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Rebellen

1

Die feine Ironie des Schicksals wollte es, daß das bedeutungsvolle kleine Souper im Palazzo Corleone am 2. Februar stattfand, am Abend des Tages, an dem endlich in Rom das Konklave zu Ende ging und den voraussichtbaren Sieg der orthodoxen und reaktionären Kardinalspartei, der Zelanti, ergab. Auf diesen Tag wartete das Buon Governo nicht weniger als die Rebellion; denn die Behörde, die durch Caminer in einem undurchsichtigen Zusammenhang mit dem zweiseitigen Herzog von Modena stand, war von der alarmierenden Bedeutung des Tages durchaus unterrichtet. Und beide Parteien rechneten mit dem Erfolg der Reaktion innerhalb des Kirchenstaates: die eine für den Angriff und die andere, im Zusammenhang mit Österreich, aus ihrem Grundsatz der Staatserhaltung.

Als sich an jenem Abend die wenigen Gäste der Fürstin im roten Salon des ersten Stockwerkes sammelten, war die Wahl des Camaldulenser-Generals und ultramontanen kanonischen Schriftstellers in Florenz noch nicht bekannt, wenn auch Caminer, als letzter erscheinend und ohne Ausrede sich mit seiner Arbeitslast entschuldigend, jede Stunde den Eilkurier mit der Nachricht erwartete und einen anderen mit Weisung für Modena schon seit Tagen aufbruchbereit hielt.

Die Corleone hatte dem Baronissimo Steiner ihre Zweifel geäußert, ob der Polizeichef die Einladung annehmen werde. Der Alte versicherte sie mit sanfter Bestimmtheit seines Kommens. – Hätte er nicht das sinnfälligste Interesse an einer ebenso bequemen wie unauffälligen Begegnung mit dem hübschen Mädchen?

Die Fürstin hatte einen gespannten und überwachen Zug im nicht mehr vollen Gesicht.

»Für wen arbeiten wir eigentlich, amico?« fragte sie und versuchte zu lächeln.

»Für unsere arme Seele,« antwortete er rätselhaft. –

Prinz George wandte sich mit ungewöhnlichem Eifer gegen den Besuch Caminers. Die Fürstin, über die Opposition ihres Mannes verblüfft, gab ihm auf ihre etwas hoffärtige Art den Rat, das Problem für seine Person zu lösen und den Abend im Klub zu verbringen. George weigerte sich mit der sonderbaren Begründung, daß die Anwesenheit seiner exterritorialen Person unter Umständen von Nutzen sein könne. Die Fürstin lachte.

»Ich bin es auch,« meinte sie, »und mein Haus nicht weniger. Davon abgesehen, haben unsere Prärogative denkbar wenig mit dem Präsidenten zu tun, dessen Besuch mir aus politischen Gründen erwünscht sein mag.« Sie sah jetzt auf ihre Hände. »Sie wissen ja nicht, George,« fuhr sie ein wenig verlegen fort, »ob ich damit nicht einen Wunsch des Souveräns erfülle.«

Prinz George sah sie lange an und schüttelte leicht den nackten Kopf. Aber da es ihm aus dunklen Gründen widerstrebte, das Gespräch fortzusetzen, fand er einen raschen Vorwand zu gehen. Doch zu Steiner sprach er:

»Daß mir die politischen Interessen meiner Frau wenig gefallen, wissen Sie. Aber was diesen Polizisten angeht, der an ihrem Tisch essen soll, so erlaube ich mir die Bemerkung, daß es ebenso unanständig ist, ihm ein Opfer zuzuführen, als ihm die Beute aus den Zähnen zu kitzeln.«

»Wer sagt Ihnen denn,« fragte Steiner, »daß das eine oder andere geschehen könnte?«

»Meine Augen und mein Verstand,« erwiderte der Prinz, »selbst wenn beide unter dem Durchschnitt funktionieren. Das wäre nur ein Beweis für die Deutlichkeit der Affäre.«

»Und?« fragte Steiner ernst. George hob den langen Zeigefinger und sprach mit Bestimmtheit:

»Und es kann der Fall eintreten, daß ich zum Schutz der suspekten jungen Dame meine staatsrechtliche und hausherrliche Stellung geltend mache.«

»Gewiß,« bekräftigte der Alte, »und um wieviel mehr natürlich zum Schutz der Fürstin selber!«

George sah ihn bestürzt an.

»Soweit also steht es,« murmelte er, »so schlimm … also doch!« –

Caminer sagte in der Tat zu, mit einer fast unschicklichen Eile. Er hatte in der letzten Zeit sein Amtszimmer selten verlassen, nachts dort zumeist genächtigt, emsig tätig und in einer Weise beglückt, daß keine Zimmerblässe seine rote Haut anzugreifen vermochte. Die Einladung in den Palazzo Corleone schien sich auf das trefflichste in sein fast abgerundetes polizeiliches Werk einzufügen. Die Einladung selber konnte ihm keine großen Rätsel aufgeben; denn er hatte schon von dem unbarmherzigen Ufer seines Berufes aus die wunderlichsten Schwimmversuche derer gesehen, denen das Wasser bis über den Hals stieg. Noch ein paar Griffe, das Signal noch von Süden und Norden: und ein Mechanismus würde zu spielen beginnen, von dem es nur zu bedauern war, daß er recht winzige und übersehliche Teile der europäischen Historie bewegte. Sein Mitarbeiter, Don Vacca, der durch seine zweifelsfreie Zurückhaltung den privaten Neigungen gegenüber und vornehmlich durch eine kürzliche Meldung aus dem Umkreis des Palazzo Corleone wieder in hohen Ehren stand, sah immer nur das heiße Glücksgesicht des Beamten und eine inspirative Zuversichtlichkeit, wie die eines Dichters kurz vor der Werkvollendung. Lionello rieb sich die Hände, weniger aus kollegialer Mitfreude als aus Genugtuung über den eigenen Scharfsinn, der ihn hatte richtig und rechtzeitig wählen lassen.

»Noch ein paar Tage, Reverendo,« jubelte der Bargello in den Feuerbart, »und ich kann meine kleine Privatoffensive gegen den Allerhöchsten Herrn eröffnen. Zum mindesten schieße ich ihm etliche Säulen seines Gefühlsbaues zusammen – was … hihi … übrigens ein komisches Gleichnis ist.«

Don Lionello fühlte die leise Beklemmung, wie sie ihn immer dann ergriff, wenn sein Meister das Licht ein wenig auf sich selber lenkte.

»Aber, Cavaliere,« meinte er und zeigte durch breites Grinsen an, daß er sich um einen Scherz bemühe, »ich dachte bislang, Sie ständen im Kampf gegen die Revolution …«

» Per Bacco,« lachte der Gutgelaunte, »und nicht übel, dünkt mich! – Aber,« fügte er leise hinzu, und das Feuer aus Bart und Fleisch setzte die Augen in Brand, »aber man hat seine kleinen Vergnügen neben dem Beruf – haha! Vacca, wem sage ich das! Bei Ihnen sind es die Weiber – bei mir … haha! – Im übrigen,« lenkte er plötzlich ab und sprach schon wieder mit seiner gewöhnlich freundlich sicheren Stimme, »kann das Ghetto, wie sich der Platzkommandant verbürgt, unbeschadet der Sicherung der anderen Quartiere in einer Weise zerniert werden, daß auch bei den wahrscheinlichen unterirdischen Verbindungen alle in Frage kommenden Nachbarstraßen blockiert sind. Dabei dürfen die Patrioten noch vorher ein bißchen schießen – das ist sogar wichtig – haha!«

Er fiel in das böse Lachen zurück und ging, dem Abate zunickend, in das Nebenzimmer, um sich für das Souper umzukleiden. Don Lionello wartete, bis er hinausgegangen war und die Tür geschlossen hatte. Dann, immer noch mit scheuem Blick zur Wand hin, hinter welcher der Bargello mit falscher Stimme laut und fröhlich sang, wagte Vacca, sich zu bekreuzigen. –

Bevor der Chefminister del Monte auf die Einladung der Corleone antwortete, hatte er den alten Steiner zu sich gebeten und ihm wortlos die pompös gekrönte Karte der Fürstin in die Hand gegeben. Der Baronissimo streifte sie mit einem flüchtigen Blick und meinte lächelnd:

»Sie müssen aus vielen Gründen der Tischherr der Fürstin sein, Exzellenz, wenn die andere Dame – es werden nur die beiden sein – den Arm des Cavalier Caminer nimmt.«

»Caminer?« fragte der Minister, auf das äußerste erstaunt. Steiner nickte.

»Er nahm die Einladung in gleichsam fliegender Eile an,« erwiderte er. »Schon wegen seiner beruflichen und – sagen wir in Anbetracht seiner augenfälligen Röte – symbolischen Fähigkeit, der Funke für das Pulverfaß zu sein, ist die Anwesenheit Ihrer respektierlichen Person sehr nötig, Marchese.«

»Um Gottes willen, Steiner,« sagte del Monte kopfschüttelnd, »wissen Sie denn nicht, wie nahe wir in allem Ernst der Explosion sind?«

»Nach meiner privaten Berechnung,« sagte der Alte unerschütterlich, »soweit ich die Lage zu übersehen imstande bin und gemäß den Nachrichten römischer Freunde: zwölf bis achtundvierzig Stunden. Im Interesse der Existenz, um die ich mich bekümmere: je eher, desto besser. Und dann ahnen Sie schon lange, Exzellenz, daß dieses Interesse merkwürdigerweise sich dem staatlichen nähern muß. Wir sind also im Grunde genommen doch echte Verbündete. Das heißt, ich weiß keine andere Lösung mehr, als den raschen Sieg des bestehenden Staates.«

Del Monte zog die Schultern hoch.

»Explosionen pflegen nach allen Seiten hin rücksichtslos zu sein,« murmelte er. »Auch in dieser Beziehung scheint mir der Bargello würdig Ihres Vergleiches.«

»Wir haben uns schon einmal unsere Nutzlosigkeit zugestanden, Exzellenz,« lächelte Steiner. »Wir haben nichts als unsere Liebe – und das ist bei uns Greisen stets ein Passivum. Was bleibt uns jetzt viel übrig, wenn wir wissen, daß wir keinen Brand löschen können?«

»Wir haben dabei zu sein,« schloß del Monte.

*

Die kleine Gesellschaft, noch ohne Caminer, saß sonderbar verloren in dem sehr hohen, nicht übermäßig beleuchteten Raum, dessen rotbrokatene Pracht die Gemüter aus unbestimmten Gründen verstimmte. Am sichersten war die Corleone, von maßvollem und geschickt über die Hintergründe drapiertem Zeremoniell, in der gesellschaftlichen Haltung wie in einem guten Panzer, das Lächeln der allmächtigen Höflichkeit selbst für den alten Steiner, der sich aufmerksam und zierlich beiseite hielt. Am unsichersten war Madda. Sie saß sehr blaß, wortkarg und mit nervösen Händen in einem Sessel, dessen mächtige Rücklehne sich aufdringlich wie ein Pfau hinter ihrer verschreckten Schönheit auftat und sie schmaler machte, als sie war. Del Monte hörte ergeben dem einsam sprechenden Prinz George zu, der mit verbissener Redseligkeit den stadtbekannten Spielverlust eines Florentiner Aristokraten kommentierte. Seine traurigen Augen gingen dabei unruhig und mißtrauisch über die Anwesenden. Keiner, auch nicht del Monte, ermutigte ihn durch eine Frage oder auch nur durch die Geste des Interesses. Plötzlich brach er ab und legte die überlangen und mageren Finger gegeneinander. Es herrschte durch Sekunden ein so schweres Schweigen, daß die prasselnden Holzscheite im Kamin einen gespenstischen Widerhall gewannen und selbst die Corleone niemanden anzusehen wagte. Endlich flötete der alte Steiner aus seinem Schatten:

»Wir haben ja noch gar keinen Grund, mes dames, messieurs, so heimlich voreinander zu tun. Noch sind wir ganz unter uns.«

Die Köpfe suchten den Sprechenden, dessen weiße Hemdbrust aus dem verdämmernden Rot seiner Ecke leuchtete und dessen Gesicht im Ungewissen blieb. Der Madda Guerra sprangen die Hände von den Armstützen.

»Wie meinen Sie das?« fragte sie zugleich, in der flatternden Stimme schon das Bedauern, gefragt zu haben. Der schmale helle Fleck von Steiners Hand und Manschette bewegte sich verbindlich.

»Nun, Contessina,« sprach er mit kleiner Betonung, »wir alle – und Sie doch auch – bilden sozusagen die Faktion der schönsten Fürstin und erwarten jetzt die Opposition. Das brauchen wir doch voreinander nicht zu verheimlichen, nicht wahr?«

Madda wagte nicht zu antworten; sie fürchtete diesen abgründigen alten Mann wie niemanden sonst, wie ein Element, das nicht angreifbar ist, wie das Verhängnis. – Er wird auch nicht zu töten sein, kam es ihr durch den wirren Sinn. – Der Chefminister lachte ganz leise.

»Gut formuliert, Steiner,« meinte er und wandte sich an die Corleone, »ich biete mich als Ihr Fähnrich an, Hoheit.«

Die Fürstin war jetzt sehr ernst, beugte sich vor und berührte del Montes Hand.

»Ich weiß nicht,« sagte sie verhalten, »ob die Fahne eines solchen Trägers würdig ist.«

Wieder schwieg man. Prinz George stand plötzlich auf und ging mit seinem knieweichen Gang zum Platz der Fürstin. Sie sah verwundert zu ihm auf.

»Madame,« sagte er und gestikulierte erregt, »es gibt besondere Fälle, wo man Vertrauen genießt, ohne ausdrücklich ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Sie haben diesen Sonderfall für mich reserviert, Maria. – Sie würden mir Freude machen, wenn Sie ja sagten.«

Die Corleone gab ihm die Hand.

»Ja, George,« sagte sie leicht verlegen, »aber was sollen jetzt solche Konfidenzen?«

»Altezza,« meldete sich Steiners Stimme, »freuen Sie sich über unsere Konfidenzen.« –

Dann war Caminer gekommen. Wie der purpurne Mann eintrat und der große Kristallüster, der nicht brannte, erschrocken seinen stämmigen Auftritt mit feiner Schwingung der Glaszapfen nachläutete, fühlte Madda sofort ihres Körpers Feigheit und Ungehorsam. Sie fiel aus der ängstlichen Starre der Wartezeit – und der Wille des Körpers war zerbrochen und auseinandergesplittert wie etwas Gläsernes. Sie hörte den Ton des erschütterten Kristalls über sich und wußte vor Angst nicht, wo sie hinsehen sollte. Aber ihr Blick lief schon eigenmächtig hinter dem Bargello her, rotem Henkernacken über weißer Binde, und die weißen Ecken des Kragens, hochgezogen und rechts und links vom Kinn ins Gesicht dringend, tauchten in den Bart wie in Blut. Jetzt brannte es empfindlich auf ihre Hand: sie sah ganz nahe sein wolliges Haupthaar, das in Stirn und Schläfen gestrichen war, und den roten Blick, wie er sich wieder aufrichtete. Sie wußte nicht einmal, ob sie mit dem Kopf genickt hatte. Ein wenig später mußte sie seinen Arm nehmen.

Es war gut, daß viele Kerzen im Speisezimmer und auf dem großen runden Eßtisch brannten, auch daß die Sessel in ziemlicher Entfernung voneinander standen. Madda, die zwischen Caminer und dem Prinzen George saß, konnte in der Helle das Bürgerliche und Flächige im Gesicht des Bargellos feststellen, der sich überdies nicht viel um sie kümmerte und mit bescheidener Kopfhaltung dem Marchese von gleichgültigen Dingen erzählte. Die Fürstin, zwischen del Monte und Steiner, sah jetzt müde vor sich hin und hob auch nicht den Kopf, als Madda, die sich nach einem guten Blick sehnte, ihre Augen suchte. Steiner, der seiner Gewohnheit nach fast nichts aß, flüsterte jetzt der Corleone etwas zu, die sofort das Mädchen ansah, mit kleinem Lächeln und leichtem Kopfnicken. Madda wurde rot vor Verwirrung und hatte einen Augenblick gegen den Wunsch anzukämpfen, dem Baronissimo ihre Dankbarkeit zu zeigen. Aber was wußte sie, was dieser alte Mann im Sinne hatte? – Prinz George neben ihr räusperte sich. Sie wandte ihm das Gesicht zu. Er setzte ein Lächeln auf; doch seine lange Nase war vor Erregung blank. Er preßte heftig die Hände aufeinander und schielte feindselig und angriffslustig auf den behutsam sprechenden Caminer.

»Cavaliere!« brach er unvermutet los und lehnte sich im Sessel zurück, um den Angesprochenen zu fixieren, »wie steht es mit der Revolution?«

Der Bargello unterbrach sofort sein Gespräch und wandte langsam den Kopf nach rechts. Sein Blick haftete einen Augenblick auf Madda, die ihr blasses Gesicht geradeaus hielt, dann glitt er über ihren Nacken hinweg auf den Prätendenten.

»Wahrscheinlich,« entgegnete er und beleckte Lippe und Bart, »sehr wahrscheinlich beginnt sie morgen, mein Prinz.«

Man war still. Del Monte hob und senkte unruhig den weißen Strich der Brauen; die Corleone sah aus schmalem Wimpernspalt zu Madda, die sich nicht rührte. Der alte Steiner, der mit seinem Einglas spielte, brach das Schweigen.

»Welches Kompliment, Cavalier Pompeo, bedeutet dann Ihre Anwesenheit sowohl für die Fürstin als für Ihre Konstitution!«

Caminer schob das Kinn vor.

»Es wäre vielleicht auch ein Kompliment für das Buon Governo, wenn die Revolution, die mit Verlaub zu sagen noch in den Windeln liegt, so viel Aufhebens wert ist.«

»Na, na, mein Lieber,« warf del Monte ein, »Ihre Bescheidenheit in Ehren: aber mir scheint, Sie sind durch die Windeln in letzter Zeit reichlich beschäftigt. Übrigens erlaube ich mir, über die Präzision Ihrer politischen Prophezeiung selber ein wenig zu staunen.«

»Exzellenz,« entgegnete der Polizeichef mit verbindlicher Geste, »muß ich aus der Schule plaudern?« Er ließ wie ein liebenswürdiger Gesellschafter den Blick über die Anwesenden gleiten. »Was tut es übrigens; denn es ist im Grunde genommen nicht unsere Schule, sondern die revolutionäre. Denken Sie, meine Herrschaften: das Signal für die nationale Erhebung ist die stündlich zu erwartende Wahl des Papstes.« Er wandte sich unvermutet an Madda. »Das weiß nicht nur seit langer Zeit die Behörde,« lächelte er, »sondern beinahe jeder halbwegs orientierte Kaffeehauskellner. Ist das nicht eine Farce, Contessina?«

Das Mädchen biß die Zähne zusammen.

»Das kommt auf den Standpunkt an,« sagte es, ohne ihn anzusehen. Caminer drückte das Kinn in die hohe Binde, so daß die Kragenecken ganz im Rot verschwanden. Es war, als ob er das böse Lächeln auf seinem Gesicht versenken wollte, aus gesellschaftlicher Höflichkeit. Er antwortete überdies nichts. Die Corleone, die ihn beobachtete, sagte scharf:

»Ich glaube, Herr Caminer, ein so vollkommener Beamter wie Sie ist immer im Dienst und überall Kriminalist.«

»Gewiß, Hoheit,« antwortete der Bargello und senkte die Stirne wie ein Stier; »aber es liegt an den Menschen, daß meine Art selten überflüssig ist.«

Steiner griff an:

»Sie stellen sich in bewundernswerter Weise in Gegensatz zu den Menschen, Cavaliere. Es ist gut für uns – und auch für Sie, daß wir nicht mehr im Mittelalter leben.« –

Der Präsident des Buon Governo hatte es während seiner ganzen Amtszeit vermieden, diesem suspekten Baron auf den Leib zu rücken. Es war weniger diplomatische Taktik gewesen, den politischen Agenten einer Weltmacht, die an der Schädigung des Großherzogtums uninteressiert war, in Ruhe zu lassen, als eine ganz persönliche und höchst ungewöhnliche Scheu vor einer geistigen Kraft, die zu fürchten war, weil sie gleiche Register beherrschte wie er, aber darüber hinaus noch von anderen, fatal verborgenen Quellen gespeist wurde. Daß er den Alten heute vorfand, war ihm zuwider; die Gegenwart del Montes genierte weniger. Er zog es vor, dem Baronissimo nicht zu antworten. Doch dieser lendenlahme Prätendent, ihm heute in merkwürdiger Weise aufsässig, ließ kein Ausweichen zu und stellte ihn von der Seite:

»Was soll hier die Historie, lieber Steiner!« rief er, »bei einem so akuten Bekenntnis! Wissen Sie denn, wie kriminell der Herr Präsident zum Beispiel uns sieht?«

»Vielleicht,« lächelte Steiner. Caminer, verblüfft und gereizt durch die kreisenden Gegner, hielt es noch für gut, den Scherz zu unterstreichen.

» Per Bacco!« rief er in roter Lustigkeit, »das wäre, Baron! Enthüllen Sie den Bargello! – Exzellenz, geruhen Sie aufzupassen. Wir hören vielleicht Angelegenheiten des Staates!«

Der alte Minister hatte, um die Erregung des Herzens zu beschwichtigen, die Hausherrin an sein bekanntes Privileg erinnert, zwischen den Gängen zu rauchen. Er öffnete nur wenig die Augen und antwortete mit seinem haardünnen Rauchstrahl, sehr leise:

»Pardon, Cavaliere, ich bin hier durchaus nicht Minister und ohne jeden Atavismus Ihrer beruflichen Art. Daß wir sehr verschiedene Naturen sind, sagte ich Ihnen schon einige Male. Ich bin nur Gast der Fürstin und, wie wir vorhin feststellten, ihr Fähnrich – als hübsches Gleichnis meiner alten Verehrung für sie. Ich kann also kein amtlich, sondern nur ein freundlich beteiligter Zuhörer des Barons sein.«

Caminer zog die Lippen ein, so daß der Schnurrbart den Kinnbart berührte. Das Drittel des Gesichts von der breiten Nase abwärts stand im fleischlosen Feuerhaar. Er wagte einen langen, fast verletzenden Blick gegen den Minister und verlor jeden Humor.

»Das klingt beinahe wie eine Desavouierung, Exzellenz,« murmelte er. Del Monte schloß völlig die Augen und blies Rauch aus, stumm. Der Bargello sah wild um den feindlichen Tisch. Er fühlte, daß er vor soviel planmäßiger, gesammelter und offensiver Gegnerschaft das kalte Blut verlor, und hielt die Fäuste an sich, daß sie nicht in bäuerischer Wut auf den Tisch flogen und die Kartenhäuser dieser Schicksale niedermähten. Aber schon die vollendete Haltung der Fürstin, die ihm gegenübersaß, und die noble Unerschütterlichkeit ihres Gesichts hetzte gegen diese Wut die andere Wut, die selten kam und ihn von tiefstem Grund auf erschütterte. Wie konnte diese Frau, deren Vernichtung ihm zwei Worte oder eine Unterschrift kostete und die seine Macht nicht schlechter kannte als er selber, den tollen Mut zu solcher Ruhe aufbringen, zu der unbesorgten Wahl des pfirsichfarbenen Brokatkleides, zu dem Stolz der nackten Schultern – wie den Mut zu seiner Einladung und zu solcher Demütigung durch eine Allianz, die zugleich gesellschaftlich und human war – ganz rücksichtslos gegen ihre Interessen, welche durchaus bei ihm aufgehoben waren. Und wie konnte ihn – immer wieder – die feindselige Form ringsum an seine Unförmigkeit gemahnen und die dumpfe Proletarierwut erinnern, daß dies alles nicht in Reichweite lag, sondern auf ewig außerhalb seines brutalen Körpers, den irgendein levantinischer Matrose seiner bösen Mutter in irgendeiner Schenke der Giudecca eingab – die Wut animieren, die Leiter mit den vielen mühseligen Sprossen umzustoßen, auf der er hoch genug stand, und wie ein protziger Athlet die Muskeln zu zeigen, die die anderen nicht hatten. Und das Stimmchen des alten Steiners, eines Spions, mutmaßlichen Hochstaplers und Bilderfälschers, des erregend überlegenen und undurchdringlichen, heimlich bewunderten Mannes, hüpfte auf:

»Sind Sie nicht mehr neugierig, Cavaliere?«

Caminer sah nicht den Frager an, sondern neben sich das Mädchen. Er spürte die Gruppierung um die Corleone und die Ungeschütztheit seiner stummen Nachbarin. – Es scheine ihm besser, meinte er anzüglich, er sage nein. Und dann fiel er sie mit der direkten Frage an:

»Oder sieht Ihr Standpunkt wieder anderes, Contessina?«

Madda saß in dieser verwegenen Stunde ratlos und hin und her gezerrt; denn sie begriff nicht recht den einmütigen Angriff auf den Bargello und wagte nicht zu bejahen, daß er auch um ihretwillen unternommen sei. Als Caminer das revolutionäre Signal wie einen Witz zum besten gab, dachte sie an den Bruder und an den Tod, den er entsetzt mit sich herumtrug wie ein genötigter Hehler. Ihr Gehirn begann zu arbeiten. Bei Caminers direkter Frage hob sie nur die Brauen, ohne zu antworten. Aber ihr Gesicht war wieder durchblutet. Als der Prinz neben ihr mit heftiger Geste und feuchter Stirn die gebührende Antwort für den Polizeichef präparierte und der Baronissimo die seine in einem maliziösen Lächeln aufhißte, wurde der Kampf durch das Erscheinen eines Bedienten unterbrochen, der dem alten Steiner ein Billett überreichte. Der kleine Greis wurde ernst, bat die Fürstin um Erlaubnis, die Nachricht zu lesen, öffnete den Umschlag und hielt das viereckige Einglas vor das Auge. Er las, ohne daß es sich in seinem Gesicht rührte, faltete das Blatt sehr klein zusammen und behielt es in der geschlossenen Hand. Caminer, der keinen so scharf beobachtete wie ihn, hatte das peinigende Gefühl, daß der Inhalt des Zettels, den der Alte wie ein Magier verschwinden ließ, ihn selber am meisten anginge. Daß gerade dieser Mann sich durch irgendeine verdeckte Verbindung vor ihm in die Zukunft schmuggeln könnte, war nicht dazu angetan, seine sonderliche Stellung an diesem Abend zu stärken. Und als ob die Fürstin aus dem neuen Wissen, das der Vertraute gewonnen haben mochte, Mut für die Entscheidung schöpfte, sagte sie bald darauf, die schönen Hände lässig unter dem Kinn zusammenfügend:

»Ich glaube, Cavaliere, wir lassen ruhig alle Andeutungen und die aufgebotene Dialektik und sprechen offen zueinander. Das ist der Zweck, dessentwegen ich Sie hierhergebeten habe – ich gestehe es Ihnen gerne. Hier sind meine Freunde, vor denen wir ohne Scheu verhandeln können. Denn darum wird es wohl gehen.«

Madda sah die Fürstin überrascht an. Caminer wurde nervös und grob.

»Vergeben Sie mir, Hoheit,« sagte er, »aber ich bin nicht die Instanz, die mit Ihnen offen zu sprechen hat. Und für Verhandlungen, fürchte ich, wird es überhaupt keine Instanz geben. Ich bin der verantwortliche Leiter der Sicherheitsbehörde, der eine für das staatliche Leben notwendige Aktion einleitet und darüber nicht debattieren kann. Weder meine Stellung noch meine Art genießt das Glück der Spaltung des beruflichen Menschen vom privaten, womit die verehrte Exzellenz sich den Genuß einer solchen Freundschaft zu verschaffen vermag.«

Del Monte trommelte leise auf den Tisch. Er unterbrach verhalten und dringlich:

»Auf die andere Glückspalte, Ihr Vorgesetzter zu sein, Caminer, bin ich nicht stolz; denn Ihre Aktion, wie Sie sie zu nennen belieben, untergräbt im besten Fall die Revolution und die Dynastie zu gleichen Teilen.«

Caminer fuhr sich wild durch das dicke Haar.

»Sie sagten vorhin, Exzellenz, daß Sie nicht als mein Vorgesetzter, sondern als Freund des Hauses hier sind. So darf ich Ihnen ausdrücklich bekennen, daß meine Lebensanschauung nur den Staat sieht und die Dynastie nur innerhalb des Staates und außerhalb des Boudoirs.«

Der Minister senkte den Kopf und schwieg. Prinz George fragte scharf:

»Was bedeutet diese Weltanschauung in dem akuten Sinn, der zur Debatte steht?«

»Das bedeutet,« entgegnete Caminer ohne Zögern, »daß der Präsident des Buon Governo nicht dazu da ist, das Staatsoberhaupt vor privaten Enttäuschungen zu bewahren.«

Plötzlich schrie er seine Wut heraus:

»Es hilft Ihnen alles nichts, meine Herrschaften!«

Der alte Steiner hob die Hand, die den Zettel barg. Diese Geste verwirrte den Bargello von neuem; denn er hatte sich in diesem bösen Kampf so weit vorgewagt, daß er gerne auf solche vorbereiteten Überraschungen verzichtete. Er sah mißtrauisch auf das Händchen.

»Ich konstatiere,« sagte Steiner sachlich, »daß die Verhandlungen gescheitert sind, kaum daß sie recht angefangen haben. So können wir uns persönliche Kommentare ersparen. Es hätte sich zudem nur um die Vermeidung eines überflüssigen Skandals gehandelt; denn die Person der Fürstin, deren politisches Geheimnis – wenn es eines ist – in ihren Motiven dem Chef der Regierung bekannt ist, steht auf jeden Fall außerhalb Ihrer amtlichen Gewalt. Außerdem geht es ja heute abend nicht um die Fürstin.«

Er sah ernst und grauäugig das Mädchen an. Madda fühlte den Stoß des Herzens und hatte keine andere Wahl: sie hob den Kopf und sagte schlicht:

»Es geht natürlich um mich.«

Der Bargello spürte die etwas brüske Ablenkung und wohl auch die Opferfähigkeit des Mädchens; denn er beugte sich zu ihr hin und sagte ziemlich leise und fast zart:

»Auch das ist nicht ganz richtig, Signorina; denn es sind nicht die geringsten Zweifel mehr zu beheben.«

Er nannte sie nicht mehr bei ihrem falschen Titel. Das war alles. – Das war alles? fragte sie sich, und sie fragte auch ihn, mit vollem und ruhigem Blick:

»Und?«

Caminer betrachtete sie, das erstemal an dem Abend. Er war in diesem Augenblick weder abstoßend noch furchterregend, fühlte sie, nicht einmal neugierig, sondern beinahe zärtlich. Das war nicht die Zärtlichkeit des werbenden Mannes, auch dieses spürte sie sofort; aber sie wußte doch nicht, daß es die abwegige und unpersönliche Zärtlichkeit aus beruflicher Beglückung war, aus ihrer eigenen lebendigen und willenlosen Bestätigung seines beruflichen Ingeniums. Die Schicksale glitten in seine Hand zurück, der Aufruhr war blinder Alarm – abgerechnet den Steiner und seine geschlossene Hand. Und der Alte sprach auch, als er seinen Blick erhaschte:

»Und warum sind Sie dann der Einladung gefolgt, die zunächst der Wunsch unseres jungen Gastes war?«

»Welche Inquisition!« lachte Caminer auf und schüttelte den Kopf; er blinzelte durch die roten Brauen Madda zu; »auch mit Ihnen Verhandlungen, Mademoiselle? Ich bin doch nicht Don Lionello.«

Madda zog ein wenig die Lippen von den Zähnen.

»Wollen Sie wissen, wo Guerra ist?« fragte sie kühl. Caminer lachte stärker: sie möge es ruhig sagen.

»Im Borgunto zu Fiesole,« sprach sie, »unter dem Namen Carlo Malossi.«

»Hahaha!« lachte Caminer, »und Ihr Honorar für diese Auskunft?«

Madda schwieg. Der Prinz George, der mit lautem Atem daneben saß und dessen Schädel naß war wie nach einem Dauerlauf, schrie – und seine magere Stimme überschlug sich:

»Schießen!! Sie werden sich mit mir schießen, Herr – das sage ich Ihnen!«

Der Bargello war sofort ruhig und schleifte den Blick über das Mädchen hinweg gegen den anderen. Das sah gefährlich aus. Doch wieder hielt der alte Steiner die Hand mit dem Zettel hoch.

»Halt, Sire!« rief er, »Sie verkennen doch wohl die Situation. Der Herr Präsident ist im Amt, wie Sie wissen, und war aus irgendwelchem Grunde über die Auskunft der Dame erheitert, ohne sie doch beleidigen zu wollen, nicht wahr, Cavaliere?«

Caminer nickte und sah auf das Händchen.

»Aber Sie sind auf den Inhalt meiner linken Hand neugieriger, scheint mir, als auf die Auskünfte der jungen Dame. Der Grund mag sein, daß Sie, Cavaliere, den wahren Aufenthaltsort des Herrn Guerra besser kennen, als den Inhalt dieses ominösen Billetts.«

»Gewiß,« sagte der Bargello und drückte die Augen zusammen. Steiner entfaltete den Zettel.

»Die Sache ist übrigens ganz harmlos,« meinte er, »nur die Folge einer raschen Berichterstattung, die meinem privaten Vergnügen dient.« Er strich das Billett glatt. Caminer hielt die Arme verschränkt und drückte das Kinn in die Binde. »Hätten wir sehr große Angst vor Ihnen, Cavaliere,« fuhr der Alte fort, »dann müßten wir Sie allerdings diese Nachricht nicht zu früh wissen lassen. Denn mit der Revolution beginnt doch auch Ihre vielerwähnte Aktion, nicht wahr?«

»Ach so,« sagte Caminer und stand auf. Steiner reichte ihm den Zettel über den Tisch.

»Ja,« lächelte er, » habemus Papam. Sie können den bisherigen und künftigen Namen des guten Klostermannes selber lesen. Honorar für diese richtige Nachricht verlange ich sowenig, wie scheinbar die junge Dame für ihre angezweifelte. – Wen zu verhaften reizt es Sie nun?«

Caminer überflog die Depesche. Er hatte wohl Steiners Frage überhört, denn er bat jetzt mit höflichen Worten die Fürstin, ihn zu entschuldigen. Er müsse begreiflicherweise sofort in das Bargello; aber er dürfe noch mit Fräulein Guerra zwei Worte unter vier Augen sprechen. Er sagte Fräulein Guerra. Keiner, auch Madda nicht, schien es zu bemerken.

»Ich stehe natürlich dafür ein,« schloß er, »daß es ein kurzes Gespräch und keine Verhaftung ist.«

Madda erhob sich sofort und ging, von Caminer gefolgt, in einen kleinen silbergrauen Salon, nicht weit von dem Speisezimmer.

»Signorina,« sagte er, »soviel ich weiß, ist der Baron Steiner nicht Mitglied der Partei.«

»Nein,« sagte sie. Er schob die Lippen nach innen und rieb den Schnurrbart gegen die Kinnstoppeln. Nach kurzem Nachdenken sagte er:

»Wir können einen kleinen Handel machen. Ich kenne einigermaßen die Parteigesetze. Es ist offenbar, daß der Baron Steiner ein zu Unrecht Eingeweihter ist. Wenn Sie ihn zur Anzeige bringen – Sie verstehen mich, welche Folgen ich für ihn im Sinn habe – rette ich Ihren Bruder vor dem Standgericht, das nach der Ghetto-Razzia eingesetzt wird. Ich habe meine Gründe für diesen Vorschlag. – Nehmen Sie an?«

»Ja,« sagte Madda. Caminer rührte sich noch nicht von der Tür. Er scheint noch nicht zu Ende zu sein, dachte Madda.

»Mir ist so,« sprach der Bargello von neuem und etwas bedrängt, »als seien Sie in diesem Haus die Einzige, die mir meine Häßlichkeit weniger übel nimmt als meinen Beruf. Es mag sein, daß ich mich irre; aber es wäre klug von Ihnen, wenn Sie es zugäben; denn ich wünschte, Sie hätten keinen Ekel vor mir und beantworteten eine vielleicht merkwürdige Frage wie einem vertrauenswürdigen Menschen.«

»Ja,« sagte Madda. Caminer nickte mit einem Lächeln, das sein Gesicht plötzlich unglücklich machte.

»Danke,« sprach er noch leiser. »Ist dies alles Liebe für Ihren Bruder oder – sagen wir – revolutionäre Überzeugung?«

»Liebe zu Guerra,« sagte Madda. Caminer nickte wieder und lächelte wieder.

»Ich glaube es Ihnen,« entgegnete er weich, »und so könnte ich Sie mit einem falschen Paß außer Landes schicken. Aber aus dem gleichen Grunde werden Sie es nicht annehmen.«

»Nein,« sagte Madda. Caminer lachte leise und drückte die Fäuste an die Schläfen.

»Sehen Sie, sehen Sie,« flüsterte er, »wie schwer es mir der liebe Gott macht, human zu sein wie die verfluchten Anderen …«

Er ging ohne Gruß.

 

2

Hinter Renzo Maddii sprangen Sbirrenfunken, als er in die Nacht hinaustrat, bald nachdem der Bargello den Palazzo Corleone verlassen hatte – noch während die kleine Gesellschaft, ohne Madda, um den runden Eßtisch flüsterte.

Renzo war aus einer Dienerpforte getreten, die auf ein kleines Längsgäßchen zwischen dem Kai und der Apostelstraße mündete. Ein Blick auf die lebendigen Laternen auch in diesem Straßenstümpfchen bewies die vollkommene Überwachung des Hauses. Der Mann wußte, was er wagte, und sah die Zwecklosigkeit von Umwegen ein. Er ging die kleine Strecke durch die Porta Rossa zur Via della Nave unbehelligt, nur begleitet von Pfiff und Funke. Da er vor dem schiefen Haus der Verbindungsgalerie nicht ungeschickt lavierte und sich merklich vor einer nahen Weiberkneipe aufhielt, während er im Vorbeigehen das Haustor schon geöffnet hatte, ließ ihn hoffen, daß die Laternen das richtige Haus übersprangen und sein Hineinschlüpfen, dem Mauerschatten angeschmiegt, nicht bemerkten. Wie er nach einiger Zeit zurückkehrte – der Führer hatte die Mitteilungen mit bemerkenswerter Gleichgültigkeit aufgenommen –, waren doch die Laternen unheimlich groß und gierig am Ende des Kellerweges. Eine Flucht den Gang zurück war nicht möglich, weil in der kleinen Sekunde dieses Gedankens schon hinter ihm andere Lichter aus den Nischen brachen. Seine Verhaftung erfolgte ohne viel Worte, kaum daß er angefaßt wurde und viel anderes sah, als einen engen Kreis von Laternen rings um sich herum, ein paar Hände mit Sbirrenstöcken und die Mündung einer Muskete, die auf seine Stirn gerichtet war und vor ihm her zog – ein blindes und kleines Auge neben dem böse hellen, wachen und großen einer Blendlaterne. Auf der engen Treppe, die vom Keller zum Erdgeschoß führte, mußte er sich an die Wand drücken, um einem Zug abwärts steigender Geniesoldaten Platz zu machen. –

Madda schlief nicht. Als es drei Uhr wurde und Renzo noch nicht zurückgekehrt war, mußte sie mit seiner Verhaftung rechnen. Gequält durch den Zweifel, ob er noch habe dem Bruder die Nachrichten überbringen können oder nicht, wuchsen Unruhe, Einsamkeit und das böse Schweigen ringsum. Sie ging mit immer hastigeren Schritten im Zimmer auf und ab.

Sie ging zur Corleone, klopfte sehr leise an die Tür und bekam doch sofort eine Antwort. Sie öffnete, fand noch Licht und die Fürstin in ihrem breiten Säulenbett über einem Buch. Maria hob den Kopf; ihre Augen hatten dunkle Ringe.

»Du kannst auch nicht schlafen, Kindchen,« sagte sie freundlich und ruhig. Madda stieß sich an dieser Gelassenheit.

»Das Haus scheint bereits umstellt,« sagte sie geärgert, »jedenfalls ist der Maddii von einem Botengang nicht mehr heimgekehrt.«

Die Corleone nickte gleichmütig. Madda fühlte das Blut aufsteigen. Sie sprach angriffslustig:

»Guerra wird sich natürlich im Notfall in dein Haus zu retten versuchen.«

»Gut,« entgegnete die Corleone; »aber der Bargello wird auf keinen Fall davor zurückschrecken, das Haus zu durchsuchen. Es ist übrigens gleichgültig, ob man ihn hier verhaftet oder in seinem Schlupfwinkel, der der Behörde bekannt zu sein scheint.«

Madda setzte sich auf den Bettrand und betrachtete die Liegende. Sie hatte scharfe Augen und musterte mit böser Absicht, als Strafe für solche Kälte. Sie blickte auf das Fleisch, das schlaff zu werden begann, und streifte es leicht mit den Fingerspitzen. Die Corleone zog die Decke bis unter die Achsel und ließ nur die schönen Arme sehen.

»So wenig fürchtest du für ihn?« fragte Madda. Die Corleone hob etwas die Schultern.

»Nicht viel,« sagte sie schlicht. »Es wird kaum zu Zusammenstößen kommen können, zumal Guerras Verhaftung die erste Handlung der Behörde sein wird. Der Souverän wird als kluger Mann nicht dem Rat des Gouverneurs, sondern del Montes folgen und keine Exempel statuieren. Man wird Guerra einige Zeit im Bargello lassen und dann wohl nach Elba bringen; so nimmt es wenigstens der Marchese an.«

Madda beugte sich über ihren Mund.

»Ist das große Liebe?« fragte sie. Maria sah sie ruhig an.

»Du verstehst von meiner Liebe nichts, armes Kind,« sagte sie. Madda beugte sich noch tiefer, küßte sie und biß sie leicht in die Lippen.

»Wenn ich könnte,« flüsterte sie dabei, »würde ich mich dem Großherzog ins Bett legen – nur aus Neugierde, ob er dann nach dir läuten wird. Ich dächte nicht einmal an Politik.«

Die Corleone schob sie von sich fort; sie sagte:

»Dich wird man nach Ansicht del Montes ebenfalls ins Bargello bringen, bis die Lage geklärt ist, und dann einem Karmeliterinnenkloster übergeben.«

»Und du?« fragte Madda böse. Die andere lachte ein wenig.

»Ich bin die Einzige, deren Schicksal noch sehr zweifelhaft ist.« Sie bewegte die Hand dem Mädchen zu. »Außerdem ist dir durchaus zuzutrauen, daß du mich bei der Partei denunziert hast.«

Madda schwieg eine Weile, als wollte sie die Fürstin in einer grausamen Unentschiedenheit lassen. Doch dann, wie die andere mit einer fahrigen Bewegung des Kopfes zu ihr hin gestand, daß das Schweigen sie quäle, sagte sie:

»Das habe ich nicht getan, Maria. – Aber glaubst du, daß dich Guerra liebt?«

Die Corleone bewegte den Kopf in den Kissen.

»Nein,« sagte sie leise, »doch was bist du für eine böse Frau …«

»Ich bin eine böse Frau,« unterbrach Madda sehr erregt, »weil er dich liebt. Und ich rede mir ein, es ist nur das und nicht Lüge oder ein ganz sinnloses Lärmen für ein Nichts, wenn er zweimal verhütet – Maria, zweimal – verhütet …«

»Zweimal!« schrie die Corleone, sich aufrichtend. Madda lachte.

»Halt!« rief sie, »das ist in der Tat nicht ganz richtig. Er verhütete es nur einmal – das zweitemal wird es durch den Caminer verhütet, dessen Genie sicherlich kein anderer höher schätzen wird als Guerra in seiner Seelennot. Denn er wird doch voraussichtlich eher den Bargello sehen als den Souverän – und ich auch. Und wärest du vor ein paar Tagen bei unserem Zusammensein zugegen gewesen, so hätte er dich ebenfalls gebeten, den kleinen Mord ihm abzunehmen …«

Die Corleone schlug sie ins Gesicht. Madda fiel vom Bettrand in die Knie, weinte wie ein kleines Kind.

*

Guerra ging nicht wieder ins Bett, als ihn Maddii verlassen hatte. Er ließ Checca wecken und teilte ihr mit dürren Worten die verzweifelte Lage mit. Die Verbindung mit den Sektionen sei vielleicht nur noch wenige Stunden offen; Befehl zum Angriff an diesem viel zu frühen Termin und bei der ständigen Bereitschaft der Garnison würde nicht nur den sicheren Mißerfolg bedeuten, sondern auch noch den möglichen Erfolg in den Nachbarstaaten von Anfang an paralysieren; Zuwarten bedeute seine Verhaftung und Abwürgen der führerlosen Bewegung. – Er schwieg. Er war in den letzten Tagen wortkarg und in einer Weise verschlossen, daß Checca kaum die nötigsten Anweisungen von ihm zu erhalten vermochte.

»Und zu was werden Sie sich entscheiden, Signore?« fragte sie schließlich. Guerra zuckte mit den Achseln.

»Ich war nur eine Sekunde lang ein Desperado,« sagte er mürrisch, »du kannst Gioia fragen. Jetzt bin ich wieder der kleine Mensch, der am Leben hängt – am Leben, Checca! – Ich habe sonderbarerweise nur einen Garanten dafür: den Bargello.«

Checca sah ihn lange an und schüttelte den Kopf.

»Mir liegt nicht soviel daran,« sprach sie, »ich sagte es Ihnen schon, Signore. Es wäre gut, Sie erlaubten mir, was zu tun ich bereit bin.« Sie zögerte ein wenig; dann fügte sie hinzu:

»Ich finde es beschämend.«

Guerra lachte leise.

»Das ist sehr behutsam ausgedrückt, Checca; aber es macht nichts, wenn du dich für mich schämst. Vielleicht schämt sich mein ganzes Leben für seinen Sinn; aber ich habe das Gefühl, daß es für dieses Leben schade wäre, würde es jetzt zu Ende gehen. Es muß noch die andere Hälfte kommen, die wahrhaftige. Und ich erlaube dir auf keinen Fall, einen sinnlosen Terrorakt für mich auszuführen; denn es ist ganz gleichgültig, ob ich schieße oder du: ich brächte mich auf jeden Fall um mein besseres Leben.« Er hob die Stimme. »Ich will nicht, hörst du, ich will nicht! Dieser Mann ist viel wertvoller als ich und noch immer wertvoller für das Land, als wir mit unserer Idee, trotzdem er ein Fürst und ein Fremder ist; denn wir sind noch nicht so weit.« Er lachte. »Und wenn du auch denkst, daß mein glattes Maul wieder lügt, um meine Feigheit zu verkleiden: du bist nicht Publikum genug, Checca, daß ich mir solche Mühe machte, und außerdem wirst du gar keine Gelegenheit haben, zum Schuß zu kommen.«

Er stand auf, zog die Stiefel an, nahm Hut, Mantel und Pistolen. Checca sagte müde:

»Sie gehen also doch in den Palazzo Corleone, wie die Signorina empfahl? Ich glaube, ich begreife Sie nicht mehr recht.«

Guerra hob die Schultern: Er käme noch vor Tagesanbruch zurück; er müsse noch einmal die Schwester sprechen, weil er ihrer nicht sicher sei.

»Auch sie kann die Zukunft verderben,« lächelte er, »und dann … das geht dich übrigens nichts an.«

»Nein,« sagte sie leise; »aber wenn man Ihnen die Rückkehr unmöglich macht oder Sie unterwegs verhaftet?«

»Mein Gott …« sagte Guerra, achselzuckend; plötzlich wandte er ihr das Gesicht zu und sprach weich:

»Es geht dich natürlich an, alte Checca; aber es tut dir ja weh. Warum davon sprechen?«

Er nickte ihr zu und schritt zur Tür.

»Halt,« sagte Checca bedrängt und dringlich und hatte rote Flecken im Gesicht. Er drehte sich um, fragend. – Es sei möglich, meinte sie, daß auch die Via della Nave bereits blockiert sei; vielleicht sogar das Haus. – Vielleicht sei der Gang schon gefunden, der rückkehrende Renzo aufgegriffen. Man müsse doch mit allem rechnen.

»Und?« fragte Guerra. Sie war immer noch verlegen wie ein törichtes Mädchen: Er solle noch etwas warten; sie werde vorsichtig die Verbindungsgalerie abschreiten und vom Erdgeschoßfenster der Via della Nave das Gelände prüfen. Sie gebrauchte militärtechnische Ausdrücke, mit einem leisen und rührenden Lächeln. Guerra bemerkte es nicht, weil er nachdenklich an ihr vorbeisah.

»Das gehört sich doch so,« ermunterte sie ihn, immer mit ihrer flatternden Kopfstimme, »Sie sind der Führer und ich Ihre Funktionärin. Das ist sogar Reglement.«

Guerra nickte abwesend; er möchte zum mindesten gerne hinkommen, gestand er und murmelte etwas von Madda und Maria; er werde an der Kellertür auf ihre Rückkehr warten.

»Gewiß, gewiß,« nickte Checca und trat schon auf den Gang, von ihm gefolgt. Sie leuchtete mit der Öllampe sorglich auf den Boden zu seinen Füßen, damit er nicht ausgleite. Denn der abschüssige Korridor, von unvermuteten Stufen zerbrochen, war von schleimigem Moos überzogen. Zertretene Tausendfüßler knirschten unter den Sohlen und wütende Bandasseln richteten sich auf und kniffen mit den Scheren in das eilige Licht. Guerra sah nichts als dieses böse vorgleitende Stückchen Weg und groben Rock und Strumpf der Frau. Die Treppe, die schließlich zur Verbindungsgalerie abwärts führte, war tückisch gewunden und unberechenbar gestuft. Sie gingen sehr vorsichtig. Den Abschluß bildete eine Tür mit zerbrochenen Scheiben. Hier blieb Guerra stehen. Die Frau schritt weiter und flüsterte über die Schulter:

» Addio.«

»Checca!« rief er, ohne zu wissen, was er ihr sagen sollte. Doch sie hörte auch nicht darauf. Das Licht verschwand hinter einer nahen Gangbiegung. Es war ganz dunkel.

*

Die Pioniere hatten Befehl, die Verbindungsgalerie bis zu ihrem Ende zu untersuchen, nicht aber auf der Ghettoseite an die Oberfläche zu steigen. Sie waren schon bis zur Kellertür gedrungen und hatten sich zurückgezogen, nachdem sie festgestellt hatten, daß keine Durchgangsschwierigkeiten vorhanden waren. Immerhin hatten sie etwa von der Mitte der Galerie bis zur blockierten Via della Nave Posten mit abgeblendeten Laternen in die Nischen gestellt.

Cheeca ging vorsichtig und hellhörig. Sie roch auch verbranntes Öl oder Pech, konnte aber nicht entscheiden, ob es nicht das eigene Licht war. Sie hatte plötzlich mit einem starken Angstgefühl zu kämpfen und wußte, leise aufschreiend, die Nähe eines Menschen, noch ehe der falbe Schein ihn faßte. In dem Augenblick, als sie die Uniform erkannte, die den Weg vertrat und schon hinter dem aufgehenden Auge der Blendlaterne verschwand, ließ sie das Licht fallen, griff nach dem ziemlich alten Terzerol, das sie vor Jahren von der Parteileitung bekam und in einer eigens für diesen Zweck verfertigten Unterrockstasche zu tragen pflegte, und schoß. Das war nicht, um zu töten, sondern um den großen Guerra zu warnen. Das war nicht gezielt, sondern schnell und etwas ängstlich abgedrückt. Aber die Kugel prallte irgendwo von den Steinplatten des Bodens, der Wände oder der Decke ab und legte zwanzig Meter hinter dem ersten Posten einem kleinen verschlafenen Soldaten aus Arezzo die Halsschlagader bloß. Checca hörte noch das gurgelnde Schreien, schlug noch die Hände vor das Gesicht, um den zielenden ersten Posten nicht zu sehen oder um zum lieben Gott zu jammern, warum das Sinnlose geschehen sei: dann sprang die Welt in rotem Schwung auseinander.

*

Die beiden Schüsse bellten dumpf den Schacht entlang. Guerra riß den Mund auf, vom Schrecken gegen das Herz geschlagen. Ein wenig von dem wilden Rot, in dem die Checca in diesem Augenblick unterging, hüpfte auch vor seinem Blick, der die Wand der Dunkelheit hinauf und hinab glitt, hinauf und hinab. Das Ohr, das dann nichts mehr hörte, war der langsame Mittler zur Besinnung. Und dann sprang der Gedanke auf, derb und laut, dröhnte im Hirn: geh durch die Tür, die paar Schritte, meinethalben die Hände hoch, mit weißem Schnupftuch als Kapitulationsfahne – aber geh, geh – dann ist es vorbei! – –

Doch der Körper wollte nicht, und die Energie saß im Körper, der sich umdrehte, die Treppe hinaufstolperte, die Fingerspitzen an den jämmerlichen Lichtchen unzähliger Schwefelhölzer verbrannte, durch unbekannte Korridore irrte und schließlich, jähzornig und hilflos, so lange nach Salomone schrie, bis aus einem Mauerriß ein dünner Mann im Hemd trat, erschrockene Köpfe im Hintergrund, und stumm die Führung übernahm.

Salomone öffnete, schlafhäßlich, verstört, eine haarige und eingesunkene Brust zwischen dem auseinanderklaffenden Schlafrock. Er wagte nicht einmal zu fragen.

»Morgen! Morgen!« schrie ihn Guerra an wie einen Neugierigen, »morgen erfahren Sie alles! Früh genug! – Jetzt will ich zu Gioia!«

Salomone schaukelte mit dem Oberkörper hin und her, schlug mit der Faust auf die Brust und bewegte die Lippen. Die Lider hingen schwer herab wie bei einem Blinden. Dann nickte er und ging voraus. In der Kammer roch es nach Fleisch und nach den Ausdünstungen alter Männer. Gioia lag hart an der Bettkante auf der rechten Seite, wie es seine Gewohnheit war, und schlief nicht. Er erwartete den spröden Schlaf nicht vor Morgengrauen und war stumpf vor Schmerz in den Knochen. Er blinzelte in das hineingetragene Licht, nicht auf Guerra, der es trug. Salomone war nicht mit eingetreten und schloß die Tür hinter dem anderen.

Guerra stellte den Leuchter auf den Tisch, zog den Stuhl neben das Bett und setzte sich. Gioia sah immer noch an ihm vorbei auf das Licht. Sein Körper lag auf dem rechten Arm, sein Gesicht auf der verkrüppelten und gichtigen Hand, um den Schmerz zu erdrücken. Seine Augen schwammen in Wasser. Guerra beugte sich vor und kam dem Alten ganz nahe.

»Gioia,« fragte er, »du kannst wohl nicht schlafen?«

Der Alte streifte ihn mit dem Blick und war grob.

»Was wollen Sie wieder von mir?«

»Gioia,« fragte Guerra, »hast du in der letzten Stunde an die Checca gedacht?«

»Nein,« antwortete der Alte mit plötzlicher Bereitwilligkeit und blinzelte das Licht an, »ich habe an den Bonaparte gedacht – ja.«

»Gioia,« sagte Guerra, »die Checca – du hättest besser an die Checca denken sollen … sie ging für mich in den Keller – und dann gab es zwei Schüsse.«

Der Alte wälzte sich schwer auf den Rücken und richtete sich ein wenig auf. Er betrachtete den anderen, und die Augen tränten vor Anstrengung. Er fragte heiser:

»Sind Sie wenigstens traurig?«

»Ja,« sagte Guerra. Der Alte fuhr mit der grauen Zunge über die Lippen, immer wieder, als suche er nach einem Geschmack.

»Sie sind es nicht wert,« sprach er mit einemmal, laut und betont, »aber in Toulon … junger Mann …«

Er lächelte, ließ sich auf das Kissen sinken und blieb stumm, aus schmalen Augenschlitzen auf das Licht blinzelnd. Guerra blieb an seinem Bett sitzen. Man hörte keinen Laut, wie bei einer Totenwache.

 

3

Den folgenden Tag, 3. Februar, einen äußerlich unauffälligen, trüben und etwas schwermütigen Tag, der wie ein grauer Vorhang wenig bewegt vor den nahen Ereignissen hing, vergaß der Großherzog niemals. Seiner gehaltenen Art war weder der Eifer eines politischen Feldzugsplanes, der ihn in eine ziemlich enge Zusammenarbeit mit Caminer geführt hatte, noch die vorspürende und nichts Gutes ahnende Unruhe der Gefühle anzumerken gewesen. Sein Chefminister und der Bargello, denen beiden er unter einem bestimmten Gesichtspunkt mißtraute, ohne je von ihnen eine Auskunft zu verlangen, hatten bei ihren täglichen Vorträgen und Besprechungen vorwiegend außenpolitische Themata und brauchten keine Umwege zu machen, um die Gefahrzone zu vermeiden. Del Monte bearbeitete die Großmächte für den möglichen Fall von Veränderungen in den Nachbarstaaten und hatte für die äußersten Fälle sowohl die österreichische Intervention als auch die französische Neutralitätserklärung in der Tasche. Caminers Gebiet war fremdartiger und überdeckter. Er verband sich mit dem neurotischen Herzog von Modena, der wie ein unbedenklicher Alchimist Revolution und Reaktion in einem Topfe braute und von dem damals nur Caminer wußte, daß er der skrupelloseste Provokateur seiner Zeit war. Aber auch der Großherzog, von ihm zu gehöriger Stunde in der delikaten Materie unterwiesen, fand sich nicht schlecht in diese Art der unterirdischen Politik und rechnete auf den verabredeten Augenblick, wo der Modenenser die Revolution persönlich in Brand zu setzen und in der vorbereiteten Reaktion auszulöschen bereit war.

Viel schwerer war es für ihn selber, sein privates Leben, das von dem Gesetz seiner Neigung bestimmt wurde, in der Beständigkeit zu erhalten, die ihm notwendig war. Er überlegte in vielen einsamen und schweigenden Stunden, wenn aus den Bücherflächen der Bibliothek der brüderlich besonnene Nachtgeist strömte, immer wieder das oft Durchdachte: wie das Leben ohne diese Frau sein würde. Er betrachtete nicht nur das abseitige und heimliche Leben außerhalb der allgemeinen Sicht, das seiner Liebe gehörte, sondern auch seine Existenz als Haupt des Staates. So wenig die Corleone je versucht hatte, einen Einfluß auf seine Politik oder auch nur auf höfische Handlungen zu gewinnen (vielleicht wäre es besser gewesen, dachte er, sie hätte ein stärkeres Interesse für diese Dinge gezeigt), so kannte er doch sehr gut die heimliche und heilsame Verbindung zwischen dem liebenden Mann und dem leidenschaftslosen Souverän. Sein Charakter haßte Veränderungen. Es gab Stunden in solchen Nächten, wo er nichts von seinem Leben wissen wollte, ließe es die Frau weg. Die ganz ungewöhnliche Frage, ob sein Leben schön gewesen sei, bejahte er durch den Gedanken an sie.

Die Corleone half ihm in nichts zu der Entscheidung für oder gegen sie. Da er niemals fragte, hatte sie nichts zu beantworten. Aber sie bemühte sich weder ihre Wandlung zu verstecken, noch sie zu entschuldigen. Seit jenem Gespräch vor vielen Wochen, das sich scheu an ihr Geheimnis herangeschlichen und sich bei ihrer ersten Bereitschaft zu beichten in die sanfte Gewohnheit zurückgezogen hatte – nach diesem zaghaften und rührenden Gespräch wurde über den Abgrund hinter ihren Beziehungen nicht mehr gesprochen. Sie bereitete ihm die ruhige Zärtlichkeit, nach der er verlangte, und bewegte ihn, war sie traurig oder abwesend, wahrhaftig mehr durch die sanften Male des Verblühens, die dann deutlich wurden, als durch die Gedanken hinter ihrer gequälten Stirn. Er rief sie dann nicht einmal mit leiser Frage bei ihrem Namen, sondern blieb still. Und hob sie plötzlich wach und etwas mißtrauisch den Kopf, so gab er sich den Anschein, als sei er in noch tieferem Sinnen als sie. Erst in der letzten Zeit – es war an dem Tage des aufreizenden Gespräches mit Madda – hatte sie eine Frage gewagt, die anders war als ihre gewohnten Dialoge:

»Rechnen Sie eigentlich in der nächsten Zeit mit Unruhen, caro mio

Er wußte einen Augenblick nicht, ob er sie ansehen sollte oder nicht; aber da es ihn bei einem so ungewohnten Thema auffällig dünkte, die Augen im Buch zu behalten, hob er vorsichtig den Kopf. Sie blieb über ihre Handarbeit gebückt.

»Es sind als Folge der Papstwahl Unruhen in ganz Mittelitalien wahrscheinlich,« antwortete er.

»Haben Sie Befürchtungen?«

»O nein.«

Das war alles gewesen.

Da sie in diesem Augenblick eine Schwierigkeit in ihrer Kanevasstickerei zu überwinden hatte, bückte sie den Kopf noch tiefer und vergaß wohl schon das ganze Gespräch. –

Am Vormittag des 3. Februar, bald nach der amtlichen Meldung von der erfolgten Papstwahl und inmitten eines regen Ordonnanzverkehrs zwischen dem Souverän und den in tiefer Arbeit steckenden Chefminister und Polizeipräsidenten, überbrachte ein Kammerherr die Bitte des Prinzen George P. um eine dringliche Audienz. Das war ein erstaunlicher Fall und gegen alles Herkommen, zumal der Prätendent, wie der Kämmerer mit kleinem Achselzucken hinzusetzte, in eigener Person das Anliegen gestellt hatte und in der Bildhauergalerie auf einen Empfang in dieser selben Stunde wartete. Der beschäftigte Fürst, der die Befehle an die Garnison für Bereitschaft und Aufmarsch überprüfte und von Caminer Depeschen erwartete, ob der Vetter von Modena seinen Leuten schon den planmäßigen Schuß auf den befreundeten Führer der Insurgenten hatte kommandieren können, fühlte in der ersten Regung Lust und Berechtigung, den unsympathischen Roué nach Hause zu schicken. Er dachte wohl an irgendwelchen närrischen diplomatischen Schritt, wie sie der Prätendent hin und wieder zugunsten seiner Kronansprüche bei dem geduldigen del Monte unternommen hatte. Aber das war nur eine Sekunde; dann kam, zusammen mit einem leichten Schlag des Herzens, der dunkle Gedanke an die Corleone und an ein Wort, das sie ihm jüngst sagte – eine ganz seltene Erwähnung ihres Mannes.

»Der Prinz,« hatte sie gesprochen, »scheint mir die merkwürdige Höflichkeit zu besitzen, die Diskretion hinter einer gefälligen Verblödung und ein vielleicht frappantes Wissen um die Dinge hinter der Diskretion zu verstecken.« –

In welchem Zusammenhang sie es gesagt hatte, wußte er im Augenblick nicht mehr. Aber die Unruhe, die ihn mit einem Male erfaßte, schüttelte alle trüben Ängste auf. – Man läuft dem, was kommen muß, nicht fort, dachte er, so flinke Beine man auch macht. – Er ließ den Prätendenten kommen.

Die ordentlichen Buchsbaumalleen des ansteigenden Boboligartens, Fontänen, Standbilder selbst und straffe Zypressen fröstelten vor dem Fenster unter der grauen Luft. Alle Anmut der Erde wurde vom kalten Himmel abgelehnt, wurde leer und enttäuscht. Der Großherzog trat vom Fenster fort, als eine devote Stimme hinter ihm die vielen Titel des Besuchers murmelte. Wie der Prätendent eintrat, vermißte der Fürst zunächst – aus einer absonderlichen Erwartung des Auges – die tragikomische Phantasie der roten Uniform, in der er den anderen zu sehen gewohnt war: massive Goldepauletten auf den dürftigen Schultern und einen mächtigen Säbel in der langen und schwachen Hand. Heute kam der Prätendent in einem schlichten dunkelfarbigen Frack, und obwohl die Knie nach jedem Schritt zum Schreibtisch matt und spitz aus der engen Hose knickten, war der Mann dieses Mal nicht lächerlich. Sein hageres Gesicht und der ganze nackte Kopf war grau wie die Farbe des unfreundlichen Tages und die traurigen Augen hatten durch die Frühnebel rote Lider; doch es wurde eine andere Würde gezeigt, als die ridiküle Maske des Standesbewußtseins, die sonst die äußere Wirkung des Absinths verstellte. Er reichte dem Großherzog mit etwas abwesendem Blick die Hand, und als er sich auf den angebotenen Sessel setzte, nachdenklich und leicht verlegen, merkte der Fürst, daß das, was zu sprechen war, nicht ohne Peinlichkeit für beide würde formuliert werden können. Er blieb nach der kurzen Begrüßung still und wartete. Prinz George, gedankenverloren, schien die stumme Pause nicht zu spüren. Jetzt sah er den Fürsten an, ein wenig prüfend, wie es jenem schien. Er sprach plötzlich los, als wäre eines Gespräches gutes Stück schon vorausgegangen:

»Da es sich um sehr Wichtiges und Dringliches handelt, Herr Vetter, kann ich ganz frei sprechen?«

»Gewiß,« sagte der Fürst und lehnte sich zurück. Prinz George senkte wieder den Blick.

»Vieles, was wir wissen, Hoheit,« sprach er mit einer sanften Energie, »brauchen wir nicht auszusprechen. Wir setzen es als bekannt voraus. Was ich für nicht bekannt halte, werde ich aussprechen, auch wenn es böse Dinge sind.«

Der Fürst hob den Kopf und strich sich nervös das Haar aus der Stirn:

»Haben Sie einen Auftrag?« fragte er. George preßte die Hände zusammen.

»Ich habe eine Pflicht, keinen Auftrag,« entgegnete er etwas heftig. »Sie kennen meine Stellung zur Fürstin Corleone so gut, wie ich ihre Stellung zu Ihnen kenne, Hoheit. Ich scheine also wenig kompetent; aber ich bin doch hier, weil ich mich für ihr Schicksal verantwortlich mache.«

»Wollen Sie bitte deutlicher werden, Prinz,« bat der Großherzog gequält.

»Gewiß,« erwiderte Prinz George hastig, »ganz deutlich. – Hoheit, wenn der Präsident des Buon Governo eine Verbindung der Fürstin mit revolutionären Elementen behauptet: was werden Sie dann tun?«

Der Fürst wurde blaß vor Erregung.

»Das ist eine sonderbare Frage, Prinz,« bemerkte er scharf. »Ich werde meinen Beamten auffordern, seine Behauptung zu beweisen.«

»Und wenn er sie beweist?« rief George unnötig laut.

Der Fürst schwieg einen Augenblick; jetzt sprach er mit erzwungener Ruhe, den Blick auf der Schreibtischplatte:

»Dann werde ich dieses Verbrechen gegen den Staat verurteilen wie jedes andere.«

»So,« sagte der Prätendent leise und stand auf. Auch der Großherzog erhob sich, etwas ratlos. George stützte die Arme auf die Stuhllehne und beugte sich ein wenig vor. Sonderbarerweise lächelte er in diesem Augenblick.

»Sie sind ja nicht einmal überrascht, Herr Vetter,« flüsterte er. »Sie wissen so gut wie ich, wo ein Vergehen aufhört und der Zwang ansetzt – oder sagen wir die Angst – – und wo die Dankbarkeit nicht aufhören darf – oder sagen wir die Liebe …« Die Lider flatterten etwas verlegen und die Säcke hüpften unter den traurigen Augen. »Ja,« nickte er, »ich mag jetzt immer noch die komische Figur machen, sogar eine ganz besondere Art von Clown – aber Sie, Hoheit, dürfen eigentlich in diesem Augenblick nicht das geringste davon merken.«

Der Fürst schüttelte benommen den Kopf. Er merke nichts, er merke nichts, versicherte er zweimal, fast sinnlos, und sah aus dem Fenster. Der Nebel kappte den Zypressen die Spitze ab und schleuderte die kleine Höhe des Belvedere schon ins Nichts. – Was will dieser Popanz? suchte er seine alte Abneigung, um sich an ihr festzuhalten. Wie wagt er, wagt er, ein lächerlicher Mensch … Ein Gärtner draußen kniete vor einem erdgrauen und trübseligen Beet; aber seine Hantierung sorgte sicher und vertrauensvoll für den Frühling. Der Augenblick ist unwichtig und soll keine Entscheidungen wagen. Und der Viveur hinter ihm, von dem man nicht das Geräusch eines Atemzuges hörte, war nicht lächerlich, nicht einmal dreist …

»Was wollen Sie eigentlich?« sagte der Fürst jetzt laut; aber er sprach zum Fenster hin. »Sie wissen ganz genau, daß die Fürstin außerstaatliche Vorrechte genießt wie Sie und daß mir auch im äußersten Fall kein anderes Zwangsmittel zur Verfügung steht, als die Zustellung der Pässe …«

»Mit Verlaub!« rief George grob, und der Fürst drehte sich um, wie erschrocken, »Sie reden an Ihrem eigenen Wert vorbei wie auf einer Konferenz von Diplomaten. Wenn es nichts anderes sein würde als der Freibrief in irgendeiner Form, wäre ich nicht hier! Es ist aber etwas anderes! Es sind neun Jahre! – Muß ich denn so deutlich werden! Hoheit!«

»Nein, nein, nein!« wehrte der andere ab und drehte ihm wieder den Rücken.

*

Der Takt des grauen Tages ging dann unbarmherzig weiter. Der Fürst kannte jetzt das innere und das äußere Thema und konnte wenigstens nicht mehr überrascht werden. Er bemerkte auch, wie kurze Zeit nur der Mensch sich auf einer ungewohnten Höhe des Gefühls halten konnte. Prinz George war plötzlich leer, unnütz, um kein Wort reicher, als es seine Berufung verlangte. Es war doch eine Berufung! überlegte der Fürst. Das Ende der Audienz war abrupt, ungeschickt, wenig entfernt von unschicklich. Der Fürst konnte zu keinem neuen Gespräch ermuntern, zu sehr mit sich selber beschäftigt. Es war schließlich fast ein Zufall, daß er die stumme und steife Verbeugung des Prätendenten bemerkte; sonst hätte er glauben können, daß sich der Prinz auf eine höchst sonderbare, um nicht zu sagen ungezogene Art entfernt habe.

Caminer kam zur angesagten Stunde; aber es war doch so, daß es wie eine etwas lässige Ablösung des Prinzen wirkte. Der Großherzog war ein Mann, der sich gut in der Hand hatte. Der Bargello, der kein schlechter Beobachter war und an diesem Vormittag mit besonderer Blickgier in das Arbeitskabinett trat, sah in den klaren und kalten Augen des Souveräns nicht das kleinste Zeichen heimlicher Erschütterung. Aber der Großherzog, vielleicht voreingenommen durch die Szene eben, witterte den Angriff und verschanzte sich von Anfang an hinter einer frostigen Sachlichkeit. Die Meldungen des Präsidenten waren übrigens nicht ungewöhnlich und durchaus der Situation angemessen. Die Depeschen von der Modenenser Aktion seien nicht vor Nacht zu erwarten; aber diese Aktion erfolge auf jeden Fall früh genug, um eine Gleichzeitigkeit der mittelitalienischen Emeuten von vornherein auszuschließen, sollte sie geplant gewesen sein. Da die Gefahr für das Großherzogtum sehr gering sei und die Garnison schlagfertig, schlage er wiederholt vor, die Bewegung abzuwarten und dann erst vorzugehen. Das werde ein paar Soldaten mehr kosten, gebe aber dafür die Schlagkraft, die Opposition ein für allemal zu erledigen.

»Eine Idee kann nicht niederkartätscht werden,« bemerkte der Fürst. »Ich glaube kaum, daß ich Ihre blutige Regie zulasse. Ich behalte mir eine Entscheidung bis heute abend vor.«

Caminer verbeugte sich. – Die beiden Männer sahen sich auf besondere Art an. Erst in diesem Augenblick bemerkte Caminer in den flächigen Zügen des Fürsten die Unruhe. Ob es Ahnung war oder der Reflex seines eigenen Gesichts, das unter dem Druck des Augenblicks peinlich aufglühen mochte, wußte der Bargello nicht. Er stellte etwas verwirrt das Kinn vor und pendelte auf den gegrätschten Beinen hin und her, kaum merklich und doch mit einer aufreizenden Häßlichkeit der ungeduldigen Bewegung. Und der Fürst wurde rot, wie er selber sein mochte – und plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte, daß in dem Kristallgefäß die Glaskugeln, welche den Federkiel aufrecht hielten, erschrocken in die Höhe sprangen und über die blanke Holzfläche prasselten.

»Überwinden Sie sich doch!« schrie er und brach sofort ab, wie beschämt über den Ausbruch, zupfend am Backenbart. Caminer hatte eine schief devote Bewegung gemacht, um den fallenden Glaskügelchen zu Hilfe zu kommen. Als der Souverän schrie, richtete er sich sofort auf und war sehr ruhig.

»Wir haben mit der Möglichkeit zu rechnen,« referierte er, »daß Gasto Guerra auf eine beiläufige Mitteilung hin, die ich gestern seiner Schwester zu machen Gelegenheit hatte, der Ghetto-Razzia rechtzeitig ausweicht und die Exterritorialität des Palazzo Corleone in der gleichen Weise beansprucht wie die Maddalena Guerra seit ungefähr zwei Monaten.«

Eine Glasperle, zufällig unter den Fingern des Großherzogs, schnellte wuchtig gegen das Fenster; doch andere auf der Platte sammelte er und tat sie in den Behälter zurück.

»Was hat Sie zu dieser beiläufigen Mitteilung veranlaßt?« fragte er dabei. Caminer wechselte das Standbein.

»Die Überlegung,« erwiderte er, »daß der Palazzo Corleone übersichtlicher ist als das Ghetto auch im günstigsten Fall.«

»Nicht übel,« meinte der Fürst; »aber wenn wir Guerra angreifen lassen?«

»Dann kommt die andere – die radikale Lösung in Betracht.«

»Sehr schön,« nickte der andere und sprach immer leiser; »seit wann ist Ihnen übrigens die Identität des Corleonischen Gastes bekannt, Caminer?«

Der Bargello prüfte den Fürsten, der ihn nicht ansah, mit einem raschen Blick, ehe er antwortete:

»Seit gestern habe ich die Gewißheit, bis dahin war es eine Annahme.«

Der Großherzog wog eine mächtige Petschaft in der Hand und sprach zum Fenster hin, hastig, nicht ehrlich wie sonst:

»Würden Sie mich gefragt haben, Cavaliere, so hätte ich Ihnen schon früher Gewißheit verschaffen können.«

Caminer fiel aus seiner Breitbeinigkeit und machte einen heftigen Schritt nach vorne. Der Fürst schnellte zu ihm herum, mißtrauisch, das Petschaft wie eine Waffe. Der andere, borstig und mit schwimmenden Augen, murmelte etwas.

»Was sagen Sie?« fragte der Fürst unfreundlich.

»Das ist bewundernswert,« wiederholte der Bargello.

»Was?«

Caminer stand steif und antwortete nicht. Der Fürst erhob sich, mit einem Ruck, und trat nahe an ihn heran.

»Ich mache Sie trotzdem zum Commendatore,« sagte er. Der andere hob die Schultern, Arme und Hände, nacheinander, wie mit ungelenken Scharnieren.

»Ich darf meine Demission anbieten, Kaiserliche Hoheit,« sprach er leise.

»Es liegt kein Grund vor,« lehnte der Fürst ab. »Sie meinen es wohl auch nicht sehr ernst.«

*

Daß der Chefminister del Monte gemeldet wurde, als Caminer noch im Arbeitskabinett stand, stimmte durchaus mit dem Vormittagsprogramm überein, und daß er auf die Minute pünktlich war, gehörte zu seiner Gewohnheit. Nur der Fürst fühlte in der Ordnung dieses Tages das Besondere. Aber er war jetzt mit dem Ungewöhnlichen schon vertraut und hatte bereits, seiner Art gemäß, einen Standpunkt gewonnen, auf dem er beharren und gesehen werden konnte.

Wie der Minister eintrat, stand Caminer schon wieder auf seinen festen Beinen, bescheiden sicher und eifrig. Ob er einen Augenblick lang wirklich außer sich war und mich bewundert hat? fragte sich der Souverän, der aufmerksam am Schreibtisch saß wie im Hintergrund. Del Monte witterte die Atmosphäre. Er war ungewöhnlich ernst und sah alt aus, fahl durch das graue Licht, das durch das Fenster fiel und dem nur der Bargello gewachsen war. Das Gespräch war nüchtern und klar wie in einem Kriegsrat. Del Monte referierte über den wichtigsten Faktor der Außenpolitik: über die bewaffnete Intervention Österreichs im Falle eines vollkommenen oder teilweisen Erfolges der Revolte, wahrscheinlich nur im Falle des morschesten und revolutionsreifsten Gebildes, des Kirchenstaates. Die Gegenaktion Frankreichs, das, abgesehen von seiner neutralen Haltung gegenüber Toskana, eine österreichische Intervention zugunsten anderer Staaten als Kriegsgrund anzusehen drohe, sei nach den Versicherungen des sehr energischen Wiener Kabinetts in dem Augenblick unberücksichtigt, in welchem eine Gefahr für Lombardo-Venetien entstünde – ein leicht zu konstruierender Augenblick, wie der Fürst lächelnd hinzufügte. Dann lenkte er das Gespräch auf die Behandlung der toskanischen Emeute. Del Monte sprach sich entschlossen gegen Caminers Projekt aus, durch ein künstliches Verzögern der Gegenaktion den Ausbruch zu provozieren: das sei, von der Moral abgesehen, riskant, weil ein möglicher Erfolg der Revolution im Nachbargebiet die radikale Stoßkraft bedenklich stärken könne und zum mindesten die Propagandawirkung vertiefe. Der Großherzog nickte. Caminer sagte, ohne eigentlich eine Einwendung zu machen:

»Erinnern Sie sich, Exzellenz: das Signal wurde der Revolution im gleichen Augenblick bekannt, wie uns beiden – nämlich gestern abend bei der Fürstin Corleone durch die Mitteilung Steiners. Da ich die Order des Zentralkomitees nicht kenne und nicht weiß, ob es eine gleichzeitige Offensive in allen Staaten beabsichtigt, ist die lokale Bewegung ebenso heute möglich wie in drei Tagen. Ich garantiere also nicht für die Kampflosigkeit, Hoheit, auch wenn wir schon heute beginnen.«

Der Großherzog hatte del Monte, dem die Brauen zuckten, nicht einmal angesehen. Jetzt bewegte er den ausgestreckten Zeigefinger hin und her, wie es seine Art war, wenn er sich gelinde ärgerte, und unterbrach etwas gaumigen Tones:

»Nun habe ich von Ihrer Rabulistik genug, mein Lieber. Vorhin, als Sie mich über Modena orientierten, sagten Sie mir so ziemlich das Gegenteil – und das klang auch wahrscheinlicher. Ich kenne übrigens schon Ihre Technik. So formulierten Sie eben natürlich nur anders, um den Marchese zu belasten. Das hätten Sie sich, nach unserem Gespräch, sparen können. Wenn ich wußte, was sich im Umkreis der Fürstin zutrug, dann wußte es mein Minister natürlich auch. Und wenn ich, wie Sie annehmen, gelogen habe, dann decke ich den Marchese natürlich auch. Also was soll das?«

Das Unglaubliche geschah, daß Caminer grinste. Es war nur ein Augenblick, daß Lippe und Bart von den Zähnen wichen – ein wilder und rebellischer Augenblick, ehrfurchtslos und sinnfällig, wie die Zeit, die einmal kommen wird oder schon da ist, dachten beide, der Fürst und del Monte. Und sie rissen die Augen auf und wußten, als sich die Zähne wieder zudeckten, kein Wort zu sprechen.

Caminer drückte ergeben das Kinn in die Binde. Ihm falle noch ein anderer kleiner Widerspruch dieser Art ein, berichtete er unverfroren über des Fürsten Einwurf hinweg; in der Nacht sei ein Bote verfolgt worden, den die Fürstin oder die Guerra in den Ghetto geschickt habe, und dabei die längst gesuchte Verbindungsgalerie zwischen der Via della Nave und den Cortacce entdeckt worden. Eine alte Frau, seiner Meinung die persönliche Adjutantin Guerras, sei ein wenig später übrigens im Keller erschossen worden, nachdem sie ihrerseits einen Mann niedergeknallt habe. Kurz, es sei jetzt so gut wie ausgeschlossen, daß Guerra sich aus dem Ghetto entfernen könne – und außerdem hätte man bereits die Grundlage für ein Standgericht.

Der Fürst und del Monte blieben auch jetzt stumm. Schließlich waren sie allein. Keiner hatte recht aufgemerkt, wie der Bargello seinen Abgang ins Werk setzte, ohne noch viel Worte zu machen. Denn es ging in den letzten Minuten beinahe lautlos zu. Der Großherzog saß mit verschränkten Armen in dem hochlehnigen Stuhl und blickte aus dem Fenster, die Lippen fest zusammengepreßt. Dann trat del Monte an den Schreibtisch. Der Fürst wandte den Kopf und sah ihn an.

»Marchese,« sprach er, »der Bargello hat mir vorhin seine Demission angeboten. Ich habe sie abgelehnt. Wenn Sie mir zu Ostern die Ihre anbieten, werde ich Sie annehmen. – Das ist gewiß undankbar von mir; denn Sie sind genau der Gegensatz eines Frondeurs, nämlich mein Freund. Aber ich bin heute kompensationsbedürftig – sozusagen.«

Del Monte hatte jetzt ein mildes und weises Lächeln, aus der langen Spannung erlöst, wie aus einer Krankheit.

»Das ist die beste Lösung, Altezza,« nickte er, »für Sie übrigens die einzige Möglichkeit, um unseren Bankerott eben, vor dem grinsenden Mann, wenigstens vor sich selber auszugleichen. Denn Ihre Humanität ist in der Tat viel weniger in Gefahr als die alte Idee, die Sie darstellen und der ich gedient habe. Ich muß es Ihnen noch durch etwas beweisen.«

Der Großherzog sah ihn mit warmen Augen an.

»Sie haben am Ende unserer langen Vertrautheit allerlei Geheimnisse vor mir, guter Freund, und alle um meines scheinbaren Wohlbefindens willen. Aber ich gestehe Ihnen – wir sind ja jetzt bei der Generalbeichte –, daß ich das meiste ahnte und für die Gewißheit nur zu feige war – viel weniger human als feige. Man schätzt in meinem Alter schon gewisse Bequemlichkeiten. Und jetzt reden Sie.«

»Ich habe Ihnen noch zu sagen, Hoheit,« versetzte del Monte, »daß es die Fürstin war, die durch Vermittlung des Baron Steiner den Gesandten der nordischen Großmacht in Venedig veranlaßte, Sie vor dem Landweg und dem Attentat zu warnen.«

Der Souverän saß ein paar Sekunden lang stumm und ohne sich zu rühren. Dann sagte er leise:

»Ein guter, ein schöner Trumpf ist das, den Sie jetzt ausspielen; ein guter Beweis ist das. Sie brauchen mir die Moral davon nicht einmal zu sagen, amico

 

4

Heliogramme meldeten nach Anbruch der Dunkelheit aus Modena die zwei Kanonenschüsse, mit denen der Herzog das Hauptquartier der bislang verbündeten Revolutionäre erschütterte und ihre bedingungslose Übergabe erreichte – aus Bologna aber wenige Stunden später das ungemein bedenkliche Echo dieser Kanonade: Demonstration bewaffneter Studenten vor dem Palast des päpstlichen Statthalters und Verhandlung des Prälatprolegaten mit Bologneser Patrioten über die Bildung einer provisorischen Nationalregierung.

Jetzt gab der Großherzog den Alarmbefehl an die Garnison heraus, der den Beginn der Aktion, Besetzung der strategisch wichtigen Straßenzüge, Plätze und Brücken und die Ghetto-Razzia auf zehn Uhr des gleichen Abends festsetzte und den Gebrauch der Schußwaffe nur für den äußersten Fall erlaubte. Eine handschriftliche Order an den Präsidenten des Buon Governo, der persönlich die Besetzung des Ghetto leitete, betonte die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für jeden Fall, auch für den des Guerra, die Verantwortlichkeit des Bargello für die Person des radikalen Führers, und behielt seine erste Vernehmung dem Souverän selber vor. Er gab auch Zeit und Ort für diese Konfrontation an – und dies verwunderte den Bargello so sehr, daß er sich über die Augen strich, die Order noch einmal las und dann zu seinem Gegenüber, dem dicken Vacca, der ein Spezialkommando an der Trinitàbrücke versehen sollte, recht ernst sprach:

»Da scheint der hohe Herr eine bemerkenswerte Schlußszene seiner Komödie zu arrangieren! Er ist sozusagen versessen auf sein Stückchen. Er hat übrigens mindestens so viel Mut wie ich; und ich weiß gewiß nicht, ob ich ihm in dem gleichen Maße imponiert habe, wie er mir. – Es gibt Fälle, wo nicht einmal unsere trüben Pläsiers zu ihrem billigen Recht kommen, nicht wahr? – Reverendo, dämpfen Sie Ihre Körperlichkeit, damit Sie weniger gesehen werden, als Sie sehen werden.« –

Auch den Chefminister del Monte überraschte ein persönliches Billett des Großherzogs, das ihn aufforderte, gegen zehn Uhr mit einem geschlossenen Wagen bei der Hauptwache der Nobelgarde in der Via Guicciardini auf ihn zu warten. Aber da der Alte keinen Menschen hatte, dem er die Absonderlichkeiten des Fürsten kommentieren konnte, da er zudem von Natur aus nicht mitteilungsbedürftig war, behielt er das Erstaunen für sich. Der Regierungspalast, der seine Stimmungen wiederzugeben pflegte, war in dieser abendlichen Stunde zu müde und auch schon zu entvölkert, um noch zu reagieren. Die wenigen Sekretäre, die Nachtdienst hatten oder auf Kurierdepeschen warteten, fanden den rauchenden und versonnenen Chef eher guter als schlechter Laune, wenn auch schon in seiner Abgespaltenheit ein wenig senil.

*

Die Ghettotore, deren verstärkte Wache seit dem Morgen die schärfste Kontrolle ausgeübt hatte, wurden um neun Uhr geschlossen und die Bewohner durch Ausrufer und Plakate aufgefordert, die Läden zu schließen und die Häuser nicht zu verlassen. Da es keine ungewöhnliche Art war, eine polizeiliche Razzia gegen irgendeinen Kapitalverbrecher, den man in dem Reservat vermutete, einzuleiten, und da zumeist mit dem neuen Tag die alte Ordnung zurückkehrte und kaum die Erinnerung an nächtlichen Hall von Marschtritt und Kommando, an Fackelhelle und schrägen Lichtkegel von Blendlaternen, ganz selten an Schuß und Schrei übrigblieb, gab es wenig Erregung. Die geduldigen Menschen krochen still in ihre bösen Häuser, die tausendfältigen Rufe des Lebens – immer doch des Lebens – erstarben früher als sonst, ein kümmerlicher Mond sickerte milchig durch fadenscheiniges Gewölk, in den Kerben zwischen Haus und Haus hing dick, schwer und einsam die Nacht. Als der Bronzeton der Domglocke die zehnte Stunde anschlug und unmittelbar neben dem Ghetto das Kirchlein auf dem Sankt-Andreas-Platz hastig und hoch einfiel und viel früher mit der Zeit fertig war, marschierten durch die Ausfalltüren der drei Tore zwei Kompagnien Grenadiere in das alte und in das neue Ghetto, besetzten die beiden Plätze, patrouillierten durch alle Gäßchen und Winkel. Ein starker Zug blockierte die Ausgänge der Cortacce.

Guerra rasierte sich. Er nahm sich den Bart ab, der ihm schlecht stand. Er zog sich um, eines seiner gut sitzenden bürgerlichen Kleider, die Checca vor einiger Zeit aus dem Borgunto geholt hatte: es war ein taubengrauer Rock, eine mattgelbe Seidenweste, Nankinghosen, straff in den Stegen. Er betrachtete sich im Spiegel, die Arme gekreuzt, nicht ohne Ironie lächelnd; denn er war kein unehrlicher Mensch. Er dachte an den Abend vor zehn Jahren, wo er von einer Loge des Teatro Reale zu Turin die Revolution einleitete – eine mißlungene natürlich – und wo er vorher im koketten Vorraum der Loge ebenfalls vor dem Spiegel stand und sogar einige schöne Bewegungen wiederholte, die er sich zu Hause als die gelungensten einer langen Reihe von gestischen Begeisterungen bezeichnet hatte. Das tat er jetzt nicht mehr, vielleicht weil er, vielleicht weil die Situation sich geändert hatte.

Da Salomones Wohnung an einer Gassenfront des wilden Hauses lag, hörte er den Anmarsch der Truppen. Er vergaß sein Spiegelbild und trat blaß und klopfenden Herzens ans Fenster, vorsichtig, von der Seite. Er sah nur den flatternden Lichtschein über Fackeln oder Laternen, er hätte sich hinauslehnen müssen, um auf den Boden des Gassenschachtes zu sehen. Das tat er nicht, um keine Kugel anzulocken. Doch er wunderte sich über die plötzliche Stille unten, während doch noch die Lichter flackerten. Gingen sie nicht ins Haus? Er stand neben dem Fenster, das Gesicht in einem aufgerafften Samtvorhang, der nach Staub roch.

Den Einbruch der Pioniere und Sbirren durch die unterirdische Verbindungsgalerie ins Kellergeschoß der Cortacce konnte er nicht hören. Aber es kam von unten her mit einemmal ein Getöse auf wie ein Theaterlärm aus der Versenkung, an- und abschwellend und plötzlich in einem Ruf da:

»Padrone!«

Hinter dem Ruf kamen Menschen – und da es bei ihren Tritten rasselte, waren es Soldaten. Eine ruhige, beinahe freundliche Stimme fragte:

»Wo ist der Padrone?«

Eine verschüchterte Judenstimme – wahrscheinlich von irgendeinem Bewohner des Kellergeschosses, auf den die Eindringenden zuerst stießen und der ihr Führer zum Hausherrn gewesen war – sagte leise: hier, und Salomones Stimme, von einem nahen Zimmer her, wiederholte laut:

»Hier der Padrone. Was wird gewünscht?«

»Beherbergen Sie den Signor Gasto Guerra?«

»Nein.« –

Das ist eine mutige und unsinnige Antwort, dachte Guerra; und jetzt ist es Zeit, vorzutreten, dachte er. Aber der Körper wollte noch nicht. Er kam von der Gardine nicht los.

»Sie erlauben eine Untersuchung der Räume,« sprach die höfliche Befehlshaberstimme, »und Sie bleiben freundlichst an meiner Seite …« – – –

Schon klopfte es, mit einem härteren Material als einem Fingerknöchel. – Das ist ein Pistolenkolben, dachte Guerra und sagte ziemlich leise: Herein. Die Tür ging auf, ein Mann in Stulpstiefeln, schwarzem Frack und hohem Hut, stämmig, rotbärtig und rothäutig, die Pistole in der Hand, trat ein. Über seine Schulter sah der verzehrte Kopf Salomones. Guerra fühlte den Ruck im Körper. Ruhig, breitbrüstig, den schönen Kopf im Nacken, schritt er in die Mitte des Zimmers.

»Herr Gasto Guerra, nicht wahr?« fragte Caminer. Guerra verbeugte sich stumm. – Ob ihn der Padrone unter seinem bürgerlichen Namen kenne.

»Selbstverständlich nicht,« sagte Guerra ritterlich. Der Bargello lächelte und wurde beinahe liebenswürdig.

»Ich bedaure, beauftragt zu sein,« formulierte er, den Verhaftungsbefehl diskret über der Waffe entfaltend, »Sie aus Gründen der Staatssicherheit Ihrer Freiheit zu berauben. – Darf ich Sie bitten, Ihre Hände hochzuheben.«

Guerra hob die Hände mit einer gewissen Anmut. Auf einen kurzen Befehl des Bargello, über die Schulter geworfen, untersuchte ihn ein Capo agente auf Waffen. Er fand nichts. Caminer fragte den Gefangenen, ob er ihm freiwillig zu folgen bereit sei. Das würde ihm die Peinlichkeit der Fesselung ersparen. Guerra war bereit. –

Der Capo agente, gefolgt von drei Mann, fand im Hinterraum des Schächterladens einen alten Mann im Bett, blöden Gesichts, leise und friedlich phantasierend. Als pflichtgetreuer Beamter meldete er die Entdeckung dem Bargello, der mit Guerra und Salomone die Straße zu gewinnen im Begriff war.

»Wer ist das?« fragte er den Rebellenführer.

»Ein Irrer,« sagte Guerra, »harmlos.«

Wieder lächelte der Präsident des Buon Governo, bat einen Augenblick um Geduld und folgte dem Capo agente in die Kammer. Er leuchtete dem im Bett in das heitere und abwesende Gesicht.

»Der Alte!« nickte Caminer, »Gioia, Freude! Das hat ausgedient. Das hat uns viel genützt. Laßt den armen Teufel liegen!«

*

Die Drei am runden Tisch – die Corleone, Prinz George und Steiner – waren schweigsam. Sie speisten nicht mehr, aber sie erhoben sich nicht, um das Zimmer zu wechseln. Sie waren etwas schwergliedrig. Außerdem verband sie die runde Platte auf eine augenscheinliche, gerechte und zutunliche Weise. Prinz George, wie von ungefähr in solches Vertrauen und diese Nähe aufgenommen, hatte nicht vermeiden können, die starke Erregung des Vormittags mit Absinth auszugleichen. Das war am Nachmittag gewesen. Jetzt war er grau und mürb, das Hirn nicht müde, sondern überwach hinter feinem und wohltätigem Dunst; die traurigen Augen hingen ausdauernd am Gesicht der Fürstin, aber es war manchmal wie eine dünne Haut über der Iris. Er bemühte sich, das Zittern der Hände nicht sehen zu lassen.

Madda war in ihrem Zimmer, schon den ganzen Tag, seit der Nachtstunde, in der sie das Schlafzimmer der Corleone verlassen hatte, geschlagen, weinend, zärtlich, ohne Vorwurf oder Drohung. Marias Gedanken beschäftigten sich mit ihr. Das Weinen hatte ihr weh getan und sie hatte den Schlag bereut, sofort, auch irgend etwas Entschuldigendes und Begütigendes gesprochen, auf das das Mädchen mit kleinem Lächeln und kindlichem Kopfnicken antwortete. Es hatte sie auch geküßt, weich und ohne Tücke der Zähne. – Sie sprach aus diesen Gedanken heraus:

»Sie hat mir nur einen Brief zur Beförderung bringen lassen.«

»Wer?« fragte Steiner. Prinz George bewegte den Hals in der engen Binde, wie gestört.

»Die Kleine,« antwortete die Fürstin. »Und da meine Post wahrscheinlich kontrolliert wird, sind Sie so freundlich, Steiner, und expedieren ihn.«

Sie nestelte ein dünnes Briefchen aus dem Ärmel und gab es dem Alten, der die Aufschrift las.

»Turin,« meinte er, »das wimmelt von radikalen Agenten. Ich vermute eine Nachricht an die Zentrale.«

»Ich auch,« stimmte die Corleone zu. »Es ist für sie heute wahrscheinlich der letzte Tag für eine Korrespondenz, wahrscheinlich die Meldung der jüngsten Vorgänge.«

Steiner wiegte bedenklich den Kopf.

»Es kann sich auch um Sie handeln, Maria, oder um mich.«

»Um mich handelt es sich nicht,« sagte die Corleone, »und sie hat nicht gelogen, als sie es mir versicherte. Ich kenne sie ganz gut. – Und Sie? Warum Sie?«

»Gut, gut,« sagte Steiner, flüchtig lächelnd, »ich werde den Brief besorgen.«

Wie er ihn in die Rocktasche steckte, verlangte sie ihn zurück. Man könne in der Tat nicht wissen, was dieses desperate Mädchen zu tun fähig sei; sie wolle das Billett der Schreiberin wiedergeben. Steiner weigerte sich freundlich. In den sachten Streit brach das Getrappel der Dragoner, welche die Trinitàbrücke besetzten. Man war sofort still. George erhob sich mühsam und pendelte ans Fenster. Er wolle doch sehen, murmelte er undeutlich. Die unförmigen Helme der Soldaten leuchteten kupferig. Einige Pferde waren unruhig, Fackeln regneten Funken. Die bloßen Säbel blitzten schmal in die Höhe. Füsiliere kamen die Tornabuoni herauf. Halblaute Kommandos: Gewehrkolben schlugen auf das Pflaster. Die Masse erstarrte langsam; auch die Pferde und Fackeln wurden ruhiger.

»Ich will doch sehen …,« murmelte wieder George am Fenster; dann drehte er sich um: »Mir scheint, man betritt doch nicht das Haus, Steiner, man beachtet doch meine souveränen Rechte.«

»Vortrefflich, Sire,« sagte der Alte; »aber da man immerhin nicht weiß, was die nächste Stunde bringt, halte ich es doch für gut, wenn Sie Madame sagen würden, wo Sie heute vormittag waren – so wie Sie es mir gesagt haben. Und Sie wissen ja, daß ich Ihren Schritt bewundere.«

»Ach so,« murmelte George bedrängt und strebte zu seinem Platz zurück. Die Corleone hob gespannt den Kopf. Der Prätendent blieb auf halbem Wege stehen, hielt sich an der hohen Rückenlehne eines Sessels und sah den Freund sanft und traurig an.

»Es ist mir nicht ganz verständlich, lieber Steiner,« klagte er, »wie Sie eine vertrauliche Mitteilung so ohne weiteres … nicht wahr?«

»Der Augenblick scheint mir für solcherlei Diskretionen ungeeignet, mein Lieber,« warf die Fürstin ein. George bewegte den Hals in der Binde.

»Warum wollen Sie,« fragte Steiner, »der Fürstin nicht die Peinlichkeit ersparen, dem Souverän etwas sagen zu müssen, was er bereits weiß – durch Sie?«

George ließ den Stuhl los und vergaß der Hände, die heftig zitterten. Die Corleone hob etwas das Gesicht und preßte den Kopf an die Rückenlehne. Aber sie sprach nichts.

»Nicht allein durch mich,« flüsterte der Prinz bekümmert; »da war schon etwas vor mir – eigenes Wissen genug, Madame. – Und es war böse für mich, Madame, schlimmer für mich als für ihn … wahrhaftig!« Auch das Kinn zitterte ihm jetzt und die Schultern hoben und senkten sich mit dem raschen Atem. »Nicht zu wissen, Maria, ob man den Händedruck oder das Anspeien wert ist, oder einfach ridikül – ridikül!«

»Genug, Sire,« beschwichtigte Steiner. Die Corleone rührte sich nicht. Prinz George wußte schon nicht mehr recht, warum er sich so erregte. Und da das Rollen eines Wagens zu hören war, zog es ihn wieder ans Fenster.

»Ein Wagen,« meldete er, »von der Via Maggio – seltsam, daß sie ihn passieren lassen.«

Auf der Brücke schwirrten Laternen und Fackeln um das Gefährt und erleuchteten sekundenlang den Wagenkasten. Dann trieb sie irgendeine Gewalt auseinander, der Wagen polterte weiter, von zwei Fackelreitern geführt, die die anderen Lichter verscheuchten, wenn sie in den Weg flogen. Der Wagen bog von der Brücke scharf nach rechts und hielt vor dem Palazzo.

»Er hält vor dem Haus,« meldete der Prätendent.

» Voilà,« sagte Steiner vieldeutig. Die Corleone schwieg. –

Der Abate Vacca, der mit einer Leibgarde von drei übel aussehenden und dem Dunkel anschmiegsamen Unteragenten an der Kaimauer gegenüber dem Portal auf wichtigem Posten stand – in so inniger Allianz mit dem imposanten Pförtner, daß er in einer Minute ohne Austausch von Worten, mit wenigen magischen Zeichen und scharfsinniger Arbeit der Gesichtszüge, über die akute Lage der Dinge jeweils unterrichtet werden konnte – Vacca erwartete das Ungewöhnliche, vermutete es im anrollenden Wagen, schickte seine Leute in tiefere Schatten und ließ sich auf die feuchte Steinplatte nieder, auf der er stand. So hockte er im Schatten der Kaibrüstung, kaum zu erkennen, getreu der Caminerschen Warnung, das Gesicht bis zu den Augen hinter dem Ärmel. Der Wagen hielt unmittelbar vor ihm. Wie die beiden Insassen ausstiegen und in die Helle des Portals traten, fluchte er nicht mehr auf die kalte Nässe, die ihm durch den Rock drang. Die Sache verlohnte das Risiko einer kleinen Erkältung. Zudem konnte er sich wieder erheben, als die beiden Herren eingetreten waren. –

Da die Corleone sich nicht rührte und Prinz George weder in genügend kaltblütigem noch repräsentablem Zustand war, trat Steiner in das Treppenhaus, vornehmlich um die Dienerschaft von unerquicklichen Szenen fernzuhalten. Im Zwischenstock traf er auf del Monte, der sich seinerseits die Begleitung des Pförtners und übliche Anmeldungen verbeten hatte. Wenige Stufen hinter ihm tauchte die schmalschulterige Gestalt des Großherzogs auf. Die beiden Alten wechselten ein paar leise Worte: Steiner stieg, ohne den Fürsten zu beachten, die Treppe wieder hinauf, von den Zweien gefolgt.

Die Corleone saß noch am Tisch, Prinz George stand noch am Fenster. Der alte Steiner blieb klein und zierlich in der mächtigen Tür stehen und verbeugte sich stumm. Der Großherzog trat zuerst ein, knabenhaft in dem schwarzen Zivilanzug, sichtlich verlegen.

»Bleiben Sie, bitte, Baron,« sagte er leise zu Steiner, der hinter del Monte die Tür schließen wollte. Die Corleone sah großäugig und still auf die Eintretenden. Der Fürst ging mit unregelmäßigen Schritten auf sie zu und küßte ihr die Hand. Er verbeugte sich etwas steif gegen den Prätendenten, der mit großer Anstrengung gegen die blamable Apathie des gelockerten Körpers kämpfte. Es war ein Augenblick, den er im Gefolge des Absinthes gut kannte: eine solche Müdigkeit, daß er am Pharaotisch einzuschlafen pflegte oder doch nicht imstande war, die Hände an die Karten heranzubringen. Er saß halb auf dem breiten marmornen Fensterbord und wagte sich nicht fort.

»Wünschen Sie Madame allein zu sprechen?« fragte er mit schweren Lippen.

»Bleiben Sie, bitte, Herr Vetter,« sagte der Großherzog monoton, »es ist nur einiges festzustellen.«

Die Corleone machte eine blasse Bewegung mit der Hand. Der Fürst setzte sich; zwischen ihm und ihr war ein leerer Stuhl. Del Monte und Steiner, sehr groß und sehr klein, standen in der Nähe der Tür und sahen sich zuweilen an. Der Großherzog strich sich das Haar aus der Stirn und blickte vor sich auf die Tischplatte. Er schien sich zu sammeln, ohne viel Rücksicht auf die Stille, die immer schwerer wurde. Jetzt sprach er sehr leise, ohne aufzusehen, nur die eine Hand weich und rhythmisch bewegend:

»Peinlich, daß ich hier bin, sehr peinlich, Madame – für Sie, für mich. Aber ich muß ins klare kommen – das ist das Wichtigste. Wir tragen ja beide diese – Belastungsprobe zu gleichen Teilen; das glauben Sie mir, Ma...«

Er wollte Maria sagen; und weil er zu ehrlich war, geschickt zu sein und das Wort in Madame umzuformen, verstummte er. Die Corleone sah ihn mit guten Augen an und sagte ja. – Er komme, fuhr der Fürst fort, ganz bewußt in einem Augenblick, wo die radikale Bewegung in seinem Staat aller Voraussicht nach bereits unterbunden sei.

»Ich weiß,« sprach er ruhig jetzt und sie anblickend, »daß es keine endgültige Entscheidung ist, und ahne vielleicht von dem, was einmal kommen wird, mehr als es gut ist. Doch jetzt handelt es sich um die Gegenwart und wie Sie sich damit abfinden.«

»Ich habe dies alles erwartet,« entgegnete die Corleone, »ich habe es insgeheim auch herbeigewünscht. Sie sehen, Hoheit, ich bin keine Heldin.«

Er sah wieder, daß sie eine müde Frau war und daß der Schatten, der zwischen ihr und ihrer Schönheit lag, schon breiter wurde.

»Mein Gott, ich glaube Ihnen,« sagte er traurig; »aber ich kann es damit nicht genug sein lassen, trotzdem ich mir wohl auf die meisten anderen Fragen selber die Antwort geben könnte. Es kommt heute jedenfalls noch eine andere Prüfung für Sie – und für mich. Ich hätte sie natürlich verhüten können … nein, das ist falsch gesagt: ich habe sie herbeigeführt, als etwas Notwendiges für Sie und für mich.«

Prinz George stieß sich vom Fenster ab, sagte plötzlich ohne Form, er wisse nicht, was er hier zu suchen habe, und verließ das Zimmer mit langen Schritten und losen Gelenken. Keiner drehte sich nach ihm um; aber man war eine Weile still. Dann fragte der Großherzog, ganz ohne Übergang, ob es richtig sei, daß sie, die Fürstin, jene venezianische Warnung vor einem Oktoberkomplott veranlaßt habe. Diese Frage schien die Corleone sonderbar zu ermuntern und sogar ihr Gesicht schwach zu färben.

»Das ist nicht richtig, Hoheit,« sagte sie lauter als bisher, »nicht ich habe die Warnung veranlaßt, sondern Gasto Guerra.«

Der Großherzog strich die Locke aus der Stirn, behielt aber die Hand an der Schläfe, als hätte er Kopfschmerzen.

»Maria,« sagte er benommen und vergaß die beiden alten Männer an der Türwand, »ich kann – ich kann die Antwort vielleicht begreifen. Aber ich werde in ganz kurzer Zeit, wohl in einer halben Stunde schon, die Möglichkeit haben, den Rebell Guerra zu fragen, ob das wahr sei – vor Ihren Augen und Ohren, cara mia. – Halten Sie es aufrecht?«

»Ja! ja! ja!« rief sie gequält, »bei unserem Herrn Jesus Christus, es ist wahr! Aber warum tun Sie mir dieses Verhör an« – sie zögerte ein wenig, sah ihn an und fuhr fort: »mir und sich?«

»Das ist es,« flüsterte er und sah vor sich hin, ganz entfernt von einer Antwort auf ihre Frage, »das ist es und hat seinen tiefen Sinn. Und das nützt keinem, auch ihm nicht.« Er hob den Kopf. »Und die Schwester?« fragte er.

»Sie ist noch hier,« antwortete sie etwas ängstlich. Er beobachtete sie und seine blassen Brauen bewegten sich unaufhörlich. Die Geschwister würden konfrontiert und dann gemeinsam abgeführt werden, sagte er, und nach kurzer Pause: er wünsche sie zu sehen. Die Corleone wurde sehr erregt.

»Warum das? warum das?« fragte sie dringlich und beugte sich über den leeren Stuhl ihm zu. »Warum diese krasse Methode? Ich habe meine Gründe …«

»Warum nicht?« meinte der Großherzog etwas kühl, »ich glaube, Sie mißverstehen mich.«

»Warum nicht? – um Vergebung,« warf der alte Steiner ein, von der Wand her; »und ich verstehe doch Ihre Gründe sehr gut, Fürstin.«

»Dann holen Sie sie, bitte, Steiner,« sagte die Corleone, die sich verfärbt hatte. –

Steiner ließ sich von einem Diener zu Maddas Zimmer führen. Sie saß an einem Tisch, an dem nur einige Speisen standen, und stand mißtrauisch auf, als sie den Besucher erkannte. Der Alte bat sie ohne Zögern, ihm zu folgen, da der Souverän, der im Hause sei, sie persönlich zu verhören wünsche. Madda, die ein wenig die Augen zusammenkniff, zeigte nicht viel Überraschung oder Angst und hieß ihn für eine Minute ins Nebenzimmer treten, damit sie sich zurechtmachen könne. Der Alte ging nicht und schüttelte den Kopf.

»Armes Kind,« sagte er leise, »lassen Sie die Spielereien mit Tod und Leben anderer Menschen. Kommen Sie so, wie Sie sind, und vergessen Sie das geistlose Pistol im Schubfach.«

Madda zögerte; sie verstünde ihn durchaus nicht. Er nahm sie bei der Hand.

»Schade,« sagte er, »oder um so besser. Aber der große Guerra, den Sie bald sehen werden, verstünde mich gewiß.«

Sie dachte ein wenig über seine Worte nach, verzog den Mund, als ob sie lachen wollte, und ging mit. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und sah ihm unsicher in die Augen. Sie schien etwas sagen zu wollen; aber sie sprach nur, wie gedankenlos, das Wort nach, das er eben gebrauchte:

»Schade.«

*

Der Abate Vacca und der imposante Pförtner gaben einander lautlose Zeichen – Absendung und Empfang des Situationsberichtes, daß Steiner das Eßzimmer verlassen habe und zur »jungen Dame« hinaufgegangen sei – als aus einem Verbindungsgäßchen der Apostelstraße Fackeln in den Lungarno bogen. Don Lionello hatte gute Augen und erkannte bald zwischen Bärenmützen und weißer Uniform der Grenadiere zwei Zivilisten. Guerra und Caminer gingen wie Kameraden nebeneinander, in der ersten Reihe der Truppe. Es war ein einprägsames und bedenkliches Bild – und das Antlitz der Nacht hätte sich nicht verändert, wäre es der Marsch des Aufruhrs gewesen. Der Abate Vacca vergaß es nicht und vergaß auch nicht den tollen Zweifel der gleichen Sekunde, welches Schicksal der sieghafte Bargello heranführe. Er traute dem purpurnen Mann mehr zu als dem blassen Elegant neben ihm, der der Guerra war. Und da ihm der närrisch fortarbeitende Gedanke diese Frage vorlegte, so antwortete er sich, daß ihn persönlich die Verhaftung des Souveräns kälter ließe als die der Madda Guerra, deren heimliches Entweichen zu verhindern er die widrige Pflicht hatte.

Caminer nahm ihn beiseite und ließ sich berichten. Er war von gemessener Freundlichkeit wie immer. Er sagte:

»Hören Sie, Reverendo, der Leutnant, der den Grenadierzug befehligt, weiß nichts von dem hohen Besuch da drinnen. Er hat den Befehl, die Geschwister Guerra ins Bargello zu bringen. Sie haben den Auftrag, ihm gegenüber die Schwester zu identifizieren. Und Sie brauchen auch nicht zu wissen, wer die beiden Herren in Zivil sind, die wahrscheinlich ihr Inkognito wahren werden. – Verstehen Sie mich? Der Befehl gilt und wird auf jeden Fall durchgeführt, selbst wenn ich persönlich gewissen Sentimentalitäten Rechnung zu tragen haben sollte. Der Leutnant hat Order zu schießen, wenn einer der beiden Guerras sich der Verhaftung widersetzen oder durch Flucht zu entziehen versuchen sollte. – Jetzt soll der Herr seine Schlußszene haben.«

Don Lionello sah ihm nach, wie er mit Guerra im Portal verschwand, und es fror ihn plötzlich, vielleicht nur infolge des langen Stehens. – Rebell! Rebell! sagte er vor sich hin, im scharfen Rhythmus des Wortes. Der Leutnant, ein zarter junger Mensch, trat an ihn heran und fragte, ob alle Ausgänge des Palastes besetzt seien. Vacca bejahte es.

*

Da del Monte bald nach Steiner das Zimmer verließ, um die Ankunft Caminers und seines Gefangenen im Treppenhaus zu erwarten, waren der Großherzog und die Corleone allein. Sie stand auf und trat hinter ihn. Sie sprach leise und schnell:

»Das Mädchen ist unberechenbar und faselte jüngst von einem neuen Attentat gegen Sie. Deshalb, nicht weil sie hübscher ist als ich, habe ich mich gesträubt. Aber auf Steiner ist Verlaß.«

»So,« sagte der Fürst müde; er stöhnte leise. »Daß wir schon hier und dort stehen – getrennt …,« klagte er. Sie griff ihn an die Schulter.

»Was wollen Sie denn!« rief sie unterdrückt, »was wollen Sie mit dieser tückischen Regie! Das steht Ihnen schlecht an! Ich bin doch überführt. Das Fortschicken kann doch schlichter sein!«

Er griff nach ihren Händen und hielt sie fest.

»Das will ich ja nicht, Maria,« sagte er bekümmert, »es geht auch nicht um unsere Irrtümer, sondern um unsere – um meine lange Liebe, um …«

Es klopfte. Madda erschien, Steiner blieb draußen. Die Corleone stand hinter dem Stuhl des Fürsten, aufgerichtet.

»Fräulein Guerra,« fragte der Großherzog, »warum wollen Sie mich totschießen?«

Madda hob anmutig das Gesicht und schüttelte den Kopf; aber sie antwortete nicht. Um diese kleine Sekunde später öffnete sich wieder die Tür. Madda hatte die Männer schon auf dem unteren Treppenpodest gesehen und geschwiegen, um dem Bruder durch kein Wort Schwierigkeiten zu machen. Guerra sah schön aus. Die freie und erhobene Stirn war zugleich sanft und entschlossen. Er verbeugte sich tief vor der Fürstin, die erregt an ihren Platz ging, und gemessen vor dem Souverän. Madda leuchtete in einem merkwürdigen Glück. Guerra betrachtete sie im ersten Augenblick besorgt; dann wurde er sofort ruhig. Der Großherzog beobachtete das Mädchen und die Corleone sehr aufmerksam.

»War Herr Guerra bewaffnet?« fragte er schließlich den Bargello, der in der Tür stand und auf einen Befehl für sich wartete. Caminer verneinte. Der Fürst bat ihn, für einige Minuten zusammen mit den beiden anderen Herren im Nebenzimmer zu warten. Als jener gegangen war, wandte er sich an den Gefangenen:

»Können Sie mir sagen, Herr Guerra, was Sie im Oktober veranlaßt hat, der Fürstin Corleone die Gefahr mitzuteilen, die meiner Person drohte?«

»Gewiß, Hoheit,« entgegnete Guerra gleichmütig, »das Sinnlose des Terroraktes.«

»Sie würden ihn also unter sinnvolleren Umständen nicht verhütet haben?«

»Nein, Hoheit, wenn kein humaner Ausweg übrigbleibt.«

Der Fürst nickte.

»Und welches ist der humane Ausweg für die Verhütung des neuerlichen Komplottes, von dem ich erfuhr?«

Guerras Gesicht zuckte ein wenig; dann sagte er:

»Daß ich unter diesen Umständen vor Ihnen stehe.«

»Das ist interessant,« sprach der Großherzog. »Nehmen wir an, daß ich mich aus Gründen der Dankbarkeit bewogen fühlte, Ihnen die Freiheit zurückzugeben.«

»Dann könnte ich im Augenblick nichts damit anfangen,« sprach Guerra. Maddas und Marias Augen brannten ihm im Gesicht. Er sah den Mann an.

»Sie sind ehrlich, Herr Guerra,« sagte der Großherzog sehr ernst, »Sie laufen auch keine Gefahr dieser Art. Aber Sie glauben noch immer an Ihr politisches Ziel?«

»Ich glaube an die nationale Idee, Hoheit; aber sie ist noch unreif.«

Der Großherzog machte eine merkwürdig resignierte Bewegung mit der Hand.

»Doch wir beide werden noch ihre Reife erleben, glauben Sie?« fragte er.

»Ich glaube es.«

Der Großherzog schwieg eine Weile und sah auf die Corleone, die selbstvergessen und mit weiten Augen den Schönen anblickte, und er sah auf die Schwester, die mit den Blicken an jenem hing wie in einer Umarmung. – Der Großherzog schloß die Augen, unter dem feinen Stich der Schläfen. Jetzt fragte er:

»Was können Sie zur Entlastung der Fürstin vorbringen?«

»Die Fürstin,« antwortete Guerra ohne Zögern, »war keinen Augenblick revolutionär im aktiven Sinne. Sie stand auch außerhalb jeder Parteiarbeit. Sie befand sich in einer Zwangslage, dem sehr harten Parteigesetz gegenüber.«

»Wie lange kennen Sie die Fürstin?«

»Seit zehn Jahren.«

»Seit zehn Jahren,« wiederholte der Großherzog leise und stand auf. Er sprach verhalten: »Haben Sie der Fürstin noch eine – eine private Mitteilung zu machen, Herr Guerra?«

»O nein,« sagte Guerra erschüttert. Der Großherzog schritt zur Tür.

»Man weiß das nie,« flüsterte er und ging hinaus.

*

Nach zehn Minuten erschien der Bargello und bat die Geschwister in seiner höflichen Art, ihm zu folgen. Guerra war blaß und ruhig, Madda lächelte befreit. Die Corleone saß an dem großen, runden, leeren Tisch und weinte.


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