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Die Almosenhand

1

Das bebende Jahr ging zu Ende, und keine Woche mehr war ohne eine kleine oder große Beunruhigung, ohne falschen oder echten Lärm von jenseits der Grenzen. Das Land fragte die Frage jeder verwirrten und gespannten Allgemeinheit: was wird bei uns geschehen und wann wird es bei uns geschehen? Aber diese fatale Erwartung war bei der Mehrzahl der Bevölkerung abgedämpft durch den lethargischen Wunsch, daß allen Zeichen und Echos zum Trotz nichts geschehen möge. Man sah, halb ängstlich und halb froh, die Haltung der Behörde um so entschlossener und rücksichtsloser, je näher der Lärm der aufgeregten Umwelt rückte. Und als in der Tat im Lande nichts geschah, immer noch nichts geschah, aller Berechnung nach nichts werde geschehen können, stärkte die Regierung durch dieses scheinbar vollkommene und nicht einmal mühevolle Abdämmen der revolutionären Flut ungemein ihre Position.

Es ist ungewiß, ob die Pariser Parteizentrale nach dem Fehlschlag des Modenenser Attentates und damit der mittelitalienischen Gesamterhebung die unbedeutenden Teilrevolten veranlaßte, die noch vor Jahresschluß losbrachen. Auch Guerra, zunächst noch unbehelligt im Borgunto, offenbarte den Sektionen nicht, wie weit er von diesen taktisch falschen Emeuten unterrichtet war oder sie gar beeinflußte. Ob seine mißlungene Aktion, die von ihm vielleicht nicht ohne Eigenmächtigkeit abgeblasen worden war, eine Auseinandersetzung mit dem Zentralkomitee zur Folge gehabt oder gar eine Spannung verursacht hatte, bekannte er weder der Schwester, die jetzt bei der Corleone wohnte, noch der alten Checca. Ob er in diesen Wochen überhaupt andere Parteiarbeit verrichtete, als sie die Schwester in ihrem Bereich ausführte, oder ob er sonst nur seinem Idyll mit der langhaarigen Maria Pia lebte, wußte nicht einmal Checca, die sehr selten den Gang nach Fiesole wagen durfte, sondern wohl nur Renzo Maddii, der Buchdrucker, der als Lakai bei der Fürstin diente und die Verbindung zwischen den beiden Frauen und dem Führer besorgte. Und Maddii war ein schweigsamer Mann. –

Der Papst starb am 30. November. Sein Tod war das Signal für einige phantastische und erfolglose Angriffe auf den Bestand des Kirchenstaates, unternommen von den paar Napoleoniden, die sich auf den elfjährigen Sohn des Jerôme westfälischen Angedenkens als König von Rom und gar von Italien geeinigt hatten. Doch die Verschwörer, zumeist Korsen, waren der päpstlichen Polizei bekannt und wurden verhaftet, noch ehe sie die Engelsburg erobert hatten. Die Napoleon-Nepoten, ihre Führer, wußten scheinbar wiederum von der vorbeugenden Aktion der Polizei und waren nicht unter den Arretierten. Sie betätigten sich propagandistisch in den adriatischen Provinzen des Kirchenstaates, mußten aber bald erfahren, daß sie bei der italienischen Unabhängigkeitspartei auf keine Gegenliebe rechnen durften. In der gleichen Woche, in der Guerra die Zentrale auf das nachdrücklichste warnte, die Nepoten in die Partei aufzunehmen, auch nicht die Söhne Eugen Beauharnais', empfahl der Polizeipräsident Caminer dem Großherzog, die beiden Führer der bonapartistischen Sache, die Söhne des einstigen Königs von Holland, die sich toskanischem Gebiet näherten, in Schutzhaft zu nehmen. – Das sei die geringste Gefahr, wehrte der Fürst ab, weil sich die politische Mode für die Julitage der Orleans entschieden habe. Dieses Paris sei wichtiger, weil es immer noch die sogenannten Patrioten in Italien ermutige. Und der peinliche Herr von Modena sei wichtiger, weil er sich nicht scheuen wird, von der siegreichen Revolution eine Königskrone anzunehmen oder die geschlagene Revolution auf das Rad zu flechten und an den Galgen zu hängen.

»Es gibt noch Galgen in Modena,« lächelte er und nickte dem Präsidenten zu, »welche Chance für Ihre Bedürfnisse als Profos, wenn Sie uns einmal verlassen sollten! Ich empfehle Sie dann gerne meinem Vetter von Modena, Cavaliere; aber, wie Sie eben hörten und selber wissen, das ist ein etwas komplizierter Moralist.«

Caminer verbeugte sich zeremoniös. Er war an derlei Späße gewöhnt und fand sie nicht schlecht. Im übrigen gab er sich während der Vorträge dem Souverän gegenüber etwas gehaltener und stiller, als es seine Art war. Er schien aus den Gesprächen mit dem Chefminister allerlei gelernt zu haben, wenn es nicht eine bestimmte Taktik war.

»Ja,« fuhr der Fürst fort und war wieder ernst, »Louis Philippe ist wichtiger als Louis Bonaparte, der Duca von Modena ist wichtiger als Louis Philippe und der Herr Guerra ist wichtiger als der Herr Duca – verstehen Sie mich: von uns aus gesehen.«

Caminer verstand sehr gut, und er hätte jetzt wohl und vielleicht auch schon bei früheren Erwähnungen dieses berüchtigten Namens einige Feststellungen und Mutmaßungen zur Sprache bringen können, die er del Monte gegenüber nicht unerwähnt gelassen hatte und die in den letzten Wochen durch verschiedene Erkenntnisse bereichert waren, zumal durch die immerhin merkwürdigen Meldungen des rührigen Abate, dem es tatsächlich gelungen zu sein schien, im Palazzo Corleone festen Fuß zu fassen. Doch vielleicht hatte der Bargello durch die Kontroversen mit dem Minister den Wert des Schweigens höher zu schätzen gelernt, vielleicht war es wirklich neu erworbener Takt – er strich sich den Bart und sagte ruhig:

»Meinem Gefühl nach, Kaiserliche Hoheit, ist Guerra im Land und persönlich der Leiter der ganzen toskanischen Bewegung.«

»Nun ja,« meinte der Großherzog ein wenig ungeduldig, »das sagen Sie mir jedesmal und das glaube ich selber. Aber damit kommen wir nicht weiter. Sie scheinen auch mit seinen inhaftierten Parteigängern nicht weiter zu kommen, Caminer.«

Der Polizeichef hob langsam die Schulter.

»Wenn ich meine Erfahrung sprechen lassen darf, Kaiserliche Hoheit: man kann eine politische Bewegung nur ersticken, wenn man sie sieht oder spürt.« Er machte eine Pause und schluckte, als sei er über die eigene Konsequenz verlegen. »Ich bin also für geschickte Provokation,« fuhr er fort und sah zu Boden.

Der Fürst schaute ihn mit vollem Blick an, die blassen Brauen bewegten sich auf und ab.

»Was verstehen Sie darunter?« fragte er. Caminer befeuchtete die Lippen.

»Ich wünschte mir,« sagte er mit halbem Lächeln, »die Gelegenheit der päpstlichen Polizei, als sie die bonapartistische Verschwörung aufhob, und würde an der Stelle meines römischen Kollegen noch um vierundzwanzig Stunden gewartet haben. Ich hätte mir einen kleinen Kampf um die Engelsburg und das anschließende Standgericht nicht entgehen lassen. Ich hätte …«

Der Fürst, der sehr aufmerksam war, unterbrach:

»Haben Sie außer Ihren römischen Wünschen und Hypothesen präzise Vorschläge für Toskana?«

Caminer verneinte vorsichtig: es gelte zunächst, die ungefähre Richtung der einzuschlagenden Politik festzulegen; es komme viel auf die Vorarbeit an. Es sei zum Beispiel empfehlenswert, politische Gefangene, die für die Behörde im Augenblick als Häftlinge nutzloser sind als unter guter Kontrolle in angeblicher Freiheit, aus dem Bargello zu entlassen.

»Meinen Sie Scaleterra selber?« fragte der Großherzog; »das hielte ich nicht für ganz unbedenklich.«

Er meine natürlich keinen Parteiführer, erklärte Caminer, sondern einen angeblichen Bettler, wahrscheinlich ein tiefeingeweihtes Parteifaktotum, das von einer ungemeinen Geschicklichkeit sei, sich verblödet zu stellen, und dabei jedenfalls von der Parteileitung ins Bargello manövriert sei, um den Journalisten zu instruieren – er meine einen Krüppel namens Gioia.

»Gut,« sagte der Fürst, »und dann?«

Der Präsident hob die Hände, wohl um zu bedeuten, daß die Antwort auf solche vorspürende Frage noch nicht gewagt werden könne. Aber in seiner gewundenen Art erwiderte er doch so etwas wie eine halbe Antwort:

»Es hängt natürlich viel davon ab, wohin er läuft.« – Er machte eine kleine Pause und wandte dann, verwirrend und blendend, wie ein mutwillig sich drehender Scheinwerfer, die Rede auf ein ganz anderes Gebiet: »Und dann, Kaiserliche Hoheit, hängt vieles … oder sagen wir: dann wünschte ich mir ein bißchen echten Lärm im nahen Norden, im Bolognesischen, in Modena, in Parma – zur Aufmunterung für unsere Umstürzler, vielleicht gar zum Beispiel.«

Der Großherzog unterdrückte eine scharfe Bemerkung, strich sich nur über die gefaltete Stirn, wie um sich selber zu begütigen, und machte mit der anderen Hand eine kurze Bewegung, die zum Weitersprechen aufforderte. Caminer hob das Kinn mit dem roten Knebel. – Und was die erlauchte Person des Herzogs von Modena betreffe, modulierte er in weichstem Venezianisch …

»Aha!« rief der Fürst dazwischen, »es sind wahrlich nicht nur Gegensätze, die sich anziehen! – Nur weiter! Ich ahne ein Privatissimum, Cavaliere!«

Caminer lächelte devot, als stecke er ein Lob ein.

»Eure Kaiserliche Hoheit sind sehr gütig,« sprach er mit gedämpfter Stimme. »Was also den Herzog von Modena betrifft, so scheint mir persönlich seine, sagen wir, zweideutige politische Haltung einen tiefen antirevolutionären Sinn zu haben. Der hohe Herr betätigt vielleicht schon in der Praxis, was ich Eurer Kaiserlichen Hoheit vorzuschlagen mir erlaube. Er provoziert, um dann zuschlagen zu können. Ob er dabei die notwendige diplomatische oder standesgemäße Deckung zu wahren vergißt, ist eine andere Frage und geht uns nichts an. Aber ein anderer Vorschlag, den ich Eurer Kaiserlichen Hoheit zu bedenken bitte, ist dieser: man könnte durch eine Mittelsperson, die ich zur Hand habe und für deren Diskretion ich einstehe, der modenensischen Unabhängigkeitsbewegung Hilfsgelder zukommen lassen, meinetwegen auch ein paar wertlose Waffen …«

»Halt!« unterbrach der Fürst, »das geht mir zu rasch. Ihre Lehrmethode ist zu stürmisch, Caminer. Ich bin zwar intelligent; aber ich besitze schließlich nicht Ihre Vorbildung in dieser Materie. Dazu gehört vielleicht auch eine gewisse moralische Disposition. – Sind Sie eigentlich ehrgeizig, Cavaliere?«

Diese unvermutete Frage machte den Bargello verlegen, und dieses Mal in Wahrheit.

 

2

Trotz seiner tiefen Achtung vor der Fürstin schätzte der Prinz George Y. die Monate, in denen sie auf der Isola residierte, um vieles höher als den Winter, der ihm durch ihre Anwesenheit sofort die Hausherrlichkeit nahm und ihn zu noch etwas Unwichtigerem als irgendeinem der zahlreichen Gäste degradierte. Wenn auch der Prinz in dieser Beziehung keine Ambitionen mehr hatte, so war doch in seinem Alter ein gewisser Hang zur bequemen Handhabung seiner Neigungen, vielleicht auch zu einer Art gemäßigter Rücksichtslosigkeit, wie sie alternde Leute gerne zeigen, nichts Ungewöhnliches. Das heißt, es gehörte zu den erfreulichsten Beigaben seines sommerlichen Alleinseins, das pompöse Palais an der Trinitàbrücke zu benutzen, als wäre es in der Tat sein eigenes, den Klubgenossen große und gerade in Mode stehenden Kokotten kleine Soupers zu geben, mit dem Silbergeschirr oder gar mit den stadtbekannten vierundzwanzig goldenen Bestecks der Fürstin seine königlichen Gewohnheiten zu erweisen, sich also den Kredit für den Winter zu erneuern und dann durch den gefälligen Hausmeister das Ganze auf die Monatsrechnung des fürstlichen Haushaltes setzen zu lassen. Dies alles, die vielen ungestörten Spielabende, die unbeschränkte Benutzung des Marstalles – kurz, das große Leben, das er sonst nur virtuos und voll heimlicher Wehmut kopierte, hörte in dem Augenblick auf, in dem die Herrin in das Stadthaus zurückkehrte. Das war in diesem sonderbaren Jahr zwar später geschehen als sonst, aber dann mit einem Male und so überraschend, daß es nur dem Eingreifen des alten Baron Steiner zu verdanken war, wenn nicht Erinnerungen an ungebührliche Einquartierungen von dem scharfen Auge der Fürstin vermerkt werden konnten.

Auch sonst schien nicht alles geheuer. Maria schwankte stärker zwischen augenscheinlicher Unruhe, Gereiztheit und Lethargie, als es die Gründe, die er kannte, verursachen konnten – zum mindesten nicht seine eigene Person, welche um sich zu haben sie wohl niemals erfreute, aber schließlich doch gleichgültig ließ. Dann kamen die politischen Ereignisse und Gerüchte – Dinge, die ihn nicht interessierten, aber ihm doch ungemütlich waren. Doch diese politische Indifferenz änderte sich sofort und schlug in wilde dynastische Phantasien um, als ihm von bonapartistischer Seite die Nachricht auf den Schreibtisch flog, daß bei einer in ihrem Sinne günstigen Wendung der französischen und italienischen Lage die Thronansprüche des Prinzen zu unterstützen und zu reaktivieren unter bestimmten wirtschaftlichen und kolonialen Kompensationen, zu denen er sich verstehen müßte, auf ihrem außenpolitischen Programm stehen würde. Während die Fürstin mit einer noch niemals aufgetauchten neapolitanischen Kusine ihre Zeit verbrachte, scheinbar weniger häufig als früher mit dem Souverän zusammentraf und mit dem Prinzen nicht einmal mehr das Souper gemeinsam einnahm, saß George mit dem Baronissimo, so oft er seiner habhaft werden konnte, in seinen Zimmern oder im Adelskasino und bot ihm angelegentlich das Außenministerium an. Steiner sagte zu, verlangte aber Vorsicht und Schweigsamkeit und fügte ernst und ruhig seinen Ratschlägen irgendeine der vielen schlechten Nachrichten über den Stand der bonapartistischen Sache bei. Als er ihm die Zeitung brachte, die die Meldung enthielt, daß der älteste Sohn Ludwig Bonapartes, in Forli von den Insurgenten festgesetzt, an den Masern gestorben sei, weinte der Prinz, schon aufgeweicht vom Absinth und der späten Stunde, haltlos.

Der neapolitanische Gast, der unversehens in den ersten Novemberwochen erschien und, wie einst die Fürstin als Mädchen, eine Contessina Labia war, Maddalena Labia, beschäftigte den Prinzen in zweiter Linie. Das Mädchen war zu hübsch, um ihn teilnahmlos zu lassen; doch das war nichts Besonderes und schließlich nichts Beunruhigendes, weil er den Umkreis seiner Frau zu respektieren gelernt hatte und überdies in der letzten Zeit aus zwingenden Gründen den Frauen gegenüber uninteressierter geworden war. Aber eine bestimmte Unbehaglichkeit bei ihrem Anblick konnte er nicht leugnen, vielleicht weil ihm das Gesicht irgendwie bekannt vorkam und weil er immer ein schlechtes Gewissen zu haben glaubte, vielleicht auch, weil der Zusammenhang zwischen den beiden Frauen anders zu sein schien, verknüpfter, inniger, heimlicher, mit vertrauteren Blicken und Stimmen, als es für gewöhnlich zwischen zwei Basen, die sich jahrelang nicht gesehen haben wollen, geübt wurde.

»Ich weiß nicht,« bekannte er dem Baronissimo, »ob ich so dumm bin, wie mich die Fürstin gerne haben möchte; aber, so hübsch die Kleine ist, an diese Verwandtschaft glaube ich nicht.«

»Warum nicht?« erkundigte sich Steiner und sah auf seine Händchen. Der Prinz strich sich über den nackten Kopf, der wie ein Kegel aus mattem Elfenbein aussah.

»Unsereiner,« erklärte George hochmütig, »hat immer noch den Instinkt für Legitimität. Auch Sie mögen es vielleicht begreifen, Steiner.«

Der Alte lächelte fein.

»Vielleicht, Sire,« sagte er; »aber dann geben Sie sich doch mit dem Instinkt zufrieden. Die Dame mag der scharmante Fehltritt eines Grafen oder einer Gräfin Labia sein, obgleich ich jeder Königin solches Gesicht wünschen und glauben will.«

»Gut!« rief der Prinz und hob den dürren Zeigefinger; »aber ich sage Ihnen, ich sah dieses Gesicht schon einmal, irgendwo, weder in der Kulisse noch in den Logen, doch ohne verwandtschaftlichen Grad. – Die Fürstin, scheint mir, hat viele Bekannte, die ich nicht kenne und auch nicht kennen will. Es gibt bei ihr eine sehr dunkle Lebensseite, sehr Peinliches – oder nicht?«

Steiner lächelte wieder; aber seine Augen waren ernst und prüften.

»Diese Beobachtungen, Sire, sind doch wohl vom Legitimitätsinstinkt ziemlich unabhängig. Ich darf sie auch in jedem Falle unköniglicher finden. Die Fürstin verdient kein Mißtrauensvotum; und wenn sie es verdiente, dürfen Sie es nicht geben. Sie haben viele Verpflichtungen gegen sich selbst, Sire.«

In des Prinzen Gesicht, aus dem Fleisch und Blut von der leeren Zeit gewaschen und gerieben war, blieben die Augen das traurigste, etwas vorstehende, nicht mehr klare, immer nasse Augen mit überraschend langen, frauenhaften Wimpern. Sie konnten, ohne daß man den Unterschied im Ausdruck recht spürte, hoffärtig sein, als sähen sie die große Leere lieber als irgendeinen Menschen, der gegenüber stand; und sie konnten von der feuchten und klammernden Demut des Hundes sein, ganz dunkel vor Angst, allein gelassen zu werden. Diese Augen kannte nur der alte Steiner.

Der alte Steiner kannte auch die furchtsamen Augen der Corleone. Er sah sie gerade in dieser Zeit und begriff sehr gut, warum die Fürstin, zum erstenmal in ihrer Freundschaft, seine Gesellschaft mied. Es war für den Greis, der seltsam zwischen den Schicksalen stand, aber doch nicht über den Schicksalen, schließlich wie eine Art von Verfemung und wie heillose Ironie, daß man Angst vor ihm hatte. Denn auch der fragwürdige neapolitanische Gast mit den gut gefärbten Haaren hatte an seiner Gegenwart sichtlich keine Freude. Es kam ihm jetzt oft die belastete Nacht in den Sinn, die Nacht, bevor ihn die Fürstin auf die Isola rief, damit er den Großherzog rette, die Nacht, in der er am Fenster stand, die Sbirrenfunken springen und den Wagen nachpoltern sah, das Schicksal dieses schattenhaften Gefährtes auf wenig magische Weise voraussah und es doch nicht ändern konnte. Jetzt, auf seine weise Art resignierend und sich nicht in den Weg stellend, den er nicht verbarrikadieren, im besten – im gerufenen Falle nur vielleicht ein wenig sichern konnte, hielt und drehte er dieses Gleichnis wie eines seiner Porzellane. Er hatte sich unauffällig in sein Museum bei San Lorenzo zurückgezogen, nahm in einem unvermuteten Ausgleich seiner inneren Spannung einem Kohlenmagnaten aus Wales tausend Pfund für einen unechten Andrea del Sarto ab, begründete mit dem Geld die Existenz dreier begabter Künstler und versteigerte persönlich seine berühmte Sammlung spätrömischer Münzen. Den beträchtlichen Erlös legte er auf die Bank von England. Es war eine gewisse Hast in seinen Geschäften; aber dieses Hin und Her des händlerischen Treibens blieb der einzige Ausdruck seiner inneren Unruhe. Sein äußeres Leben war gelassen, wenn auch nicht so sichtlich wie früher. Im Palazzo Corleone erschien er nicht mehr zur täglichen Essensstunde, sondern nur noch einmal oder zweimal wöchentlich zu den offiziellen Diners. Er küßte der Fürstin noch immer umständlich die Hand, und sie sah mit einem traurigen Lächeln auf seinen alten Kopf und auf die jugendlich schwarze Perücke. Sie betrachtete ihn bei Tisch auch, wenn sie sich unbeobachtet fühlte und er sie doch im Augenwinkel behielt; dann konnte, zumal als die Zeit weiter und ins neue Jahr geschritten war, ihr Blick eine solche schmerzliche Ähnlichkeit mit dem Angstblick des Prinzgemahls haben, daß Steiner die Nacht über wach lag, gleichgültig zu aller Zärtlichkeit der Pretiosen, über den Zustand ihrer Seele nachdachte, über alle politischen Möglichkeiten ihrer Misere, ohne doch beim Morgengrauen zu wissen, wie sie aus der wirren Verstrickung zu lösen sei. Er wußte, daß er jetzt nicht, wie vor wenigen Wochen, als Warner zu ihr kommen konnte, als fast zwangvoller Pförtner ihrer Heimlichkeit, als Gewissen fast. Sie hatte ja getan, was zu tun war. Jetzt schien sie nur der leidende Teil, ein Mensch, welcher stillhielt zwischen zwei Abgründen. – Arme Frau, sann er oft, was nützt es ihr, daß ich alter und unnützer Mann mit meinen Gedanken dort stehe, wo sie steht; die anderen, die über sie nachdenken, sind ja Partei. –

Der Corleone ging es nicht gut. Als ihr Guerra sagen ließ, daß seine Schwester für einige Zeit bei ihr in der Stadt wohnen und arbeiten müsse, sozusagen als Ersatz für die notgedrungene Aufgabe der Isola als Aktionszentrum, und daß sie ihren ganzen Einfluß aufzubieten habe, um jedes Mißtrauen vor Maddas Person zu zerstreuen und jede persönliche Gefahr von ihr abzuwenden, verlor sie schnell den guten Mut und die Freiheit der Seele, die sie durch die glückliche und letzten Endes ahnungslose Rückkehr des Souveräns gewonnen hatte. Jener Augenblick, in dem Guerra in sich hineinsehen ließ und sie auf das überraschendste einen Handgriff für seinen komplizierten politischen Mechanismus tun ließ – mehr noch: in dem sie im politischen Guerra das erstemal den geliebten Menschen erkannte, war fast schon wieder vergessen oder doch von der Angst verschüttet. Die Angst war da, als Madda schön, rothaarig, mit erstaunlich südlichem Akzent und voll heimlicher Feindschaft das Haus am Lungarno betrat. Es war die Furcht des mutigen Menschen vor dem Unsichtbaren, sich nicht Stellenden, nicht Bestimmbaren. Daß die unterirdische Politik, in die sie sich einmal halb spielerisch eingelassen hatte, ihr jetzt nachzog wie ein tückischer Mineur und ihr vielleicht morgen schon den Boden unter den Füßen fortsprengte, war ein furchtbarer Zustand. Dazu kam die Dämonie des Mädchens. Guerra war in seiner Person rätselhaft, schwierig und unberechenbar im Zusammenhang mit seiner Aufgabe; aber er war immerhin der Mann, der einmal in seiner Leidenschaft begreiflich und jetzt in ihrer Liebe überdeutlich stand. Doch Guerra in der Schwester, sie als der Ausdruck seines Willens war das Unfaßliche und Unheimliche, im tiefsten Gefühl das Unnatürliche und Feindselige.

Madda war keineswegs unfreundlicher als zuletzt auf der Isola. Die schwere Erschütterung, die dazwischen lag, schien wieder abgeglitten vom Gesicht und von der Bewegung. Doch es gab von allen Menschen außer Checca eben nur die Corleone, die aus letztem Grunde aufspürte, was geschehen sein mag, wenn sie auch dem wahren Gesicht jetzt noch nicht so nahe kommen konnte, wie die vertrautere Alte. Hier war die politische Szene noch tragischer und gespannter als der Vorwurf der fraulichen Liebe. Und dann hatte Madda, ob auf Befehl Guerras oder aus eigener Überlegung, die zermürbende Taktik, bis zu einem gewissen Grad selbst der Fürstin gegenüber die Rolle der neapolitanischen Kusine zu spielen; das heißt, sie verschleierte auf beinahe verletzende Art ihre eigentlichen Zwecke.

»Ich weiß jetzt selber nicht mehr, Madda,« sagte sie einmal, und zwang sich rasch zu lächeln, »ob wir nicht in der Tat nur Verwandte sind.«

Das Mädchen betrachtete sie mit einem merkwürdigen Blick, der rot machte.

»Ich glaube, Maria,« sagte sie leise, »wir sind wirklich sehr nahe verwandt.« –

Durch diese Worte vor dem dunklen Hintergrund der Gedanken, vielleicht auch durch eine Anhäufung der bedenklichen und verstörenden Momente an diesem Tage wurde die Corleone am Abend, den sie mit dem Großherzog verbrachte, so abgelenkt und in taubes Sinnen verlockt, daß der Fürst sich doch zu einer Frage entschließen mußte. Aber sie fiel ihm nicht leicht. So sehr er ein Mensch war, der die Klarheit brauchte, so sehr fürchtete er sie jetzt, weil es um diese Frau ging, die er liebte, und weil er sich selber abraten mußte, sich mit ihrer Veränderung, selbst mit ihrer offenbaren seelischen Not zu beschäftigen. An jenem Abend aber, als sie bedrückt und abgekehrten Blicks, fast ein wenig verblüht in dem tiefen Sessel saß und sich hin und wieder mit Liderflattern und bestürztem Lächeln, welches ihm weh tat, daran erinnerte, daß sie nicht allein war, siegte doch sein Mitleid über die Vorsicht. Aber die Vorsicht machte seine mitleidige Frage ganz zart und schlicht. Er rührte sich nicht in dem hohen, etwas steifen Armstuhl, in dem er saß – so, als wollte er nichts verscheuchen; er sah sie auch nicht an und fragte nur:

»Maria?«

Auch sie hob nicht den Kopf zu ihm auf und zeigte nicht das zusammengescharrte Lächeln, vor dem er Angst hatte und das er gerade jetzt erwartete. Sie blieb in ihrer etwas vorgebeugten Haltung sitzen, die Arme über dem Schoß verschränkt; und als sie nichts antwortete, wagte der Fürst, zu ihr hin zu blicken. Er sah ihr Profil, das fast hart war, das weit geöffnete Auge und Tränen an den Wimpern. Es war sehr selten, daß die Frau weinte, und es war noch nie geschehen, daß sie vor dem Fürsten weinte. Er bedachte es, mit einemmal traurig, wie sparsam sie zu ihm selbst mit ihren Tränen war. Man muß, sann er, fast betäubt von dem Eindruck, man muß weinen können vor dem, den man liebt.

Jetzt sagte er leise:

»Ich kann Ihnen wohl nicht helfen, cara mia

Sie sah rasch auf, zuerst wie erschrocken, dann aber an seinen guten Augen sich beruhigend. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest.

»Wollen Sie mich etwas fragen, amico?« sprach sie.

»Nein,« sagte er ernst.

Sie schwiegen eine Zeit. Maria hatte in diesem Augenblick den seltenen Glauben, den Fürsten zu lieben. Aber sie konnte es ihm nicht sagen, trotzdem sie fühlte, daß es für ihn gerade jetzt eine Beglückung wäre. Denn sie sah seine tiefe Erregung, die sich zu steigern schien.

»Doch,« sprach er plötzlich, »ich muß Sie fragen; das ist meine Pflicht Ihnen gegenüber. – Maria, würde es Sie erleichtern, wenn ich Sie von mir befreite?«

»O nein! O nein!« rief sie hastig, ohne zu überlegen, entsetzt beinahe. Er streichelte ihre Hände.

 

3

Don Lionello Vacca kannte sehr gut den Lebenslauf der Fürstin, zum mindesten soweit er sich außerhalb ihres Hauses abspielte. Er pflegte auf der hochgewölbten Trinitàbrücke oder vor dem Schaufenster einer Buchhandlung des nahen Lungarno zu stehen, wenn sie ausfuhr. Er wußte zumeist schon aus der Richtung, die der Wagen nahm, das Ziel, berechnete die Dauer der Fahrt und war zur richtigen Zeit in den Cascinen oder im Café Doney, wo die Corleone halten, sich eine Erfrischung reichen und einige Kavaliere zum Handkuß ans Trittbrett treten ließ. Trotzdem seine Erscheinung schwerlich zu übersehen war und trotzdem er es zur gelegenen Zeit nicht an einem ergebenen Gruß fehlen ließ, beachtete ihn die Fürstin mit keinem Blick. Doch der Abate war nicht empfindlich und hatte außerdem die Möglichkeit, seine privaten Enttäuschungen mit amtlichen Pflichten zu verkleiden.

Schon bevor Madda Guerra das erstemal an ihrer Seite im Wagen saß, schon als sie in einer reichlich bestaubten Reisekutsche durch die Porta Romana gefahren war und vor dem Palazzo Corleone gehalten hatte, meldete Don Lionello dem Polizeipräsidenten den neuen Gast, dessen Kutscher offensichtlich nicht recht wußte, woher sie kam, und sie erst in Siena in Empfang genommen haben wollte. Und da Madda aus irgendwelchen Gründen sich in der ersten Woche noch nicht in der Öffentlichkeit sehen ließ, geschah das Merkwürdige, daß der einzige, der darauf wartete, eben der Abate Vacca war, oder, wenn man will: die neugierig gewordene Behörde.

Doch bevor im Bargello die Antwort des neapolitanischen Polizeiministers eintraf, daß die einzige ledige Trägerin des Namens Labia, von einigen halbwüchsigen Mädchen einer Seitenlinie abgesehen, schon vor Jahren den Schleier genommen habe und in einem süditalienischen Ursulinerinnenkloster lebe, überraschte der Gast der Fürstin den Abate durch ein ganz unerwartetes und recht verwirrendes Interesse. Als es ihm das erstemal war, als erwidere das Mädchen seinen Gruß, der der Corleone galt, erklärte er es sich selber als eine der Illusionen, die er sich für gewöhnlich hübschen Frauen gegenüber machte. Indessen wollte er sich vergewissern; so stand er am folgenden Tag unmittelbar vor dem Eingang zum Café Doney, als der Wagen mit den beiden Damen vorfuhr. Er grüßte tief; sowohl das Mädchen als auch die Fürstin dankten. Das machte ihn stutzig; und da seine Eitelkeit gewohnt war, sich dem spitzen Verstand unterzuordnen, betrachtete er, während vor ihm zwei Elegants mit den Stöckchen wippten und der ernsten Fürstin belanglose Komplimente sagten, nicht die Formen, sondern das Gesicht des Mädchens. Don Lionello hatte eine zu große Freude an jeder wohlgestalteten Frau, um sich mit der Bedeutung der Kosmetik viel abzugeben. Er erkannte also nicht, wie der Baronissimo auf den ersten Blick, die angewandte Kunst für Haar, Braue und Haut, für das ganze ein wenig maskenhafte Gesicht, das unter dem vorgewölbten hellen Hut gut belichtet war wie ein schönes Bild. Er erkannte es auch später nicht, als er dem Gesicht näherkommen durfte. Aber jetzt machte es ihn nachdenklich. Was er bedachte, war nicht einmal weit hergeholt, weil in seinen Gesprächen mit Caminer seit Wochen schon die Corleone zusammen mit Guerra genannt wurde. Es ist sogar möglich, daß seine Annahme, das Mädchen könne Guerras viel erwähnte Schwester sein, schon vage am Tag ihrer Ankunft sich gebildet hatte und daß die mutmaßliche Ähnlichkeit der Augen und des festen Mundes mit Augen und Mund der Geschwister, die er etliche Male in Guerras Florentiner Kanzlei zu sehen bekommen hatte, jetzt erst seinen Gedanken angepaßt wurde. Und doch verwirrten den Prüfenden die Ironie oder die mögliche Lockung dieser Augen und dieses Mundes, als sie ihn jetzt ansah.

Die beiden Herren verabschiedeten sich, die Fürstin reichte das Tablett mit den beiden Portweingläsern dem Diener, der es zusammen mit einem Geldstück dem wartenden Kellner weitergab. Das Mädchen winkte dem Abate mit den Augen – vielleicht war auch dies nur eine Einbildung, gar ein Irrtum; denn sie sprach jetzt schon wieder mit der Corleone, allerdings mit dem etwas steifen Lächeln des Menschen, der weiß, daß man ihn ansieht. Don Lionello hatte seinen Entschluß gefaßt. Wie es auch sei: die endliche Gelegenheit, mit der Corleone wieder in Verbindung zu kommen – eine beruflich ungemein wichtige Verbindung – durfte nicht verpaßt werden. Er war mit fünf langen Schritten am Wagen, der anfahren wollte, und nahm den Hut ab.

»Halt!« befahl sofort das Mädchen dem Kutscher. Die Fürstin nickte zurückhaltend und die Brauen hebend dem Geistlichen zu. Vaccas großes rundes Gesicht bekam vor Devotion kleine Wülste auf den Backen und unter den Augen.

»Eccellenza belieben sich zu erinnern,« sprach er mit seiner fetten und leisen Stimme; »ich hatte die Ehre, Eure Hoheit vor einiger Zeit auf der Isola in charitativer Mission zu sprechen und neue Beweise von Eurer Hoheit stadtbekannter Mildtätigkeit …«

»Ich weiß, ich weiß,« unterbrach die Corleone und sah über ihn hinweg. Vacca blickte etwas verlegen auf die Begleiterin, die ihn nicht aus den Augen ließ und jetzt leise und erregend lachte.

»Ich glaube, Reverendo,« sprach sie mit deutlichem südlichem Akzent, »wir haben uns schon einmal gesehen.«

Don Lionello war im Augenblick sprachlos, auch ein wenig betäubt von ihrem Lächeln, das gleichsam einen Duft hatte.

»Ja, Signorina,« faßte er sich schließlich, »auch ich glaube es beinahe. – Aber wo?«

Er fühlte, wie ihm das Blut unter ihrem Blick zu Kopf stieg. Sie machte jetzt dünne, boshafte Lippen.

»Zelebrierten Sie nicht in diesem Frühling einige Male in Neapel die Messe in Santa Maria del Carmine bei der Porta Nolana?«

»Das muß wohl ein Irrtum sein,« murmelte Vacca benommen, »ich war noch nicht in Neapel.«

»Ach,« machte sie und schloß die Augen; »dann ist es ein Irrtum.«

Da in diesem Augenblick die Corleone die Hand hob, wohl um das Zeichen zur Abfahrt zu geben, hatte der Abate keine Zeit, die verworrenen Eindrücke zu klären. Er mußte einen etwas gewaltsamen Übergang finden, um das nahe Ziel nicht zu verpassen.

»Noch eine gütige Sekunde, Eccellenza,« wandte er sich an die Corleone, die ihn nicht ansah. »Wenn die Signora Principessa nicht schon von der geplanten Restaurierung der alten Kirche Santo Jacopo Soprarno gehört haben …«

»Nein,« unterbrach wieder die Corleone und schien nervös, »doch wenn Sie mich in dieser oder irgendeiner anderen Angelegenheit sprechen wollen, so melden Sie sich doch bei meinem Hausmeister an. Ich werde Sie dann empfangen und Sie werden dann bessere Gelegenheit haben, Ihr Anliegen mitzuteilen, als jetzt auf der Straße. – Addio, Reverendo. – Avanti, Giuseppe!«

Der Wagen fuhr an und rollte, kehrtmachend, in die Richtung auf das Arnoufer, dem nahen Haus der Fürstin zu. Der Abate ging voller Gedanken dem Wagen nach. Der Gruß des Mädchens eben, überlegte er, war kühl und höflich wie von einer fremden Dame, und das Gesicht war um keinen Schatten anders, als ein fremdes und kaltes Gesicht. – War es in der Tat ein Irrtum oder war das Mädchen eben jene virtuose Guerra-Schwester, von der man sich in der politischen Abteilung des Buon Governo mit lüsternen Mäulern allerlei erzählte? – Aus Gründen, die ihm selber nicht recht klar waren, beschloß er, zunächst dem Polizeipräsidenten noch nichts von seinem Erlebnis zu melden. Er hatte den Grundsatz, seine amoureusen Abenteuer von den politischen zu trennen oder sie nur gleichsam inoffiziell, für seine persönliche Information, miteinander zu verbinden. Und er wußte noch nicht, welcher Art die Folgen des heutigen Erlebnisses sein würden. Wie er über den Dreifaltigkeitsplatz schritt und die Zacken des Palazzo Corleone hinter dem Ferroni-Palast auftauchten, bedachte er in einer seltenen Anwendung von Taktgefühl, daß ein so hastiger Besuch unpassend und ungeschickt sei. So betrat er, in gänzlicher Verschwommenheit der Empfindungen, die Trinitàkirche und betete in der Kapelle des Heiligen Bernhard, seines Schutzpatrons, der ihm in schwierigen Lagen seines Lebens zu helfen pflegte.

Den Abate Vacca zu beachten und ihn bei guter Gelegenheit einzuladen, war zunächst der einzige Wunsch, den Madda der Corleone äußerte. Die Fürstin gehorchte, weil sie keinen Vorwand finden konnte, diese ziemlich harmlos scheinende Aufgabe abzulehnen. Daß sie so wenig harmlos war wie die Person des Geistlichen selber, und daß sie die klare Einleitung zu noch gefährlicheren Manövern Guerras bedeutete, wußte sie sehr gut. Aber sie wußte nicht, wie sie die Lawine von ihrem Haus abwenden sollte. Nur als der Abate schon am nächsten Tag in Erscheinung trat und der tiefsinnige Zufall es wollte, daß der alte Baron Steiner, zu ungeahnter Stunde mit einem Versband des verehrten Alfred de Vigny kommend, im Empfangszimmer den Geistlichen gesehen hatte – Don Lionello, und auch bei ihm die etwas bestürzten Augen, die der Alte nun schon bei den angeschauten Menschen kannte, mußte die Corleone ihn bei den mageren Schultern nehmen und ihm zuflüstern:

»Ja, ja, guter Baron, mir scheint, man hat mir einen neuen Hausfreund geschenkt …«

» Poverina,« sagte er, und streichelte ihre Hand, »waren Ihre Worte eben sozusagen extemporiert oder sind sie bewußt an mich gerichtet – so bewußt, wie neulich auf der Isola …«

Die Corleone wurde blaß und umklammerte seinen Ärmel.

»Ich verstehe Sie gar nicht, Steiner,« sprach sie sehr erregt, und leise fügte sie hinzu: »So schlimm steht es, amico …«

Steiner wandte seinen kleinen Vogelkopf dem Fenster zu und meinte nach einer Weile:

»Soll ich Sie nach Rom bringen, Maria? Sie vernachlässigen Ihr hübsches Haus am schönen Spanischen Platz. Und schon die komische Christine von Schweden, die mir unbekannterweise zwei herrliche Münzen des Kaisers Otho und ein Manuskript des Cartesius vermachte, hatte gefunden, daß Rom niemals kurzweiliger sei als zur Konklavezeit. Wären Sie, Hoheit, nicht politisch so einseitig interessiert und entschieden Sie mit Ihrem Lächeln zwischen den Kardinälen der ›Zelanti‹ oder der ›Diplomatici‹, dann könnten Sie sich das immerhin nicht vulgäre Vergnügen verschaffen, einen Papst zu wählen. Jene Christine war häßlich und als Ketzerin geboren – und vermochte es auch.«

Die Fürstin lachte leise.

»Was reden Sie da alles, Lieber,« sagte sie; »glauben Sie wirklich, mir wird leichter dadurch? Und haben Sie selber im Ernst angenommen, daß ich fort könnte – oder wollte?«

Der Baronissimo tat das viereckige Einglas ins Auge und öffnete das Buch.

»Wenn wir schlichte Menschen schweigen sollen,« sprach er, »ist es Zeit für den Dichter. Und dieser hier, ein melancholischer Optimist, spricht gut zur armen Seele.«

»Lesen Sie,« bat die Corleone. –

Madda empfing den Abate, entschuldigte die Fürstin und ließ sich das Projekt der Kirchenrenovierung auseinandersetzen. Sie zeigte die halbinteressierte Zurückhaltung der großen Dame, die die kleine mildtätige Pflichtstunde erträgt. Don Vacca, der ihr erstes zutunliches Lächeln lieber gesehen haben würde und sich das unerwartete Alleinsein mit ihr etwas anders vorgestellt hatte, bemühte sich, sachlich zu sein und sie möglichst wenig anzuschauen. Sie antwortete, daß sie der Fürstin Corleone empfehlen werde, eine Summe für den guten Zweck zu spenden, daß sie selber sich mit einigen Goldstücken beteiligen würde und daß er in den nächsten Tagen wieder vorsprechen solle. Er stand mit formellem Dank auf. Sie lächelte mit einemmal und hob sich auf die Zehen, um seinem aufflammenden Gesicht näherzukommen.

»Es liegt Ihnen doch daran, wiederzukommen, nicht wahr, Don Lionello?« fragte sie und ließ sich die Hand drücken.

Sie schien auch nicht verwundert, daß er schon am nächsten Tag sich wieder einstellte und nicht mehr nach der Fürstin, sondern nach ihr fragte. Sie begrüßte ihn, noch im Morgenkleid und mit dem Lächeln, das auch aus den Augen und der Stimme kam und ihn wild machte. Sie gab ihm Geld. Er behielt ihre Hände und strich mit seinen schweren Fingern den nackten Arm hinauf. Sie stemmte ziemlich gelassen und mit spöttischem Mund die freie Hand gegen seine andrängende Brust und fragte plötzlich:

»Sie sind bestechlich, Vacca?«

»Vielleicht,« grimassierte er. Sie ließ sich von seinen Armen umschließen.

»Wissen Sie auch, warum ich frage?« lachte sie leichthin.

»Nein,« sagte er, brutal vor ihrem Mund. Sie lachte wieder, fast lautlos, und hämmerte doch die leisen Laute empfindlich in sein Gesicht. Er zog benommen den Kopf zurück. Jetzt flüsterte sie, gleichsam belustigt:

»Weil die Fürstin behauptet, Sie seien ein Spitzel, ein Provokateur, rechte Hand des Polizeiministers, was weiß ich!«

Vacca wurde nüchtern und ließ sie los.

»Das bestreite ich,« sagte er. Sie lachte stärker.

»Natürlich bestreiten Sie es, Reverendo! Sie können es doch nicht zugeben! – Aber deshalb brauchen Sie nicht von mir fortzulaufen – man kann doch seine kleinen Bedingungen haben – das hat jede Frau, die nicht gerade närrisch verliebt ist. Und ich bin wirklich weniger in Sie verliebt als Sie in mich.«

Sie rückte ihm nach und klopfte ihm derb auf die feiste Backe. Er war dunkelrot; es sah fast aus wie Wut. Die kleinen Augen schwollen fast zu. Er rührte sich auch nicht.

»Gut,« sagte Madda, und hob die Brauen, »dann ist das hier unsere Schlußszene.«

»Unsinn,« sagte er grob und faßte sie an, »aber was sollen hier Bedingungen und Versprechungen! – Uns ist ja beiden nicht zu trauen!«

»Gewiß nicht,« lachte sie; »also Sie wollen die Fürstin nicht in Ruhe lassen?«

Sie glitt mit den Lippen über seinen Mund und machte sich dann von dem Betäubten los.

»Caminer will sie nicht in Ruhe lassen,« murmelte er, nach ihr fingernd. Sie stand jetzt in einiger Entfernung hinter einem breiten schweren Eichentisch.

»Wer ist Caminer?« fragte sie sachlich.

»Der Präsident des Buon Governo. – Aber Sie halten mich auf böse Art zum Narren, Contessina.«

Sie überhörte den letzten Satz und wies ihn mit strengem Gesicht zurück, als er sich über den Tisch beugte.

»Seien Sie jetzt vernünftig, Vacca,« sprach sie, »wir sind jetzt bei den Geschäften. – Warum läßt sie der Präsident nicht in Ruhe?«

Der Abate wandte sich ab, zog die Soutane zurecht und suchte nach seinem Hut.

»Das wissen Sie genau so gut wie ich, Signorina,« meinte er, »oder Sie wissen es noch besser.«

Sie ließ ihn bis zur Tür gehen.

»Reverendo,« sagte sie dann ernst, »wenn Sie mir nicht antworten – es braucht ja nicht heute zu sein –, dann frage ich den Präsidenten selber. Sie kennen ja jetzt meine Art zu fragen, nicht wahr? Sie trauen mir doch einen Erfolg zu?«

Vacca sah sie an; dann schüttelte er den Kopf.

»Der Caminer,« sprach er bedächtig, »ist eine härtere Nuß als ich. Er ist ein Fanatiker, getrieben vom Dämon so etwa wie sein Gegenpol: der Guerra.« – Er prüfte sie und sah keine Bewegung in ihrem Gesicht. »Aber ich habe Sie schon einmal gesehen, Signorina,« schloß er mit halber Stimme. Sie verzog den Mund.

»Sie waren doch noch nicht in Neapel,« lächelte sie. »Doch jetzt bin ich neugierig, wann Sie wiederkommen werden.«

Don Lionello murmelte einen Gruß und ging. Er betrat die nahe Trinitàkirche und betete in der Sankt-Bernhards-Kapelle, wie immer, wenn er verwirrt war.

 

4

Der kalte und regenschwere Nordost, den die Fiesolaner den Vallombrosa-Wind nennen, rannte gegen die ungeschützten Häuser auf der Höhe. Maria Pia verstopfte sorglich die Fensterritzen, hielt die dichten Holzladen auch während des Tages verschlossen und heizte die flachen kleinen Eckkamine der Zimmer mit Olivenholz und Pinienzapfen, die mit vielen spitzen lustigen Flämmchen brannten. Es war rauchig in den Räumen, aber warm. Es wäre alles gut gewesen, so gut wie in der ersten Zeit nach der Abreise der Signorina, würde der Signore nicht so einsilbig und mit der schlimmen Falte zwischen den Augen vor seinem Schreibtisch sitzen. Und seine Augen fanden nicht mehr den Weg zu ihr, trotzdem sie sich oft in dem kleinen Arbeitszimmer zu schaffen machte und mit irgendeinem Liedchen die dunklen Ecken hell machte wie mit einem Lichtchen – mit diesen hübschen Worten hatte er ihr neulich eine Freude gemacht –, und trotzdem sie ihm einmal sogar flüchtig und ein wenig ängstlich (wie immer, wenn sie ihn berührte oder er sie) über die Haare strich. Doch er hatte nur den Kopf geschüttelt, kaum lächelnd.

Diese Stimmung zeigte er seit gestern, erst seit gestern, als er von einer zweitägigen Reise ins Gebirge zurückgekehrt war. Er mußte eine schlechte Nachricht mitgebracht, eine Enttäuschung empfangen, einen Ärger gehabt haben. Doch das eine schien die Plötzlichkeit der bösen Laune auszuschließen: daß sie, Maria Pia, irgendeine Schuld an ihr trüge, daß es ihm langweilig sei, nur sie um sich zu sehen und von ihrer scheuen Liebe gestreift zu werden. War er ihr nicht sichtlich und fühlbar gut, nur eingekreist und abgegrenzt von den neuen Sorgen? – Was mag ihn nur so beschäftigen, dachte sie etwa, daß mein ganzes Leben kaum ein Winkelchen in seinen Gedanken einnimmt – und dabei wüßte ich keinen rechten Gedanken außer ihm, und ein Strumpf von ihm ist mir wichtiger als meine ganze Person. Ob das so sein muß – oder ist er vielleicht kein dankbarer Mensch? – –

»Laß uns ein wenig allein, Maria Pia,« sagte er, als Renzo Maddii, der Buchdrucker, eintrat.

»O ja,« erwiderte sie und ging fort. Sie mochte den Renzo nicht, trotzdem er die schönste Stimme in der Stadt hatte. Aber er sang nicht oft, war ein finsterer, wortkarger Mensch, nicht ganz geheuer nach der Meinung des Viertels und scheinbar in die Signorina verliebt. Maria Pia gab es sich nicht zu, daß solche Neigung allein schon für sie ein Grund zur Abneigung sei. Sie machte es sich anders klar: wer die Schwester liebt, könne den Bruder nicht lieben, entschied sie; und ihr mißfiel das Vertrauen, das der Signore dem Renzo offenbar schenkte. – Die Luft war traurig, alles war traurig, das Mädchen glitt über die nassen Bohlen der Hofgalerie rasch durch den feinfadigen und zähen Regen auf einen kleinen Schwatz ins Vorderhaus zu den Frauen, denen schon die Hände über der glühenden Holzkohle der Wärmtöpfe aufschwollen.

Der Renzo Maddii überbrachte Maddas Bitte um möglichste Geduld und möglichste Vorsicht. Die Widerstände seien stark, auch die passiven Widerstände der Fürstin, die von einer fast schon bedenklichen Zurückhaltung sei, unlustig, verängstigt, kurzum: nicht mehr oder nicht mehr lange zuverlässig. Man müsse auch vor dem alten Steiner warnen, der jedenfalls mehr wisse, als er wissen dürfe. Man müsse vielleicht daran denken, gegen ihn vorzugehen.

»Unsinn!« unterbrach Guerra scharf, »meine Schwester soll sich ihre gewalttätigen Gedanken abgewöhnen, die sie früher niemals an sich heranließ. Sie soll bei ihrer Aufgabe bleiben und durch den dicken Lionello dem Buon Governo so viel Spuren von uns liefern, daß die richtige verloren geht. Mehr soll sie nicht. Außerdem ist das alles heute schon weniger wichtig, als es noch gestern war – o ja!«

Guerra stand heftig auf und stieß mit dem Fuß ein rauchendes Holzstück tiefer in den Kamin. Dann wandte er sich rasch um und sah den Buchdrucker an, der das Kinn vorschob und unzufrieden aussah. Guerra ging auf ihn zu und nahm ihn am Knopf seines Überrocks.

»Zuverlässig,« wiederholte er Renzos Wort, »wer mag es denn in dieser Spannung des unzuverlässigen Lebens sein? Sind Sie es wirklich, Renzo? Ist es meine Schwester vielleicht? Bin ich es denn auf Hieb und Stich? – Ich weiß wenigstens einigermaßen, was hinter allem steht. Aber ihr? Zum Teufel mit euch Verliebten!«

Renzos Haut wurde ein wenig grauer noch, als sie schon war; aber er blieb ruhig und erklärte nur:

»Ich verstehe nicht, was Sie reden, Signore. Das geht mich auch nichts an, glaube ich. Aber warum ist unsere Arbeit heute weniger wichtig als gestern?«

»Weil sie mir heute sinnloser vorkommt,« entgegnete Guerra, »sogar erbärmlicher, wenn Sie wollen.«

Er trat an den kleinen Tisch zurück, der ihm zum Schreiben diente, setzte sich und begann zu rauchen. Renzo wartete eine gute Zeit, ob er nicht noch reden würde; dann fragte er:

»Sie haben mir nichts mehr zu sagen, Signore?«

»Ich hätte Ihnen noch allerlei zu sagen, Renzo,« erwiderte Guerra und zog zweiflerisch die Schultern hoch; »aber ich muß es mir überlegen – ehrlich gesprochen; denn …« Er zögerte und senkte den Kopf; er sprach leise: »Denn müßten Sie einmal zwischen meiner Schwester und mir wählen, so wählten Sie wohl nicht mich – nicht wahr, Renzo?«

Der Buchdrucker drückte gequält die ungefügen Hände rechts und links gegen die Brust und schüttelte den Kopf.

»Man könnte meinen, Signore,« murmelte er, »Sie seien nicht mehr recht bei Verstand.«

»Das ist die beste Antwort,« nickte Guerra; »aber ich war gestern in Pratolino und fand nicht den Kurier aus Bologna, den ich erwartete, sondern einen Funktionär der Zentrale. – Es ist eine große Reise von Paris nach Pratolino, nicht wahr? und sie muß sich lohnen, meinen Sie nicht auch, Renzo?«

Der Maddii riß die Augen auf und gab keine Antwort. Guerra sagte scharf:

»Vielleicht lohnt es eine Weltreise, um einer Denunzierung G. G.'s nachzugehen. Ich bin nicht ohne Selbstbewußtsein, Renzo, und ich weiß, daß es nicht viele Leute gibt, die aus den jüngsten Ereignissen Stoff für eine Denunziation finden können. Geht Sie auch das nichts an, mein Lieber?«

Renzo hob langsam das Kinn und sagte:

»Nein, Signore; denn ich habe Sie bei Gott nicht denunziert und weiß auch nicht, wer es getan haben kann.«

Guerra lachte kurz auf.

»Sie meinte ich gewiß nicht, Maddii! Und daß Sie nichts wissen, will ich glauben – wenn Sie schon nichts fühlen wollen. Ich weiß ja selber nichts, ich fühle nur. Ich will auch die Möglichkeit zugeben, daß ich mich irre und daß ich nur eine schlechte Note bekam, weil die letzte Aktion von mir etwas selbständig abgebrochen worden war. Gut.«

Er stieß heftig den Rauch aus und legte die Pfeife auf den Tisch. Er legte die Hände auf die Armlehnen des Stuhls, als wenn er jeden Augenblick aufspringen wollte.

»Gut,« wiederholte er; »doch hören Sie: ich sage Ihnen dies, ich erzähle Ihnen von dem Mißtrauensvotum, das ich bekam, von bestimmten Orders, die Veränderungen hervorrufen werden, zunächst für mich, dann für alle Unsern – ich bekam auch eine versiegelte Order, die erst an einem bestimmten Tag zu öffnen ist; und ich sage Ihnen, daß ich den Inhalt ahne und daß mir schon diese Ahnung schlimme Stunden bereitet. Ich werde also jetzt für ein Weilchen verschwinden … nicht daß ich desertierte – vielleicht im Gegenteil … Also gut, Renzo, ich sage Ihnen dies alles und befehle Ihnen zugleich, nichts von diesem allen meiner Schwester zu melden – und ich bin doch schon im gleichen Augenblick überzeugt, daß Sie mir zum erstenmal ungehorsam sein werden – oder durch einen dummen Kuß ungehorsam werden können.«

Renzo trat an die Tür zurück.

»Das wird jetzt bald zuviel, Signore,« sagte er ganz leise. Guerra stand auf und streckte ihm die Hand hin.

»Ich bitte Sie um Verzeihung,« sprach er. »Ich bin leider ein Mensch, der erst allen anderen und sehr selten nur zum Schluß sich selber unrecht gibt.« Er machte eine kleine Pause. – Für die nächste Zeit besorge Checca die Verbindung zwischen ihnen, schloß er dann.

Renzo ging. Die Nacht brach an, ohne daß man es bei den geschlossenen Läden recht merkte, zumal seit Stunden schon Licht brannte. Guerra hatte Bedürfnis nach Luft. Der scharfe Rauch des Holzfeuers brannte in den Augen und in der Kehle. Er ging ins Schlafzimmer und öffnete das Türchen zu der kleinen Terrasse, die zwischen zwei Häusern hing. Es regnete nicht mehr. Die Berge waren schwarz und nahe in der grauen Luft. Im Westen schnitt sich ein rostbrauner Streifen in die tiefe Dämmerung. Diese Nacht war ungastlich. Sie trieb die Menschen und ihre Gedanken ins Haus. Guerra stöhnte. Von rückwärts hörte er die singende Maria Pia und ihr frauliches Hantieren in der Küche. Er rief sie und sang dabei ihren Namen in der schlichten Melodie, die er eben von ihr hörte. Der Name sang sich gut. Er vernahm ihr Lachen, das sich schon über den Gang in die Wohnung verlor. Jetzt stand sie neben ihm.

»Sie werden den Schnupfen bekommen, Sor Carlo,« sagte sie, noch glücklich über seinen Ruf. Er umfaßte ihre schmalen Schultern und drückte sie an sich.

»Sieh nur, bambina,« sprach er leise, und berührte mit den Lippen ihre Haare, »die Nacht heute ist böse zu uns. Es gibt gute Nächte und böse Nächte, zum Ansehen und zum Atmen gute und böse. Das wirst du noch kennenlernen, Maria Pia. Ich kenne sie schon.«

Er ist immer noch traurig, dachte das Mädchen bekümmert; er ist noch trauriger als vorhin.

»Stell dir jetzt einen Menschen vor,« sagte er von neuem, »einen armen Menschen, der in diese Nacht hinausgehen muß, einsam, einsam, über die Nachtwurzeln stolpert, die Nachtberge hinaufkeucht und hinab, und diese böse Nacht noch lieber haben muß als die bösen Menschen.«

Vielleicht ist es doch nur ein Märchen, wie er es manchmal erzählt, dachte sie; aber sie zitterte doch so sehr, daß er sie schweigsam ins Zimmer führte. Er setzte sich aufs Bett und nahm sie auf den Schoß.

»Sieh, mein gutes Kind,« sprach er zärtlich, »da hast du eine Liebe verschenkt, die so schön ist wie ein Wunder. Und jetzt wirst du weinen und dich immerzu fragen: was ist das für ein Mensch? Aber dieser Mensch vergißt nicht, Maria Pia, und wird noch einmal kommen und dir ein besseres Danke sagen als heute …«

Sie lehnte sich in seinem Arm zurück, großäugig, weiß und stumm, sah ihn an, sah ihn an und tastete mit den Händen ihrem Blick nach: ihm über Stirn, Augen und Mund.

»... wenn sie mich leben lassen,« vollendete er leise.

Sie nickte heftig mit dem Kopf, ballte sogar die Hände und schlug die Fäuste aufeinander, so als dürfe es nicht den kleinsten Zweifel an seiner Unversehrtheit geben; aber sie konnte nicht sprechen. Sie küßte ihn.

»Ich habe das Leben so lieb,« flüsterte er, »wie dich.«

Später fragte sie mit einemmal, wie aus schwerem Traum hochfahrend:

»Ist sie deine Schwester?«

»Ja,« sagte er bedrängt. Er glaubte, sie würde noch mehr fragen. Aber sie schwieg. –

In der Frühe gegen vier Uhr, als sich das Mugnonetal mit dicken Nebeln füllte, brach er auf. Es war noch finster, und ihm begegnete kein Mensch, als er eilig die Straße nach San Clemente hinauf schritt. Er trug Kaftan und Bart des Handelsjuden.

 

5

Don Vacca war zu klug, die Antwort des neapolitanischen Polizeiministers, die seinen Verdacht zu einem Teil bestätigte, sofort gegen die falsche Contessina anzuwenden. Er war zunächst noch wenig mit sich einig, wie weit in diesem komplizierten Fall die privaten Wünsche gehen dürften, und glaubte Ursache zu haben, auch dann für seine Widerstandskraft zu fürchten, wenn er sich klar für die berufliche Linie entscheiden würde. Es schien also gut, diesem vieldeutigen Mädchen gegenüber mit der Wahrheit sparsam umzugehen und die Reserven zusammenzuhalten. Dann aber gab es noch den Caminer, vor dem er Angst hatte und den zu durchschauen er sich niemals einbildete. Es war gewiß, daß sein Zusammenhang mit ihm und der Behörde eine schlichte und keineswegs vergessene Ursache hatte: seine Mittellosigkeit und seinen schlechten Ruf im Episkopat, zwei sich ergänzende Unfreundlichkeiten seines Lebens; denn die eine konnte sich nicht ändern, weil die andere nur seltene und schlecht bezahlte Hilfsmessen zuließ; und die abweisenden Rücken der geistlichen Hierarchie, die er schon hinauf bis zum Erzbischof gesehen hatte, konnten nicht im kleinsten zur Gunst bewegt werden, weil entweder die schlimme Armut oder der schlimme Leumund oder beide im Wege standen. So konnte nicht viel Liebe bei dem neuen Beruf sein, und die gewisse Freude an dem Erfolg, die sich später einstellte, wog nicht schwer. Und so waren die Gedanken, die er in dieser Woche nicht selten hatte, durchaus nicht fernliegend und von seinem ein wenig verschobenen Standpunkt aus die Frage nicht unmoralisch, die er sich schließlich stellte: warum nicht das gute Gold der Corleone statt des spärlichen Silbers des Buon Governo – oder gar, warum nicht das Silber hier und das Gold dort, wenn man es säuberlich und geschickt voneinander zu scheiden wüßte?

Aber da war dieser Caminer, den er fürchtete, wenn er sich auch ihm gegenüber vertraulich und fast kollegial gab, und der mit seiner purpurnen Inbrunst jede Frage für sich entschied. Es war gewiß besser, jeden anderen zum Gegner zu haben, selbst den Souverän, als ihn. Er war beharrlich, nicht anzufassen, unter vielen Umständen gefährlich wie ein gutes Feuer. Vacca hatte sich zu lieb, um sich zu verbrennen. Er hätte gewünscht, der Bericht aus Neapel wäre nur ihm bekannt geworden. Da er ihn notwendigerweise erst durch Caminer erfuhr und da der Bargello mit drei Fragen wußte, wohin der Verdacht ging, den der Abate gegen den Gast der Corleone gefaßt hatte, war die Frage beinahe zu ungunsten von Vaccas privaten Wünschen entschieden.

Caminer schob die dicken roten Brauen in die Stirn und faltete die Hände über den Bauch.

»Also Ehrwürden,« sagte er, »daß es keine Labia aus Neapel ist, wissen wir. Aber daß es die Maddelena Guerra ist, davon scheinen Sie noch nicht überzeugt zu sein.«

Don Lionello konnte jetzt doch kein klares Ja sagen, weniger weil ihm die Identität des Mädchens noch zweifelhaft war, als aus einem gewissen männlichen Gefühl, einer Art Ritterlichkeit, die ihm plötzlich verbot, die Frau, die er begehrte, mit einer verächtlichen Unmittelbarkeit sich vom Beruf entreißen zu lassen. Es waren in seinem groben Körper noch Reste der zarten und wahrhaft sehnsüchtigen Seminaristenseele aus einer sauberen und kurzen Zeitspanne, an die er niemals dachte, aber die sich auf unvermutete Art hin und wieder in die Empfindung schlich. Er wich also aus.

»Nein, Cavaliere,« sprach er in dem derben Ton, dessen er sich schon ohne viel Überlegung dem Präsidenten gegenüber bediente, »soweit bin ich allerdings noch nicht. Indessen …«

»Gut,« unterbrach Caminer, »nehmen wir an, auch Sie seien überzeugt. Dann bleibt die wichtige Frage, welche Gründe Guerra veranlassen könnten, an einem für ihn so schwierigen Zeitpunkt wie dem augenblicklichen seine Schwester zur Corleone zu schicken und möglicherweise alle seine Verbündeten zu kompromittieren oder ihnen gar noch Schlimmeres anzutun.«

Vacca betrachtete den Bargello, der ruhig und freundlich sprach und dessen Zigarre, dick und schwarz im roten Dickicht von Lippenwulst und Bartgestrüpp, mit den Worten lässig mithüpfte. Der Abate ließ sich mit der Antwort Zeit; denn er wußte gut, daß der andere weniger auf sie neugierig war, weil er sich selber keine zu geben verstünde, als aus dem tieferen Grund, ihn, den schon suspekten Agenten, weiter zu prüfen. Jetzt hob er die Schulter und streckte den dicken Kopf vor.

»Wer weiß es?« meinte er. »Vielleicht ist auch von Guerras Seite her die Entscheidung näher, als die Allgemeinheit annimmt.«

Caminer blies eine blaue Wolke Rauch aus und nickte bedächtig.

»Das meine ich auch,« stimmte er zu. »Die Schwester – immer angenommen, sie ist es – dürfte sozusagen seine Avantgarde sein. Und ihrem Ruf nach soll sie über allerlei Arten von Waffen verfügen.« Er nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und lächelte dabei, was verblüffend bösartig aussah. »Das Geplänkel möchte Ihnen, von dem behauptet wird, daß er den Frauen gegenüber kein Feigling ist, vielleicht gar nicht einmal mißfallen – hehe!«

Das war deutlich genug, das Schlußgelächter scharf und kurz, die Warnung von rechter Caminerscher Tönung. Don Vacca begnügte sich, mit den Achseln zu zucken und gekränkt zu blicken. Zugleich nahm er sich vor, im Palazzo Corleone ein seltenerer und reservierterer Gast zu sein.

Caminer war unberechenbar und sein Ingenium von rätselhaften Antrieben und Ausmaßen. Als er ihm bald darauf eröffnete, daß er die Freilassung des Bettlers Gioia beschlossen habe, wußte der Abate zunächst in der Tat nicht, was er davon zu halten habe, zumal der Polizeichef mit Kommentaren sparsam blieb. Erst später, nachdem ihm Caminer die Etappen dieser Enthaftung erläutert und ihn zur Mitarbeit befohlen hatte, begriff er auch diesen Schachzug. Er bestärkte ihn in der Ansicht, daß jede andere als die Partei des Bargello die unterliegende sein würde.

Die Befreiung Gioias begann mit verschärfter Haft. Der Alte, der schon in der ersten Woche aus dem gemeinsamen Landstreicherarrest in eine Doppelzelle zu einem als Sträfling verkleideten Geheimagenten gebracht worden war (auch diese Taktik hatte aus dem Alten nichts herausgelockt, wohl aber seine Verbindung mit Scaleterra unterbrochen), wurde, selbst ohne eine scheinbare Veranlassung, in eine Dunkelzelle der Kellerräume geführt und auch in den Mahlzeiten beschränkt. Da Gioia eine ziemliche Erfahrung in den Praktiken gegen politische Gefangene besaß und da er wußte, daß es das beste sei, an der einmal gezeigten Stumpfheit und Dumpfheit festzuhalten, fragte er nicht. Unsagbar bedürfnislos und den gelegentlichen Hunger mit der dunklen Ruhe der Zelle gleichsam begütigend, hockte er auf der Pritsche, deren Umrisse er kaum erkannte, und füllte den Raum zwischen den Stundenschlägen der Bargelloglocke mit Gedanken, die manchmal greisenhaft bei einem winzigen Erlebnis kauerten, bei einem Braten Salomones, einem Lächeln Checcas, einem fluchenden Bauern auf dem Mercato, dem eine riesige Strohflasche Wein vom Karren gefallen und zerbrochen war – und die zuweilen auch nach rückwärts flatterten, über maßlose Entfernungen in die Vergangenheit, und wie etwas plumpe Vögel Körner von Melodien aufpickten. So verging die Zeit nicht viel aufgestörter, auch nicht viel trübseliger als in den Cortacce des Ghetto.

Aber als in einer frühen Morgenstunde, zu einer Zeit also, wo er den spröden Schlaf zu gewinnen pflegte, ein Geistlicher in die Zelle trat, erschrak er doch bis ins Innerste. Da Vacca den Leuchter mit der unheimlich flackernden Kerze ziemlich hoch hielt, blieb sein Gesicht in den ersten Sekunden im Schatten und unerkannt. Gioia vergaß vor Entsetzen, sich zu erheben, und drehte nur das verschwollene und verzogene Gesicht dem Licht zu. Er hatte infolge seines Gebrechens und der ständigen Schmerzen eine merkwürdige Art zu liegen: über den kranken Arm gekrümmt und hart an den Bettrand gepreßt, so als sei er stets im Begriff, seitlich zu Boden zu rollen. Aber so verschaffte er der reißenden Schulter die notwendige Wärme, auch den Schmerz gleichsam erdrückend.

Die Angst auf seinem Gesicht war so deutlich, befremdend auch als Gegensatz zu seinem gewöhnlichen Gleichmut, und die ganze Szenerie hatte so eindeutig den Charakter eines Armsünderstündchens, daß sich dem immerhin psychologisch geschulten Abate der Gedanke aufdrängen mußte, den verhängnisvollen Schein des Augenblicks, der trefflich in die Vergangenheit dieses Raumes paßte, für seine Zwecke auszunutzen. Er murmelte ein paar lateinische Gebetsworte und stellte dann den Leuchter in die ziemlich hohe, zugemauerte Fensternische, bestrebt, der Zelle die ungewisse Beleuchtung zu erhalten. Doch gerade jetzt, als er sich nur wenig zu strecken brauchte, um den Lichtschacht zu erreichen, erkannte der Alte, der wacheren Sinnes geworden war, den Riesenkörper Don Lionellos. Er wurde ein wenig ruhiger, begann auch zu überlegen und leise zu jammern. Er pflegte dieses kaum artikulierte Wehgespräch, aus dem nur hin und wieder ein » Dio« oder » Madonna« wie ein Baum aus einem Nebelmeer zu vermerken war, rastlos fortzusetzen, wenn er beobachtet oder verhört wurde, und mit ihm selbst seine gelegentlichen Antworten zu umspülen, als ob er von vornherein den stark verminderten Wert seiner Auffassungskraft darlegen wollte. Vacca kannte das Gewimmer sehr gut, und es sagte ihm jetzt auch, daß er selber erkannt sei. Da er also um ein Weniges die Taktik ändern mußte, nahm er das Licht wieder aus der blinden Fensternische, stellte es auf das Tischchen, das unter der Berührung auf seinen morschen Beinen wackelte und zugleich gegen die Mauer klopfte – Gioia kannte dieses hauptsächlichste Geräusch der Zelle: mehr ein Scharren als ein Klopfen – und räusperte sich ernst, wie der Träger einer wichtigen Kunde.

»Also guten Morgen, Gioia,« begann er »und Gott mit Euch.«

Der Alte jammerte als Antwort etwas lauter, drehte sich auf den Rücken und hob dann schwerfällig den Oberkörper hoch, sich auf die Almosenhand stützend. Der Abate gab ihm keinen Blick, setzte sich auf den Schemel, zog das Licht näher heran und fühlte mit strengen Brauen rechts und links seine Brust ab. Gioia sah ihm blinzelnd und stöhnend zu, stieß irritiert doch die Wolldecke zurück und ließ die Beine, erschreckend nackt und mißgestaltet unter den aufgeglittenen Hosen, von der Pritsche gleiten. Don Vacca öffnete langsam und zu neuem Reden die Lippen befeuchtend, die oberen Knöpfe des schwarzen Überrocks, holte ein Dokument aus der Brusttasche, sichtlich ein amtliches Schriftstück, und legte es auf den Tisch.

Gioia hörte auf zu wimmern. Er merkte nicht einmal, daß er mit den nackten Füßen den kalten Steinboden berührte. Er starrte mit wackelndem Kinn auf das wappengeschmückte und gestempelte Papier. Don Lionello fühlte die Wirkung und las besinnlich und langsam das Schreiben durch, ein wenig die Lippen bewegend und mit dem Kopf nickend. Jetzt wandte er das Gesicht zur Seite, ohne eigentlich den Alten anzusehen, und sagte etwas feierlich:

»Gioia, ich habe mit Euch noch ein letztes Mal zu sprechen, ins Gewissen zu reden, in Eurem Interesse, noch einmal.«

Er betonte dieses Letztgültige, nicht mehr Wiederholbare. Gioia verdrehte die Augen, wie in einem neuerlichen Anfall des Schmerzes, und griff hastig in die Tasche seines Rockes, der über ihm an einem Wandhaken hing, als holte er eine lindernde Medizin. Aber es war nur die dunkle Brille, die er hervorzog und sich unbeholfen aufsetzte.

»Wieso?« murmelte er jetzt. » Dio! Dio! Was ist das alles?«

»Ja,« sagte der Abate mit plötzlich lauter Stimme und schlug auf das Papier, »es ist sozusagen erwiesen, daß Ihr mit dem Journalisten Scaleterra, einem notorischen Verschwörer und Demagogen, im innigen Zusammenhang steht. Ich darf Euch natürlich nicht sagen, ob vielleicht der Scaleterra selber diese Tatsache zugab, Freundchen …«

Der dicke Vacca zog das Wort auf bedeutungsvolle Art in die Länge und warf dem Alten einen inquisitorischen Blick zu. Gioia wimmerte:

»Madonna, was redet Monsignore … Barmherzigkeit, nichts verstehe ich … gar nichts! – Ein Armer, ein Kranker, Sterbender wie ich … Dio! Dio! Dio!«

Don Lionello trommelte mitleidslos mit den dicken Fingern in sein Gejammer.

»Freund Gioia,« rief er, »wir verlangen nicht Euer Wehgeschrei. Wir verlangen nicht einmal Euer Geständnis, hört Ihr? – Wir wollen nur wissen, wo Gasto Guerra ist.«

Der Alte war einen Augenblick still. Dann zwang ihn ein trockener Husten, der ihn kaum atmen ließ, sich wieder auf die Pritsche zu legen. Doch jeder Husten geht einmal zu Ende. Don Lionello, völlig ungerührt und sich mit der Lektüre des Aktes beschäftigend, wartete, bis es vom Bett her ruhiger wurde. Dann sagte er, mit dem Papier spielend:

»Gioia, wenn Ihr wüßtet, was auf diesem Bogen steht, würdet Ihr mir ohne weiteres antworten.«

Gioia rührte sich nicht; aber er atmete laut, als nähme er zu sprechen einen Anlauf.

»Ich weiß wirklich nichts,« stöhnte er, »ich habe Schmerzen.«

Der Abate stand auf, das Schreiben in der Hand, und trat an die Pritsche.

»Gut,« sagte er, »dann hört.«

Gioia hob die Almosenhand mit einer merkwürdig zurückweisenden Bewegung. Er sprach ganz leise, mit seiner heiseren Bettlerstimme Worte, die fremd klangen, aus einem anderen Menschengeist geholt:

»Das gibt es nicht. Das läßt Ihr Kleid nicht zu.«

Der Abate fühlte eine tiefe Scham. Er ließ die Arme sinken.

»Ein Mißverständnis, Gioia,« murmelte er. »Das ist der Befehl für Eure Entlassung, wenn …«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nichts,« sprach er. »Mir liegt auch nicht viel daran.«

»Woran?« fragte Vacca verwundert.

»An der Entlassung.«

Vacca sah ihn betroffen an.

»Freundchen, das glaube ich Euch nicht,« sagte er. Gioia antwortete nicht. »Angst?« fragte Vacca plötzlich, »Angst vor dem, was draußen ist?«

»Ja,« erwiderte Gioia mit müder Stimme. Der Abate trat an das Tischchen zurück. Er sprach freundlich:

»Ein guter Vorschlag, Gioia. Wir sichern Euch Straflosigkeit zu, entlassen Euch, geben Euch zweihundert Dukaten und eine kleine Anstellung irgendwo als Pförtner oder Hausmeister, wir sichern Euch den Schutz der staatlichen Macht zu – und Ihr erleichtert Euer Gewissen, sagt, was Ihr wißt.«

Gioia bewegte die Lippen, flüsterte Unverständliches, richtete sich auf, schob die Brille auf die Stirn und wischte sich die Augen mit dem Handrücken.

»Was ist denn, Alter?« fragte Vacca gutmütig. Gioia schluchzte mit einem Male auf und ließ schnell einen Husten folgen, wohl aus Verlegenheit.

»Es wäre schön,« sagte er schließlich, »aber es geht nicht.«

»Warum?«

»Es gibt keinen Schutz.«

»Wovor?«

»Vor der Strafe.«

»Vor welcher Strafe?«

Der Abate beugte sich sehr aufmerksam über den Tisch. Gioia blinzelte ihn aus wässerigen Augen an, den Mund etwas offen; dann lächelte er leise, wie irre fast.

»Vor der Strafe Gottes,« kicherte er.

»Armer Kerl,« sagte der Abate, legte zwei Goldstücke auf den Tisch und ging. Gioia wurde am gleichen Vormittag gegen zehn Uhr aus dem Bargello entlassen.

Das Tageslicht war grell und schlüpfte tückisch stechend von der Seite her unter die blauen Brillengläser. Der Lärm der lebhaften Straße schlug grob das Ohr, das an Ruhe gewöhnt war. Zudem war es ein böses Gehen zu Anfang. Die Beine, durch die Feuchtigkeit der Zellen geschwollen und durch die wochenlange Bewegungslosigkeit steif, wollten den Körper nicht mehr recht tragen. Es hob ein leichtes Drehen der Welt ringsum an, die Straße vor ihm zerbrach in schiefe Stufen und ein Gefühl kam, als stecke er bis zu den Knien in zähem Schlamm. Er sank auch ein Stück ein und sah plötzlich das derbe Steinquadrat des Straßenpflasters, gebuckelt und voll Pferdekot, nahe seinem Gesicht. Zwei kräftige Arme schoben sich unter seine Achsel. Er schrie auf, mehr aus Vorsicht, als aus Schmerz.

»Armer Kerl,« hörte er hinter sich. Das gleiche Wort des Mitleids hatte ihm schon vom Abate gefallen. Er fühlte heute Lust, sich bedauern zu lassen. Er ließ sich auf die Beine stellen, spürte auch immer noch den festen Halt am linken Arm und wandte langsam den Kopf. Sein Helfer war ein junger hübscher Mensch in der Schürze des Delikatessenhändlers, der ihn aus guten Augen ansah.

»Krank, Alter?« fragte er. Gioia nickte, sah sechs, acht, zehn, immer mehr Menschen um sich herum – und alle hatten barmherzige Augen und mitleidige Worte. Das gefiel ihm und ihm wurde ganz warm davon.

»Auch Hunger, guter Mann?« fragte der Helfer von neuem. Einige Frauen riefen, daß er gewiß Hunger habe, daß man es ihm doch ansehe.

»Ja,« sagte Gioia, obwohl es nicht wahr war.

»Kommt zum Onkel hinein,« entschied der Helfer. Die Menge rief Beifall. Gioia wurde in eine nahe Pizzicheria geschoben, die vor dickbäuchigen Würsten und radgroßen Käsen strotzte und deren Decke hinter den aufgehängten Schinken verschwand. Der Alte verspürte in dem fetten Ruch des Ladens eine leise Übelkeit; aber er hielt aus, um den Triumph der Barmherzigkeit auszukosten. – Es gibt soviel gute Menschen, dachte er, noch immer etwas verwirrt. Der Onkel, ein Mann mit einem Cäsarenkopf, griff zu dem langen schmalen Messer, rasch unterrichtet und gutmütig eifrig, und schnitt mit ungemeinem Geschick haardünne Scheiben Schinken und riesigrunde Mortadella, häufte das Fleisch vor dem Armen auf, gab ihm Brot dazu und einen guten Schluck Marsala. Vor dem offenen Laden begleiteten die Leute den Akt der Nächstenliebe mit zutunlichen Worten. Der Onkel tat, als hörte er sie nicht; aber es war Freude in seinen Augen. Gioia aß schon, ohne sich viel zu zwingen, mit allen Anzeichen des Hungers, benommen und glücklich im Ansturm der Gutmütigkeit. Währenddessen flüsterte der Helfer mit dem Onkel und draußen dann mit den Leuten. Gioia hörte bald Geld klappern, Kupfer, auch Silber, der Onkel warf ein kleines Goldstück auf den Ladentisch und schnitt eine Wurst von der Wand, mit einem gutmütig grimmigem Schwung des Messers. Die Menge draußen vermerkte es mit ungehemmtem Lob. Der Helfer kam mit dem Geld und der Wurst.

» Mamma mia!« murmelte Gioia, »was seid ihr gut!«

Er ging, vor Glück stumm und schüchtern, nur eifrig und ein wenig lächerlich mit dem Kopf nickend. Die Leute draußen hatten durch das blaue Brillenglas etwas verblichene und unwirkliche Gesichter. Er blinzelte seitlich aus der Brille, um von ihnen einen lebenswarmen Anblick mitzunehmen; er glaubte sich diesen Akt der Erkenntlichkeit ihnen gegenüber schuldig. Aber es war doch nicht mehr der volle und tiefe Ausdruck der Teilnahme zu erhaschen. Die Menschen blieben zwischen zu große Helle und zu glasig gedämpfte Verfärbung geteilt. Die Unbeteiligteren zeigten auch schon die Rücken. Eine Frau allerdings fragte, ob sie ihn nach Hause bringen solle. Aber gerade dieses Angebot hätte nicht gemacht werden sollen. Gioia erwartete in einem verworrenen Eigensinn seines Wohlgefühls, daß man ihn an die Wirklichkeit nicht einmal erinnere. Er sagte hastig nein, fast etwas gekränkt, und rollte fort.

Doch es blieb noch genug Wärme von dem Erlebnis in ihm, im Herzen, im Magen, im Kopf. Er lispelte in heiterem Selbstgespräch. Der schwere Wein und die herbe Luft, ungewohnt beide, schenkten ihm einen leichten Rausch. Und Freude, die von den Menschen kam, war ein so seltenes Ereignis für ihn, daß sie zu verarbeiten nicht leicht wurde. Aber es gab doch Freude, auch für ihn – mehr noch, viel mehr noch: es gab Menschen, die ihm, Gioia, Freude machten. – Er stockte, wiegte sich hin und her und stand dann. Freude – Gioia! Seit den Scherzen seiner römischen Gefährten war ihm nicht mehr zum Bewußtsein gekommen, daß sein Name so schön war, so herausfordernd kühn, gleich zu sein mit Freude. Er lachte leise, nicht resigniert, sondern geschmeichelt. Es kam alle gute Verwirrung dieser Stunde aus der alten und ganz unerwartet erfüllten Sehnsucht nach Achtung. Jetzt war es für die taumligen Gedanken kein großer Sprung mehr zur Sehnsucht nach Liebe. Er hob die Almosenhand, noch auf dem gleichen Fleck stehend, und winkte einfältig dem Bild zu, das sein Gedanke hatte. Denn da war noch Checca, die Freude hieß. – Checca! Checca! Checca winkte er. Der Gedanke war ganz deutlich: auch sie würde jetzt gut zu ihm sein, unsagbar gut und vertraulich, wie der heimlichste Glückskern seiner Erinnerung es heilig verbarg – so gut und vertraulich, wie es nur das Wunder des gleichen Namens und solchen Namens schaffen könnte –

Er schaute auf. Er stand in der Via Ghibellina vor dem Portal des Palazzo delle Colonna. Der alte Pförtner, augenscheinlich ein Invalide, auf der Brust zwei sorgfältig geputzte und nicht zu übersehende Medaillen, saß im Toreingang auf einem Stühlchen, rauchte eine Pfeife und sah mit leerem Blick dem Tabaksqualm nach. Ein Kätzchen spielte mit seinem Hosenbein, ohne daß er es zu bemerken schien.

Gioia stand und schaute. Aus einer anderen Ecke seiner Welt flog ein anderer Gedanke zu ihm. Die Worte, die gleichsam dazugehörten, wiederholte er:

»Das wäre schön.«

Er sprach sie laut. Der Pförtner blickte auf, sah ihn und nahm die Pfeife aus dem Mund.

»Ja,« sagte er, als wüßte er, um was es sich handelte. Dann zog er einen Lederbeutel aus seinem sandfarbenen Überrock. »Tabak, Kamerad?« bot er mit militärischer Kürze an. Gioia kam mit ergebenem Gruß näher.

»Tausend Dank, Herr Wachtmeister,« sprach er und bediente sich, obwohl er keine Pfeife besaß. Er stopfte den Tabak in die Tasche, murmelte einen guten Tag und ging weiter.

Er sann über den verzauberten Tag. Alles war gut – warum sollte nicht Checca die Beste sein?

An der Ecke der Via Ghibellina und der Via del Diluvio, die er rechterhand auf Santa Croce zu passieren wollte, standen zwei fatale Gestalten, Geheimagenten, wie er gut wußte. Sie nahmen sich nicht einmal die Mühe, den Anschein unbeteiligter Eckensteher zu wahren. Sie hatten jedenfalls schon die Stationen seiner Freude beobachtet und erwarteten ihn jetzt, kalt polizeilich ihn ansehend, um zu erfahren, welchen Weg er einschlagen würde. Gioia rollte mit freundlichem Gleichmut auf sie zu, immer noch im inneren Schwung dieser Stunde und wie bereit zu einer Versöhnung. Oder es war, bei ganz klarem Kopf jetzt, gar ein herausfordernder Wunsch in ihm, auch die gegensätzlichen Elemente auf ihre guten Bestandteile zu prüfen. Er verlangsamte also den Schritt, als er den Beiden gegenüberstand, und streckte, sein Sprüchlein undeutlich murmelnd, die Almosenhand aus. Die zwei Männer, ein großer, starker, unrasierter und ein etwas kleinerer, gepflegterer, mit weichem Kinn in der hohen Krawatte, sahen sich an, ein wenig verdutzt. Dann zwinkerte der Kleinere belustigt mit den Augen, griff in die Weste und legte ein großes Kupferstück in die langsam vorbeischwingende Hand.

»Auf Wiedersehen, Vater Gioia!« sagte er und lachte gutmütig. Der Unrasierte murmelte ein Schimpfwort. Gioia dankte höflich und rollte weiter.

Das war ein glatter Sieg, nicht seiner eigenen Person, sondern der Güte, die an diesem Tag allmächtig schien. Gioia drehte sich nach hundert Schritten vorsichtig um: die Agenten folgten ihm langsam. – Wie können sie anders, dachte er, sie vor sich selber entschuldigend, Beamte, die einen Auftrag ausführen müssen.

Der Alte konnte jetzt im frischen Vormittagswind scharf überlegen. Der leichte Weinrausch war verflogen, und die Beglückung, die geblieben war, hielt das Denken nur in festen Zügeln, dem schönen Ziele zu. Er wußte ganz genau, was er jetzt zu tun hatte. Es gab für den Fall, in dem er sich heute befand, sehr wichtige, fast grundsätzliche Verhaltungsmaßregeln, die sich gegen die naheliegende polizeiliche Überwachung nach der Freilassung richteten und etliche Tage lang jede Berührung mit der Partei und selbst mit den gewohnten Lebensumständen verboten. Gioia erinnerte sich gut des Schlupfwinkels, der ihm für solche Tage zugewiesen war, und er schien auch zu gehorchen, als ob sein heimliches Ziel in der gleichen Richtung läge.

Er ging auf vielen Umwegen, die Stunden dauerten und ihn sehr ermüdeten, auf das linke Arnoufer, dem Quartier San Spirito zu. Dort, in den Proletarierstraßen des Außenbezirks nahe dem San Frediano-Tor, in den Sackgassen und Durchgängen längs der Via del Leone und der Via del Campuccio war das Verbrecherviertel, das die Polizei nur mit starken Patrouillen zu betreten pflegte. Das war nicht Schlupfwinkel und Zufluchtstätte für Einzelne, Versprengte, Desperados wie das Ghetto, sondern gleichsam die Operationsbasis festgefügter Korps von Dieben und Hehlern, zumeist entlassenen Zuchthäuslern und Galeerensträflingen, die sich indessen selten mit Kapitalverbrechen abgaben. Das waren nicht wie im Ghetto wildgewordene und entfesselte Zornhäuser, himmelhoch, ineinandergebissen und verschlungen wie rasende Zyklopen, sondern kleine elende Baracken, ein Stock hoch, selten zwei, türlos, fensterlos, krumm, kotig, letzte Armseligkeit, nur gehalten von einem unbeschreiblich kräftigen Willen zum Bösen. Engbrüstige Hütten mit ein oder zwei Räumen in jedem Stockwerk, bewohnt von zwei oder vier Familien, vier, sechs, sieben Köpfe eine Familie, ein Strohlager für sie alle das Bett, kein Unrat des Körpers oder der Seele, den sie nicht brauchten wie eine warme Decke. Schmale geschmeidige unzüchtige Menschen, den Teufel im Leibe.

Gioia kannte sie. Er verachtete sie nicht, aber er schätzte sie auch nicht, weil er, im Grunde ein moralischer Mensch, die häßliche Art ihres Krieges gegen die Gesellschaft für kleinlich, unerlaubt und unsauber hielt. Beachtenswert nur war ihre Disziplin und schließlich auch ihre Bundesbereitschaft für die revolutionären Elemente.

Der Alte hatte an der Carraiabrücke längere Zeit gewartet; denn es galt nicht nur, die Verfolger zu verwirren, sondern sie auch auf der Spur zu erhalten. Er stand, hielt die Almosenhand ausgestreckt und beobachtete die Passanten auf dem hochgespannten Brückenbogen. Er erhielt ziemlich reiche Almosen und wunderte sich nicht: das war der gnadenreiche Tag. Endlich erschienen die beiden Geheimagenten, die ihn anscheinend in der Gegend von Santa Maria Novella verloren hatten. Gioia trat mutwillig einen Schritt vor und streckte die Hand aus.

»Brigante!« sagte der Unrasierte, der noch schlechterer Laune geworden war. Doch der Gepflegte lachte wieder und gab wieder einen Quattrino.

»Vater Gioia,« meinte er, »du bist nicht unbegabt.«

Gioia zog sie die Serraglistraße hinter sich her und bog dann deutlich in die berüchtigte Campuccio. Es wimmelte von Menschen, halbnackten, zerlumpten, schmutzigen, auf der Straße hockend, liegend, essend, voll unheimlicher Neugier für die Vorübergehenden. Der alte Bettler war unverdächtig, sofern man ihn nicht gar kannte. Er wartete in einem dunklen Gang, der ein schiefes Haus durchbrach und dann eine Sackgasse wurde. Als die Gestalten der zögernd vorgehenden Agenten am Straßeneingang sichtbar wurden, sagte Gioia zu einer bloßfüßigen Frau, die neben ihm hockte und mit starrem Gesicht einem Säugling die Brust gab:

»Da sind zwei von der Corda, nur zwei.«

»Corda« hieß die Polizei im Verbrecherjargon. Es gab bestimmte Ausdrücke und Formeln für Alarm und Abwehr, die jedem Anwohner dieser Straßen geläufig waren. Die Frau überzeugte sich mit einem Blick, den haarigen Kopf vorstreckend, und schrie mit überraschend tiefer und heiserer Stimme:

»Gut gekocht! Zweimal!«

Man wußte Bescheid. Der Ruf lief in dem engen Gemäuer sowohl die Häuser hinauf als auch ein genügendes Stück die Straße entlang. Einige Männer, die Geld und wertvolle Gegenstände in ihrer Obhut hatten und noch nicht wissen konnten, ob nicht etwa eine Streife stärkerer Polizeikräfte bevorstand, begaben sich auf die Dächer, an deren gefährlichsten Stellen immer Leitern bereitstanden. Auf der Straße stand plötzlich ein Zug von dreißig Kerlen, die sich langsam, mit wiegenden Schultern, die Rechte in der Hosentasche, der Serraglikreuzung zu in Bewegung setzten. Die beiden Agenten machten eilig kehrt; sie wußten ja überdies fürs erste genug.

Soweit ging alles seinen rechten Gang. Gioia begab sich in eine Kneipe, deren Besitzer irgendwelche dunkle Beziehungen zur Partei unterhielt und für das San Fredianoviertel so etwas wie ihr Agent war. Man kannte ihn nur unter seinem absonderlichen Spitznamen: Guillotine, und keiner wußte recht, warum er so hieß. Aber keiner hatte Neigung, nach den Gründen dieser Benennung zu forschen; denn der Besitzer der Schenke war trotz seiner fünfzig Jahre und trotz der zwanzig Jahre Galeere, die er zugab, der stärkste Mann des Quartiers, mit Fäusten, deren Schlagkraft sprichwörtlich war, und einem kantigen Kinn von lähmender Brutalität. Man vermutete, daß zunächst diese Faust mit dem dazugehörigen Messer das böse Gleichnis herausforderte, das ihm später den Beinamen gab. Seine Stellung im Quartier war seit Jahren eine merkwürdig unangefochtene; er war gleichsam der Generalstabschef der Diebstruppe, ohne sich je in die Feuerlinie zu begeben. So gehörte er, durch Hehlerei und Spritschmuggel, wahrscheinlich auch durch eine Art Abgabe, die er von den Aktiven einzog, zu ziemlichem Wohlstand gelangt, nichtsdestoweniger zu den wenigen Männern der Campucciohäuser, dessen Signalement im Bargello nicht aufgefrischt zu werden brauchte und der sich auch in den übrigen Stadtvierteln unbehelligt bewegen konnte.

Da Gioia müde war, setzte er sich an den langen Tisch, in einiger Entfernung von den übrigen Gästen, und bat um Brot, Käse und Wein. Guillotine wiegte zu ihm heran und neigte sich vertraulich vor. Das fürchterliche Kinn nahm einen unangemessenen Teil seines Gesichts ein, das sich nach oben gleichsam verjüngte und fast stirnlos in wildem grauem Haar verschwand.

»Was los?« fragte er. Der Alte blinzelte zu ihm hinauf, einen Augenblick versucht, auch bei ihm den Zauber dieses Tages zu erproben. Doch da er mit den Gedanken schon weiter und körperlich träge war, begnügte er sich mit einem Kopfschütteln. Guillotine kratzte den schweren Daumen an den Bartstoppeln. Das Felsenkinn, das sich beim Sprechen kaum bewegte, ließ nur knappe Worte zu:

»Fast geklappt, was? Bleibst nachts hier – natürlich.«

»Nein,« sagte Gioia sofort. Der Athlet blickte erstaunt und rührte die Quadern der Schultern, als sei es ihm unbehaglich.

Mit Gioias Antwort also begann das Befremdliche. Er blieb noch bis zum Dunkelwerden sitzen, etwas zusammengesunken, in einer zufriedenen Starre, angefüllt von dem einen Gedanken. Man störte ihn nicht, weil man gesehen hatte, daß Guillotine freundlich zu ihm war, und weil man die Bedeutung des Bettlers ungefähr kannte. Als der graue Schacht der Gasse draußen schwarz geworden war, stand Gioia auf und legte zwei Viersoldistücke auf den Tisch, ein wenig erwartungsvoll zum Wirt hinsehend. Er wurde nicht enttäuscht.

»Behalten, Alter!« rief Guillotine vom anderen Tischende. Gioia nahm die Kupferstücke wieder zu sich, dankte, wünschte höflich allen Anwesenden eine glückliche Nacht, erhielt einen freundlichen Gegengruß und ging.

Der Tag blieb gut; aber jetzt begann das Verbotene. Gioia wußte es; er gab sich keiner Täuschung hin, daß das, was er jetzt tat, pflichtwidrig war: Ungehorsam, Fahrlässigkeit, unter Umständen Verbrechen gegen die Partei. Doch es gab etwas, das höher stand, wichtiger und seltener war als alles dies. Gioia ließ sich nicht beirren. Er wußte ja nicht, wann solcher Tag wiederkam.

Er schob sich aus der finsteren Campuccio in die besser beleuchtete und bürgerlichere Serraglistraße. Es mochte gegen sieben Uhr abends sein. Es waren genug Leute unterwegs, um seinen Weg unauffällig zu machen. Ob er es in seinem innerlichen Eifer viel bedachte, ist zweifelhaft. Daß er nicht in der Straßenmitte ging, sondern nahe den Häusern, war eine alte Gewohnheit, eine gewisse Taktik, die aus Vorsicht und Bescheidenheit zusammengesetzt war und die er in diesem Augenblick kaum beachtete.

Zudem war der Weg nicht weit. Die Serraglistraße und die Via Romana liefen vor dem Römischen Tor in spitzem Winkel zusammen. In einem der Durchgänge, die kurz vor der Vereinigung die Straßen verbanden, wohnte Checca. Der Alte hatte sie noch niemals besucht, weil es ihm auf das strengste verboten war. Aber er wußte, wo sie wohnte. Er kannte sogar in dem großen finsteren Arbeiterhaus, in dem sie lebte, ihr Fenster. Denn er war schon im Laufe der vielen Jahre einigemal hier gewesen, so selten er den ihm zugewiesenen zentralen Stadtteil verließ: heimlich, ohne ihr Wissen, wenn er sich nach ihr bangte. Und er hatte sie einmal an den Blumenstöcken ihres Fensters hantieren sehen.

Das Haustor stand offen, wie in allen ärmeren florentinischen Quartieren. Gioia klomm langsam eine finstere, unregelmäßige Steintreppe hinauf, die in überraschenden Windungen an zahllosen Türen vorbeiführte. Auch die meisten dieser Türen waren nicht geschlossen. Immer hörte man den Lärm vielen Lebens, jeden Ausdruck menschlicher Stimmungen, Lachen, Fluchen und Singen. Gioia war es gewöhnt. Als er glaubte, das rechte Stockwerk erreicht zu haben, trat er in den offenen Gang. Ein paar Schritte vor ihm, im Schein eines Lichtes, das aus einem Zimmer fiel, saß ein Kind, ein etwa siebenjähriges Mädchen auf einem winzigen Stuhl, ohne sichtbare Beschäftigung, beinahe nachdenklich. Gioia nahm in einer plötzlichen Eingebung die blaue Brille ab und strebte ziemlich eilig vom finsteren Eingang in den Lichtschein, um das Kind nicht zu erschrecken. Er hatte das Gefühl, daß er hier auf keinen Fall einen schlechten Eindruck machen dürfe. Seine schweren Sohlen und sein Fallschritt machten Geräusch genug; doch das Kind wandte nicht den Kopf nach ihm, vielleicht weil es durch die vielen und unendlich bekannten Menschen, die zu jeder Tagesstunde den Gang passierten, die Neugierde verlernt hatte. Vielleicht ist es auch taub, dachte Gioia und begann zu grinsen, um ihm nicht zu mißfallen.

»Guten Abend, bimba,« sagte er so freundlich er konnte. Das Kind dankte, leicht aufblickend. Er war ein wenig erleichtert. Er sah durch die Tür hinein in ein kahles Zimmer, in dem eine uralte Frau saß. Ihre Haltung und ihre etwas starre Besinnlichkeit hatten eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der des Kindes. Sie saßen auch in der gleichen Richtung. Die Alte sah mit runden matten Augen durch die Tür über den Kopf des Kindes hinweg unverwandt auf Gioia. Aber er hatte das Gefühl, als erblickte sie ihn nicht. Vielleicht ist sie blind, dachte er. Doch in diesem Augenblick fragte sie:

»Was wollen Sie?«

Gioia mochte aus irgendeinem Grund lieber mit dem Kind zu tun haben. So antwortete er ihm und nicht der Frau:

»Ist die Checca zu Hause?«

»Nein,« antwortete die Alte, nicht das Kind, das sich um seine Frage nicht gekümmert hatte. Gioia wurde erregt. Sollte dieser ganze Tag an einem billigen Zufall zerschellen?

»Ich darf wohl in ihrem Zimmer auf sie warten?« fragte er und sah das Kind dringlich an, als sei seine Zustimmung die wichtigere.

»Ich glaube nicht,« sagte die Alte unbarmherzig, »die Checca … Wer sind Sie eigentlich?«

»Ich bin der … ich bin ein …« stotterte Gioia verwirrt; dann beugte er sich zu dem Kind hinab, das ihn ohne Angst ansah, mit klaren großen Augen, wie erwartungsvoll.

» Bimba mia,« flüsterte er ihr zu, geheimnisvoll und vertraulich, »sieh mal, Kindchen, ich bin ihr Babbo.«

Das Kind stand ohne weiteres auf und nahm ihn an der Almosenhand. Die Alte rührte sich nicht und blieb starr wie eine Wachspuppe. Sie schien niemals in das Gespräch eingegriffen zu haben und hinderte die Beiden, die den dunklen Gang hinunterschritten und schon nicht mehr zu sehen waren, mit keinem Wort.

Das Kind blieb nach einigen Schritten stehen und öffnete eine Tür. Gioia roch das Parfüm Checcas. Die Kleine zog ihn in das dunkle Zimmer.

»Soll ich Licht machen?« fragte Gioia, der immer ein paar Schwefelhölzer in der linken Rocktasche trug. »Sind Kerzen da oder eine Lampe?«

»Ich weiß nicht, ob man darf,« erwiderte das Kind etwas ängstlich.

Gioia stand gehorsam im Dunkeln. Auch das Kind rührte sich nicht, oder es war schon auf seinen lautlosen Sohlen davongeschlichen. Der Alte sagte sich, daß es ihm niemand verbieten könne, wenn er eines seiner Schwefelhölzchen anzünden würde, um sich nach einem Stuhl umzusehen. Er nahm ein Hölzchen aus der Tasche und bückte sich auch schon auf seine mühselige Art, um es an der Sohle zu entzünden: doch dann bedachte er den Gestank des abbrennenden Hölzchens und den Wohlgeruch des Zimmers und unterließ es. Er fragte nur auf gut Glück in die Dunkelheit:

»Ob ich mich wohl irgendwo setzen könnte, bambina

Das Kind war noch da. Die kleine Hand tastete sich wieder seinen Ärmel abwärts und führte die Almosenhand zu einer Stuhllehne. Gioia setzte sich und war recht zufrieden. Das Ziel schien in gewissem Sinne bereits erreicht. Enttäuschungen wollte er nicht mehr fürchten. Die Hand fand vor sich einen Tisch und darauf eine rauhe Leinendecke, die sogar einige magere Stickereikonturen fühlen ließ. Ein solches Maß von Wohlhabenheit erstaunte ihn ungemein. Er freute sich. – Es geht ihr nicht ganz schlecht, sagte er sich voller Genugtuung, es muß hübsch aussehen in ihrem Zimmer. Und da es ihm gerade in diesem Augenblick etwas daran lag, laut zu sprechen, sagte er:

»Du liebst wohl auch die Checca, Kindchen?«

Er bekam keine Antwort. Wahrscheinlich war das Kind jetzt doch hinausgegangen. Es verging eine geraume Zeit. Allmählich konnte Gioia in dem ganz schwachen Grau, das von draußen in den Raum fiel, die Konturen des ziemlich großen Zimmers erkennen, das von nicht wenig Möbeln bestellt schien. Gioia freute sich und streichelte die Tischdecke. – Wenn sie nicht kommt! sagte er sich plötzlich; doch er verbannte sofort diesen Gedanken, der wie eine Lästerung war. Es kamen andere Gedanken – die Verbindung war ja so leicht! – an ein anderes Zimmer der Checca, das einzige nach den Behausungen ihrer römischen Kinderzeit, das er je gesehen hatte – das Zimmer, das um die große Sünde aufgebaut war – das ewige Zimmer zu Toulon. Die Nebel von sechsundzwanzig Jahren wurden ganz durchsichtig. Er sah alles wieder; aber er fand in dieser dunklen und schmiegsamen Stunde nicht mehr das Entsetzen und den Abscheu und fühlte nicht mehr den Peitschenhieb der großen Schuld. Er begann vor der Dunkelheit zu zittern und wünschte sich Licht.

»Jetzt kommt sie,« sagte plötzlich die Stimme des Kindes. Gioia tat eine wirre Geste in die Dunkelheit hinein, wie aufgestört. Dann wurde der Gang von einem sich nähernden Licht mattgrau, mattgelb, hell jetzt. Gioia erkannte ihren Schritt. Damit sie wisse, daß er da sei, und sich nicht an seinem plötzlichen Anblick stoße, sagte er recht laut und etliche Male:

»Ja, jetzt kommt sie – ja, ja, jetzt kommt sie.«

Checca trat ein, in der hochgehobenen Hand den Kerzenleuchter. Gioia sah, daß sie sehr erregt war.

»Um Gottes willen!« sagte sie mit einer kehligen Stimme und schloß sofort die Tür hinter sich. Das Kind war nicht mehr im Zimmer. Gioia wollte der Tochter ein beruhigendes Gesicht zeigen; aber es gelang ihm nur das halbe Grinsen, das ein wenig närrisch aussah. Checca stellte den Leuchter auf den Tisch.

»Hast du den Verstand verloren?« fragte sie. Das war grob; aber der bedrängte und leise pfeifende Atem, der die Worte begleitete und jetzt noch hörbar war, beschwichtigte ihre Härte. Er schüttelte langsam den Kopf und sah sie unverwandt an.

»Checca, Checca,« sagte er leise, »sieh mal …«

Sie machte eine gequälte Bewegung, die ihn nicht weitersprechen ließ.

»Ja, was willst du denn hier?« fragte sie, nicht einmal böse, sondern nur sehr bedrückt.

»Nichts,« entgegnete er kleinlaut. Sie setzte sich, stützte das Kinn auf die Hand und schloß die Augen. Sie schien recht müde zu sein. Auch Gioia wandte den Kopf ab, als könnte sein Blick sie stören. Er wagte erst jetzt, das Zimmer anzuschauen. Es war in der Tat ein mit freundlichen Möbeln bestellter, sehr sauberer, durchaus nicht ärmlicher Raum, dessen roter Ziegelboden sogar von einer Strohmatte bedeckt war. über dem Bett hing ein Porträt Lord Byrons und darunter ein Geigenhals. Gioia stand mit bebendem Kinn auf und trat näher. Er beugte sich vor, sich mit der Almosenhand gegen die Wand stützend: er erkannte das tiefe Braun des Holzes mit der schönen Maserung; er hatte es in hundert Träumen wiedergesehen und zwischen den Fingern gehalten – es war ein Stück des Instrumentes, das in der römischen Nacht der Verhaftung zerstampft wurde. Vielleicht war auch dies nicht in der Wirklichkeit, dies alles nicht – dieses Zimmer, die Stunde nicht, schön genug schon als Gedanke.

»Schön genug,« wiederholte er leise und wandte sich um. Checca sah ihn aus ihren unruhigen Augen an. Sie betrachtete auch den Geigenhals, dann wieder den Vater; und in dieser kleinen, verbindenden Drehung des Kopfes offenbarte sich die Gnade Gottes. Aber sie sprach kein Wort; ihr Gesicht verlor auch nicht den bekümmerten Ausdruck. Gioia schlürfte still auf seinen Platz zurück, bewegte die Lippen und wagte nicht aufzusehen.

»Wann bist du entlassen worden?« fragte sie nach einer Pause.

»Heute morgen,« antwortete er leise.

»Um Gottes willen,« sagte sie wieder, wie bei ihrem Eintritt, »man ist doch hinter dir her …«

»Nur bis zur Campuccio,« beruhigte er, »ich ging erst weiter, als es dunkel war. Und dann …«

Er stockte; er war noch immer benommen, traute nicht dem Augenblick und hatte Angst vor einer Enttäuschung, vor einer ironischen Kehrseite seiner Glückseligkeit.

»Weißt du, was du angerichtet haben kannst?« fragte sie wieder, doch ohne Vorwurf; »gerade jetzt, wo … Ach du weißt ja nichts,« fügte sie müde hinzu.

»Und dann ist das nicht so wichtig,« vollendete Gioia plötzlich seinen Satz. Er lächelte ihr zu, dieses Mal mit einem schönen Lächeln. Er hatte gleichsam zu lächeln gelernt.

»Was ist denn wichtig?« verwirrte sie sich und senkte den Kopf.

»Ach, Checca, Checca,« flüsterte er, wie leise erheitert. Sie sah ihn plötzlich an.

»G. G. ist in Florenz,« sagte sie ernst, »im Ghetto, bei Salomone – sieh dich vor.«

Gioia rückte auf seinem Stuhl hin und her.

»Ist es denn notwendig,« murmelte er, »daß ich wieder … ich könnte ja noch im Bargello sein – und in der Campuccio bleiben – bei Guillotine …«

»Es ist notwendig,« sagte Checca fest, »wir brauchen gerade jetzt Jeden. Du bleibst noch drei Tage in der Campuccio und gehst dann sehr vorsichtig in die Cortacce, durch die Keller – hörst du?«

»Ja, ja,« nickte er und sank ein wenig zusammen. Eine Zeitlang schwiegen sie.

»Deine Brille?« fragte sie dann. Er lächelte schon und zeigte auf seine Rocktasche.

»Hier,« antwortete er, »ich wollte die Bimba nicht erschrecken, das Kind draußen – ein gutes Kind – wie heißt es?«

»Giuliana,« sagte sie und lächelte an diesem Abend das erstemal; sie setzte dann leise und zärtlich hinzu: » Babbo mio«.

Er hob ganz betäubt die linke Hand hoch.

»Es gibt böse Tage und es gibt gute Tage!« flüsterte er wie im Rausch; »das heute ist ein guter Tag mit lauter guten Menschen. – Und die Checca, Checca mia …«

Er flatterte mit der Almosenhand über den Tisch, ihrer Hand zu. Sie ließ sie ihm.


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