Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Des kleinen Pisaner Studenten Gasto Guerra Beweggrund, die politische Laufbahn einzuschlagen, war so unmoralisch gewesen wie nur möglich: er hatte kein Geld, und eine unbekannte Seite bot ihm Geld gegen Bedingungen, die höchst merkwürdig waren, aber sofort auch des jungen Menschen Freude am Spiel mit Menschen, Ideen und Gefahren weckte.
Es war ein sehr kluger Schachzug der Parteizentrale und ihrer zahlreichen, psychologisch geschulten Propagandisten, durchaus nicht allein den Idealismus aufzuspüren, sondern vornehmlich die Befähigung in demagogischer oder auch nur rein disziplinärer Hinsicht. Man spionierte die moralische, seelische oder materielle Lage der Leute aus, die man für geeignet befand. Man lernte Zwangssituationen aufstöbern und mit ihnen operieren. So fing man die tausend Gioias mit schlichten Erpressungen und den großen Guerra durch Ablösung von Wechselschulden. Man fing auch noch andere. Aber nur ganz wenige brauchten einen so winzigen Anstoß zu einem lebenslangen Schwung wie damals der Pisaner Student, der auch äußerlich ungewöhnlich für die ihm zugedachte Zukunft begabt war; denn er war erstaunlich schön, gewinnend und eindrucksvoll – wie der Theaterheld einer Tragödie.
Guerra war der einzige Sohn eines bekannten Livorneser Advokaten, von dem er Intelligenz und Unbedenklichkeit geerbt hatte und die Kunst der Rede, der Geste und der Verschwendung. Die Mutter, die schon lange tot war, hatte ihm wohl die Schönheit geschenkt und dann etwas Innerliches, das damals in dem Sohn noch nicht entwickelt war. Als auch der Vater ganz plötzlich vom guten Leben scheiden mußte – an einem Abend beschwerte er sich über eine Auster, die nicht ganz frisch gewesen sei, und drei Abende später starb er –, trat die überraschende Tatsache zutage, daß kein Vermögen vorhanden war, daß das stattliche Haus im Stadtzentrum und das Villino an der Küste von Ardenza hypothekarisch überlastet war und daß nur die großen Einkünfte der Advokatur das üppige Leben des alten Guerra unterhielten. Aus dem Verkauf der Praxis und der Immobilien blieb gerade so viel, daß Gasto seine Studien bei sparsamem Leben fortsetzen konnte und daß die zehnjährige Schwester Maddalena, die sehr hübsch zu werden versprach, in einem feudalen Frauenkloster nahe bei San Miniato zu Florenz die standesgemäße Erziehung erhielt.
Doch Gasto besaß für Sparsamkeit weder Sinn noch Neigung. Die kleinen Studentenschulden wuchsen sehr rasch zu drückenden Verpflichtungen. Die übelsten Wucherer in Livorno und Florenz kannten seine Unterschrift. Da seine einzige Einnahmequelle, das Hasardspiel, weder ertragreich noch zuverlässig war, begann er, das Glück ein wenig zu seinen Gunsten zu korrigieren. Eine Zeitlang ging es gut; dann wurde man mißtrauisch. Es kam schließlich zu einem sehr peinlichen Auftritt, der viel Aufsehen erregte und sogar das Universitätsgericht beschäftigte. Der Emissär der Geheimpartei, ein jüngerer Dozent der juristischen Fakultät, hielt jetzt schon die Zeit für gekommen, um Guerra anzuwerben. Aber nach dem ersten Verhör des Studenten durch den Universitätsrichter wartete er ab. Er wollte das Schauspiel zu Ende genießen, das gewisse Vermutungen hinsichtlich der Brauchbarkeit Guerras bestätigen konnte. Der Student entwickelte vor dem akademischen Senat eine Beredsamkeit, den echten Furor des Schuldlosen, der schlechthin betäubte. Er agierte mit einer Leidenschaftlichkeit, die täuschend genug war, um den nüchternen Zweck zu verhüllen. Er duellierte sich, ohne daß Blut floß. Er erreichte schließlich seine vollkommene Rehabilitation, die in einem offiziellen Widerruf und einer schriftlichen Achtungserklärung seiner beiden Ankläger gipfelte. Kurze Zeit darauf hatte er eine lange Unterredung mit dem erwähnten Dozenten, dessen Wohnung er erst gegen Morgen verließ. Im Laufe der nächsten Tage löste er alle Wechsel ein, die von ihm im Umlauf waren. –
Sein Aufstieg innerhalb der Partei war stürmisch. Man möchte sagen, daß er den Zustand des Noviziates übersprang und sofort mit dem Anspruch auf Geltung anfing. Er stellte seine amourösen Beziehungen zu der Gattin eines bei Hofe beliebten pisanischen Patriziers unbedenklich in den Dienst der Partei und erfuhr gewisse, für die Zentralleitung wichtige Einzelheiten über die Stellung des Großherzogs zu seinem Schwager, einem damals sehr aktuellen piemontesischen Prinzen. Diese Information, seine Erstlingsarbeit, bestimmte das Tempo seiner Karriere und brachte ihn sofort in die Feuerlinie, eben nach Piemont, das vor der Revolution stand. Er verließ Pisa und immatrikulierte sich in Turin. Daß sogar der heroische Santarosa – das Haupt der Bewegung, das aus dem Nebel des Geheimnisvollen ragte und sich von der Welt anstaunen ließ – von der Anwesenheit des Jungen wußte und ihn zu sich kommen ließ, erfüllte Guerra mit einer berauschenden Freude. Er wurde durch das Lächeln und den Händedruck des großen Mannes hingegebener Parteigänger.
»Mein junger Freund,« sprach Santarosa, »Sie scheinen mir zu den Menschen zu gehören, die Mut haben, wenn viele Menschen diesen Mut sehen. Trauen Sie sich vor einem ganzen Parkett von Zuschauern sehr großen Mut zu?«
»Ja, General,« sagte Guerra frisch und verbarg seine aufflackernde Angst. – Aber er war mutig, er konnte nicht anders als mutig sein, wie tausend Augen ihn anstarrten. Das war schon am folgenden Abend, als er und drei Kommilitonen – gleich ihm wunderschöne Menschen, idealische Gesichter – in einer Loge des menschenvollen Teatro Reale mit rotem Barett erschienen, rote Nelken im Knopfloch. Schon brach der Jubel aus, Guerras mächtige Stimme brüllte im guten Augenblick: » A basso l'Austria!« Die Menge schrie es nach, die Carbonari unter ihnen schrien: »Konstitution und Unabhängigkeit!« und schwenkten schwarzrotblaue Bänder. Polizisten drangen in den Saal und verhafteten die vier Studenten. Das Theater pfiff gellend. Guerra befreite sich mit einem Ruck seiner kräftigen Schultern aus den Händen der verlegen blickenden Agenten, trat an die Brüstung, hob die Arme, warf den schönen Kopf zurück, zeigte die Zähne wie im Taumel der Begeisterung und der Berufung und rief in den Raum, der ganz still geworden war:
»Die Zeit ist gekommen! Brüder! Brüder! Freiheit!«
Dann drehte er sich um und streckte den Wachleuten mit souveräner Gebärde die gekreuzten Hände hin, als erwarte er die Fessel. Doch man hatte gar keine Fessel zur Verfügung, man dachte wohl nicht einmal an solche Sicherung und begnügte sich, ihn und die drei anderen am Arm zu packen und wie kleine Radaubrüder abzuführen. Die Menge indessen merkte den etwas mißglückten Abgang nicht und delirierte.
In der Tat begann an jenem Januarabend des Jahres 1821 die Revolution. Am nächsten Tag griffen dreihundert Studenten, nur mit Stöcken bewaffnet, die Torwache der Zitadelle an, um ihre vier Gefährten zu befreien. Grenadiere eilten zur Unterstützung der Polizei herbei. Es fielen Schüsse. Es gab Tote. Jener piemontesische Prinz aus einer Seitenlinie des regierenden Hauses, welcher in Genf aufgewachsen, durch Erziehung und Weltanschauung in augenscheinlicher Opposition zum Hof stand und deshalb von der Geheimpartei als der künftige König eines unabhängigen Italiens in Aussicht genommen wurde, begann seine zweideutige und wenig erfreuliche Rolle. Immerhin sorgte er zunächst dafür, daß die vier Studenten freigelassen wurden. In der Universitätsaula erlebte Guerra seinen zweiten Triumph. Er wurde gefeiert, wie es sich für einen Märtyrer gebührte. Er dankte in einer Rede, die von Rührung, Zuversicht, Treuherzigkeit und Jugend leuchtete, und beeilte sich zudem, in diesen Wochen seine Schlußexamina zu machen. Er bestand sie summa cum laude, ohne recht vorbereitet gewesen zu sein. Inzwischen ging die unglückselige Revolution, die durch die glatte Erledigung des neapolitanischen Aufstandes von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, einen laschen Gang und zerrann schon im Sande. Zwar erhoben sich Alessandria und Turin, zwar erklärte Santarosa auf eigene Faust Österreich den Krieg – der unschlüssige König dankte ab, den Oppositionsprinzen zum Regenten ernennend, die Konstitution wurde auf dem Papier gewährt, Santarosa wurde sogar Kriegsminister und Guerra (übrigens unter anderem Namen) Kommandeur des freiwilligen Studentenbataillons; aber der Regent selber spielte das doppelte Spiel, sicherte sich auf allen Seiten und verriet schließlich die Revolution an den neuen König, den energischen Bruder des abgedankten, der ohne Schwierigkeit mit österreichischer Hilfe die Erhebung niederschlug und die übliche Reaktion ins Land brachte. Der Regent ging nach Toskana ins Exil, Santarosa, der nicht mehr in den Parteinebel zurücktreten konnte, floh nach Griechenland und starb wie der große Byron für die hellenische Sache. Guerra aber, der noch die Niederlage des Studentenkorps bei Vercelli mitgemacht zu haben behauptete, war schon in Frankreich, als die außerordentlichen Gerichte zu Piemont gegen die Universitäten wüteten. Er wurde von der Zentrale als Held gefeiert, mit hohen carbonarischen Würden belehnt und erhielt bald den ehrenvollen Auftrag, in Florenz die Person des Exregenten zu überwachen.
Es muß als eine der Merkwürdigkeiten in Guerras politischem Leben bezeichnet werden, daß die großen Mißerfolge einer gegensätzlichen Zeit seiner Erscheinung gegenüber ihren Sinn umkehrten und ihn aufs Schild hoben, wie nur je eine siegreiche Bewegung ihren verdienten Führer. Das war nicht allein Zufall, sondern beinahe etwas wie eine Eigenschaft des Charakters, wie die Wirkung seines demagogischen Temperamentes, welches das romantische Zeitgefühl: die Bewunderung für den durch Brutalität Besiegten, mit Anmut und Sicherheit für sich einfing und durch seine liebenswerte Person für die repräsentierte Idee. Er besaß das Vorrecht des jungen und schönen Menschen, ein natürliches Wohlgefallen zu beanspruchen, sympathisch zu sein, ohne viel Prüfung und Vorbedingung. Er hatte der Partei bewiesen, daß er seine Talente ohne besonderes Anstandsgefühl oder sogar mit einer ungewöhnlichen Skrupellosigkeit spielen zu lassen pflegte. Er hatte ihr gezeigt, daß er für jede Phase des stillen und lauten Kampfes zu gebrauchen sei: für die Spionage, für die Reklame, für die Bravour. Sie wußte, was sie an ihm hatte. Sie dankte mit einer Achtung und einer Machtstellung, die schlecht zu seinen einundzwanzig Jahren paßte und gerade darum ihn beglückte und verbindlich machte.
Nach den fehlgeschlagenen Revolutionen und gegenüber der erbitterten Haltung der regierenden Mächte war der Zentrale nicht mehr seine heldische Seite notwendig, nicht einmal sein Demagogentum, sondern sein Gemmengesicht. Der Großmeister der Partei, ein weißhaariger namenloser Mann von unbestimmtem Alter, mit Augen, die klug und gütig waren und dann mit einem Male beklemmend viel von der angeschauten Menschenseele sahen (Guerra genoß in Paris die Auszeichnung einer Audienz), formulierte nach diesem Prüfungsblick das im Augenblick Erforderliche sehr unverblümt.
»Mein junger Bruder,« sprach er, »wenn eine Frau sich im Dienst der Partei prostituiert, so behält sie ihre Ehre. Wenn Sie, der Sie bewiesen haben, daß Sie ein Held sind, auch Ihre Leidenschaften in der Gewalt haben und unserem heiligen Ziele unterordnen – Sie verstehen mich, mein Freund: wenn Sie durch Ihren Körper und Ihre Sinne unser gemeinsames Werk fördern wie durch das Wort oder durch die Waffe, so ist es nicht einmal die Prostitution, die ich ehrbar nenne, sondern männliche Hingabe an die Idee. Das ist also die Ehre selber. – Sie, G. G., werden mit dem Paß eines Vicomte d'Houssonville versehen, Sie werden in Florenz vom französischen Gesandten empfangen und durch ihn bei Hof vorgestellt. Soweit können wir Ihre Aufgabe erleichtern.« –
Guerra erfuhr erst durch den Leiter der Sektion Bologna, daß seine Aufgabe sich nicht nur auf die Kontrolle des Exregenten zu beschränken habe, sondern daß durch die Persönlichkeit der der neapolitanischen Revolutionsgruppe angehörigen Contessina Labia-Corleone sowohl die politischen Flüchtlinge aus dem Süden für die noch sehr schwache toskanische Parteiorganisation zu gewinnen, sondern auch vor allem die möglichen Beziehungen der Frau zum Souverän im Sinne der Zentrale zu beeinflussen seien. Über die Vorgänge in Neapel, soweit sie die Gräfin als Mittelpunkt gehabt hätten, und über ihren Zusammenhang mit dem toskanischen Hof würde ihn das Florentiner Parteisekretariat unterrichten.
Das war am Tag vor dem Überschreiten der toskanischen Grenze. Guerra geriet durch den Umfang, den seine Mission angenommen hatte, in eine Art Tatrausch, ohne sich über die Unübersichtlichkeit der Aufgabe oder gar über einen möglichen Mißerfolg viele Gedanken zu machen. Zumal der Gedanke, daß das unaufhörlich und immer dreister angefaßte Schicksal einmal seine Duldsamkeit verlieren und sich auf ihn stürzen könne, blieb ihm völlig fern. Er war damals noch zu jung und von einem zutunlichen Leben zu einseitig abgerichtet, um die Gefahren des Spieles mit den Gefühlen – mit den eigenen und den fremden – zu ermessen. Er verwechselte noch Geschick mit Geschicklichkeit und war versucht, selbst im lieben Gott nichts anderes zu sehen als einen elementaren Meisterjongleur. Er hielt sich für geschickt genug und genügend im Training und mit dem Glück verkuppelt, um die Schicksalsstückchen, die ihm zugewiesen waren – Menschen und politische Segmente – nach seinem Belieben formen und einrichten zu können. Gewiß gab es für ihn die Dominante des Parteiprogramms; aber sein Belieben war doch nicht ganz das gleiche wie das Parteiziel. Es blieb ein kleiner blanker Ichrest übrig, der weder zu verschwinden noch trüb zu werden brauchte, wenn auch schließlich die vertretene Idee wieder einmal unterliegen sollte. – Doch solche Erwägungen staken im Unterbewußtsein.
Er war der hübscheste Vicomte, der seit dem ancien régime über das Parkett des Gesandtschaftspalastes schritt, und sein prachtvolles Italienisch wurde durch eine leider schon lange verstorbene genuesische Mutter erklärt. Die Zentrale hatte ihm einen wohlverzweigten Stammbaum des Hauses d'Houssonville mitgegeben, den er auf der Reise eifrig durchnahm. So war er auch gegenüber intimen Kennern der Heraldik – wie sie damals unter der restaurierten Hofgesellschaft im hohen Ansehen standen – von schlichter Sicherheit. Außerdem schien der Gesandte, ein vollendeter Grandseigneur mit sehr toleranten politischen Ansichten, die sich mit denen seiner Regierung nicht immer deckten, die Ankunft des jungen Standesgenossen gleichsam erwartet zu haben. Guerra fühlte bei ihm irgendein Wissen um die heimlichen Dinge, das ihn nicht beunruhigte, sondern zuversichtlich machte, und das er auch nicht zu klären unternahm. Denn er hatte zur Zentrale, die tatsächlich mit sehr vielen aktiven Diplomaten des Auslandes in Beziehung stand, ein unbegrenztes Zutrauen. Und der liebenswürdige Gesandte vermied jede Ironie, wenn er » cher Vicomte« sagte, und jedes Augenzwinkern des Auguren. Er war immer nur höflich und von der Hilfsbereitschaft des gesellschaftlichen Mentors.
Aber Guerra war nicht nur Vicomte, sondern auch außerordentlicher Parteifunktionär. Das war innerhalb der Geheimorganisation eine bedeutsame Stellung, die ihm das Recht verlieh, sich aller Machtmittel und aller Verbindungen des Bundes nach Gutdünken zu bedienen. Da es aber keine Rechte ohne Pflichten gibt und da, wie er gut wußte, innerhalb der Partei keine Position bestand, die nicht durch eine Gegenposition kontrolliert wurde, schaute er nicht eben freundlich, als schon am Morgen nach seiner Ankunft in Florenz eine Frau nach ihm fragte.
» Una donna,« sagte der Cameriere des eleganten Lungarno-Hotels Nuova York, in dem er abgestiegen war. Der Mann sagte » una donna«, nicht » una signora«; und in seinem ein wenig verächtlich abfallenden Ton lag die Anmerkung, daß der Signor Conte diesen Besuch ruhig im Schlafrock empfangen könne. Guerra nickte, verdrossen gähnend. Er erinnerte sich sofort an die anerkennenden Worte, die der Bologneser Parteifreund für die Florentiner Emissärin gefunden hatte: eine ungewöhnlich tüchtige Frau mit der Qualifikationsnummer eins, seine Adjutantin. – Das hieß also: seine Kontrolle. Es galt, aufzumerken, wachen Sinnes zu sein – schon jetzt. Er ärgerte sich aus Gründen, die ihm nicht recht klar waren, über die allzu große Präzision der Verschwörungsmaschine. – Es klopfte.
» Avanti, avanti!« rief er grob, vielleicht wegen seines leichten Ärgers, vielleicht auch, um von Anfang an Distanz zu schaffen. Er drehte auch der Tür, die sich öffnete, den Rücken und zündete sich ziemlich umständlich eine Zigarre an. Das dauerte eine gewisse Zeit. Es verwunderte ihn, von der Eingetretenen keinen Laut zu hören, kein verlegenes Hüsteln, auch keinen Gruß; endlich drehte er sich um. In der Tür stand ein verblühtes Mädchen oder eine alte Frau (man konnte es nicht recht im Augenblick unterscheiden), gelbgesichtig, mager, mit geduldigen Augen und einer ungebändigten Fülle ganz heller Haare, sauber und einfach gekleidet wie eine Kleinbürgerin.
»Bitte?« fragte Guerra kühl; dann besann er sich und fügte freundlich hinzu: »Guten Tag!«
»Guten Tag, Herr Graf,« sagte die ernste Frau, ging schnell auf ihn zu, ergriff seine Hand, drückte leicht seinen Mittelfinger und flüsterte das Erkennungswort: »Corleone.«
Guerra sah mit Staunen, daß sie weiße Haare hatte und doch noch keine alte Frau war. Er setzte ganz unbewußt das berückende Jungenlächeln auf, mit dem er die Frauen zu fangen pflegte, und antwortete etwas zerstreut:
»Ja, danke. Ich bin G. G. Wir werden hoffentlich gut miteinander auskommen.«
Es geschah das Seltsame und gewiß auch Törichte, daß das alte Mädchen rot wurde. Es war eine sonderbare Röte, die nur die Stirn und die etwas vorstehenden Backenknochen heftig färbte. Die Frau sah plötzlich wie geschminkt aus, wie eine alte Kokotte. In ihren schönen traurigen Augen flackerte eine Freude auf. Guerra begriff sofort seine Wirkung.
»Ich glaube,« lockte er und streckte ihr von neuem die Hand entgegen, »ich glaube, Madame, wir werden prächtig zusammenarbeiten.«
Die Frau zögerte eine Sekunde; dann neigte sie sich mit einer merkwürdigen Bewegung des Körpers vor und küßte seine Hand. Er zog sie nicht zurück. Er war auch nicht über einen solchen Gefühlsausbruch sonderlich bestürzt. – Von ihr kommt keine Gefahr mehr, sagte er sich nur und lächelte wieder. Die Frau hatte sich aufgerichtet und war sehr verlegen.
»Verzeihung, Signore,« sagte sie stockend, »ich bin sehr froh – ich bin sehr glücklich, unter Ihnen, gerade unter Ihnen arbeiten zu dürfen.«
»Ja, ja,« begütigte er, »das freut mich auch, Frau … Frau – wie soll ich Sie denn nennen?«
»Nennen Sie mich, wie ich heiße, Signore,« entgegnete sie sanft. »Das ist zwar in der Partei nicht üblich und sogar verboten; aber es hat auch seine Vorteile. Ich heiße Checca Gioia.«
»Gioia,« lächelte Guerra; »das ist ein schöner Name.«
Es war noch die Zeit, wo die Contessina im Gesandtschaftspalais wohnte. Trotzdem dauerte es eine gute Weile, bis es Guerra gelang, ihr vorgestellt zu werden; denn die junge Corleone lebte damals in der größten Zurückgezogenheit und war in der Gesellschaft nicht zu sehen, auch nicht bei den Empfängen und geselligen Veranstaltungen des französischen Gesandten. Guerra benutzte diese Zeitspanne, um sich durch Checca einen ziemlich lückenlosen Bericht über die neapolitanische Affäre der Contessina und über die Anteilnahme des toskanischen Großherzogs an ihrer Person vorlegen zu lassen. Außerdem ließ er sie auf Schritt und Tritt überwachen. Aber dieses Resultat war sehr mager, da sich das Mädchen zumeist in ihren Räumen in dem abgelegenen Parkflügel des Gesandtschaftshotels aufhielt und ihr monotones Leben nur durch harmlose Spaziergänge in den Cascinen unterbrach. Auch der Versuch, sich an den alten Principe, ihren Vater, heranzumachen, mißlang. Denn der Fürst stand bereits in den Rehabilitationsverhandlungen mit Neapel, die der toskanische Souverän eingeleitet hatte, und war gegenüber den carbonarischen Untertönen des jungen Vicomte vollständig taub. Zudem reiste er bald darauf nach dem Süden ab. Da Guerra in diesem Augenblick weder viel zu tun noch viel zu denken hatte, fiel ihm ein, daß er auch Bruder war und daß seine kleine Schwester, an die er in den beiden letzten atemraubenden Jahren kaum gedacht hatte, fast in Sehweite von ihm lebte – irgendwo auf einem der versonnenen Hänge, wenn er nach San Miniato hinübersah. Als Mann des raschen Entschlusses und auch ein bißchen gelangweilt (denn er wollte die Eroberung der Contessina nicht durch andere Frauengeschichten komplizieren), schickte er sofort die Checca in das Kloster und ließ die Oberin wissen, daß der auf der Durchreise befindliche Vicomte d'Houssonville der Schwester seines Freundes Guerra die brüderlichen Grüße auszurichten wünsche. Checca brachte ihm eine höfliche Einladung zurück und zugleich auch viele Worte des Lobes über die Intelligenz des jungen Mädchens, das sie ganz kurz zu sprechen Gelegenheit hatte und das das Notwendige sofort begriff.
Guerra durfte diese gute Meinung von Maddalenas Auffassungsgabe teilen; er hatte sogar seine Gründe, über sie nachzudenken. – Er fuhr also am angegebenen Tag in seinem hübschen Mietswagen, der fast wie eine Privatkarosse aussah, über die Barriera San Niccolò hinaus und den steilen Hügelhang hinan. Es war Frühsommer, und die Welt war schön und leicht. Die Häuser versanken hinter dem gemächlich steigenden Wagen, die grüngoldenen Wellen der Landschaft rieselten schon heiter und süß herbei, ganz junge Reben hingen dünn und zartgrün zwischen Olivenbäumen, hier und da stand ernst und groß die Säule einer Zypresse – unten aber, immer tiefer und geschlossener, lag die Stadt wie eine wunderbar klare Zeichnung, wie eine ganz reine und leichtfaßliche Melodie, ohne Schnörkel und Schrei, durch die nahen Kuppeln von Santa Croce und Maria del Fiore wie von ungefähr mit dem Himmel verbunden; und links von beiden stand die schlanke weltliche Kühnheit des Turmes vom Palazzo Vecchio. – Nichts ist schwer, dachte Guerra plötzlich; es ist nicht einmal schwer, ein großer Mann zu sein oder zu werden. Er war sich im Augenblick nicht klar, wie weit er solche Gegenwart oder solche Zukunft auf sich bezog. Für Kritik zumal war seine Stimmung zu gut.
Dann langte er an, schritt durch das Gartentor, stieg einen endlosen Zypressengang empor, an dessen Ziel – ganz oben – das weiße Kloster wie die Pforte zum Paradies lockte, und folgte schließlich einer freundlich-scheuen Schwester in den Besuchsaal. Das war ein großer, aber recht absonderlicher Raum, ein Mittelding zwischen einem Theaterfoyer und einem Riesenkäfig. Guerra mußte ein wenig lachen. Der mittlere Raum, in den ein Kreuzgang pompös mündete, war eine lichte Halle mit großen schwarz und weißen Fliesen, doch ohne ein Möbelstück, selbst ohne eine Möglichkeit sich hinzusetzen. Dieser Platz, für die Besucher bestimmt, war von schwerem kreuzweisem Gitterwerk eingezäunt, hinter dem die Nonnen und ihre Zöglinge standen. – Das ist äußerst sinnreich, dachte Guerra belustigt, so glaubt jede der beiden Parteien, daß sich die andere hinter dem Gitter befindet. Er mußte ein paar Minuten warten. Dann kam das große schlanke Mädchen, das für ihre vierzehn Jahre sehr entwickelt und schon von einer fast fraulichen Schönheit war. Guerra hatte seine Schwester seit dem Tod des Vaters nicht mehr gesehen. Er war überrascht. – Maddalena trat mit einem ruhigen Lächeln ans Gitter.
»Da ist der Herr Vicomte,« sagte die Schwester Pförtnerin und entfernte sich dann.
»Sie bringen mir Grüße von meinem Bruder?« fragte Maddalena laut.
»Ja, Signorina,« entgegnete Guerra und lachte bereits; denn es war jetzt kein Fremder mehr in der Nähe. Das Mädchen betrachtete ihn aufmerksam und ernst.
»Wenn man nicht allerlei gehört hätte,« sagte sie schließlich, »dann dürfte man ruhig annehmen, daß du ein kleiner Hochstapler geworden bist, Gasto.«
»Oh, Madda,« wandte Guerra ein, »das ist kein zärtlicher Empfang. Das ist auch kein Respekt für den älteren Bruder. Du hättest ihn zum mindesten einen großen Hochstapler nennen müssen.«
Das Mädchen lächelte flüchtig.
»Du hast gewiß deine Gründe, einen fremden Namen anzunehmen, Gasto.«
»Kleine Schwester,« erwiderte er langsam, »ich bin immer nur der, dessen Namen ich trage. – Kleine Schwester, es gibt außerhalb dieses Klosters eine Welt, die namenlos weit und tief ist, und ein Leben, das viele Namen verdient.«
Madda schwieg. – Wir haben die gleichen Augen, dachte Guerra. Sie hat lebendige Augen, sie hat auch meine Stirn.
»Nicht wahr, Gasto,« fragte sie jetzt leise, »du bist Carbonaro?«
»Ja,« antwortete er, fast wider Willen. Und im gleichen Augenblick zuckte ein merkwürdiger Gedanke in ihm auf, ein heller Gedanke, der in die Zukunft leuchtete.
Sie sprachen dann Gleichgültiges, über ihr tägliches Leben, über Dinge, wie sie nahe Verwandte nach langer Trennung zu bereden pflegen. Die Pförtnerin schlürfte wieder in ihre Nähe. Sie sah aus wie ein großer trauriger Nachtfalter. Madda flüsterte hastig:
»Höre, Gasto, ich will deine Schwester werden. – Ich will nichts als deine Schwester werden, denke daran.«
Sie hat das gleiche Blut, dachte Guerra, und er dachte noch manches andere, als er den Zypressenweg wieder hinabschritt. –
Auch seine Stimmung, wie der toskanische Himmel, sah in diesem Juni keine Wolke. Denn es glückte ihm nicht viel später, die Hand der Corleone zu küssen. Das heißt: es war der Gesandte, der mit der kollegialen Geste des älteren Viveurs an einem dieser Tage den jungen Standesgenossen plötzlich fragte:
»Wollten Sie nicht die kleine Labia kennen lernen, Vicomte?»
Guerra konnte doch nicht in seinem Gesicht die Überraschung ganz unterdrücken, als er ja sagte. Denn er erinnerte sich durchaus nicht, diesen Wunsch ausgesprochen zu haben. Dazu war er zu vorsichtig und ein natürliches Zustandekommen der Bekanntschaft zu wahrscheinlich gewesen. Allerdings, hätte er ein so weitgehendes Verständnis bei dem alten Diplomaten vermuten dürfen, so würde er sich wohl einige Wochen des Zuwartens erspart haben können. Jetzt beschränkte er sich darauf, das feine Lächeln des Gesandten mit einem vielsagenden Blick zu quittieren und ihm wortlos in den Park zu folgen, der hinter dem Palazzo terrassenförmig anstieg. Mit einem Male nahm der Gesandte seinen Arm.
»Verzeihen Sie die plötzliche Vertraulichkeit, Vicomte; aber ein bißchen augenscheinliche Freundschaft ist in unserem Falle angebracht. Die Dame ist der Welt gegenüber begreiflicherweise ein wenig mißtrauisch geworden.«
Sie schritten Arm in Arm einen Stufengang empor, den blühender Kirschlorbeer einsäumte. Da Guerra annahm, daß sie beobachtet würden, ging er mit gewölbter Brust und herausgedrückten Schultern, um neben dem überschlanken Gesandten nicht klein zu wirken. Er sprach leise und doch sonor, um ein möglichst elegantes Französisch bemüht, anmutig lächelnd. Auch der Diplomat lächelte, ein klein wenig ironisch, und nannte ihn » mon cher Vicomte«.
In einer Hängematte zwischen einem leuchtend roten Judasbaum und einem milchig weißen Magnolienbaum lag die Corleone und las. Es war ein sehr hübsches Bild. Guerra blieb stehen, zögernd und bewundernd. Das Mädchen war schwarz gekleidet und besaß die weiße Haut und die sichere Schönheit der alten Geschlechter. Das Gesicht, seitlich dem Buch zugewandt, wirkte im Profil etwas steinern. – Das ist ein kalter und hoffärtiger Mensch, dachte Guerra ein wenig unbehaglich; sie muß uns schon längst gehört haben.
»Ah, sieh da, unsere Contessina!« staunte liebenswürdig der Gesandte. Das Mädchen schaute ruhig auf. Guerra sah die länglichen Augen in dem Wimperschatten, ein ganz anderes Gesicht, nicht weniger schön als das Profil, doch von einer gefährlichen Lebendigkeit dicht unter der glatten Haut, nicht eben gutmütig, viel Rücksichtslosigkeit sogar um den festen Mund und in der Schmalheit der adeligen Nase.
»Ja, Exzellenz,« sprach sie jetzt freundlich, »und ich bin immer der einzige Nutznießer dieses schönen toskanischen Friedens, der Frankreich gehört.«
Der Gesandte war ungemein geschickt.
»Und Sie sollen es bleiben, Contessina, wenn Sie auch eben in Ihrer Liebenswürdigkeit das ›Gott sei Dank‹ nicht ausgesprochen haben.« Er verbeugte sich mit heiterem Gesicht. »Wir dringen nicht tiefer in Ihre Beschaulichkeit. Wir retirieren bereits! – Wir … das heißt, Sie kennen ja nur den alten Störenfried. Das ist hier mein junger Freund, der Vicomte d'Houssonville …«
Da sie freundlich den Kopf neigte, ging Guerra ein paar Schritte vor. Und weil sie wie grüßend ihre Hand bewegte, trat er an die Hängematte und küßte ihre Finger. Er war übrigens ernst geblieben. Ein sehr feines Gefühl für seine Wirkung auf andere Menschen hatte ihm abgeraten, dieser Frau gegenüber sein Locklächeln aufzusetzen. – Er sprach ein paar förmliche Worte. Die Corleone dankte. Die Herren zogen sich zurück. –
Das war alles. Guerra mußte sich zugestehen, daß es nicht viel war. Und da er gegen sich ehrlich zu sein pflegte, stellte er fest, daß keines ihrer Worte und keine Bewegung ihres Gesichtes seine Hoffnung auf die persönliche Wirkung rechtfertigte. Der Vicomte würde allem Anschein nach wenig Glück oder nur sehr langsamen Erfolg haben. – Gut. Er war auch noch G. G. So wurde sein Junihimmel nicht getrübt. Seine Eitelkeit war vorsichtig genug, in diesem riskanten Fall keine Probe auf das erste Exempel zu machen. Er griff sofort zum zweiten. Er beschloß eine radikale Änderung seiner Taktik. Sein ernstes Gesicht vor ihr fügte sich gut in die neue Strategie. Es mußte ernster noch sein, wenn er sie wiedersah.
Checca versicherte ihm, daß seit dem Besuch des Souveräns in der französischen Gesandtschaft zwischen ihm und der Gräfin keine Zusammenkunft mehr stattgefunden habe und daß zwischen ihnen im Augenblick überhaupt keine persönliche Verbindung bestehe. Daß die Contessina etwa in aller Heimlichkeit seine Mätresse geworden sei, wäre völlig ausgeschlossen. In der Hofgesellschaft, vergewisserte sich Guerra, war noch nicht einmal die Neigung des Großherzogs für die kleine Labia bekannt. Nur der Gesandte antwortete ihm auf eine leise Bemerkung und lachte dabei auf seine abgründige Art:
» Le jour viendra.« –
Als die Contessina das nächstemal in die Cascinen fuhr, ritt ein junger Herr sehr nahe an ihrem offenen Wagen vorbei und grüßte. Es hätte sie verwundern müssen, daß der Vicomte d'Houssonville zu einer Stunde, in der der Park von der großen Welt niemals besucht wurde, hier anzutreffen war. Es hätte sie in höherem Maße noch erstaunen oder gar empören müssen, daß der Kavalier kurz nach der Begegnung das Pferd wandte und im ziemlichen Abstand ihrem Wagen folgte. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie befahl auch nicht dem Kutscher, umzukehren. Fast am Ende der breiten Allee, die zwischen dem Arno und der wohlgepflegten Buxbaumhecke gerade und eben verlief, lag seitwärts zwischen den Parkbäumen eine einsame Latteria. Die Corleone ließ halten und befahl dem Kutscher, ihr ein Glas Milch zu bringen. Der Reiter hinter ihr nahm sofort die Gelegenheit wahr und galoppierte heran.
»Contessina,« sagte er ein wenig außer Atem. Das Mädchen unterbrach ihn ruhig:
»Sie können mich jederzeit im Gesandtschaftsgebäude zu der notwendigen Besprechung bereit finden, Signore. Es ist also unnötig, mich vor meinem Kutscher und vor Augen, die wir vielleicht beide nicht sehen, zu kompromittieren.«
Guerra wurde sehr rot, grüßte stumm und ritt weiter. –
Es wäre jetzt nicht erstaunlich gewesen, wenn kleine Wölkchen am Himmel aufgetaucht sein würden. Aber Guerra war eine glückliche Natur und machte niemanden, selbst sich nicht, für die Dummheiten verantwortlich, die er begangen hatte. Überlegte er zudem, so mußte er erkennen, daß er jetzt schon, unfreiwillig zwar, viel tiefer in der neuen Taktik stak, als er selber annahm. Peinlich für sein Selbstbewußtsein wurde allmählich nur jener Deus ex machina, der ihn fast ironisierte. Er begab sich geradeswegs zum Gesandten.
»Exzellenz,« begann er mit dem Tonfall eines Menschen, der Vertrauen gibt und fordert, »Exzellenz, es gibt Hintergründe, von denen man unter vier Augen unbeschadet aller Diskretion sprechen kann, wenn man weiß, daß jedes Augenpaar sie kennt. – Sie werden mich wohl begreifen.«
Der Gesandte ließ erstaunt den Brieföffner fallen, mit dem er spielte, und machte große Augen.
»Aber nein, Vicomte,« widersprach er lebhaft, »ich denke gar nicht daran zu begreifen! – Und jetzt sollten Sie mich begreifen …«
Doch Guerra war harthörig. Er faltete bedenklich die Stirn.
»Gut gut,« erwog er, »ich verstehe, daß es in manchen Fällen nicht opportun ist zu hören, was man schon weiß. Aber nehmen wir den Fall an, daß unvermutet ein interessierter Dritter …«
»Mein lieber junger Freund,« unterbrach der Gesandte ernster als gewöhnlich, »freuen Sie sich, daß ich es ablehne, über Ihre dunklen Hypothesen nachzudenken, und Sie sogar bitte, sie abzubrechen. Und wenn ich Ihnen etwas Grundsätzliches sagen darf: bringen Sie sich nicht in Verlegenheit, indem Sie mir Verlegenheiten bereiten. Was ich weiß, geht Sie nichts an – mit Verlaub, cher ami –, und was Sie wissen, will ich durchaus nicht erfahren. Ich bin der bevollmächtigte Minister des französischen Königs im Großherzogtum Toskana, wie Sie auf meiner Visitenkarte lesen können. Und es kommt bei unserem Geschäft viel auf die Visitenkarte an, Vicomte, nicht wahr? Und ob mir insgeheim Ihre Haltung und Ihr Redingote besser gefallen könnte als Ihr Titel, bleibt Gott sei Dank also eine sekundäre Frage. – Es macht mir Spaß, Ihnen zuzuflüstern, daß Sie jetzt die kleine Labia wieder in ihrer Hängematte bewundern können. Sie dürfen sich dieserhalb denken, was Sie wollen, und meine Spaßigkeit ausnutzen, wie es Ihnen beliebt. Aber wir wollen nicht mehr über Interna unserer Hirne reden. Arivederla.«
Guerra war nun doch bestürzt. Nichts traf ihn so sehr wie die ruhige, die ironische, die ganz tiefe Überlegenheit, die die Waffe seiner Jugend gegen ihn kehrte. Er fühlte sich gleichsam dumm in solchen Momenten und wurde um so röter, als er die fatale Scham auf seinem Gesicht aufleuchten fühlte und bekämpfen wollte. Auch jetzt. Er verbeugte sich stumm.
»Sie dürfen nicht gekränkt sein, Vicomte,« sagte der Gesandte. »Das wäre schade.«
»Ich bin Ihnen dankbar, Exzellenz.« –
Er mußte sich im Vorraum sammeln. Er sah sich in einem schmalen hohen Spiegel. Er wurde streng. – Teufel, man ist mit brennenden Bubenbacken und gescholtenen Augen kein Repräsentant einer großen Idee! Man darf die Gefahr verachten, aber nicht lächerlich machen! Man muß die Energie haben, nicht nur verantwortlich zu sein, sondern auch verantwortlich zu scheinen. Dann würde seine Beschämung nicht gewagt worden sein: weder eben im Arbeitskabinett noch heute morgen in den Cascinen. – Er beobachtete sich scharf. Er wartete, bis sein Gesicht so weit war, daß es dem neuen Maßstab genügte. Dann ging er in den Garten.
Die Corleone legte das Buch fort, als sie ihn kommen sah. Er begrüßte sie mit höflicher Zurückhaltung.
»Sie erwähnten heute früh eine notwendige Besprechung zwischen uns beiden, Contessina,« begann er vorsichtig. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
»Ich danke Ihnen,« sagte sie freundlich, aber nicht mehr. Guerra wartete ein paar Sekunden. Als sie beharrlich schwieg, bemerkte er:
»Sie haben mir doch meine scheinbare Aufdringlichkeit von dieser Frühe verziehen, Contessina. Sie wissen doch wohl selber, daß keine persönlichen Momente dabei mitspielten.«
»Selbstverständlich nicht,« entgegnete sie. – Ihre beiden Worte taten ihm weh, ja, sie schmerzten empfindlich. Am Hals begann eine Ader zu klopfen. Er blinzelte nervös mit den Augen. – Plötzlich und dreist, als hätte sie schon in der Nähe gelauert, stand in ihm die Frage auf: liebe ich sie denn? Er wurde sehr unruhig und darum beinahe unhöflich.
»Selbstverständlich nicht,« bestätigte er mit unnötigem Stimmaufwand; »Sie scheinen also zu wissen, Contessina …«
»Gewiß, Signore,« unterbrach sie etwas ungeduldig, »ich weiß, und Sie dürfen sich alle weiteren Präliminarien ersparen. Ich bin Carbonara der neapolitanischen Sektion.«
Guerra ließ ein feines, beinahe nachsichtiges Lächeln erscheinen.
»Auch ich weiß, Contessina,« sprach er, »ich weiß sogar noch viel mehr. Aber Sie ersparen mir die Komplimente, die ich Ihnen dann im Namen der Partei machen müßte. – Nur die Gegenfrage gestatten Sie mir: durch wen wußten Sie, daß ich ein Parteiemissär bin? – Diese Frage ist für mich nicht ganz unwichtig, Contessina.«
Die Corleone sah ihm einen Augenblick voll ins Gesicht.
»Für mich ist die Antwort unwichtig, Signore, wenn Sie sie sich nicht selber zu geben vermögen,« sagte sie abweisend. Guerra biß sich auf die Lippen. Die Gegnerin schien nicht von einfacher Art.
»Gut,« meinte er leise, »auch das genügt mir schon. Aber ich darf doch hoffen, Contessina, daß Ihre Abwehreinstellung sich auf diesen einen Fall, der unseren gemeinsamen Gastgeber betrifft, beschränken wird. – Oder sind Sie nicht mehr willens oder nicht mehr in der Lage, für die Partei zu arbeiten?«
»Das hängt von dem Ausgang unserer Besprechung ab,« wich sie aus. »Sie haben mir ja bisher noch nichts von dem gesagt, was Sie hier wollen – was Sie von mir wollen.«
»Ich bin Funktionär der Pariser Zentrale,« antwortete er bescheidenen Tones; »das heißt, außer organisatorischer Arbeit für die neue toskanische Parteisektion besteht für mich noch ein Sonderauftrag des Großmeisters, über den ich mich erst auslassen darf, wenn unsere Zusammenarbeit gesichert ist. Und das wiederum hängt von einem besonderen Umstand ab, der – der noch nicht aufgeklärt ist …«
Er stockte und schien etwas verlegen.
»Bitte, Signore,« half ihm die Corleone, ein wenig die Brauen hebend, »sprechen Sie nur so freimütig, wie es Ihre Pflicht ist.«
»Nun ja, Contessina, die Zentrale ist sich über die Art Ihrer Beziehung zum toskanischen Souverän noch nicht ganz klar.«
Sie richtete sich auf, mit heftiger Bewegung. Ihr Gesicht war böse vor Hochmut.
»Die Art der Beziehung?« fragte sie scharf. »Dieser Ausdruck ist auch im Munde eines Parteifunktionärs ungezogen!«
Sie setzte die Beine auf die Erde und stand auf. Sie war sehr groß, ein wenig zu groß. – Aber sie ist außerordentlich gut gewachsen, entschied Guerra für sich und trat höflich zurück. Ihre Heftigkeit störte ihn nicht viel; sie war ihm sogar eine kleine Genugtuung für die morgendliche Beschämung. Er gefiel sich bereits in der neuen Rolle des Ruhigen und Abgründigen (er behielt die beispielhafte Haltung des Gesandten vor seinem inneren Auge). Und schließlich machte ihm der Gedanke eine merkwürdige Freude, daß die Empörung des Mädchens berechtigt war, eben weil noch keine Beziehung bestand.
»Pardon,« versetzte er kühl, »sagen wir dafür: den Grad Ihrer Verbindlichkeit.«
Die Corleone sah ihn an und wurde zusehends friedlicher. Das mißfiel ihm. Sie setzte sich wieder in die Hängematte und schaukelte leicht hin und her.
»Sie sehen in der Tat aus wie ein kleiner Vicomte,« sagte sie plötzlich und hatte in den Augen einen schwer erklärlichen Ausdruck. Es war wie eine Bewegung der Farbe, ein erregender Wechsel von Gold zum Gelb. Guerra, sehr verwirrt, mochte nicht entscheiden, ob es Lockung oder Ironie oder ob es beides war. Er hatte große Angst vor der Ironie. Er wollte das Feld behaupten.
»Sie sind ungemein liebenswürdig, Contessina,« sagte er und lächelte, »aber mein sehr bürgerlicher Name ist Gasto Guerra, von Beruf Kandidat der Rechte, gebürtig aus Livorno – wenn Sie dies alles wissen wollen.«
»Oho, Gasto Guerra,« sprach sie mit ihrer dunklen Stimme, »welche Unvorsichtigkeit von einem Geheimfunktionär in außerordentlicher Mission!«
Jetzt zeigte er sein schönes, offenes, junges Lächeln. Er bedachte nicht einmal, ob es angebracht war.
»Contessina, ich fürchte nicht für Ihre Gesinnung – und ich weiß doch auch Ihren Namen.«
Auch die Corleone lächelte.
»Gut,« sprach sie, »aber was geht es die Partei an, ob ich dem Souverän nichts oder viel zu danken haben werde?«
Die Frau hatte eine seltsame Strategie. Man konnte nicht genug auf der Hut sein. Guerra wurde nüchtern.
»Gewiß geht es die Partei an, Contessina. Und ganz besonders in diesem Fall.«
»So,« sagte die Corleone und kniff die Augen zusammen. Die langen Wimpern machten jetzt ihren Blick undeutlich und auch unheimlich. »So, Gasto Guerra. Nun, ich will Ihnen etwas sagen. Ich habe allerlei vor, was uns vielleicht zusammenführen kann. Aber das ist noch nicht gewiß. Das sehe ich selber noch kaum in Umrissen. – Gewiß ist, daß ich Italien liebe und Österreich hasse. Doch gewiß ist auch, daß ich nicht für Machenschaften gegen die Person des Souveräns zu haben sein werde. Bin ich deutlich genug gewesen?«
Guerra war verblüfft. Und die innere Erregung drohte sichtbar zu werden. Er fühlte jetzt auch, was es mit dieser Erregung für eine Bewandtnis hatte. Die Frau betäubte ihn, sie machte ihn schwach. – Was durfte ihn, den Repräsentanten, den Verantwortlichen, seine Liebe angehen! Es galt jetzt hart zu sein, hart, sicher, einschüchternd.
»Contessina,« sagte er sehr leise, »Sie sind zu deutlich gewesen. Sie wissen doch, daß wir in der Lage sind, einer Insubordination zu begegnen. – Es täte mir leid …«
Die Corleone hörte auf zu schaukeln.
»Täte ich Ihnen leid, Signor Guerra?«
Ihr Gesicht jetzt gefiel ihm wenig, so unberührt schien es von seiner Warnung, die wahrhaftig nicht so minderwertig war.
»Contessina,« sprach er und hustete, weil er fühlte, daß der Ärger seine Stimme kehlig machte, »ich bitte Sie um eines, sprechen Sie meinen Namen nicht so oft aus. Ich bin hier der kleine Vicomte, und für die Partei bin ich G. G. – Und dieser G. G., glauben Sie mir, ist zwar sehr jung, aber doch schließlich nicht aus reinem Zufall auf seinem ziemlich vorgeschobenen Posten. – In Ihrem Interesse, Contessina: nehmen Sie alle diese Dinge so ernst wie möglich!«
Sie erhob sich, langsam und ernst, und ging auf ihn zu. Sie stand jetzt vor ihm, sehr nahe.
»Diese Dinge, Vicomte,« sagte sie fast flüsternd, »haben mir bereits rechten Ernst beigebracht – genug Ernst. Ich muß doch annehmen, daß auch Sie es gut wissen. Und glauben Sie wirklich, ich mache mich über Sie und Ihre Mission lustig?«
Es half ihm nichts: sein Atem wurde durch ihre Nähe kurz und seine Stirn rötete sich. Er machte eine verneinende Bewegung, die fast verzweifelt aussah. Die Corleone mit den gelben Augen fuhr fort:
»Ich nehme Sie so ernst, daß ich schon an das Äußerste gedacht habe. Wissen Sie, was das Äußerste sein wird, Vicomte?«
»Mein Gott,« stöhnte Guerra, außer sich, ganz sinnlos, schmählich, »mein Gott, ich liebe Sie.«
»Natürlich,« sprach sie fast in seinen Mund, »natürlich, das ist es: ich werde den G. G. vom jungen Gasto Guerra trennen, wenn es gefährlich werden sollte.«
Sie küßte ihn nicht, wie er erwartet hatte. Als er die Augen öffnete, war ihr Gesicht schon wieder fern – und lachte. Dieses Lachen war nicht häßlich, nicht einmal spöttisch, sondern eher verlegen; aber es stand ihr nicht. Sie gehörte zu den strengen Gesichtern, die von der Ruhe abwärts bis zum Zorn schön bleiben. Aber sie sollte nicht lachen, fuhr es Guerra durch das wirre Hirn. –
So begannen die Gewitterbildungen. Was schlimmer noch war: sie gelangten nicht zur Explosion, die erschreckt, aber auch befreit. Es blieb bei der bedrohlichen Möglichkeit. Die Corleone hatte dem Mann im Augenblick seiner Schwäche den Konflikt gezeigt, den sie herbeiführen könnte, und schnell wieder in sich verschlossen. So rasch war diese Bewegung gewesen, daß Guerra bald nicht mehr zwischen dem, was war, und dem, was er empfunden hatte, unterscheiden konnte. Und da sein Gefühl sehr viel nachhaltiger war, als ihre Erinnerung an die Szene zu sein schien, oder da es sogar erst in jenem Augenblick entstand und immer größer wurde, – da sie nicht einmal daran dachte, wenigstens eine Vertraulichkeit zu unterhalten, begann für ihn das schlichte und eindeutige Leid des jungen Menschen, der liebt. Er war damals durchaus bereit, Amt und Pflicht an seine Leidenschaft zu verraten, und er gab es ihr auch einmal zu verstehen. Aber sie bedeutete ihm sehr ernst, er möge sich nicht in ihren Augen degradieren, von allem anderen abgesehen. Das gab ihm zu denken. Seine Seele machte die erste große Krise durch und wurde kräftiger, drängte näher an das äußere Leben. Auch sein Blick wurde tiefer. Er sah, daß jedes Dasein ein lautes oder ein stilles Drama war und daß es nicht zu der natürlichen Tätigkeit des Nebenmenschen gehören sollte, das Laute still und das Stille laut zu machen. Er sah die Tragödie des alten Mädchens Checca und duldete ihre grenzenlose Ergebenheit, ohne sie mehr schamrot und lächerlich zu machen. Denn er ahnte jetzt, wie es um eine Menschenseele stehen konnte, die keine andere Gnade kannte als die Resignation. Er bemühte sich sogar, in seinem heimlichen Schuldgefühl gegenüber den armen Sinnen dieses Mädchens, ihr etwas Gutes zu tun. Und so glückte es ihm in seinem Leben das erstemal, zu einem Menschen gütig zu sein.
Er hatte bei einer Kontrolle der chiffrierten Personallisten die Stammrolle Gioias gefunden, der als G. B. aufgeführt war. Ihn verwunderte die Länge und Unterschiedlichkeit seiner Tätigkeit für die Partei, vor allem aber die Ungewöhnlichkeit und die Schwere des Verbrechens, das wie ein Joch auf diesem Leben lag.
»Warum haben Sie den alten Sünder G. B. eigentlich wieder in Dienst gestellt, Checca?« hatte er gefragt. Sie sah ihn erschrocken und gequält an.
»Weil … weil …« mühte sie sich, »er ist schon sehr lange Verbindungsmann im Stadtzentrum. – Er ist zuverlässig …«
»Und was tut er jetzt?«
»Er überwacht den Haupteingang des Palazzo Riccardi.«
»Wo der Prinzregent wohnt? – Das geht mich ja persönlich an. Sie tragen die Verantwortung für diese Wahl, Checca.«
»Ich stehe gut für ihn, Signore.«
Guerra sah sie einen Augenblick an. Er begriff nicht die Pein auf ihrem Gesicht.
»Trotzdem verstehe ich nicht,« meinte er, »daß sich die Partei mit einem Verbrecher dieser Art ein Leben lang schleppt. Man hätte ihm einen schweren Fall übertragen und dann nach Amerika abschieben sollen.«
Checca preßte die Handflächen zusammen und sah auf den Boden.
»Ich bin dieses Mal nicht Ihrer Meinung,« sagte sie leise. »Er trägt wohl schwerer an der Partei als sie an ihm. Er ist kein schlechter Mensch, er ist ein – armer Büßer.«
»Sie kennen ihn so gut, Checca?«
Sie sah ihn an, in ihre Augen trat die arme Seele. Guerra wurde blaß.
»Ich bin ja die Tochter,« flüsterte sie. –
Das war der Augenblick gewesen, wo der schöne Willen zur Güte über ihn kam. Er wußte nicht, daß es der Prüfstein für seine Erfahrung war. – Ich muß jetzt eine Schuld abtragen, sagte er sich nur. Sie hat mir die Hand geküßt, weil ich sie auf brutale Art verwirrte – auf viel häßlichere Art, als mich die Corleone. Wahrhaftig, um wie viel mehr Grund habe ich jetzt, ihre Hand zu küssen. – –
Er schlenderte am nächsten Tag am Palazzo Riccardi vorbei. In der Nische neben dem Hauptportal stand ein alter krummer Bettler mit grauem Bart und blauer Brille, den rechten Arm absonderlich verkrüppelt, die linke Hand mit dem Hut mechanisch bewegend, wenn jemand vorbeiging. Er stand so, daß er jede Person und jeden Wagen im Blick hatte, der das Tor passierte. Guerra warf einen Napoleone in den Hut und blieb unauffällig in einiger Entfernung stehen. Gioia bemerkte zuerst das Goldstück nicht, da – plötzlich, nach einem flüchtigen Blick, begann der Hut in der Hand zu beben. Die Lippen bewegten sich und die Hand preßte die Ränder des schäbigen Filzes über dem Schatz zusammen. Doch er wandte deshalb nicht die Augen von dem Toreingang. –
Die Entwicklung der Dinge kam Guerras etwas zwangvoller Vernünftigkeit zu Hilfe. Der alte Principe starb nicht lange nach seiner Rehabilitierung. Die Contessina trat die Erbschaft an und vollzog ihre Wandlung von der kleinen Labia in die große Corleone, von einer mittellosen Emigrantin in eine toskanische Feudalherrin. Guerra sagte sich, daß er diese Entwicklung durch keine politischen oder privaten Forderungen stören dürfe. Er bewies es sich gerne, um nicht durch das Leid um diese Frau aufgezehrt zu werden. So blieb ihm wenigstens noch der Sinn für die Arbeit. Er sorgte sich um den Aufbau der Sektion, mit deren Mitgliedern er aus Gründen der Sicherheit niemals direkt, sondern durch die Vermittlung Checcas verkehrte, und er schickte alle vier Wochen einen Kurier mit wenig gewichtigen Mitteilungen über den Exregenten nach Paris. (Der Prinz hatte noch an seiner fragwürdigen Revolution zu verdauen, fürchtete zudem den Großherzog und verhielt sich gerne ruhig.)
Nach etlicher Zeit bat die Fürstin Corleone Guerra zu sich. Sie bestellte ihn für eine späte Abendstunde, die wenig einem förmlichen Besuch entsprach und ihre erste Vertraulichkeit zu bedeuten schien. Er eilte zum Palazzo an der Trinitàbrücke, voll eines Glücksgefühls, das er selber als töricht empfand. Auf der Treppe begegnete ihm ein altes, dürres Männchen, das er am allerwenigsten in diesem Hause vermutete: der berüchtigte Baron Steiner, ein Mensch, der ihm unheimlich war, weil ihm die Zentrale ohne Kommentar die größte Vorsicht jenem gegenüber anbefohlen hatte. Checca nur glaubte zu wissen, daß Steiner der Generalagent einer auswärtigen Großmacht sei und die neapolitanische Erhebung aus undurchsichtigen Gründen subventioniert habe. – Der Alte sah, auf seinen dünnen Beinen langsam abwärts steigend, nicht nach rechts und nicht nach links. Er hatte wohl den Ankömmling nicht beachtet. Doch Guerra war durch dieses Zusammentreffen zum mindesten um seine frohe Stimmung gekommen. Er mußte wieder kombinieren und als Parteimann zwischen hüben und drüben unterscheiden. Er hätte an diesem Abend gerne die Politik vermißt.
Die Fürstin empfing ihn in einem etwas kahlen Salon, dessen französische Möbel für den großen und strengen Raum viel zu zierlich waren. Aber die Corleone sah so schön aus, wie es der Mann nur immer erwartet hatte. Sie war freundlich, fast zutraulich.
»Ich bin mit Ihnen zufrieden, Gasto. Ich schätze Männer, die beherrscht und also klug sind.«
»Ich bin mit mir nicht so sehr zufrieden,« gestand Guerra; »aber das tut nichts zur Sache.«
»Werden Sie um Gottes willen nicht ungeduldig,« lächelte sie; »wir kommen schon noch einmal zusammen.«
»Wie meinen Sie das, Principessa?«
»Ziemlich ehrlich, mein Freund,« versetzte sie und entblößte etwas die Zähne. – »Heute,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »handelt es sich um meine Heirat.«
Guerra hob schnell den Kopf und prüfte sie. In ihrem Gesicht war jetzt der nüchterne Ernst, den er kannte. Sie pflegte auch nicht mit sich zu scherzen. Er hob hilflos die Schultern. Sie erklärte:
»Es handelt sich um eine Standesheirat mit starkem politischen Einschlag. Ein etwas lädierter Dynast mit einer etwas obskuren Krone. Prinz George Y.«
»So,« sagte Guerra traurig. Die Corleone beugte sich ihm zu, nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küßte ihn leicht auf die Stirn.
»Wo ist die zentrale Politik?« lächelte sie. »Im Augenblick ist sie mir viel wichtiger als die Schwermut, carino.«
Guerra rührte sich nicht unter ihrer Berührung, weil er jetzt wußte, wie weit sie ihn von sich schob.
»Die Politik ist mit dem Baronissimo die Treppe hinuntergegangen,« antwortete er mit verbissenem Gesicht. Sie lachte.
»Gut! Sehr richtig, Vicomtissime! – Sie haben ihn also gesehen? Jawohl, er ist der Freiwerber – und sonst noch allerlei. Aber ich rate Ihnen, Gasto, rufen Sie die Politik zurück. Bei mir ist sie besser aufgehoben als bei ihm. Glauben Sie mir: bei ihm weiß man nie, in welcher Tasche sie verschwindet und in welchem Zustand sie wieder erscheint.«
Guerra machte eine etwas gequälte Bewegung mit der Hand.
»Wollen Sie mir sagen, Principessa, warum Sie G. G. gerufen haben?« fragte er sie mit einem Lächeln, das ihm nicht recht gelang.
»Gewiß,« sagte sie lebhaft. »Es ist sehr hohe Politik, die also etwas schwindlig macht. Ich will versuchen, den Großherzog und durch ihn das Wiener Kabinett für den Prätendenten zu interessieren. Das Interesse würde schon genügen, ihn, einen katholischen Fürsten, mit irgendeiner kleinen italienischen Souveränität zu äquivalieren, zum Beispiel mit Lucca. Kurz, dann würde die Unabhängigkeitsbewegung wissen, wo die Urzelle des freien Italien sein wird und wo die Stammutter der künftigen Dynastie. Ich bin ergebener der Sache, als der lasche Exregent aus Piemont, und mein Blut ist nicht schlechter als seines.«
Guerra sah sie erstarrt an.
»Verzeihen Sie mir, Fürstin,« sagte er endlich; »aber das ist Wahnsinn.«
Sie wurde nicht böse.
»Vielleicht,« sagte sie versonnen; »aber die letzten fünfzig Jahre haben noch ganz anderen Wahnsinn in der Realität erlebt. Ich werde Ihnen in wenigen Wochen sagen, ob es sich verlohnt, den Plan bei der Zentrale zu vertreten. – Das hängt von …«
Sie brach ab und schloß fest die Lippen, als dürfte sie nichts mehr sagen. Es herrschte eine schwere Stille. Plötzlich stöhnte Guerra.
»Gasto,« fragte sie leise, »ist es sehr schwer?«
Er spreizte und ballte die Hand und blickte in den Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Schließlich sagte er ziemlich ruhig, aber seine Stimme war ein wenig heiser:
»Sie wissen natürlich bereits, Fürstin, welchen – welchen Preis der Souverän für seine Aktion fordern – und erhalten kann.«
»Natürlich, Gasto,« antwortete sie ruhig. Guerra sah sie jetzt an. Er war sehr blaß.
»Maria,« fragte er verhalten, »Sie haben mich doch heute abend nicht rufen lassen, um von mir die Erlaubnis zu erbitten, die Mätresse des Großherzogs zu werden. Warum quälen Sie mich eigentlich jetzt schon damit? Warum sagen Sie es mir überhaupt? Was habe ich mit alledem zu schaffen?«
»Ich dachte, Gasto,« entgegnete sie ernst und hob die Schultern wie bedauernd, »Sie könnten erraten, warum. – Sie müssen dann Florenz verlassen. Es ist besser für uns beide.«
Guerra saß unbeweglich und antwortete auch nicht. Die Corleone schickte ihn bald nach Hause, beunruhigt über seinen Kummer und über ihre eigene Erregung.
Auch in der nächsten Zeit blieb er verschlossen und ungewöhnlich ernst. Zum mindesten bemerkte es die scharfsichtige Checca. Er ließ den Prinzen George überwachen, erfuhr die Gewohnheiten seines Lebens und schloß aus Medikamenten, die der Kammerdiener des Prätendenten in einer bestimmten Apotheke zu bestellen pflegte, auf einen ziemlich deplorablen Zustand seiner Physis. Er teilte seine Beobachtungen in einem sachlichen Schreiben der Fürstin mit, erhielt aber keine Antwort. Gleichwohl berichtete er der Zentrale über die Person des Prinzen in günstigem Sinne. Die Einladung der Corleone, an der Trauung im Dom und an dem Hochzeitsbankett teilzunehmen, kränkte ihn ein wenig; wie er sich selber zugab: ohne eigentlichen Grund. Er entschuldigte sich höflich mit einer kleinen Reise und fuhr in der Tat für einige Tage nach Vallombrosa, einem schön gelegenen Gebirgsort im Nordosten der Stadt. Als er zurückkehrte, fand er ein dringliches Billett der Fürstin und eilte am gleichen Abend noch zu ihr, fast bestürzt über den hastigen Lauf der Dinge.
Die Corleone war allein und sehr erregt. Selbst die etwas starre Form ihres Gesichts schien durch das Erlebnis angerührt. Sie sah ein wenig älter aus.
»Der Großherzog hat jedes Interesse – jedes Wort für die Sache abgelehnt,« sagte sie.
»Und?« fragte Guerra zaghaft, voller Angst vor der eigenen Hoffnung. Die Fürstin machte eine seltsame, mädchenhaft scheue Bewegung mit der Schulter.
»Und trotzdem, Gasto – vielleicht gar deswegen,« sagte sie leise. »Mir scheint, ich liebe seine saubere Seele. – Wir können von ihm lernen, amico.«
Guerra war aufgestanden. »Und wenn ich doch nicht gehe,« sagte er, und sein Gesicht war noch einmal, das letztemal, das glühende Gesicht eines erschütterten Knaben, »wenn ich nicht gehe? – Es geht doch bei mir um anderes noch? Nehmen Sie meine Person doch nicht so wichtig, Maria …«
»Oh,« unterbrach sie mit bösem Mund, »das war jämmerlich.«
Guerra ging wortlos zur Tür.
»Gasto!« rief sie ihm zurück, und er blieb stehen, »Gasto, es mag wohl auch opferwillig sein. Aber lassen wir doch das! Ich brauche jetzt eine Weile Ruhe, verstehen Sie mich, Gasto?«
»Nein!« sagte er hart; »denn ich habe sie noch nicht gestört.«
Sie sah ihn an und schüttelte leicht den Kopf.
»Jetzt möchte ich wissen, Gasto,« fragte sie langsam, »ob Sie fahrlässig oder berechnet lügen.«
»Mein Gott,« stöhnte er, »Maria! – Wann muß ich fort?«
Die Corleone antwortete nicht sofort. Sie ging auf ihn zu und küßte ihn. Dann sagte sie:
»Ach, Gasto, Sie ahnen nicht, wie einfach solche Sachen sein können. So einfach, daß ich sie ungesprochen lassen wollte. – Wir müssen uns jetzt aufeinander noch ganz anders verlassen können, Gasto. Wir wollen froh sein, mein Freund, daß wir noch beide jung sind und doch der Idee nicht untreu werden.– Wir wollen es die Idee nennen, Gasto.« –
Am nächsten Morgen in aller Frühe weckte ihn der Leibjäger des Gesandten. Eine halbe Stunde später war er, noch ganz wirr von dem Alarm, in der Bibliothek des Gesandtschaftsgebäudes. Der alte Diplomat verblüffte ihn durch einen phantastisch leuchtenden Mandarinmantel, der ihm als Schlafrock diente.
»Mein lieber Vicomte,« sprach er mit seiner gewohnten Jovialität, »verzeihen Sie die große Unkorrektheit dieser Stunde und meines Aufzugs. Aber denken Sie: ein gewisser Gasto Guerra, einer der carbonarischen Führer, ist von der toskanischen Polizei in Florenz aufgespürt worden und soll im Laufe dieses Vormittags in dem gleichen Hotel verhaftet werden, in dem Sie wohnen. – Wenn Sie dringend abreisen müssen, cher ami, so visiere ich noch jetzt Ihren Paß und stelle Ihnen die Kurierpferde der Gesandtschaft zur Verfügung.« –
Um sieben Uhr des nebligen Septembermorgens hatte Guerra schon die Porta al Prato im Rücken und ritt in Begleitung eines französischen Kuriers nordwestlich in die Berge auf Pistoia zu. Zur Mittagszeit überschritten sie die toskanische Landesgrenze. Am Abend waren sie in Bologna. Von dort aus schickte er einen Boten an Checca mit einigen Anordnungen, die die Organisation betrafen und auch die Übermittlung der zukünftigen Korrespondenz zwischen ihm und der Fürstin Labia-Corleone.
Acht Tage später war er in Paris. Er wurde dieses Mal nicht gefeiert, aber er wurde auch nicht verdächtigt. Sein Prinz-George-Projekt betrachtete man als eine Fehlspekulation. Es gelang ihm nur mit Mühe zu verhüten, daß die Fürstin Corleone auf die Liste der Verdächtigen gesetzt wurde. Er erging sich in dunklen Andeutungen ihrer zukünftigen Rolle und erlebte doch in dieser Zeit die Krise seiner Parteigläubigkeit. Er wurde auf sehr gefährlichem Posten nach Mailand geschickt. Die scharfe Luft des politischen Lebens dort machte ihn wieder frisch, die Gegnerschaft des grandiosen österreichischen Polizeisystems reizte ihn, die Tragödie der großen lombardischen Patrioten erschütterte ihn. Er arbeitete zäh, vorsichtig und zumeist unterirdisch. Um vor der Behörde die möglichste Ruhe zu haben, wurde er Teilhaber eines Advokatenbureaus und mußte wohl oder übel wegen der notwendigen akademischen Papiere unter seinem bürgerlichen Namen firmieren. Da seine revolutionäre Vergangenheit bis auf das Ende der Florentiner Episode pseudonym war, ging es eine gute Weile. Mit der Fürstin blieb er in regelmäßiger Verbindung. Ihre Briefe waren freundschaftlich und beherrscht wie ihre Art. Seine Briefe waren nüchtern und sachlich, zuerst etwas gezwungen, dann schon aus rascher Gewohnheit. Daß sie sich liebten, wurde nicht augenscheinlich. Ihr schien die schöne Neigung des Herrschers zu genügen. Guerra gefiel sich in ziemlich rücksichtslosen Abenteuern unterschiedlicher Art. Als Confalioneri zu Tode verurteilt wurde, verlangte die Fürstin plötzlich nach aktiver Parteiarbeit. Durch Checca erfuhr Guerra, daß keine provokatorischen Hintergedanken bei diesem Wunsch im Spiel waren, wohl aber eine starke innerliche Unzufriedenheit. Jetzt wurde ihre Verbindung einseitig beruflich. Durch die großen Geldmittel, die sie der toskanischen Sektion zur Verfügung stellte, wurde es Guerra nicht schwer, ihre Mitarbeit von der Zentrale sanktionieren zu lassen. Im übrigen wurde sie nicht in die eigentlichen Parteiziele eingeweiht, sondern mehr als Finanzier und Ehrenprotektor behandelt. Nach Guerras Flucht aus Mailand und seinen dunklen Jahren in Paris und als ambulanter Parteiorganisator sorgte sie dafür, daß er sich als Advokat in Florenz niederlassen durfte. Als sie sich nach sieben langen Jahren wiedersahen, hatten sie die persönliche Enttäuschung zu bestehen, die die Entfremdung mit sich bringt. Guerra, der mit der Führung der harmlosen Sektion Toskana die Oberleitung der gesamten carbonarischen Verbände Mittelitaliens verband, war ein von der ungewöhnlichen Nähe des Schicksals abgehärteter Mann geworden, die Fürstin eine fast zu pompöse Dreißigerin. Und nicht sie war die große Freude des Wiedersehens, sondern die Schwester Maddalena mit ihren einundzwanzig Jahren voller Wunder und heimlicher Wildheit. Sie lebte in Livorno bei einer Tante. Er besuchte sie. Drei Tage nach seiner Rückkehr kam sie nach Florenz und blieb bei ihm. –
Checca sah aus wie eine alte Frau. Ihr gelbes Gesicht wurde auch nicht mehr rot, als sie ihn wiedersah. Sie begehrte nicht mehr aus ihrem dienenden Eifer heraus. Sie wusch auch die Kanzleiräume und bezeichnete ihm die Polizeispitzel, die sich bald einstellten.
»Lebt Gioia noch?« hatte er sie am ersten Tag gefragt. Sie sah an ihm vorbei und antwortete still:
»Er muß leben, solange ich lebe.«