funktionären in Berührung kamen. Da das Personal der Isola nicht groß war und sich selbst tagsüber kaum ein Gärtner in den entlegenen Teil des ausgedehnten Parkes verirrte, in dem sich das Versammlungslokal befand, hatte es damit keine Schwierigkeiten. Sie war es auch, die zur gegebenen Zeit die kleine Mauerpforte öffnete. Dann wurde sie von Maddii, dem Buchdrucker, abgelöst, der für die Bewachung des Gärtnerhauses bis zur Ankunft des letzten Teilnehmers an der Beratung, Guerras selber, verantwortlich war, während Madda, die persönlich niemals den Zusammenkünften beiwohnte, zur Fürstin zurückzukehren pflegte.
So wurde es für gewöhnlich gehalten. Dieses Mal nur war die Zeit für den Wagen etwas früher als sonst. Die Fürstin, die das Außerordentliche erwartete, sah in dieser Geringfügigkeit schon einen Beweis für die Nähe der Entscheidung. Als Maddalena kam, bemerkte sie zunächst an ihr keine besondere Spannung. Das Mädchen hatte das zärtliche Gesicht mit der kaum merklichen Grausamkeit an den Mundwinkeln – wie immer. Aber die Corleone hatte an diesem Tag die Sinne bis zum äußersten geschärft und spürte bald, daß die Freundin heute die vertraute Art wie eine Maske trug, dahinter aber eine ganz fremde und harte Welt der Gedanken, und daß sie insgeheim mit ihrer Strategie, die wohl notwendig war, nicht ganz zufrieden schien. Ihre Augen waren manchmal trauriger als sie hätten sein dürfen.
Die Fürstin liebte das Mädchen mit einer leise körperlichen Zuneigung, wie sie reife Frauen oft für die Anmut empfinden, die um das Dezennium der letzten weiblichen Entwicklung jünger ist und deren Gang durch diese nächsten zehn Jahre die Ältere melancholisch und stets auch ein wenig feindselig macht. Dazu kam der zugleich verbindende und doch auch die feindliche Gefühlsecke berührende Umstand, daß sie Guerras Schwester war und in inniger beruflicher und menschlicher Gemeinschaft mit ihm lebte. Und Guerra war ihr als Mensch zu einem nicht einfacheren Problem geworden wie als Politiker. Sie fürchtete sich selber vor dem Geständnis, daß sie ihn heute gewiß nicht weniger liebte als vor acht Jahren. Sie wußte jetzt: die Enttäuschung, die ihr das Wiedersehen nach der langen Trennung bereitete, war anders als die seine. Ihn hatte die Frau enttäuscht – und schon hatte er mit der Brutalität des Mannes die ganze lange Liebe vergessen oder wenigstens doch diese Tür der Vergangenheit hinter sich zugeschlagen. Sie war viel zu sehr Frau, um durch die Person des Geliebten enttäuscht werden zu können. Aber sie erwartete Liebe und fand Kritik. Sie stand zu hoch und war zu selbstbewußt, um nach der Art von kleinen Desillusionierten mit blankem Haß zu antworten. Sie begnügte sich damals noch einmal mit der ruhigen Freundschaft, in die sie ihn zu Anfang ihrer Beziehungen hineinkommandiert hatte. Und sie besaß in der Tat die seltene Großzügigkeit des Herzens, seinen einstigen Kummer nicht zu vergessen und den Schicksalskreis als ausgleichende Gerechtigkeit hinzunehmen. Trotzdem aber entstand damals in ihrem Innern die Unsicherheit, die sie jetzt aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Maddas junge Anmut, die jetzt eng neben dem Bruder auftauchte und mit der Innigkeit des gleichen Blutrhythmus seinen Weg mitschritt, entzückte sie laut und kränkte sie heimlich. Sie schämte sich ihrer unsinnigen Eifersucht und verdoppelte die Beweise ihrer Freundschaft für die andere. Aber es blieb in dem Teil ihres Lebens, der den Guerras zugewandt war, das feine Echo des Leides hinter den freundlichen Worten und Handlungen für sie und für ihn.
So blieb in dem Verhältnis der Frauen ein dunkler Rest, den beide nicht aufklären wollten. Denn auch Madda behielt in ihrer Bewunderung und mädchenhaften Unterordnung unter die schöne Fraulichkeit der Fürstin eine gefährliche kleine Selbständigkeit, einen ganz inneren, verschlossenen Distrikt, der von Anfang an für sakrosankt erklärt war und mit dem sie doch die Freundin quälte. Sie schien es unbewußt zu tun. Sie machte sich jünger als sie war und quälte dann in aller Unschuld, mit der graziösen Grausamkeit des Kindes. Sie ließ ahnen, welches Geheimnis sie in sich verbarg. Sie sprach zur Fürstin durchaus nicht von ihrer Leidenschaft für den Bruder, sie deutete sie nur an. Sie schien nicht zu wissen, welche persönlichen Beziehungen zwischen Guerra und der Corleone gewesen waren oder vielleicht noch bestanden. Aber sie vermied nicht, der anderen zu zeigen, um wie viel näher sie dem Leben und dem Werk des Bruders war als irgend jemand. Die Fürstin verriet niemals, daß für sie der Mann und sein Amt von ganz verschiedener Bedeutung waren, und respektierte Maddas Sanktuarium. Heute dankte ihr das Mädchen diese Haltung das erstemal, als es das Schicksal, das in seinem Gefolge war, schwesterlich zu verbergen sich bemühte.
Madda war zuerst etwas zerfahren, weil sie nicht wußte, wie sie ihren besonderen Auftrag erfüllen sollte, ohne Marias Nerven, denen am Abend noch die starke Belastungsprobe bevorstand, allzusehr anzugreifen. Sie umarmte die Fürstin, sie fand sie schöner als je und streichelte ihre bloßen Arme. Sie kannte die Wirkung ihrer körperlichen Nähe auf die Ältere, nützte sie aus und beobachtete ihr Gesicht. Die Corleone blieb freundlich, still und ein wenig zurückhaltend.
»Du bist heute früher gekommen als für gewöhnlich, nicht wahr, Madda?« fragte sie jetzt leichthin. Das Mädchen sah sie an und nickte. – Sie ahnt etwas, dachte sie und wurde traurig. Es sagte leise:
»Gasto schickte mich etwas vor der üblichen Zeit, um … ich habe Sie doch nicht gestört, Maria, oder gar Besucher vertrieben?«
Die Corleone lächelte fein.
»O nein, chérie,« antwortete sie, »ich hatte heute nur Steiner als Mittagsgast wie immer; sonst kam kein Mensch – wenn du das wissen willst.«
Madda wurde rot und senkte den Kopf. Sie war heute unsicher und ungeschickt. Sie war heute ihrer Aufgabe nicht gewachsen.
»Das klingt alles ganz anders, als es gemeint ist, Maria,« sagte sie etwas gequält und unbestimmt; »aber ich kann uns da nicht helfen.«
Die Corleone strich ihr über das Haar und ließ die Hand auf ihrer Schulter.
»Sage mir ruhig, was du mir zu sagen hast, Madda. Ich bin nicht so empfindlich oder nicht so ahnungslos, wie du vielleicht annimmst.«
Die Guerra hob überrascht das Gesicht. – Was bedeutet das? fragte sie sich. War das eine kleine Warnung, den Bogen nicht zu überspannen? –
»Kennen Sie den Abate Vacca, Fürstin? Lionello Vacca, einen sehr großen, sehr dicken Mann?«
Maria dachte nach und sagte nein. Das Mädchen wartete, ob sie wohl fragen würde, was es mit diesem Abate für eine Bewandtnis habe. Doch die Corleone fragte nichts und hatte einen etwas hochmütigen Mund. Maddas Stimme klang jetzt ein wenig gereizt:
»Könnten Sie durch den Kardinal-Erzbischof die Entfernung eines mißliebigen – eines für uns gefährlichen Geistlichen erreichen, Fürstin?«
Maria sah erstaunt auf.
»Nein,« versetzte sie, »wie sollte ich das?«
Madda runzelte die Brauen und hatte die beiden kleinen bösen Buckel über der Nasenwurzel.
»Auch nicht, wenn er für Sie gefährlich ist, Maria?«
Die Corleone bewegte etwas erschrocken die Schultern; aber sie sprach ruhig und sanft verweisend:
»Aber liebes Kind, natürlich auch dann nicht. Im übrigen hielt ich mich nicht für ausgeschlossen, als du sagtest: für uns.«
»Ach, Maria,« flüsterte Madda beschämt, »ich bin heute sehr taktlos.« Sie machte eine Bewegung, als schüttelte sie etwas ab, und sprach plötzlich ganz ehrlich: »Meine Stellung ist manchmal zu schwer für mich. Wenn ich nervös bin, weiß ich nicht, ob ich als Freundin oder als Funktionärin nichts tauge. Und ich bin heute nervös. Der Abate ist ein Vertrauter Caminers und scheint auf dem richtigen Weg zu sein.«
Sie berichtete die Szene zwischen Vacca und Gioia, dem Bettler. Die Fürstin hörte ernst zu. Sie sah zu Boden und bewegte leise die Fußspitzen hin und her.
»Ja,« sagte sie dann still, »ich muß wohl auf derlei gefaßt sein. – Aber man wird wohl im Augenblick eine direkte Polizeiaktion gegen mich verhindern.«
»Wer?« fragte Madda unvorsichtig. Die Fürstin hob ein wenig die Brauen. Auch sie hatte ihre abgedunkelten Bezirke.
»Nun,« machte sie, etwas peinlich berührt, »der Souverän natürlich.«
Madda preßte die Lippen zusammen und legte rasch die Hände an die Schläfen, als sie sah, wie irgendein schlimmer Gedanke die Augen der Fürstin weitete.
»Ich habe Kopfschmerzen heute,« sagte sie, stand auf und trat ans Fenster, um der anderen den Rücken drehen zu können. »Das war eine Hitze wie im August.«
»Ja,« sagte die Corleone, dann schwiegen sie eine Zeitlang. Die Guerra atmete geräuschvoll den lauen Abendwind ein und streckte die Arme aus dem Fenster. Sie summte vor sich hin.
»Sollte der Abate,« sagte sie mit einem Male und wandte sich um, »unter irgendeinem Vorwand hierher kommen, Fürstin, so werden Sie ihn ruhig empfangen und ihm eine natürliche Gleichgültigkeit zeigen.«
»Gut,« erwiderte Maria. »Ist wegen dieses Menschen sonst noch ein Beschluß gefaßt worden, der mich angeht?«
»Nein,« sagte Madda und ging bald darauf in den Park, um das Pförtchen an der östlichen Mauerfront aufzuschließen. –
Die Fürstin trat auf die Terrasse. Die Nacht lag im silbernen Frieden des Mondes. Es schien alles gut auf der Welt, weil alles still war. Der Mensch, sein Werk und sein Tun war von dem göttlichen Stolz dieser Nacht verzaubert. Weit unten die Stadt war ein Spiegelbild des Sternenhimmels geworden, sanfte Lichtpunkte im schwarzen Samt des Nichts. Nahe aber standen riesengroß und nicht mehr traurig wie am Tage die unirdischen Silhouetten der Zypressen, schwarze Kerzen der Ruhe, mystisch vom Mondschein verbunden wie von einer Girlande. Und dann, man brauchte den Kopf nur ein wenig zu wenden, steht eine einsame Pinie aufgespannt in der Welt und fängt die weiße Nacht auf wie Regen. – Das alles ist viel zu schön, dachte die Corleone und wandte sich ab; das macht mich noch viel schwächer als ich schon bin.
Madda kam zurück. Ihr Gesicht hatte die Schärfe des Dienstes noch nicht verloren. Die beiden Frauen begannen ein Mahl, das schweigsam und kurz war.
»Auch du hast keinen Hunger, Madda?« fragte die Fürstin. Das Mädchen schüttelte den Kopf und sah sie aufmerksam an.
»Ich bin doch keine so schlechte Freundin,« versuchte es zu scherzen. Die Corleone blieb ernst.
»Du bist so jung, Madda,« sprach sie, »und doch ein Kamerad, wie ich ihn treuer nicht kenne.«
Madda sah auf das Tischtuch.
»Sie sprechen jetzt nicht von unserer Freundschaft?«
»Nein, Madda.«
»Warum sagen Sie dann: ein Kamerad, und nicht: eine Schwester?«
Die Corleone lächelte flüchtig.
»Ich halte an diesem Abend die Kameradschaft für schöner als das Schwesterliche. Deshalb sagte ich es. – Du bist doch mehr als eine Schwester.«
»Warum?« fragte das Mädchen fast böse. Sie preßte die Finger ineinander, als wollte sie sich hindern, mehr zu sprechen. Aber dann fügte sie doch leise und hastig hinzu: »Es gibt für mich nur eine Steigerung der Schwester – – das ist die Geliebte.«
Die Fürstin schloß einen Augenblick die Augen und fühlte, wie es gegen ihre Schläfen hämmerte.
»Das …« sagte sie dann tonlos, »das, Madda, kann ich nicht begreifen, weil ich keine Schwester bin.«
Das Mädchen saß nachdenklich. Jetzt beugte es sich etwas über den Tisch und griff nach der Hand der Fürstin.
»Maria,« fragte sie weich, »was möchten Sie wohl heute abend an mir begreifen?«
Das war eine unerwartete, kaum faßliche Bereitschaft, sich aufzuschließen. Die Fürstin hob fast bestürzt die Hand. Wie groß muß ihr Mitleid sein! dachte sie.
»Nichts,« flüsterte sie, »Madda, nichts! – Es sei denn das, was du eben auch mir zu erkennen gibst: die Opferfähigkeit.«
Plötzlich schluchzte Madda kurz und trocken auf. Die Corleone sah sie fragend an und drückte ihre Hand.
»Es ist nicht weit her damit,« sagte das Mädchen rauh, um seine Bewegung zu ersticken. »Es gibt nur ein heiliges Opfer. Das gehört der Liebe an. Und wenn diese Liebe … wenn dieses Opfer nicht möglich sein kann, dann wird man leicht blasphemisch – dann wirft man sich leicht weg … als mittelbares Opfer – für die Idee … was weiß ich wofür!«
»Mein Gott,« stöhnte die Corleone, »ich werde schon noch einmal lernen müssen, wie böse das Leben sein kann …«
Madda schlug wild auf den Tisch.
»Es kann so böse sein, Maria! So unsäglich böse!«
Die Fürstin fuhr zurück, tief erschrocken.
»Um Gottes willen, Kind!« rief sie, »was hast du denn!«
Das Mädchen preßte die Fäuste gegen den Kopf und lachte lautlos und erschütternd.
»Kind … Kind …« flüsterte es. »Dieses Kind hat mit seinem Körper zu ködern … jawohl! … wenn der Bruder es will … oder die Idee, klingt es so hübscher …«
Die Corleone stand auf, mit weißem Gesicht.
»Wenn das wahr ist, Madda – warum sagst du mir das?«
Die Guerra wurde mit einem Male ruhig, fast etwas unheimlich in einer steifen Haltung.
»Das weiß ich nicht,« antwortete sie kurz. »Vielleicht ist es auch nicht wahr.«
Die Fürstin sprach darauf nichts. Sie zog den Schal enger um die Schultern, als ob es sie fröstle. Sie sah angegriffen aus.
»Soll ich das Fenster schließen?« fragte Madda. Die Corleone schien nicht gleich die Stimme zu erfassen. Dann schreckte sie aus den Gedanken.
»Nein, nein, danke! – Wir könnten es sonst überhören.«
Die Stunden krochen sehr langsam weiter. Die Stille war noch immer groß. Ganz schwach und kurz nur sägte hier und da eine Zikade. Das offene Fenster ging auf den östlichen Teil der Isola. Die Menschen, die jetzt dort ihr heimliches Wesen trieben, wurden von der Nacht nicht verraten. Aber sie klopften wie Schwebegeister in den Pulsen der Frauen, zwischen denen kein Raum für Worte mehr war. Sie saßen stumm beisammen, fast befangen.
»Es dauert lange heute,« sagte einmal Madda. Die Corleone nickte. Sie war schon müde. Die Spannung löste sich von ihr ab, trotzdem sie wußte, daß es dafür noch nicht an der Zeit war. Ihr Kopf sank nach vorne. Sie schien eingeschlafen zu sein. Madda rührte sich nicht.
Dann erhob sich in der Ferne eine schöne weiche Männerstimme und begann das schlichte und heitere Lied, das die Bauern des Chiantitales zur Zeit der Weinernte singen.
»Endlich!« rief Madda und stand auf. Die Corleone erhob sich schweigsam.
»Man braucht kein Licht heute,« sagte sie. Die beiden Frauen verließen das Haus und schlenderten in den Park, Arm in Arm. Als sie weit genug waren, um keinem Bedienten mehr zu begegnen, ließen sie sich los, mit einer fast gleichzeitigen Bewegung, und schritten schneller aus. Madda führte, die Fürstin hielt sich dicht hinter ihr. Renzos Stimme, die das Zeichen gegeben hatte, daß die Funktionäre die Isola verlassen hätten, war schon längst verklungen. Den Gehenden schienen die Schritte ungewöhnlich laut.
Guerra stand vor dem Gärtnerhäuschen und wartete auf sie.
»Guten Abend,« sagte die Fürstin leise. Er küßte ihre Hand.
»Guten Abend, Maria,« begrüßte er sie mit ruhiger Stimme. »Es ist heute abend spät geworden. Vergeben Sie.«
Sie konnte sein Gesicht nicht recht erkennen. Er war schon auf der Treppe und führte die Frauen ins Haus. Die abgesperrte Luft des Zimmers war verbraucht und schwer. – Es riecht nach Verschwörung, dachte die Corleone und lächelte unwillkürlich. Doch sie hatte das Spitzentaschentuch vor dem Mund: so hatte er es wohl nicht bemerkt.
Sie betrachtete ihn. Er sah gealtert und übermüdet aus. Doch er schien weder unruhig noch von einem besonderen Entschluß belastet. – Vielleicht war alles nur blinder Alarm, dachte sie, und eine peinliche Zuverlässigkeitsprobe.
Sie saßen an dem nackten braunen Tisch. Guerra sah nachdenklich auf die rissige Platte. Madda legte das Kinn leicht auf die gefalteten Hände und schloß die Augen.
»Es ist schon spät,« sprach jetzt Guerra verhalten, »ich muß mir jede Einleitung ersparen – auf die Gefahr hin, sehr unvermittelt zu scheinen.«
»Das war schon Einleitung genug, Gasto,« sagte die Fürstin leise. Er hob die Augen zu ihr auf, die schönen, etwas mißtrauischen Augen, die grau, grün oder blau sein konnten, und deren Lider jetzt ein wenig flatterten.
»Ja, Maria,« begann er und machte eine unbestimmte, etwas verlegene Geste, »wenn ich Sie bitte, möglichst bald, vielleicht schon morgen, Florenz zu verlassen und in Begleitung des Prinzen für einige Zeit nach Rom zu gehen, so bittet sie wahrhaftig der Freund und nicht der Parteimann.«
Die Corleone strich sich über die Stirn und sah Madda an, die die Augen geöffnet hatte und wie teilnahmslos in die dunkle Zimmerecke starrte.
»Ich glaube es Ihnen gerne, Gasto,« antwortete die Fürstin; »aber das geht doch nicht ohne einige Fragen. – Ich habe ja auch gewisse – Verpflichtungen, wie Sie wissen …«
Guerra preßte bei diesen letzten Worten die Lippen zusammen. Das erinnerte sie an die Schwester, die das gleiche Gesicht bei dem gleichen Gedanken gehabt hatte. – Die Angst schlug wieder in ihr hoch wie eine wilde Flamme.
»Ja, ja,« nickte jetzt Guerra, »fragen Sie nur.«
»Mein Gott!« rief sie plötzlich und mit so dringlicher Stimme, daß die Guerras auffuhren und die Augen aufrissen. »Hören Sie! Ich will Klarheit! Ich will Wahrheit! Ich ertrage sie oder ich ertrage sie nicht! Aber das wird dann nur meine Sache sein!«
Die Geschwister sahen sich an. Madda formte den Mund wie zu einer Bitte. Guerra sagte sanft:
»Maria, Sie dürfen eine Aussprache nicht überstürzen, die für uns alle schwer ist, vielleicht entscheidend. – Ich gebe zu, ich hatte daran gedacht, Ihnen etwas zu verheimlichen. Ich glaubte, es müsse um unserer langen Freundschaft willen sein. Aber vielleicht ist das ein falscher Standpunkt. Vielleicht steht das Schicksal sogar hinter ihnen.«
Madda hob mit entsetztem Gesicht die Hand, als ob sie etwas abwehren oder verhindern wollte. Die Corleone sagte:
»Ich verstehe Sie noch nicht, Gasto.«
Guerras Gesicht zeigte einen hellen, klaren Willen. Es schien jetzt auch frischer und jünger als vorhin.
»Ich glaube,« sprach er lebhaft, »ich habe jetzt die Kraft, ganz verständlich zu sein. Es gehört Kraft dazu: auch das werden Sie bald einsehen, Maria. Es gibt im Augenblick für uns nur eine Möglichkeit, aber für Sie zwei.« Er stockte nachdenklich und kniff die Augen zusammen. »Kurz und gut,« ergriff er wieder das Wort, »unsere Sache steht etwas kritisch. Meine Schwester wird Ihnen gesagt haben, warum – ja, und auch das wird sie Ihnen gesagt haben, wie weit Ihre Person kompromittiert ist. Es trifft sich für uns, für die Partei gut, daß in dem Moment die Aktion fällig ist, wo sie notwendig wird, um dem drohenden Angriff der staatlichen Macht zuvorzukommen. Das ist unsere einzige Möglichkeit – und sie ist heute abend hier zum Entschluß gebracht worden. – Sie, Fürstin, haben noch die Wahl, eine Verbindung mit den Ereignissen zuzugeben, also Florenz zu verlassen, oder sie zu leugnen und hier zu bleiben.«
»Ich habe die Wahl?« staunte die Fürstin. »Warum lassen Sie mir die Wahl? Warum versuchen Sie nicht wenigstens, mir Ihre Entscheidung aufzuzwingen? Denn Sie werden doch eine Entscheidung für mich wissen und auch wünschen.«
»Gasto!« flüsterte Madda erregt, »ich gestehe, ich weiß nicht mehr, wo du hinaus willst!«
Guerra bedachte den Einwurf der Schwester mit einem flüchtigen Lächeln und sah dann die Corleone mit einem langen Blick an.
»Maria,« sprach er langsam, »ich weiß diese beiden Entscheidungen für Sie. Welche ich wünsche, das will – das will ich nicht wissen. Aber die Ereignisse verleugnen, heißt natürlich nicht: sie vergessen oder verschlafen …«
Die Corleone fühlte einen dumpfen Druck im Hinterkopf. Es war, als sei der Gedanke, der jetzt an sie herandrängte, für das Hirn zu groß. Sie schloß einen Augenblick die Augen und stöhnte leise. Madda beobachtete sie und sagte zu dem Bruder:
»Ich habe Maria heute schon genug gequält. Ich weiß nicht, ob nicht manches überflüssig war.«
Guerra suchte in ihrem Gesicht und nickte.
»Vielleicht, Madda,« sagte er. »Man kennt ja kein Quentchen von der Zukunft. Man kennt ja nicht einmal sich selbst. – Fürstin,« wandte er sich an die Corleone und sprach etwas lauter, »ich will jetzt die Meditationen ausschließen. Versuchen Sie bitte, mir genau zuzuhören. Die bevorstehende Aktion in Mittelitalien, also nicht nur in Toskana allein, hat als Autor nicht mich, sondern die Zentrale. Das soll nicht nur wie eine Entschuldigung klingen, sondern auch eine sein. – Lassen Sie mich aussprechen, Maria,« setzte er rasch hinzu, weil die Fürstin unterbrechen wollte. »Sie werden dann auf keine Frage eine Antwort vermissen. – Heute ist der 1O. Oktober. Die toskanische Aktion ist gleichzeitig mit der bolognesischen geplant, und zwar für den 17. Oktober. Beide aber hängen von dem Signal ab, das zwei Tage vorher, also am 15., aus Modena kommen soll – ja, Fürstin, am 15. Oktober aus Modena …«
Die Corleone hatte die Lippen etwas offen, packte rechts und links die Tischkante und zog sich langsam in die Höhe.
»Ja … Modena …« flüsterte sie, plötzlich atemlos, wie nach schnellem Lauf, »Modena … nur weiter … da ist der Großherzog …«
»Bleiben Sie jetzt doch ruhig,« sagte Guerra fast hart. »Sie müssen gut überlegen können. Jawohl, der Großherzog kommt am 15. nach Modena. Es handelt sich also um ein politisches Attentat, das in erster Linie ihm und in zweiter Linie dem Herzog von Modena gilt; und zwar sind zwei Scharfschützen der Partei in einem geeigneten Haus der Via del Palazzo postiert, die die Fürsten passieren müssen, um ins Schloß zu gelangen. Der Anschlag ist in einer Weise vorbereitet, daß unbedingt mit seinem Gelingen zu rechnen ist.«
Er sprach nüchtern, fast referierend. Die Corleone schwankte einen Augenblick hin und her, dann setzte sie sich wieder mit steifem Rücken, rührte sich nicht. Madda atmete laut, wie mühsam, duckte ein wenig den Nacken und sah den Bruder von unten her an. Guerra behielt die Fürstin unverwandt im Blick. Er sprach langsamer:
»Das gelungene Attentat ist das Signal für die Aktion in Modena, das wiederum das Zeichen für Bologna und für uns ist. Sie verstehen die Konsequenzen, Fürstin.« Er machte eine abschließende Bewegung mit der Hand. »Dann ist noch zu sagen, daß nach Ansicht Scaleterras und, um ganz ehrlich zu sein, auch nach meiner Ansicht die Ermordung des Souveräns nur einen, sagen wir programmatischen Wert hat, aber keinen Umsturz in revolutionärem Sinn zur Folge haben wird. Logischerweise also wird auch die Erhebung zumal in Toskana keinen Erfolg haben und bei den schwachen Kräften, die mir zur Verfügung stehen, unschwer niedergeschlagen werden. Das weiß gewiß auch die Zentrale, die wohl nur Märtyrer der heiligen Sache fabrizieren will.«
Madda sprang auf.
»Gasto!« schrie sie, »bist du bei Sinnen?«
Guerra sah stumm und taub vor sich hin.
»Ja,« antwortete die Corleone für ihn, mit lauter Stimme, und wurde blutrot. Madda ließ die Arme hängen und senkte den Kopf, als sei sie gescholten worden.
»Ich danke Ihnen, Fürstin,« sagte Guerra bewegt. »Meine Schwester wird schon noch begreifen, warum Sie ja sagten.«
»Ich begreife ja schon,« sagte das Mädchen sehr leise. Die Corleone strich sich über die Augen und fragte:
»Muß ich Ihnen sagen, Gasto, welche Entscheidung ich für meine Person getroffen habe?«
»O nein,« entgegnete er hastig. –
Das Bargello stand maßlos, klotzig schwarz und brutal in der Mondnacht wie eine Fieberburg des Piranesi. Es war schon etliche Zeit her, daß seine böse Glocke die dreißig Minuten von halb elf bis elf Uhr geläutet hatte. Das war ein Ton, der den Nachtschwärmern in die Beine ging und sie in ihre Häuser klöppelte. Denn es war erwiesenermaßen wenig ratsam, nach dem Verstummen der tristen Bargelloglocke auf den übel beleuchteten Straßen ein Licht auf sich zuschwanken zu sehen, ein geschwindes und tückisches Licht, das einen schon stellte und sich im Nu vervielfachte, hatte man den törichten Einfall, davonzulaufen. Unter dem Licht pendelte der berüchtigte Knotenstock der Schergen des Buon Governo bedrohlich, und hinter dem Licht lauerte eines der zahllosen Sbirrengesichter, die dem Betroffenen in solcher Stunde einander so gleich dünkten wie jedenfalls der Maus die Katzenfratze. Das Verhör begann mit einem widerwärtigen Guten Abend, berührte alle Möglichkeiten des Woher und Wohin und der Personalien und endete je nach sozialer Stellung, Glaubwürdigkeit, vielleicht auch Freigebigkeit des Beleuchteten oder Laune, Eifer, vielleicht auch Habgier des Beleuchtenden mit kurzer Entlastung, Heimbegleitung oder mit Prügel, Arretierung und tumultuösem Transport ins Bargello oder in eines der beiden anderen Arrestlokale, die die Bevölkerung aus naheliegenden Gründen »Kohlenkiste« nannte und deren eines an der Piazza Santa Maria Novella, deren anderes im Borgo Tegolaia gelegen war.
Diese Bettglocke des Polizeipalastes war eine der väterlichen Erziehungsmittel des Großherzogs, an die man sich gewöhnt hatte. Schließlich brauchte kein ehrsamer Bürger ohne gute Gründe um die Mitternachtsstunde über das stille Pflaster der Stadt zu stolpern. Diese Zeit sollte man dem Gesindel überlassen, das man dann hinter den Zellenfenstern lamentieren hörte, wenn man tagsüber des Bargello Front zur Via del Proconsolo oder zur Via Sant' Apollinare passierte. Waren sie gebührend hinter Schloß und Riegel, dann durfte man auch, von der Wache kaum beanstandet, sein bißchen Mitleid zu den Schlingeln haben und eine Zigarre oder einen Quattrino in den Beutel legen, den sie wie eine Angel an einer langen Schnur auszuwerfen pflegten. –
Scaleterra, der Journalist, kam kurz vor Toresschluß, also kurz vor ein Uhr nachts, zur Porta San Gallo. Er war nicht, wie seine vorsichtigen Gefährten, für die Nacht in Settignano geblieben, weil er noch in der Redaktion zu arbeiten hatte. Da Guerra es für gut gehalten hatte, seinen Leuten die Begegnung Gioias und Don Lionellos zu verschweigen, kannte Scaleterra die Berechtigung seiner in der Beratung geäußerten Skepsis nicht einmal in ihrer ganzen Tiefe. Er hätte dann gewiß die Vorsicht für seine eigene Person verstärkt. So genügte dem Heimkehrenden der kleine Umweg über San Domenico nach San Gervasio, der kleinen Villeggiatur vor dem Stadttor, wo er einen ihm bekannten Mietskutscher weckte und um einen Wagen nach Florenz bat. Als die halbgeschlossene Kutsche in der Porta San Gallo hielt, beugte sich der Invalide, der die Torwache versah, mitsamt seinem unförmigen Zylinderhelm und einer Blendlaterne unter das Verdeck und tat seine Fragen. Das war in der Ordnung. Aber auch auf der anderen Seite tauchte ein Kopf auf und verschwand wieder in dem Augenblick, als der Journalist hinsah. Das machte ihn aus vagen Gründen stutzig. Der Wagen durfte passieren. Scaleterra hörte noch einen eigentümlichen Pfiff, nicht laut und doch durchdringend, ehe die Räder lärmend über die Steine der Via San Gallo polterten. Jetzt wurde er unruhig, mit den Gepflogenheiten der Kriminalbehörde einigermaßen vertraut, und lugte vorsichtig aus dem Wagen nach rückwärts. Aber er bemerkte nichts. In der Erschütterung des schlecht gefederten Gefährtes tanzten die armseligen Laternen hinter ihm wie Irrlichter. – Er wurde durch den trüben Borgo San Lorenzo geschüttelt, er donnerte über die nachtleere Piazza San Giovanni in die enge Via Calzaiuoli, in der die Redaktion lag. Eine plötzliche Eingebung hob ihm den Stock und klopfte den Kutscher auf den Rücken.
»Nicht halten, Pietro!« rief er, »fahre weiter, zu meiner Wohnung!«
Er äugte wachsam nach rechts und nach links. Er hatte sich nicht getäuscht. Gegenüber dem Redaktionshaus lauerten drei Laternen in einer Toreinfahrt. Er drückte sich ins Polster und überlegte: es ist immerhin möglich, daß die Überwachung nicht ausschließlich ihm, sondern überhaupt der oppositionellen Zeitung gilt; eine Verbindung zwischen den undeutlichen Vorgängen an der Porta San Gallo und diesen drei Sbirren herzustellen und alles auf sich zu beziehen, ist vielleicht übertrieben – eine Nachtschimäre nach diesem unerfreulichen Abend; zudem, wo sollte er sich zu dieser Stunde hinwenden? – Zum Teufel, ich fahre nach Hause!
Der Wagen rollte indessen über die Piazza del Granduca und bog dann scharf nach rechts in die schmale Via Vacchereccia, in der der Journalist wohnte. Ein Blick in der Kurve beruhigte ihn vollends: sein Haus lag in friedlichem Dunkel und keine Laterne irrlichterte in der Nachbarschaft. Der Wagen hielt.
Scaleterra atmete auf, als er die Haustür hinter sich ins Schloß drückte. Nein, keine Laterne lauerte. Es waren Hirngespinste. Die Nerven lassen nach, dachte er und suchte nach dem Feuerzeug. Seine Wohnung lag im zweiten Stock. Das Stiegenhaus war winklig und verbaut. So merkte er, halb geblendet durch das Flämmchen in seiner Hand, erst auf dem letzten Treppenabsatz, daß der kleine Raum vor seiner Wohnungstür erleuchtet war. Wie er vorsichtig den Kopf vorstreckte, traf ihn schon der Lichtkegel einer Blendlaterne. Der Journalist war klug genug, jetzt nicht stehenzubleiben oder umzukehren, sondern mit erstauntem Gesicht in die Helle zu steigen.
»Guten Abend, Signor Professore,« sagte eine Stimme. Die Laternen wurden so geschickt gehalten, daß Scaleterra die Träger nicht erkennen konnte.
»Guten Abend,« sagte er gleichmütig und steuerte auf seine Tür zu, vor der die drei glühenden Scheiben standen. »Gestatten Sie bitte, hier ist meine Tür. Ich möchte aufschließen.«
Die Lichter rührten sich nicht. Die Stimme erklärte:
»Mit Verlaub, Herr Professor, das wird leider nicht möglich sein …«
»Ich bin kein Professor,« unterbrach Scaleterra und ließ ein paar Goldstücke in der Tasche klappern; »aber wenn ich den bedauerlichen Irrtum und die unnötige Bemühung der Herren … ich habe zufällig drei Dukaten …«
»Ich bedauere unendlich,« sagte die Stimme recht höflich, »es handelt sich um keinen Irrtum, Signor Scaleterra – und außerdem bin ich Capo agente,« fügte er ein wenig feierlich hinzu und hob das Zeichen seiner berüchtigten Würde ins Licht: den Stock aus Zuckerrohr mit silbernem Knopf.
Jetzt wußte der Journalist, daß die Sache sehr ernst war. Die »Agenten« standen unter unmittelbarem Befehl des Präsidenten des Buon Governo und traten bei schwierigen Fällen, vornehmlich bei politischen Verfehlungen in Aktion. Die Anwesenheit eines Capo agente oder Abteilungsführers ließ auf eine ungewöhnlich wichtige und gewiß seit langem vorbereitete Unternehmung schließen. Scaleterra fühlte einen Schauder im Rücken. Aber er war ein kaltblütiger Mann, der sich in der Hand hatte.
»Was wünschen Sie also, meine Herren?« fragte er nach einer kleinen Pause. Einer der Agenten war an ihm vorbei auf die letzte Treppenstufe getreten, um ihm den Rückzug zu verlegen. Der Capo agente erwiderte:
»Der Herr Präsident ersucht Sie, zu einer dringlichen Unterredung in seinem Amtszimmer zu erscheinen.«
»In dieser späten Stunde? Hat es nicht Zeit bis morgen?«
»Ich bedauere, nein, Signore.«
»Gut, ich bin bereit.« –
Sie stiegen die Treppe herunter. Scaleterra fühlte die Agenten so nahe hinter sich, daß ihre Laternen seinen Rücken wärmten. Auf der Straße standen jetzt vier Sbirren. Der Capo agente hielt sich neben dem Journalisten, seine beiden Begleiter schritten vor ihnen, die vier Sbirren hinter ihnen. Der schweigsame Zug überquerte die tote Piazza, vorbei am ehernen Cosimo, der durch den Mondschein ritt, tauchte in die kleine Via de'Gondi, die vom Koloß des Alten Palastes in tiefes Dunkel geduckt war, und langten schon bei San Firenze an. Das Bargello war schwarz und böse. Die Wache öffnete ein seitliches Tor. Der Trupp marschierte in den Hof. Der Knall der zufallenden Tür schlug bis in Scaleterras Herz, das schmerzlich hochsprang. Wann komme ich hier wieder heraus? fragte er sich; und mit einem Male fühlte er solchen Zorn gegen Guerra, daß seine Zähne gegeneinander schlugen. – Was ist das für ein Mensch? Wie hantiert er mit anderen Menschen! Und wird er sich in der Tat selber ausspielen? – Er und die Fürstin … er und die wilde Schwester …
» Commediante,« murmelte er, als sie die Freitreppe hinaufstiegen.
Im ersten Stock blieben die Sbirren und die beiden Agenten zurück. Der Capo agente führte den Journalisten durch verschiedene Bureaus des Gouvernements, die im Schein der vortastenden Laterne wie verschlafene Menschen zu blinzeln schienen. Dann klopfte er an einer doppelflügeligen Tür – einmal, zweimal. Endlich rief eine schlaftrunkene Stimme: » Avanti!« Der Beamte öffnete und meldete:
»Der Journalist Scaleterra ist zur Stelle, Herr Präsident.«
Caminers Stimme war schon ganz wach:
»Ja, ja, endlich! Kommen Sie nur herein.«
Scaleterra betrat das große, kahle Amtszimmer des Polizeichefs, der mit geöffnetem Kragen und wirren Haaren auf einem Diwan saß und sich jetzt erhob. Auf dem Schreibtisch brannten einige Kerzen. Die Ecken des Raumes blieben im Dunkeln.
Der Capo agente blieb in der Tür stehen.
»Guten Morgen, Signore,« begrüßte der Rotblonde den Journalisten mit einem breiten Lächeln. »Sie scheinen Nachtpromenaden zu lieben.«
Caminer sah den Beamten an, der sofort berichtete:
»Signor Scaleterra ist um ein Uhr fünfzehn morgens mit einem Wagen vor seinem Quartier in der Via Vacchereccia 5 angelangt und dann von mir auftragsgemäß in Empfang genommen worden.«
»Danke,« entgegnete Caminer, »Sie können jetzt gehen, Fossi. Sie bleiben aber in Bereitschaft.«
Der Capo agente entfernte sich. Caminer fuhr sich mit unschön gespreizten Fingern durch Haar und Bart und bemühte sich, die breite schwarze Halsbinde einigermaßen in Ordnung zu bringen.
»Setzen Sie sich doch, Signore,« sagte er, noch mit seinem Anzug beschäftigt, und wies mit einer sonderbar vertraulichen Bewegung des Kopfes auf einen Stuhl. Scaleterra sah, wie das massige Kinn des Gouverneurs immer wieder die ordnende Arbeit der rotblonden Hände störte, und empfand plötzlich eine kaum zu bändigende Lachlust. Er hüstelte und setzte sich umständlich. Caminer sah zu ihm hin, etwas mühselig unter dem Würgegriff der Krawatte.
»Lassen Sie sich doch durch mich nicht in Ihrer Bequemlichkeit stören, Cavaliere. Diese Nacht erlaubt schließlich auch eine nackthalsige Unterhaltung.«
Caminer ließ vor Erstaunen die Hände sinken. Die Halsbinde entrollte und hing ihm mit zwei traurigen Wimpeln über der Brust.
»Vielen Dank, lieber Herr,« sprach er etwas unfrei. »Ich freue mich über Ihre gute Laune. So etwas ist in diesem Zimmer und selbst bei Tage nicht eben häufig.« Er ging an seinen Schreibtisch und putzte die Kerzen mit der Lichtschere. »In der Tat, Scaleterra,« nahm er wieder das Wort und blinzelte durch den Lichtschein auf sein Gegenüber. »Sie sind auffallend wenig neugierig. Ich habe Sie wahrscheinlich doch nicht hergebeten, um Ihnen Likör anzubieten. Entweder also ist Ihre Kaltblütigkeit geradezu bewunderungswürdig oder …«
Er stockte, legte die Schere fort und setzte sich, mit ernstem Gesicht einen Akt öffnend. Der Journalist merkte, wie er den anderen irritieren konnte.
»Warum gehen Sie an der nächstliegenden Ursache vorbei, Herr Präsident? Ich habe jedenfalls ein gutes Gewissen.«
Caminer loderte glückselig auf.
»Gutes Gewissen!« lachte er breit, »ich behaupte, daß das eine Fiktion ist. Ich gebe zu, daß meine Psychologie etwas einseitig fundiert ist. Aber ich behaupte auf Grund reiflicher Erfahrung, daß es überhaupt kein gutes Gewissen gibt.«
Scaleterra wagte seinen klugen und nüchternen Blick.
»Bilden Sie persönlich, Herr Präsident, die Ausnahme von dieser Regel – Vergebung, wir philosophieren ja im Augenblick – oder ordnen Sie sich selber Ihrer Theorie unter? – Solche Konsequenz möchte sie natürlich schwer angreifbar machen.«
»Hm,« machte Caminer verblüfft, »selbstverständlich – hm – nehme ich mich nicht aus. Aber ich glaube, unser Gespräch wird etwas unsachlich. In der Tat, lieber Freund, Sie verkennen die Situation – oder, natürlich! Sie wollen sie verkennen. Sie sind politisch durchaus kein unbeschriebenes Blatt, Scaleterra. Dies nur wegen der prätendierten Gewissensreinheit. Sie erlauben mir, sogar sehr genau zu wissen, was alles man da lesen kann.«
Des Journalisten dicke Nasenflügel bewegten sich etwas.
»Ich bin,« sagte er etwas säuerlich, »der verantwortliche Redakteur einer liberalen Zeitung, die weltanschaulich mit der Regierung gewiß nicht immer harmoniert und deren Satzspiegel durch die Zensur hin und wieder verdorben wird. Diese weißen Flecken, Herr Präsident, nehme ich gern auf mein Gewissen.«
»Schön, schön,« erwiderte Caminer und zupfte etwas ungeduldig an dem sonnenfarbenen Bart, »das können Sie, werter Herr, weiße Flecken rechne ich auch nicht und Ihre Taktik ist nicht übel. Aber wir sind keine Diplomaten und das Bargello ist kein Konferenzzimmer. Es geht auf drei Uhr zu, werter Herr; ich muß ein wenig den Ton wechseln. Das Bargello ist ein schwarzer Fleck und sieht schwarze Flecken – auch bei Ihnen, gerade bei Ihnen. Springen wir kurz und gut in die Wahrheit hinein, Scaleterra. Sie sind Carbonaro, das heißt Mitglied einer von Staats wegen verbotenen Geheimloge mit revolutionären Zielen. Sie sind nicht einfaches Mitglied, sondern Funktionär der Gruppe Toskana. Sie sind der Führer der florentinischen Hauptsektion, die das Stadtzentrum mit den Regierungssitzen umfaßt und den Namen ›Piazza‹ führt. – Das sind die einleitenden Feststellungen, lieber Herr.«
Caminer lehnte sich behaglich im Stuhl zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Er war im Zuge. Er war glücklich. Aus den Augenschlitzen blinzelte er freundlich, fast zärtlich sein Opfer an. Scaleterras große Nase wurde rot und zuckte nervös. Er griff bedrängt nach seinem Taschentuch und schneuzte sich ohne Hast; denn es galt, Zeit zur Überlegung zu gewinnen.
»Sieh da, Pier Luigi,« entschied er sich zu einer Art heiterem Selbstgespräch, »welche Würde du besitzest, ohne es zu wissen! Carbonaro – Funktionär – Sektionsführer! Warum nicht gar dereinst Ministerpräsident Groß-Carbonariens! – Verehrter Cavaliere, ich kann Ihre Feststellungen aus dem einfachen Grunde nicht anerkennen, weil sie nicht stimmen.«
Caminer lachte aus vollem Halse. Es war ein häßliches Lachen, das den Rachen bloßlegte und den Gegner gleichsam auffraß. Dem Journalisten flatterten die Augenlider.
»Ja, mein Lieber,« dröhnte der Präsident, »wer kümmert sich denn von uns beiden um Ihre Anerkennung? Ich glaube, Ihnen ist im Augenblick doch weniger wohl als mir. Nun, ich kann Ihnen – um so bildhaft zu werden, wie es sich einem Literaten gegenüber geziemt – ich kann Ihnen einen besonderen Strohhalm reichen, eine unscheinbare, aber doch feste Möglichkeit, an der Sie sich auf meine sichere Planke aufzuklimmen vermöchten. – Sonst, amico, haben Sie Chancen zu ersaufen … mit Verlaub.«
Der Journalist blähte die Nüstern und bewegte erregt die Finger.
»Herr Präsident,« versuchte er ohne viel Schwung die Parade, »Sie sind kein Literat. Darf ich Sie bitten, die Metaphern zu lassen und möglichst verständlich zu werden?«
Der Gouverneur machte eine verbindliche Handbewegung, nahm aus der Schublade einen wappengeschmückten Bogen Papier mit dem Kopfvermerk: »Der Präsident des Buon Governo« und tauchte unter behaglichem Schnaufen die Feder ins Tintenfaß.
»Ganz gewiß, Signor Scaleterra,« verbeugte er sich, »so sachlich, wie ich es nur kann. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: ich freue mich, in Ihnen eine, formulieren wir: politische Intelligenz kennenzulernen, wie ich sie sehr wohl zu schätzen weiß. Ich bin weder der Mann noch ist das Bargello der Ort für Komplimente. Sie sind klug, und ich brauche Ihnen gegenüber nicht viel Worte zu machen und Übergänge zu bauen. Die politische Taktik gehört ebenso wie die militärische in das Gebiet der Mathematik und nicht der Sentimentalität. Ich weiß, wer Sie sind und was Sie treiben. Das ist schlimm für Sie, solange wir hüben und drüben stehen; aber das gibt eine glatte Rechnung, sowie wir uns sozusagen auf einen Nenner bringen. – Sehen Sie, Scaleterra: hier liegt ein unbeschriebener Amtsbogen und hier halte ich die schreibbereite Feder. Sie sagen einfach: Ja – und in fünf Minuten, in drei Minuten gehen Sie mit Ihrer Ernennung zum Geheimagenten des Politischen Departements nach Hause. Sie sind akademisch gebildet und in dem Augenblick Kommissar – das verspreche ich Ihnen –, wenn … Nun ja, darüber sprechen wir noch. Ist Ihnen das Tempo zu schnell, so warte ich bis morgen auf Ihre Antwort. – Nun?«
Über Scaleterra war mit einem Male eine große Ruhe gekommen. Er gehörte zu den Menschen mit lauterer Seele, die nicht heroisch sind, aber in dem Augenblick mutig werden, in dem ihre innere Sauberkeit bedroht wird. Er konnte jetzt freimütig lächeln und mit sicherer Stimme antworten:
»Ich sage einfach: Nein, Herr Präsident.«
Caminer drückte die Augen zu und lächelte nachsichtig, den Kopf nur bedenklich wiegend.
»Aber lieber Scaleterra,« entgegnete er milde, und sein Venezianisch wurde noch singender, »diese Antwort hätte ich mir an Ihrer Stelle und mit Ihrer Klugheit zum mindesten bis morgen aufgespart. – Das ist recht bedauerlich – recht bedauerlich. Denn Sie sehen wohl, amico, daß ich die Feder nicht beiseite lege. Also mag auf dieses Papier auch etwas anderes zu schreiben sein. Doch ich schreibe noch nichts. Ich will in Ihrem Interesse das Maß des geforderten Entgegenkommens gewaltig reduzieren und Ihre persönliche Freiheit von den Antworten auf drei bescheidene Fragen abhängig machen, die weder Ihr gutes noch Ihr böses Gewissen belasten sollen. Darf ich fragen?«
»Bitte sehr,« sagte der Journalist. Caminer spielte mit der Feder und sah ihn plötzlich scharf an.
»Haben Sie heute im Laufe des Tages, ganz zufällig natürlich, den Bettler Gioia gesehen?«
»Wer ist der Bettler Gioia?« fragte Scaleterra zurück. Der Präsident verdrehte resigniert die Augen.
»Ach Gott,« seufzte er, »das ist doch kleinlich! Das ist doch eine ganz primitive Art der Verdunkelung! Daß Sie ihn kennen, weiß ich. Daß Sie ihn heute gesehen haben, ist mehr als wahrscheinlich. Mich interessiert offen gesagt am meisten, wo er wohnt. Haben Sie eine ungefähre Ahnung, Scaleterra? – Ein kleiner Hinweis genügte …«
Der Journalist faltete die Stirn.
»Sie überrennen prinzipiell jeden meiner Einwände, Herr Präsident,« meinte er. »Das ist doch schließlich kein Verhör mehr. Was soll ich Ihnen denn antworten?«
Caminer wiegte bekümmert den Kopf.
»Sehr, sehr bedauerlich,« murmelte er. »Ich habe kaum mehr Mut für die zweite Frage. Nun, versuchen wir es. – Sahen Sie heute vielleicht die Fürstin, Herr Scaleterra? Wenn Sie klug sind, dann fragen Sie nicht: welche Fürstin.«
»Ich muß doch,« lächelte der Journalist, »gegen solches absonderliche Verbot, dumm zu sein, protestieren.«
Caminer blies hörbar die Luft durch die Nase.
»Was sind Sie mit einem Male ungeschickt, Scaleterra,« polterte er. »Sie ahnen ja gar nicht, wie deutlich Sie mir im Grunde antworten! Und neugierig bin ich, was Sie jetzt erwidern werden. – Wo waren Sie heute abend?«
Der Journalist wurde nervös, weil er nicht wußte, seit welcher Stunde die Sbirren hinter ihm her waren. Er überlegte blitzschnell und hielt dann die ungefähre Wahrheit für das ungefährlichste.
»Ich machte nachmittags, durch das schöne Wetter verlockt, einen langen Spaziergang über Coverciano nach Settignano. Dort speiste ich zu Abend und schlenderte dann über Majano und San Domenico nach San Gervasio, wo ich mir einen Wagen nach Florenz nahm.«
Caminer lächelte.
»Das ist die erste Antwort, die mir ein wenig gefällt,« sang er wieder die venezianische Kantilene. »Indes sie genügt leider nicht, um Sie beurlauben zu können.« Er ließ die Linke auf die Tischplatte fallen, so laut, daß Scaleterra zusammenfuhr und veränderte den Ton: »Kurz und gut, Scaleterra, wenn Sie mir sagen – wenn Sie mir den Aufenthaltsort des Gasto Guerra angeben, sind Sie nicht nur frei, sondern auch unter dem besonderen Schutz der staatlichen Macht.«
»Ich kenne ihn nicht,« sagte der Journalist. Caminer lachte unanständig laut und schrieb, glücksrot, den Verhaftungsbefehl.
Fossi, der Capo agente, auf das Läuten des Präsidenten sofort zur Stelle, führte den Gefangenen in die Zelle, die bereits für ihn instandgesetzt war.
Um diese Stunde der Nacht kamen die Guerras nach Borgunto zurück. Der Weg war lang gewesen und sie waren langsam gegangen, wie abgelöst von Zeit und Raum, auch von Müdigkeit, selbst vom Bedürfnis zu sprechen – zu fragen und zu antworten. Der Zaubermond war untergegangen. Die Nacht war schwer und dick vor Schwärze, entzaubert, böse, nicht mehr still, sondern stumm. Die beiden unsichtbaren Menschen hinter der Laterne wateten in Nacht wie in Schlamm. Aber dieses Umspültsein und Umhülltsein war gut, um nachzudenken. Maddalena, am Arm des Bruders, schloß manchmal die Augen. Dann war sie ganz allein mit sich und ihrem Aufruhr. Sie fühlte nichts von der äußeren Welt als die Straße unter ihren Sohlen und den fremden Arm. Sie drückte ihn unvermutet mit großer Kraft, nur eine kleine Sekunde, wie erschreckend.
»Ja, Madda?« fragte Guerra leise und freundlich. Aber da das Mädchen nichts sprach, schwieg auch er wieder. Er wollte ihr Zeit lassen für den Versuch, mit dem Ereignis dieser Nacht fertig zu werden. Und gelang es ihr nicht, dann sollte sie die Tarnkappe der Nacht vor ihrem und seinem Gesicht haben, wenn sie fragen und er antworten und wenn er fragen und sie antworten mußte. Auch er erkannte den Sinn dieser Nacht – oder er glaubte, ihn zu erkennen.
So ging er langsam und bog bedacht höckerigen Wagenspuren und spitzen Steinen aus. In solchem Augenblick pendelte der matte Lichtkegel der Laterne hastig über seitliche Mauerstücke oder Baumstümpfe. Die Welt war klein geworden, wie zerbrochen. Wegen der späten Stunde oder wegen der Nacht, die er ausnutzen wollte, vermied er den abkürzenden Weg über den Monte Ceceri und folgte der Fahrstraße, die mählich steigend von Majano nach Fiesole führte.
Auf halber Höhe, nahe dem Portal zur Villa Medici, blieb das Mädchen stehen, Guerras Arm loslassend. Er ging noch ein paar Schritte weiter; dann wandte er sich um und ließ den Lichtschein auf ihrem Gesicht ruhen. Sie bedeckte schnell die Augen; aber er hatte doch gesehen, daß sie verweint waren. Er ging, das Licht ablenkend, zu ihr zurück.
»Komm nur weiter,« bat er und nahm sanft ihren Arm. Sie gehorchte auch.
Kurz unterhalb der Ortschaft bog sich die Straße nach rechts aufwärts. Dort traten die Zypressen zweier Auffahrtsalleen rechts und links des Weges so nahe an die Chaussee, daß sie an dieser Stelle fast wie eine Waldschlucht wirkte und an heißen Tagen Menschen und Tieren den seltenen Schatten gewährte. Jetzt sah man die Bäume nicht, aber man fühlte ihre Nähe, und die Nacht wurde an dieser Stelle noch schwärzer: vielleicht auch, weil nun schon am Ende der Straße, dort, wo sie sich zum Piazzale aufwand und der steinerne Block des Priesterseminars hochwuchs, die müde blinzelnde Laterne einer Trattoria zu sehen war. Madda preßte wieder Guerras Arm, kurz, fast schmerzhaft.
»Was bestürzt dich eigentlich so sehr?« fragte er mitleidig, »und warum sprichst du nichts? Ich bin doch da, um dir zu antworten, Madda.«
Sie schwieg; doch er fühlte, daß sie ihn ansah. – Bin ich zu ihr ganz ehrlich? dachte er plötzlich, und dieser Gedanke hatte eine solche Wucht, daß er den Herzschlag antrieb. Da sagte das Mädchen die ersten Worte:
»Wie jetzt die Nacht finster ist.«
Ihre Stimme war leise und viel ruhiger, als er es erwartet hatte. Er fühlte, sie bot ihm diesen nächtlichen Schutz der Beichte an, Hülle für die Scham, Deckung für die Seele, wie er es während des ganzen Weges für sie vorgesehen hatte. Was bedeutete solcher Hochmut des Geistes, der zwei Menschen gleichen Blutes auf das Geständnis des anderen lauern läßt – auf ein Geständnis, welches das Licht scheut. So fragte er sich. Aber er entgegnete sich auch, daß sie, die um irgend etwas Unsägliches ganz still für sich weinte, nicht hochmütig genannt werden konnte und daß die Hoffart nur bei ihm lag, der dieses Unsägliche hörbar und ausgesprochen verlangte. Gab es in ihm doch noch die alte böse Lust, die Menschen zu quälen, die ihn liebten? Gar die Madda, die durch die Szene auf der Isola erschüttert sein mußte, vielleicht gar um den Sinn ihres Lebens und seines Lebens gebracht?
»Ja, Madda,« begann er, hastig in seiner Aufregung, »ich antworte dir auch, ohne daß du zu fragen brauchst. Du darfst nicht zweifeln, Kind, nicht an mir, an meiner Handlungsweise. Das wäre für mich das Schlimmste. Glaubst du denn, ich handelte unverantwortlich oder unüberlegt. Madda, glaubst du denn, ich könnte mich dir gegenüber nicht rechtfertigen?«
»Rechtfertigen?« wiederholte sie leise, wie mit ganz leichter Ironie. Guerra überhörte es.
»Mit drei Worten,« sagte er angespannt, »mit drei Worten kann ich mich rechtfertigen, dir gegenüber und der Partei …«
»Sei jetzt ruhig,« unterbrach das Mädchen, »die Häuser sind schon zu nahe.«
Sie kamen auf den Piazzale, der weit und leer sich nach Osten streckte, traurig gemacht durch ein paar elende, in einem kleinen Wind schaukelnde Laternen. Aus wenigen Häusern fielen Lichttropfen. Katzen schrieen. Von der Höhe des Platzes, wo das Gemeindehaus stand, hallten Tritte genagelter Stiefel über die Öde. Das war der wachthabende Invalide, von dem man nur die hin und her getragene Laterne sah. Die Guerras durchquerten nicht den Platz in seiner Länge, um dann durch die Große Straße zum Borgunto zu gehen, sondern bogen hinter der verschwommenen Kathedrale links in ein Gäßchen und beschritten die abgestorbene Via Portigiani, die oberhalb des Römischen Theaters den Ort einsäumte und ebenfalls in östlicher Richtung verlief. Als die Straße die letzten Häuser des Quartiers überholt hatte und zwischen stummen Parkmauern abfiel, immer sich windend, wieder in vollkommener Nacht, stöhnte Guerra und sagte:
»Du machst mich nervös, Madda, oder es ist dieser endlose Nachtweg, der mir nachgerade trostlos vorkommt. Glaubst du denn, ich habe die Sache der Partei verraten? Ich habe vielleicht das Gegenteil getan, Madda.«
Sie schwieg. Er wurde lauter.
»Madda, ich weiß, was ich getan habe. Es ist nicht einmal so viel. Ich habe dem Schicksal eine Tür geöffnet, die schon angelehnt war. Der gute Scaleterra hat heute abend ausgesprochen, was ich fühlte. Die Sache muß mißlingen. Ich habe Maria anders instruiert, als es meine Absicht war, um – um nicht nur das böse Schicksal herauszufordern, sondern auch das gute. – Madda, ich weiß ja nicht, was sie tun wird; aber es kann sein, Kind, daß ich das Leben vieler Menschen gerettet habe – für eine weniger unsinnige Gladiatoren-Parade.«
Ihre Hand auf seinem Arm bewegte sich nicht; er wußte auch, daß sie ihn nicht ansah, und er hörte ihre Stimme voll einer klaren Feindschaft – eine ganz unbekannte Stimme und unbekannte Worte:
»Gasto, was gehen dich die Menschen an und ihr Tod und ihr Leben und die Partei und ihr Ziel …«
»Madda,« unterbrach er, tief erschrocken. Schon schwieg er. Jedes Wort der Verteidigung oder der Zurechtweisung schien ihm plötzlich sinnlos, gar lächerlich; nicht einmal, weil er ihren Worten recht geben mußte, sondern weil er nicht wagte, den Gedanken zu Ende zu denken und die Gefühle zu Ende zu fühlen, die hinter ihren Worten standen. Auch sie sprach nichts mehr; aber sie hustete erregt. Der Weg senkte sich in mancher Krümmung bis zum Hause eines Tischlers, hinter dem der Fußpfad, der diesen tiefgelegenen Teil des Ortes mit dem Borgunto verband, sehr steil in die Höhe führte. Guerra ging voran, um zu leuchten. Er hielt ihre Hand.
»Was soll ich von dir denken?« murmelte er jetzt. »Ich habe doch vielleicht nur für mein – für unser Leben Angst. Das ist doch zu verstehen?«
»Ja,« sagte sie einfach; »aber daran denkst du wohl erst in diesem Augenblick.«
Guerra schüttelte den Kopf und kletterte weiter. Ihre Hand lag ruhig und kalt in der seinen. Die schaukelnde Laterne zeigte zur Linken den alten Brunnen. Jetzt begann die Steintreppe, Guerra atmete laut. Der Weg schien ihn angestrengt zu haben. Nach den ersten Stufen fragte er plötzlich, fast keuchend:
»Könntest du deinen Bruder … Madda, könntest du mich – ja – denunzieren … bei der Zentrale?«
Er drehte sich schnell um und leuchtete ihr ins Gesicht. Sie schützte wieder die Augen mit den Händen. Um ihren Mund war ein etwas krampfiger Zug, den er nicht kannte und der sich schon löste, als sie ganz leise erwiderte:
»Nein, Gasto – ich habe darüber schon nachgedacht – jetzt – unterwegs … das ist sehr schwer – zu sagen …«
Er drehte sich um, wortlos, und stieg weiter.
»Nein, ich kann nicht,« hörte er sie in seinem Rücken, »ich glaube nicht, daß ich es je … Aber du weißt jetzt, wie weit schon meine Gedanken gingen.«
Er schwieg. Die Treppe mündete zwischen zwei Häusern des Borguntos, nahe seinem Ende. Eine schmächtige Laterne an dieser Stelle machte die Straße gespenstig. Die beiden Menschen waren nebelgraue Schatten ohne Gesicht. Sie klammerte sich an ihn, in einer wilden Zärtlichkeit.
»Was kümmert mich das alles … die Partei – was … ach, Gasto, Gasto!«
Er antwortete nicht; aber er drängte sie nicht fort. Sie betraten das Vorderhaus. Die Treppe führte abwärts, als ginge es in einen Keller. Doch es war nur wieder der steile Hügel, der von den Häusern Schmiegsamkeit verlangte. Die Stiege mündete in eine offene Galerie. Dort war die Wohnungstür, die Guerra öffnete. Dann, im Schein der Arbeitslampe, sah Madda sein trauriges Gesicht.
»Gute Nacht, Kind,« sagte er und reichte ihr die Hand.
»Nein,« rief sie gequält, »doch nicht so!«
Er legte den Kopf zurück und sah zur Decke.
»Wenn ich anders wäre, Madda,« sagte er tonlos, »dann müßten wir uns doch trennen – sehr schnell, heute nacht schon!«
»Sag es mir doch, Gasto,« bedrängte sie ihn und kam ganz nahe, »sag es mir doch!«
»Geh doch von mir fort, Madda!« flehte er und sah sie nicht an.
»Sag es mir doch, Gastino – nur dies Eine – mehr will ich nicht!«
Guerra hob die Arme, als wollte er sie umschlingen; aber er ließ sie in der Luft und dann schon wieder fallen.
»Ich liebe sie ja nicht mehr,« keuchte er. »Es war gar nicht Liebe dabei – Liebe … Kind – da ist meine Liebe nicht! – Armes Kind! Armes Kind! – Aber jetzt geh!«
Der alte Baron Steiner pflegte sehr wenig zu schlafen. Er ging spät zu Bett und stand früh auf. Vier oder fünf Stunden Ruhe – sie waren nicht einmal immer Schlaf – genügten seinem ausgedörrten Körperchen vollkommen. Er hatte vielerlei Interessen und viel zu denken. Es gab auch die stattliche Zahl von Dingen und Dingchen, die er liebte und mit Eifer verwaltete. Für alles dies mußte der Rest des Lebens ökonomisch und der zeitverschwenderische Schlaf schlecht behandelt werden. Es mag vielleicht seltsam scheinen: aber der alte Steiner liebte auch sein Leben.
Er hatte es gern, ganz ähnlich wie die Kinder, sich auch des Nachts nicht von den Gegenständen, die ihn gerade beschäftigten, zu trennen und sie aus dem benachbarten Arbeitskabinett ins Schlafzimmer mitzunehmen. Rings um das mächtige Säulenbett, dessen Baldachin noch das Wappen eines Kardinals Morali zierte und in dem der kleine Greis wie eine ironische Mumie sich verlor, standen Staffeleien, Konsolen, Tische und Stühle mit Bildern, Skulpturen, Fayencen, Kupferstichen und Münzen in geheimnisvoller Rangordnung des Interesses, zuweilen zur letzten Prüfung und Beschau ins Prunkbett wandernd und am Morgen endlich mit dem Sammler in die gleichsam sachlichere Atmosphäre des Bibliothekraumes zurückgleitend.
So war die Nacht für den Baron Steiner von beschaulichem und sogar lustvollem Inhalt, in seiner Art vielleicht von einer leidenschaftlichen Steigerung des Tages und mindestens doch keine schlechte Persiflage auf die nächtlichen Betätigungen der anderen Menschen, die er in ihrer Mehrzahl nicht weiter schätzte. Es waren kleine Genugtuungen, Erbaulichkeiten und auch Selbstgespräche, die ihm wohl und keinem Menschen wehe taten, trotzdem das Lustgefühl und das Selbstgefühl des Alten sozusagen auf ihre Kosten ging. So ist es zu verstehen, daß er lieber wachte als schlief, sehr zufrieden mit der Gefügigkeit und Anspruchslosigkeit des Körpers. –
Aber diese Nacht war nicht wie solche Nächte. Es war eine Unruhe da, deren Ursache er nicht recht begriff. Sie glich am ehesten noch jenen fatalen, zum Glück nicht häufigen Stunden der Dunkelheit, in denen das Herz anzeigte, daß es müde zu werden begann. Er war auch auf peinliche Weise von sich selber enttäuscht; denn das Köstliche, das vor ihm zwischen seinen behutsamen Händen auf der Bettdecke ruhte, besaß gewiß das Anrecht auf seine Liebe und seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war eine Erwerbung, die ihm im ersten Augenblick fast den Atem benahm, zumal sie ihm wie von ungefähr und für weniges Geld ins Haus getragen worden war: von einem Livorneser Hafentrödler, der an Bord eines Ostasienfahrers allerlei japanische Porzellane und Lackarbeiten zusammengekauft und dem Baronissimo zugeschickt hatte. Unter vielem Wertlosen und Mittelmäßigen fand er den Schatz: eines jener ungemein kostbaren und seltenen Porzellane von Mikochiyama auf der Insel Hirado, ein Räuchergefäß, unsagbar schön an Farbe, Proportion und Plastik, fünf Blindekuh spielende Chinesenkinder, die sich um einen Laternenpfahl jagen – wert, eine Nacht hindurch angestaunt und geliebkost zu werden.
Doch es ging nicht. Nur die Hände blieben aufmerksam, die Finger hielten und streichelten das Porzellan, immer mechanischer. Das Hirn wurde zuerst abgelenkt, durch irgendeinen Stundenschlag vom nahen San Lorenzo, durch ein dumpfes Nachdröhnen, das gleichsam den Körper abwärts flutete, die Augen nicht mehr die blaue, gelbe, braune, grüne Pracht der Glasur genießen ließ und schließlich das Herz beschwerte. Steiner atmete bedrängt und sah zum Fenster. Die Nacht floß silbergrau durch das Gestände der Jalousie. Es war da draußen wie ein Schleier vor allen Geheimnissen der stillen Erde. Der Alte hatte nicht Angst vor den Geheimnissen, sofern sie ihn in ihren Kreis ließen. Er war an sie gewöhnt, sie bildeten die Behänge seiner Profession. Doch was war es mit dieser Nacht? Strafte sie nur seine Unvernunft, die ehrlich erworbene Gleichgültigkeit den Menschen gegenüber durch die Sorge für die Corleone aufgehoben zu haben? Und wie es auch sei: hat er nicht Grund zur Sorge? Daß er sie heute bis zum Geständnis ihrer Hilflosigkeit und sich bis zu dem Angebot der Hilfe hatte bringen können, war wohl gut. Aber war es vielleicht nicht schon zu spät? Hat vielleicht seine Berechnung der Dinge und ihrer seelischen Krisis einen Fehler von vierundzwanzig Stunden gemacht? – Er öffnete am Hals das Hemd: ihm wurde heiß. Er konnte nicht anders: er stellte das Porzellan auf den Tisch, stand auf, trat ans Fenster und öffnete die Läden. Gegenüber lag der Platz von San Lorenzo. Der absinkende Mond tauchte die Kirche schon in Schwarz, verwischte die nackte Fassade und ließ nur die gedrungenen Umrisse, klotzig wie von einer Burg, in der Luft. Aber noch hing das Silber, ergrauend, in den Straßenschacht. Es war sehr still, und die Nacht schien dem Schauenden fähig zum Meuchelmord oder zum Würgegriff. Es war bei ihm noch mehr als das bloße Gefühl. Seltsam genug, daß ihm erst jetzt die schweren Bedenken kamen! Und es war doch schon am Nachmittag, als er, zur gewohnten Stunde im Café Doney eintretend, den Prinzen George in der ungewohnten Gesellschaft eines Geistlichen sah – nun eben des Spitzels Vacca. Er war nicht gerade sehr erschrocken; denn der Prinz war ahnungslos und im übrigen von einer hoffärtigen Einsilbigkeit gegen solche Leute. Und daß der Verdacht des heillosen Caminer schon um die Isola kreuzte, überraschte ihn weniger als die Frechheit seines Agenten. Aber mit seiner Begabung, aus Komplikationen Vorteile zu entwickeln, hatte der Alte schon mit freundlicher Ironie in das Gespräch eingegriffen:
»Wollen Sie den Prinzen in einen Beichtstuhl hineinreden, Don Lionello? Aber das ist ganz vergeblich, sage ich Ihnen. Er hat gestern nacht fünfzig Dukaten im Pharao verloren und ist im Begriff, sich dem Teufel zu verschreiben.«
Der Prätendent schaute mit mattem Lächeln auf. Der Abate mahlte mit den massigen Kiefern und war offenbar über die Erscheinung des Alten wenig erfreut. Prinz George hüstelte ein leises und verletzendes Lachen.
»Ist unter Eingeweihten dieser Herr nicht sozusagen als geistlicher Berater des Buon Governo bekannt, lieber Steiner?« näselte er. »Man scheint höheren Orts anzunehmen, daß ich wieder einmal zum Thronkampf rüste, he, he, lieber Steiner!«
Prinz George amüsierte sich. Der Abate blinzelte aus den Äuglein und blies die Backen auf.
»Mit Verlaub, Königliche Hoheit, da dürfte ein kleines Mißverständnis sein. Es handelt sich nur, wie ich mir bereits zu sagen gestattete, um eine Kollekte für das Franziskanerinnenkloster in der Via San Niccolò.«
»Kollekte, lieber Steiner!« kicherte der Prinz.
»Nun,« meinte der Alte, »Don Lionello ist als galanter Mann bekannt und hat auch die rechte Statur, Hoheit.« Er sah den Abate mit seinem grauen Blick an und spielte unvermutet den Trumpf aus: »Aber wenn Sie, lieber Herr, für Ihre frommen Zwecke Geld sammeln wollen, dann pilgern Sie doch zur Isola und bitten Sie die Fürstin! – Das ist eine fromme Frau, mit gütigem Interesse für Franziskanerinnen – und sie langweilt sich zudem.«
Vacca hob die dicken Brauen hoch und vergaß für einen Augenblick, den Mund zu schließen. Dann ging er mit sehr höflichen Worten, auch etwas schief lächelnd. – – Das war alles gewesen. Das war auch geschickt gewesen. Der Alte am Fenster gab es sich zu. Aber es hob doch keine Gefahr auf, verhütete keine Gewaltstreiche von dieser und der anderen Seite, die alle auf den einen schönen Kopf fallen konnten. Er wußte doch …
Er schrak zusammen. Von der Via San Gallo her sprangen Signalpfiffe von Sbirren heran und vorbei, nach San Giovanni zu – wie eine Hatz von Geistern oder von bösen Gedanken. Steiner schloß halb die Läden; er hatte Angst – in der Tat. Er wollte lächeln und sich freundlich schelten. Doch dann polterte ein Wagen heran, von der Via San Gallo her und vorbei nach San Giovanni, so wie die Pfiffe gesprungen waren. – Wer mag in dem Wagen sitzen? quälte sich der Alte. Welche Tücke dieser Nacht mag der Arme einleiten oder abschließen? Und was stehe ich hier wie ein lahmes Orakel, so wenig nütze auch seiner gewissen Zukunft …
Er ging auch wieder ins Bett, bekümmert und recht zerschlagen. Er nahm auch wieder das Rauchgefäß aus Hirado zur Hand, mit einem leisen Schuldgefühl dem Dinge gegenüber. Was sollte er jetzt auch besseres wohl tun? Die Augen kehrten gehorsam zu den Figuren und den Farben zurück. Die fünf Chinesenjungen jagten um den Laternenpfahl, blau, gelb, braun, grün – die dicken lustigen Köpfe hatten rechts und links dunkle Haarknötchen wie Teufelshörnchen – der eine klomm jubelnd den eckigen Schaft hoch, der etwas schief stand, und quäkte aus närrischem Froschmaul …
Der Alte schlief ein, tief ermattet. Er behielt sogar das Porzellan zwischen den Händen; und es war ein rechtes Glück, daß das Körperchen im mächtigen Bett so wenig Raum beanspruchte und dem langsam von der Brust gleitenden Kleinod Platz genug ließ. Solches unverantwortliche Einschlafen war für den alten Steiner schon sehr absonderlich; und trotzdem ein dunkler Wille noch bei ihm im Spiel war, am nächsten Morgen zeitig aufzustehen und sich Klarheit zu verschaffen, geschah die zweite Ungewöhnlichkeit, daß er in der Frühe um sieben Uhr noch schlief, als schon ein Diener der Corleone mit einem leichten Jagdwagen ihn abzuholen kam. Der Baronissimo, der sonst zwei Stunden für die Morgentoilette brauchte, war in zehn Minuten fertig, sehr frisch, entlastet, fast sorglos durch den blanken Morgen, gewiß neugierig und gespannt; denn das Billett der Fürstin enthielt nur die Bitte, sich sofort auf die Isola zu bemühen. Es war kein Alarmruf und keine desperate Handschrift. Er schämte sich ein wenig, als er an den Nachtspuk dachte und durch das Herbstgold rollte. Der Zauber dieser Landschaft machte das Leben wieder leicht. Die raschen Pferde waren in einer kleinen Stunde auf dem Hügel der Isola. –
Die Corleone, die noch im Bett lag, sah angegriffen, aber durchaus nicht unglücklich aus. Sie lächelte sogar, als er, vom Treppensteigen etwas atemlos, eintrat, ihre Hand küßte und in seiner liebenswerten Art sagte:
»Da bin ich, Fürstin, und daß ich zum ersten Male unrasiert vor Ihnen erscheine, liegt an den Umständen.«
»Ja, lieber Freund,« sagte sie, »und ich liebe in diesem Augenblick sogar Ihre Bartstoppeln.«
Dann wurden sie ernst und sahen sich an. Steiner strich leicht über ihr Haar. Er sprach leise:
»Sie wissen also wohl doch weiter, Maria?«
»O ja,« erwiderte sie. »Man hat mir jetzt doch allerlei gesagt. Man hat vielleicht seine – seine menschliche Schuldigkeit getan. Doch das weiß ich nicht gewiß. – Eigentlich ist alles ganz einfach. Der Großherzog hält sich bis zum 14. Oktober in Venedig auf. Können Sie bis dahin den venezianischen Geschäftsträger der mit Ihnen arbeitenden Macht bitten, gleichsam aus eigener Kenntnis der Dinge heraus – wir beide wollen außerhalb des Spiels bleiben – dem Souverän zu sagen, daß er wegen möglicher politischer Attentate den Landweg vermeiden und mit Schiff über Rimini nach Florenz zurückkehren möge?«
Der alte Steiner strich sich das Kinn und machte einen spitzen Mund, als wollte er pfeifen. Er tat es wohl nur, um seine Überraschung oder seine Bewegung zu verbergen.
»O ja,« sagte er besonnen und sachlich, »das wird möglich sein. Ich habe für solche Eilbotenzwecke einen kleinen Maler zur Hand, übrigens einen schlechten Maler, aber einen verteufelt guten Kurier …« Er unterbrach sich und sah die Fürstin an, ernst, fast streng: »Ihnen muß böse zumute gewesen sein, Maria, und Ihnen muß jetzt gut zumute sein. – Ich meine mit dem Mute die Schuldigkeit, Altezza.« –