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Der Leser wird sich erinnern, wie der Maler Marcel dem Juden Medici sein famoses Gemälde ›Der Durchzug durch das Rote Meer‹ verkaufte und wie dies dann einem Delikateßwarenhändler als Ladenschild diente. Am Tage nach diesem Verkauf, dem ein üppiges Diner bei dem Juden folgte, erwachten Marcel, Schaunard, Colline und Rudolf sehr spät. Noch ganz benommen von den Nachwirkungen des gestrigen Rausches erinnerten sie sich zuerst an gar nichts, was geschehen war, und als auf der nahen Kirche der ›Angelus‹ gelautet wurde, sahen sie sich gegenseitig mit einem traurigen Lächeln an.
»Das ist die Glocke, die mit ihrem frommen Ton die Menschen an die Mittagsstunde mahnt«, sagte Marcel.
»Ja,« fuhr Rudolf fort, »es ist jene feierliche Stunde, da sich die anständigen Leute ins Eßzimmer begeben.«
»Wir müßten also sehen, auf welche Weise wir zu anständigen Leuten werden könnten«, murmelte Colline, für den an jedem Tage das Fest des heiligen Appetits im Kalender stand.
»O du gelobtes Land meiner Jugend, in dem Milch und Honig floß, wo bist du geblieben?« fügte Schaunard hinzu. »Vier Mahlzeiten hatte ich damals täglich.«
»Und sich sagen zu müssen,« meinte Marcel, »daß zu dieser Stunde mehr als hunderttausend Kotelette in der Pfanne schmoren!«
»Und ebenso viele Beefsteaks!« fügte Rudolf hinzu.
Wie zum Spott riefen, während die vier Freunde sich über das furchtbare Problem des heutigen Frühstücks berieten, die Kellner eines unten im Hause befindlichen Restaurants mit lautschallender Stimme die Bestellungen der Gäste in die Küche hinein.
»Wollen denn diese Halunken niemals schweigen?« fragte Marcel. »Jedes Wort gibt mir einen Stich in den Magen.«
»Wir haben Nordwind«, sagte Colline ernst und wies auf eine sich drehende Wetterfahne auf einem benachbarten Dach. »Wir werden heute nicht frühstücken, die Elemente sind dagegen.«
»Wieso?« fragte Marcel.
»Es ist das eine meteorologische Beobachtung, die ich gemacht habe«, antwortete der Philosoph. »Der Nordwind verkündet fast immer Abstinenz, während der Südwind meist Vergnügen und Wohlleben anzeigt. Die Philosophie nennt das den Finger Gottes.«
Wenn Gustav Colline hungrig war, machte er blutige Witze.
In diesem Augenblick stieß Schaunard, der seine Hand in einen der Abgründe, die ihm als Taschen dienten, getaucht hatte, einen Schreckensschrei aus.
»Hilfe! Es steckt was in meinem Paletot!« heulte er und versuchte seine Hand aus den Scheren eines Hummers zu befreien, der ihn gepackt hatte.
Auf den Schrei, den er ausstieß, antwortete plötzlich ein anderer Schrei. Es war Marcel, der auch zufällig eine Hand in seine Tasche gesteckt hatte und hier einen Schatz entdeckte, an den er nicht mehr gedacht hatte, nämlich die hundertfünfzig Franken, die der Jude Medici ihm den Abend vorher als Bezahlung für den ›Durchzug durch das Rote Meer‹ gegeben hatte.
Auf einen Schlag kehrte jetzt den Zigeunern die Erinnerung zurück.
»Seid mir gegrüßt, ihr Herren!« sagte Marcel und legte einen Haufen Geldstücke auf den Tisch, zwischen denen fünf oder sechs neue Goldstücke funkelten.
»Man sollte glauben, daß sie lebten«, meinte Colline.
»Und wie lustig sie singen!« sagte Schaunard, indem er die Goldstücke tanzen ließ.
»Es sind wahre Kunstwerke!« fügte Rudolf hinzu. »Aus Sonnengold gegossen. Wenn ich König wäre, dann erlaubte ich überhaupt kein anderes Geld und ließe auf jedes Stück das Bild meiner Geliebten schlagen.«
»Und dabei gab es Länder, wo Gold soviel wert war wie Kieselsteine«, sagte Schaunard. »Bei den Eingeborenen Amerikas bekam man vier Goldstücke für zwei Sous. Einer meiner Vorfahren ist in Amerika gewesen, die Wilden gaben ihm ein Begräbnis in ihrem Bauch. Das hat meiner Familie großen Abbruch verursacht.«
»Aber was ist denn das?« fragte Marcel und betrachtete den Hummer, der im Zimmer herumkroch. »Woher kommt dieses Tier?«
»Mir fällt jetzt ein,« antwortete Schaunard, »daß ich gestern abend einmal in Medicis Küche gewesen bin. Es scheint, daß dieses Reptil irgendwie in meine Tasche hineingefallen ist. Diese Tiere sind nämlich sehr kurzsichtig. Aber weil ich es einmal hier habe, will ich es auch behalten. Ich werde es zähmen und rot anstreichen, das steht ihm besser. Seit Euphemia fort ist, fühle ich mich so einsam, und das gibt mir Gesellschaft.«
»Meine Herren,« schrie Colline, »bitte beobachten Sie, daß sich die Wetterfahne nach Süden gedreht hat. Wir werden also frühstücken.«
»Das glaube ich auch«, sagte Marcel und nahm ein Goldstück in die Hand. »Hier ist einer, der für uns kochen läßt, und zwar mit ziemlich viel Sauce.«
Man besprach jetzt ernsthaft und umständlich die Speisenfolge. Jedes Gericht gab Anlaß zu einer Diskussion und Abstimmung. Der von Schaunard vorgeschlagene Eierkuchen wurde abgelehnt, ebenso der Weißwein, gegen den Marcel eine Stegreifrede hielt, die ihn als einen tiefen Weinkenner erwies.
»Die erste Pflicht des Weines ist rot zu sein«, schrie der Künstler. »Sprecht mir nicht von euren weißen Weinen.«
»Aber«, fiel Schaunard ein, »der Champagner?«
»Ach was! Ein besserer Apfelwein, ein rasendes Lakritzenwasser! Ich gebe alle Keller von Epernay und Ai für ein einziges Faß Burgunder. Im übrigen wollen wir ja auch keine Grisetten verführen noch Gassenhauer dichten. Ich stimme gegen den Champagner.«
Als das Programm festgelegt war, stiegen Schaunard und Colline zum Restaurant hinab, um das Essen zu bestellen.
»Wie wär's, wenn wir Feuer machten?« fragte Marcel.
»Natürlich,« antwortete Rudolf, »damit würden wir kein Verbrechen begehen. Das Thermometer lädt uns schon lange dazu ein, also machen wir Feuer. Der Kamin wird allerdings sehr erstaunt sein.«
Und er lief ins Treppenhaus und rief Colline nach, Holz heraufbringen zu lassen.
Ein paar Minuten später kamen Schaunard und Colline zurück, gefolgt von einem Kohlenträger, der ein großes Bündel Holz hereinschleppte.
Marcel suchte nun in einer Schublade nach etwas überflüssigem Papier, um das Feuer anzuzünden, und dabei fand er zufällig einen Brief, dessen Handschrift ihn erzittern machte. Er trat zur Seite, um ihn zu lesen.
Es war ein Brief, den Fräulein Dudelsack mit Bleistift geschrieben hatte, als sie noch mit Marcel zusammenwohnte. Das Datum lag nun gerade ein Jahr zurück. Der Brief enthielt nur wenige Worte:
»Mein lieber Freund!
Mach' Dir meinetwegen keine Sorgen, ich bin bald wieder zurück. Ich bin etwas ausgegangen, um mich im Gehen zu erwärmen. Im Zimmer friert es, und der Kohlenhändler pumpt uns nichts mehr. Ich habe zwar schon die beiden letzten Stuhlbeine zerschlagen, aber sie haben kaum so lange gebrannt, wie ein Ei Zeit zum Kochen braucht. Außerdem dringt der Wind durch das Fenster herein, als wäre er bei uns zu Hause, und er gibt mir eine Menge böser Ratschläge, die Dich sehr bekümmern würden, wenn ich sie befolgte. Da will ich lieber einen Augenblick ausgehen und mir die Schaufenster in der Nachbarschaft ansehen. Es soll da Samt zu zehn Franken das Meter geben. Das ist kaum zu glauben, ich muß es mir ansehen. Zum Essen bin ich wieder zu Hause.
Dein Dudelsack.«
»Das arme Mädchen!« murmelte Marcel, indem er den Brief in die Tasche steckte. Und er blieb eine Weile nachdenklich stehen.
Zu dieser Zeit befanden sich die Zigeuner schon lange im Witwerstand, mit Ausnahme von Colline, dessen Geliebte aber immer unsichtbar und anonym geblieben war.
Selbst Euphemia, die liebenswürdige Gefährtin Schaunards, hatte eine harmlose Seele gefunden, einen Jüngling, der ihr sein Herz, eine elegante Wohnungseinrichtung und einen Ring aus seinen brennend roten Haaren angeboten hatte. Nach vierzehn Tagen wollte er sich übrigens sein Herz und seine Möbel wieder abholen, denn bei einer Betrachtung der Hände seiner Geliebten hatte er bemerkt, daß sie zwar einen Haarring trug, aber einen schwarzen. Und er vermutete, er sei verraten worden.
Trotzdem war Euphemia nicht vom Pfade der Tugend abgewichen, sondern weil ihre Freundinnen sie ein paarmal wegen der roten Haare geneckt hatten, hatte sie sie schwarz färben lassen. Der Herr war, als alles aufgeklärt wurde, so zufrieden mit Euphemia, daß er ihr ein seidenes Kleid kaufte. Es war ihr erstes seidenes Kleid, und an dem Tage, da sie es zum erstenmal anzog, rief sie aus: »Jetzt will ich gerne sterben!«
Was Fräulein Dudelsack anging, so war sie fast eine offizielle Persönlichkeit geworden, und seit drei oder vier Monaten hatte Marcel sie nicht mehr getroffen. Von Mimi hatte Rudolf niemals mehr jemand sprechen hören, ausgenommen sich selbst, wenn er allein war.
»Was ist denn los?« schrie plötzlich Rudolf, als er Marcel in träumerischer Haltung am Kamin hocken sah. »Das Feuer will wohl nicht anbrennen?«
»Doch, doch«, sagte der Maler, indem er das Holz anzündete, das sich knisternd entflammte.
Während seine Freunde ihren Appetit anregten, indem sie die Vorbereitungen zur Mahlzeit trafen, hatte sich Marcel wieder allein an den Kamin begeben und las noch einmal den Brief, den ihm Fräulein Dudelsack dagelassen hatte. Plötzlich fiel ihm ein, daß er noch die Adresse einer intimen Freundin seiner früheren Geliebten wußte.
»Ah,« rief er so laut, daß die andern ihn hören konnten, »jetzt weiß ich, wie ich sie finde!«
»Wen finden?« fragte Rudolf. »Was machst du da?« fügte er hinzu, als er sah, daß sich der Künstler zum Schreiben hinsetzte.
»Nichts! Es ist nur ein eiliger Brief, den ich vergaß. In einem Augenblick bin ich fertig.« Und Marcel schrieb folgendes:
»Liebes Kind!
Durch einen Schlaganfall von heidenmäßigem Glück habe ich Geld bekommen. In meiner Wohnung wird ein großartiges Frühstück vorbereitet mit den prächtigsten Weinen. Außerdem haben wir Feuer im Kamin, wie die reichsten Leute. So was muß man gesehen haben, wie Du früher zu sagen pflegtest. Also komm' einen Augenblick zu uns; Rudolf, Colline und Schaunard sind da. Du kannst uns zum Dessert Lieder singen, es gibt nämlich auch Dessert. Da wir einmal hier zusammen sind, werden wir wahrscheinlich eine Woche lang bei Tisch sitzen bleiben. Du brauchst also nicht zu fürchten, daß Du zu spät kommst. Es ist so lange her, daß ich Dich nicht mehr habe lachen hören! Rudolf wird Verse auf Dich machen, und wir werden tausendmal auf unsere verstorbene Liebe trinken, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dadurch wieder zum Leben erwacht. Bei Menschen, wie wir beide es sind, ist ja der letzte Kuß niemals der letzte. Ach, wenn es letzten Winter nicht so kalt gewesen, hättest Du mich nie verlassen. Du hast mich nur für ein Bündel Brennholz verraten und weil Du Angst hattest, Du könntest rote Hände bekommen. Du hast wohlgetan, und ich zürne Dir wegen dieser Sache ebensowenig wie wegen aller früheren. Aber komme Dich wärmen, solange Feuer da ist.
Ich küsse Dich, so oft Du willst. Marcel.«
Als Marcel diesen Brief beendet hatte, schrieb er einen zweiten an Fräulein Sidonie, die Freundin, und bat diese, das beigelegte Schreiben an die Adressatin zu senden. Dann ging er zum Portier hinab und beauftragte ihn mit der Besorgung des Briefes. Er bezahlte ihn im voraus, und bei dieser Gelegenheit sah der Portier in der Hand des Malers ein Goldstück glänzen. Bevor er daher seinen Gang besorgte, stieg er schnell zum Hauseigentümer hinauf, bei dem Marcel im Rückstand mit der Miete war.
»Ach, Herr,« rief er ganz außer Atem, »der Künstler vom sechsten Stock hat Geld. Sie wissen doch, dieser Große, der mir ins Gesicht lacht, wenn ich ihm die Quittung bringe.«
»Ja,« sagte der Hausbesitzer, »das ist der Unverschämte, der von mir Geld borgen wollte, um mir eine Anzahlung zu machen. Ich habe ihm gekündigt.«
»Ich weiß schon. Aber er strotzt jetzt gerade vor Geld; mir sind von dem Anblick fast die Augen übergegangen. Er gibt ein Fest ... jetzt wäre ein günstiger Moment.«
»Da haben Sie recht«, stimmte ihm der Hauswirt zu. »Ich werde selbst sogleich hingehn.«
Frau Sidonie, die zu Hause war, als man ihr Marcels Brief brachte, schickte das an Fräulein Dudelsack adressierte Schreiben sofort durch ihr Mädchen hin.
Die frühere Geliebte Marcels besaß jetzt eine reizende Wohnung in der Chaussee d'Antin. Als sie den Brief erhielt, hatte sie gerade Gesellschaft, und zwar wollte sie an diesem Abend ein großes Prunkdiner geben.
»Himmel, das ist aber ein Wunder!« rief Fräulein Dudelsack und lachte wie toll. »Was gibt es?« fragte ein hübscher junger Mann, der steif wie ein Statue dastand.
»Eine Einladung zum Diner!« antwortete die junge Frau. »Wie finden Sie das?«
»Ich finde, daß sich das schlecht trifft«, sagte der junge Mann.
»Warum denn?« fragte sie.
»Warum? Sie denken doch nicht etwa dahinzugehen?«
»Gewiß denke ich daran. Sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen.«
»Aber meine Liebe, das wäre doch höchst unschicklich ... Sie werden ein andermal hingehen.«
»Ach, wie nett ... ein andermal! Es handelt sich um einen alten Bekannten, Marcel, der mich zum Diner einlädt, und das ist bei ihm eine so ganz ungewöhnliche Sache, daß ich es mir unbedingt ansehen muß. Ein andermal! Als ob die Diners in seinem Hause nicht so selten wie die Sonnenfinsternisse wären!« »Wie, Sie brechen Ihr Wort, um einen solchen Menschen zu besuchen?« fragte der junge Mann. »Und gerade mir erzählen Sie es?«
»Wem soll ich es denn sonst erzählen? Dem Großmogul? Den würde das wenig interessieren.«
»Aber so was ist doch eine merkwürdige Offenherzigkeit!«
»Sie wissen ganz gut,« erwiderte sie, »daß ich niemals so bin wie die andern.«
»Aber was denken Sie denn von mir, wenn ich Sie jetzt, da ich weiß, wohin Sie wollen, so einfach gehen lasse? Seien Sie doch vernünftig. Sowohl für mich wie für Sie schickt sich so etwas nicht. Sie müssen sich schon bei dem jungen Mann entschuldigen.« »Mein lieber Maurice,« sagte Fräulein Dudelsack mit einer sehr festen Stimme, »Sie kannten mich, bevor Sie mich nahmen. Sie wußten, daß ich voller Launen stecke und daß sich keine lebende Seele schmeicheln kann, mich von einer abgebracht zu haben.«
»Verlangen Sie von mir, was Sie wollen,« sagte Maurice, »aber nicht so etwas ...! Zwischen Launen und Launen ist doch ein Unterschied.«
»Maurice,« rief sie, indem sie ihren Hut aufsetzte, »ich werde zu Marcel gehen. Ich gehe hin! Verlassen Sie mich, wenn Sie wollen, aber ich kann nicht anders. Er ist der beste Junge von der Welt und der einzige, den ich jemals geliebt habe. Wenn sein Herz von Gold gewesen wäre, er hätte es schmelzen lassen, um mir Ringe daraus zu machen. Der arme Junge!« sagte sie und zeigte ihm seinen Brief. »Sehen Sie, sobald er etwas Holz hat, um einzuheizen, lädt er mich ein, mich zu erwärmen. Ach, wenn er nur nicht so faul gewesen wäre, und wenn es nur in den Geschäften keinen Samt und keine Seide gegeben hätte! Ich lebte so glücklich mit ihm. Er brachte es fertig, daß ich alle Entbehrungen ertrug, und er hat mir auch den Namen Dudelsack gegeben wegen meines gefühlvollen Singens. Jedenfalls, indem ich zu ihm hingehe, sind Sie sicher, daß ich wieder zu Ihnen zurückkomme ... falls Sie mir nicht die Tür vor der Nase zuschlagen.«
»Offenherziger konnten Sie mir nicht gestehen, daß Sie mich nicht lieben«, sagte der junge Mann.
»Lieber Maurice, Sie sind doch sonst ein so vernünftiger Mensch, wie können Sie sich da über eine solche Sache ernsthaft erregen? Sie haben mich wie ein schönes Pferd in einem Pferdestall, und ich, ich liebe Sie ... weil ich den Luxus liebe, den Lärm der Feste, alles was klingt und strahlt. Werden wir doch nicht sentimental, das wäre lächerlich und dumm!«
»Dann lassen Sie mich wenigstens mit Ihnen gehn!«
»Aber Sie würden sich gar nicht amüsieren«, sagte Dudelsack, »und Sie werden uns daran hindern, uns zu amüsieren. Denken Sie doch daran, mein Junge, daß er mich natürlich umarmen wird.«
»Haben Sie schon einmal einen so nachgiebigen Menschen gefunden wie mich?«
»Herr Vicomte,« erwiderte sie, »eines Tages, als ich in meinem Wagen mit Lord *** nach den Champs Elysées fuhr, traf ich Marcel und seinen Freund Rudolf. Sie kamen zu Fuß, waren sehr ärmlich gekleidet und mit Straßenschmutz bedeckt wie die Schäferhunde und rauchten ihre Pfeifen. Drei Monate hatte ich Marcel nicht mehr gesehen, und mir war es, als spränge mein Herz zum Wagenfenster hinaus. Sofort ließ ich halten und plauderte eine halbe Stunde lang mit Marcel, während ganz Paris in Equipagen an uns vorüberzog. Marcel bot mir billige Butterkuchen an und ein Veilchensträußchen für einen Sou, das ich an meinen Gürtel steckte. Als er mich verlassen hatte, wollte Lord *** ihn zurückrufen, um ihn einzuladen, mit uns zu dinieren. Ich habe den Lord für diese Liebenswürdigkeit geküßt. Sehen Sie, lieber Maurice, so bin ich nun einmal, und wenn es Ihnen nicht gefällt, dann sagen Sie es mir sogleich, damit ich meine Pantoffel und meine Nachthaube nehme.«
»Dann ist es also manchmal eine gute Sache, arm zu sein«, sagte Vicomte Maurice mit einem Gesicht, in dem sich eine neiderfüllte Traurigkeit malte.
»Aber gar nicht«, meinte Fräulein Dudelsack. »Wenn Marcel reich wäre, hätte ich ihn nie verlassen.«
»Dann gehen Sie«, sagte der junge Mann und drückte ihr die Hand. »Sie haben Ihr neues Kleid angezogen, es sitzt Ihnen wunderbar.«
»Richtig, das ist wahr! Als ob ich heute früh eine Vorahnung gehabt hätte. Ich werde es in Marcels Gesellschaft einweihen. Auf Wiedersehen! Heute werde ich wieder einmal fröhlich sein.« Marcel war in der Tat der einzige Mann, den sie je geliebt, und vor allem der einzige, für den sie wirkliche Entbehrungen erlitten hatte. Deshalb hatte nur ihr tiefeingewurzeltes Verlangen nach allem, was glänzt und klingt, sie veranlassen können, ihn zu verlassen. Sie zählte zwanzig Jahre, und der Luxus war für sie fast eine Frage der Gesundheit. Sie konnte wohl eine Zeitlang ohne ihn leben, aber ihn niemals ganz entbehren. Da sie sich ihrer Unbeständigkeit bewußt war, wollte sie niemals ihr Herz durch einen Treuschwur binden. Sie war von vielen jungen Leuten, für die sie selbst eine starke Neigung empfand, leidenschaftlich geliebt worden, und stets brachte sie ihnen eine unbefangene Offenheit entgegen: »Sie wollen mich, und ich will Sie. Abgemacht, feiern wir Hochzeit!« Sie hätte zehnmal, wenn sie nur gewollt hätte, ein festes Verhältnis, eine sogenannte Zukunft haben können. Aber sie glaubte nicht an eine Zukunft und wollte von keiner Bindung etwas wissen.
»Morgen,« sagte sie manchmal, »das ist nur ein Kalenderschwindel. Das ist nur ein täglich erneuter Vorwand, den die Menschen erfunden haben, weil sie die Obliegenheiten des Heute hinausschieben wollen. Morgen haben wir vielleicht Erdbeben, heute steht die Erde zum Glück noch fest.«
Eines Tages schlug ihr ein netter junger Mann, mit dem sie schon sechs Monate zusammenwohnte und der sich wahnsinnig in sie verliebt hatte, in allem Ernst vor, sie zu heiraten. Aber sie lachte ihm hellauf ins Gesicht.
»Ich soll meine Freiheit in das Gefängnis einer Ehe einsperren?« sagte sie. »Niemals!«
»Aber mich quält fortwährend die Angst, Sie zu verlieren.«
»Sie würden mich noch viel schneller verlieren, wenn ich Ihre Frau wäre«, antwortete Fräulein Dudelsack. »Reden wir nicht mehr darüber. Ich bin übrigens auch nicht frei«, fügte sie hinzu, wobei sie zweifellos an Marcel dachte.
So verbrachte sie ihre Jugend, indem sie sich von allen Winden des Abenteuerlichen treiben ließ. Sie machte viele glücklich und machte auch sich beinahe glücklich. Der Vicomte Maurice, mit dem sie jetzt zusammen lebte, hatte große Mühe, sich an ihren unzähmbaren, freiheitstrunkenen Charakter zu gewöhnen, und mit einer von Eifersucht durchtränkten Ungeduld wartete er, nachdem sie zu Marcel gegangen war, auf ihre Rückkehr.
»Wird sie wohl dort bleiben?« fragte er sich den ganzen Abend, und diese Frage bohrte sich tief in sein Herz.
»Der arme Maurice!« sagte Dudelsack ihrerseits. »Er findet es ein wenig grausam. Ach was, man muß die Jugend erziehen!« Dann flogen ihre Gedanken plötzlich zu Marcel, zu dem sie hinging, und indem sie alle Erinnerungen an ihren früheren Geliebten an sich vorüberziehen ließ, fragte sie sich, welch ein Wunder ihm so plötzlich den Tisch gedeckt hätte. Im Gehen las sie noch einmal den Brief, den ihr der Künstler geschrieben hatte, und unwillkürlich überkam sie eine leise Traurigkeit. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Mit Recht bedachte sie, daß sie gerade jetzt weniger als je Grund zum Betrübtsein habe, und als in diesem Moment ein heftiger Wind zu stürmen begann, rief sie:
»Es ist doch komisch, wenn ich auch nicht zu Marcel hingehen wollte, dann würde der Wind mich hintreiben.«
Und mit beschleunigtem Schritt eilte sie weiter, fröhlich wie ein Vogel, der nach seinem früheren Nest zurückfliegt.
Plötzlich begann es heftig zu schneien. Dudelsack blickte sich um, ob sie keine Droschke sähe. Aber sie fand keine. Da sie sich gerade in der Straße befand, in der ihre Freundin Sidonie wohnte, dieselbe, die ihr Marcels Brief gebracht hatte, kam sie auf den Gedanken, einen Augenblick zu dieser Frau hinaufzugehen und zu warten, bis das Wetter ihr die Fortsetzung ihres Weges erlaubte.
Als sie bei Frau Sidonie eintrat, fand sie dort eine zahlreiche Gesellschaft. Man spielte gerade eine Partie Landsknecht weiter, die schon vor drei Tagen begonnen hatte.
»Lassen Sie sich nicht stören«, sagte Fräulein Dudelsack. »Ich komme nur für einen Augenblick und gehe gleich wieder.«
»Hast du Marcels Brief erhalten?« flüsterte ihr Frau Sidonie ins Ohr.
»Ja«, antwortete Dudelsack. »Ich gehe zu ihm hin, er hat mich zum Diner eingeladen. Willst du nicht mitkommen? Du würdest dich sehr amüsieren.«
»Ach, ich kann nicht«, sagte Sidonie und wies auf den Spieltisch. »Wie steht der Einsatz?« fragte sie den Bankhalter.
»Es liegen sechs Louis darin«, rief dieser laut und hielt die Karten in der Hand.
»Ich setze zwei«, schrie Frau Sidonie.
»Ich bin nicht stolz, ich fange auch mit zwei an«, antwortete der Bankhalter, der schon mehrere Male gepaßt hatte. »König und Aß. Ich bin verloren«, fuhr er fort, indem er die Karten aufdeckte. »Die Könige bringen immer Unglück!«
»Man spricht nicht über Politik«, fiel ein Journalist ein.
»Und die Asse haben schon meiner ganzen Familie Unglück gebracht«, fuhr der Bankhalter fort. Plötzlich drehte er einen König um. »Hurra, es lebe der König!« schrie er. »Liebe Sidonie, geben Sie mir zwei Louis.«
»Schreib' sie dir ins Gedächtnis«, rief Sidonie wütend über ihren Verlust.
»Sie schulden mir dann fünfhundert Franken, Kleine«, sagte der Bankhalter. »Sie werden noch auf tausend kommen. Der Nächste gibt.«
Sidonie und Dudelsack plauderten leise. Die Partie ging weiter.
Ungefähr zu derselben Zeit setzte man sich bei den Zigeunern zu Tisch. Marcel war während der ganzen Mahlzeit unruhig. Jedesmal, wenn man Schritte im Treppenhaus hörte, zuckte er zusammen.
»Was hast du nur?« fragte Rudolf. »Man sollte denken, du erwartetest jemand. Wir sind doch alle zusammen.«
Aber bei einem unwillkürlichen Blick, den der Künstler ihm zuwarf, begriff der Dichter, womit sich sein Freund innerlich beschäftigte.
»Das ist wahr,« dachte er im stillen, »wir sind nicht alle zusammen.«
»Eigentlich fehlen uns Frauen«, sagte plötzlich Schaunard.
»Zum Henker!« grölte Colline. »Willst du wohl deine zügellosen Gedanken unterdrücken? Wir haben ausgemacht, daß nicht mehr über die Liebe gesprochen wird, das verdirbt die Sauce.«
Und die Freunde begannen mit erneutem Eifer zu trinken, während draußen die Schneeflocken durch die Luft wirbelten und im Kamin das Holz aufflammte und Funken in die Höhe warf.
Gerade als Rudolf mit lauter Stimme den Refrain eines Liedes sang, klopfte es mehrmals an die Tür.
Wie ein Schwimmer, der ins Wasser taucht und endlich mit dem Fuß den Boden erreicht hat, sich dann mit einem Satz nach oben abschnellt, so sprang Marcel, der langsam in eine beginnende Trunkenheit versunken war, mit einem Satz von seinem Stuhle auf und eilte an die Tür, um zu öffnen.
Es war nicht Fräulein Dudelsack.
Ein Herr erschien auf der Schwelle, er hielt in der Hand ein kleines Papier. Seine Miene war sehr liebenswürdig, sein Schlafrock überladen geschmacklos.
»Ich finde Sie in trefflicher Stimmung«, sagte er mit einem Blick nach dem Tisch, auf dessen Mitte der Überrest einer riesigen Hammelkeule thronte.
»Der Hauseigentümer!« sagte Rudolf. »Man erweise ihm die gebührenden Ehren!«
Und er begann mit Messer und Gabel einen Wirbel auf seinem Teller zu schlagen.
Colline bot ihm seinen Stuhl an, und Marcel rief:
»Los, Schaunard, ein Glas Weißwein für den Herrn. Sie kommen gerade zur rechten Minute«, sagte der Künstler zum Hauseigentümer. »Wir waren dabei, einen Trinkspruch auf Besitz und Eigentum auszubringen. Mein Freund dort, der Herr Colline, sprach darüber zu Herzen gehende Sätze. Da Sie nun einmal hier sind, wird er sie Ihnen zu Ehren wiederholen. Fang' noch einmal an, Colline.«
»Verzeihung, meine Herren,« sagte der Hauswirt, »ich möchte Sie aber nicht stören.«
Und er entfaltete das kleine Papier, das er in der Hand hatte.
»Was ist das für eine Drucksache?« fragte Marcel.
Der Hauswirt, der einen forschenden Blick durch das Zimmer gesandt hatte, bemerkte die Gold- und Silbermünzen, die noch auf dem Kaminsims lagen.
»Es ist die Quittung«, sagte er schnell. »Ich hatte schon die Ehre, sie Ihnen vorzuweisen.«
»Gewiß«, erwiderte Marcel. »Mein ausgezeichnetes Gedächtnis erinnert mich genau an diese Kleinigkeit. Es war an einem Freitag, dem 8. Oktober, mittags um zwölf ein viertel.«
»Sie ist bereits unterschrieben,« sagte der Hauswirt, »und wenn es Sie nicht stört ...«
»Verehrter Herr,« sagte Marcel, »ich hatte mir schon selbst vorgenommen, Sie zu besuchen. Denn ich habe Ihnen vieles zu sagen.«
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
»Tun Sie mir den Gefallen, eine kleine Erfrischung anzunehmen«, fuhr Marcel fort und nötigte ihn, ein Glas Wein zu trinken. »Sie haben mir übrigens neulich ein kleines Schriftstück geschickt ... mit dem Bildnis einer Dame, die eine Wage in der Hand hielt. Es war mit dem Namen Godard unterzeichnet.«
»Das ist mein Gerichtsvollzieher«, sagte der Hauswirt.
»Er hat eine ganz miserable Handschrift«, meinte Marcel. »Mein Freund dort, der alle Sprachen kennt,« damit wies er auf Colline, »versuchte vergebens, mir das Schriftstück zu entziffern, das übrigens mit fünf Franken Porto belastet war ...«
»Es war eine Kündigung«, unterbrach ihn der Hauswirt. »Es war nur eine rein formale Vorsichtsmaßregel ... sie ist so üblich.«
»Eine Kündigung, das dachte ich mir«, sagte Marcel. »Deshalb beabsichtigte ich auch, zu Ihnen zu kommen. Ich wollte nämlich diese Kündigung in einen neuen Vertrag umwandeln. Das Haus gefällt mir, die Treppe ist sauber, die Straße freundlich, und dann fesseln mich auch viele Privatgründe an diese Mauern.«
»Aber«, sagte der Hauseigentümer, indem er von neuem seine Quittung entfaltete, »das letzte Quartal ist noch zu bezahlen.«
»Ich werde es bezahlen, mein Herr, ich hegte schon selbst im stillen die Absicht.«
Unterdessen hatte der Hauswirt den Kamin, auf dem Geld lag, nicht aus den Augen gelassen, und die Anziehungskraft seiner begierigen Blicke war so stark, daß die Geldstücke sich zu bewegen und näher zu kommen schienen.
»Ich freue mich, gerade zu einer Zeit zu kommen, wo es Sie nicht geniert. Wir können also die kleine Rechnung erledigen«, sagte er, indem er die Quittung Marcel hinstreckte. Dieser jedoch, der einem solchen Angriff nicht direkt entgegentreten konnte, schweifte wieder ab.
»Ich höre, Sie haben auch in der Provinz Grundbesitz?« fragte er. »Oh, nur wenig«, antwortete der Hauswirt. »Ein kleines Haus in Burgund, eine geringwertige Farm, ohne besondere Einkünfte ... die Pächter zahlen nicht ... Deshalb«, so fügte er hinzu, indem er die Quittung immer noch vorstreckte, »kommt mir diese kleine Zahlung gerade sehr zustatten ... Es sind sechzig Franken, wie Sie ja wissen.«
»Sechzig, jawohl«, sagte Marcel und wandte sich zum Kamin, von dem er drei Goldstücke herabnahm. »Also sechzig«, fügte er hinzu und legte die drei Louis etwas von dem Eigentümer entfernt auf den Tisch.
»Endlich!« murmelte dieser, und sein Gesicht erhellte sich plötzlich. Die Quittung hielt er noch immer in der Hand.
Schaunard, Colline und Rudolf betrachteten voller Unruhe die Szene.
»Wahrhaftig, lieber Herr,« sagte jetzt Marcel, »da Sie durch Ihren Besitz Burgunder sind, so werden Sie es nicht verschmähen, ein paar Worte mit einem Landsmann zu sprechen.«
Und indem er eine Flasche alten Mâcon entkorkte, goß er dem Hauswirt ein volles Glas ein.
»Ah, wundervoll!« sagte dieser. »Ich habe niemals einen besseren getrunken.«
»Er ist von einem Onkel von mir, der dort wohnt, und mir von Zeit zu Zeit ein paar Körbe davon schickt.«
Der Hauseigentümer hatte sich erhoben und streckte seine Hand nach dem vor ihm liegenden Geld aus, als ihn Marcel von neuem unterbrach.
»Schlagen Sie es mir nicht ab, mir noch einmal Bescheid zu tun«, sagte er, indem er seinem Gläubiger von neuem eingoß und ihn zwang, mit ihm und den drei andern Zigeunern anzustoßen.
Der Hauswirt wagte es nicht, nein zu sagen. Er trank von neuem, stellte sein Glas hin und schickte sich abermals an, das Geld zu nehmen, als Marcel ausrief:
»Halt, mein Herr, mir kommt ein Gedanke. Ich habe jetzt gerade etwas viel Geld. Mein Onkel aus Burgund hat mir einen Zuschuß zu meinem Wechsel geschickt, und ich fürchte, ich werde das Geld verschwenden. Sie wissen ja, die Jugend ist unbesonnen ... Wenn es Ihnen also recht ist, werde ich ein Vierteljahr im voraus bezahlen.«
Damit nahm er noch sechzig Franken in Silber und legte sie zu denen, die schon auf dem Tisch waren.
»Ich werde Ihnen dann eine Quittung für das kommende Quartal ausstellen«, sagte der Wirt. »Ich habe ein Formular in der Tasche,« fügte er hinzu, indem er seine Briefmappe hervorzog. »Ich brauche es nur auszufüllen und vorzudatieren ... Ein reizender Mieter!« dachte er im stillen und verschlang die hundertzwanzig Franken mit den Augen.
Die drei Zigeuner, die die Diplomatie Marcels nicht verstanden, saßen bei diesem Vorschlag ganz verblüfft da.
»Aber der Kamin hier raucht«, fuhr Marcel fort. »Das ist sehr lästig.«
»Warum haben Sie mir das nicht schon mitgeteilt?« fragte der Hauswirt, der nun ebenso zuvorkommend wie sein Mieter sein wollte. »Ich hätte längst den Schornsteinfeger kommen lassen. Morgen werde ich es in Ordnung bringen lassen!« Und nachdem er die zweite Quittung ausgefüllt hatte, legte er sie beide vor Marcel hin und streckte von neuem seine Hand nach dem Geld aus. »Sie glauben gar nicht,« sagte er, »wie gelegen mir gerade jetzt diese Summe kommt. Ich habe Rechnungen für Hausreparaturen zu bezahlen und befand mich in ziemlicher Verlegenheit.«
»Es tut mir leid,« sagte Marcel, »daß ich Sie etwas warten ließ.« »Oh, das hat nichts zu sagen ... meine Herren ... ich habe die Ehre!« Und seine Hand streckte sich von neuem aus.
»Erlauben Sie,« sagte Marcel, »wir sind noch nicht fertig. Sie kennen ja das Sprichwort: Wenn der Wein abgezogen ist,« ... damit füllte er das Glas des Hauswirts wieder ... »dann muß er auch getrunken werden.«
»Ganz recht«, sagte der Wirt und setzte sich höflich wieder hin.
Diesmal begriffen die Zigeuner nach einem Augenzwinkern Marcels, worauf er hinauswollte.
Inzwischen begann aber der Hauswirt schon auf eigentümliche Art seine Augen zu verdrehen. Er schaukelte sich auf seinem Stuhle, erzählte lockere Geschichten und versprach Marcel, der mit ihm über Wohnungsreparaturen sprach, fabelhafte Verschönerungen. »Und nun die schwere Artillerie vor!« sagte der Künstler leise zu Rudolf, indem er auf die Flasche mit Rum wies. Nach dem ersten Gläschen sang der Hauswirt ein so anzügliches Lied, daß sogar Schaunard errötete.
Nach dem zweiten Gläschen beichtete er seine ehelichen Enttäuschungen, und da seine Gattin Helene hieß, verglich er sich mit Menelaus.
Nach dem dritten Gläschen bekam er weltschmerzliche Anwandlungen und äußerte weisheitsvolle Sätze wie die folgenden: »Das Leben strömt dahin ... Geld macht nicht glücklich ... der Mensch ist eine Eintagsfliege ... oh, wie angenehm ist doch die Liebe.«
Und indem er Schaunard zum Vertrauten wählte, erzählte er ihm von seinem heimlichen Verhältnis mit einem jungen Mädchen, dem er eine prächtige Wohnung eingerichtet hatte, und das sich Euphemia nannte. Und er lieferte eine so genaue Beschreibung dieser jungen Person und ihrer hingebenden Zärtlichkeit, daß Schaunard von einem seltsamen Verdacht befallen wurde, der zur Gewißheit wurde, als ihm der Hauswirt einen Brief zeigte, den er aus der Tasche zog.
»Himmel!« schrie Schaunard, als er die Unterschrift sah. »Abscheuliches Mädchen, du durchbohrst mir das Herz.«
»Was hat er nur?« riefen die Zigeuner, erstaunt über diese Worte, aus.
»Seht,« sagte Schaunard, »dieser Brief ist von Euphemia. Dies ist der Klex, wie sie ihn immer als Unterschrift wählt.« Und er ließ den Brief seiner früheren Geliebten herumgehen.
Er begann mit den Worten: »Mein dicker Lümmel!«
»Das bin ich, ihr dicker Lümmel«, sagte der Hauswirt und versuchte sich zu erheben, ohne daß es ihm aber gelang.
»Sehr gut,« sagte Marcel, der ihn beobachtet hatte, »er hat Anker geworfen.«
»Euphemia, grausame Euphemia!« murmelte Schaunard. »Du machst mir tiefen Schmerz.«
»Ich habe ihr Rue Coquenard Nr. 12 eine kleine Wohnung im Zwischenstock eingerichtet«, sagte der Hauswirt. »Hübsch ist sie, hübsch ... sie hat mich viel Geld gekostet ... Aber die wahre Liebe fragt nicht nach Geld, und dann habe ich auch zwanzigtausend Franken Rente ... Sie fragt auch hier wieder nach Geld«, fuhr er fort, indem er den Brief wieder an sich nahm. »Armes Mäuschen! ... Ich werde ihr das da geben, es wird ihr Freude machen ...« Und er streckte die Hand nach dem von Marcel hingelegten Geld aus. »Halt, halt,« rief er, indem er erstaunt auf dem Tisch herumtastete, »wo ist es denn?«
Das Geld war verschwunden.
»Unmöglich kann ein anständiger Mann zu solchen verbrecherischen Machenschaften seine Hand reichen«, hatte sich Marcel gesagt. »Mein Gewissen und die Moral verbieten es, das Geld für meine Miete in die Hände dieses alten Wüstlings zu geben. Ich werde so zwar mein Quartal nicht bezahlen, aber dafür bleibt auch meine Seele ohne Gewissensbisse. Welch eine Sittenlosigkeit! Und ein Mann mit weißem Haupt!«
Indessen war der Hauswirt langsam unter den Tisch gesunken und hielt den Flaschen unverständliche Ansprachen.
Da er schon zwei Stunden fort war, begann seine Frau sich zu beunruhigen und schickte das Dienstmädchen, das bei seinem Anblick laute Schreie ausstieß.
»Was haben Sie mit meinem Herrn gemacht?« fragte sie die Zigeuner.
»Nichts«, sagte Marcel. »Er kam vor einer Weile wegen seiner Miete herein. Da wir kein Geld hatten, baten wir ihn um einen Aufschub.«
»Aber er ist doch betrunken!« sagte das Mädchen.
»Das war er schon in hohem Maße,« antwortete Rudolf, »als er kam. Er sagte uns, er habe seinen Weinkeller geordnet.«
»Und er hatte so wenig Besinnung,« fuhr Colline fort, »daß er uns die Quittungen ohne das Geld hierlassen wollte.«
»Geben Sie sie seiner Frau«, fügte der Maler hinzu, indem er ihr die Quittungen überreichte. »Wir sind anständige Menschen und wollen nicht seinen Zustand ausnutzen.«
»Ach du lieber Gott, was wird die gnädige Frau sagen?« rief das Mädchen und schleppte den Hauswirt, der sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, davon. »Endlich!« schrie Marcel.
»Morgen wird er wiederkommen«, sagte Rudolf. »Er hat das Geld gesehen.«
»Wenn er wiederkommt,« meinte der Maler, »dann werde ich ihm androhen, ich würde seine Frau über seine Beziehungen zu Euphemia aufklären. Er wird uns schon Zeit lassen.«
Als der Hauswirt fort war, begannen die vier Freunde von neuem zu trinken und zu rauchen. Nur Marcel bewahrte einen Schimmer von Bewußtsein in seinem Rausch. Immer wieder lief er bei dem geringsten Geräusch, das er auf der Treppe hörte, nach der Tür, um sie zu öffnen. Aber die Leute, die heraufstiegen, hielten stets in einem tiefer gelegenen Stockwerk an, und der Maler ging langsam wieder bis zu seinem Winkel am Kamin, wo er sich hinsetzte. Mitternacht schlug, und Fräulein Dudelsack war immer noch nicht gekommen.
»Vielleicht«, dachte Marcel, »war sie nicht zu Hause, als man ihr meinen Brief brachte. Sie wird ihn heute abend, wenn sie heimkommt, finden und morgen kommen. Dann haben wir ja auch noch Feuer. Es ist unmöglich, daß sie nicht kommt. Also warten wir bis morgen!« Und er schlief in seiner Kaminecke ein.
Im selben Augenblick, als Marcel einschlief, um von seiner früheren Geliebten zu träumen, verließ diese das Haus ihrer Freundin, wo sie so lange geblieben war. Aber sie befand sich nicht allein, ein junger Mann begleitete sie, ein Wagen erwartete sie an der Tür, und sie stiegen beide ein, um in schnellem Trab davonzufahren. –
Die Partie Landsknecht ging noch immer weiter bei Frau Sidonie. »Wo ist denn Fräulein Dudelsack?« schrie plötzlich jemand.
»Wo ist der kleine Seraphin?« fragte jemand anders.
Frau Sidonie begann zu lachen.
»Sie sind zusammen geflohen«, sagte sie. »Ach, das ist eine merkwürdige Geschichte. Was für ein seltsamer Mensch ist doch meine Freundin! Denken Sie sich ...«
Und sie erzählte die ganze Geschichte, wie sich Fräulein Dudelsack, nachdem sie sich fast mit dem Vicomte Paul überworfen, auf den Weg gemacht hatte, um zu Marcel zu gehen, dann einen Augenblick in dieses Haus getreten war und dort den jungen Seraphin getroffen hatte.
»Ich habe gleich so etwas vermutet«, sagte Sidonie, indem sie ihren Bericht unterbrach. »Ich habe sie den ganzen Abend beobachtet, er ist nicht so dumm, dieser kleine Biedermann. Kurz, sie sind auf und davon, und wer sie einholen wollte, müßte flinke Beine haben. Aber die Geschichte ist doch sehr komisch, wenn man bedenkt, wie verrückt sie auf ihren Marcel ist.«
»Wenn sie auf den Maler so verrückt ist, wozu nimmt sie denn den Seraphin, dieses halbe Kind, das noch nie eine Geliebte gehabt hat?« fragte ein junger Mann.
»Sie bringt ihm das Buchstabieren bei«, meinte der Journalist, der sehr boshaft sein konnte, wenn er verloren hatte.
Fünf Tage lang führten die Zigeuner, ohne auszugehen, das herrlichste Leben von der Welt. Von morgens bis abends saßen sie zu Tisch. In ihrem Zimmer, das von einer unsagbaren Atmosphäre erfüllt war, herrschte eine wunderbare Unordnung. Neben einem fast ganz aus Austernschalen bestehenden Hügel lag eine Armee von Flaschen der verschiedensten Größen. Der Tisch war mit Speiseresten aller Art bedeckt, und im Kamin brannte ein wahrer Wald.
Am sechsten Tag entwarf Colline, der Oberzeremonienmeister, wie er das jeden Morgen tat, die Speisenfolge für Frühstück, Mittagessen, Vesper und Abendessen und legte sie den Freunden zur Begutachtung vor, die jeder als Zeichen ihrer Zustimmung ihre Unterschrift daraufsetzten.
Aber als Colline die Schublade öffnete, die als Kasse diente, um das nötige Geld für die Gerichte des Tages daraus zu entnehmen, wich er zwei Schritte zurück und wurde bleich wie Banquos Geist.
»Was gibt es?« fragten gleichgültig die andern.
»Was es gibt? Nur noch dreißig Sous gibt es!« sagte der Philosoph.
»Hölle und Teufel!« riefen jetzt die andern. »Da werden wir unsere Speisekarte abändern müssen. Übrigens, dreißig Sous richtig angewandt ... Na, jedenfalls werden wir uns keine Trüffeln leisten können.«
Eine Weile später war der Tisch gedeckt. Er zeigte drei in schönster Symmetrie aufgestellte Schüsseln:
eine Schüssel mit Heringen,
eine Schüssel mit Kartoffeln,
eine Schüssel mit Käse.
Im Kamin rauchten zwei kleine Holzscheite.
Und draußen fiel immerzu der Schnee.
Die vier Zigeuner setzten sich zu Tisch und entfalteten feierlich ihre Servietten.
»Es ist merkwürdig,« sagte Marcel, »dieser Hering schmeckt nach Fasan.«
»Das kommt von meiner guten Zubereitung«, erwiderte Colline. »Der Hering ist bisher verkannt worden.«
In diesem Augenblick ertönte von der Treppe her ein lustiger Gesang, und es klopfte an der Tür. Marcel, der unwillkürlich zu zittern begann, lief hin und öffnete. Fräulein Dudelsack flog ihm an den Hals und hielt ihn fünf Minuten lang umschlungen. Marcel fühlte, wie sie in seinen Armen erbebte.
»Was hast du?« fragte er.
»Mir ist kalt«, sagte sie mechanisch und näherte sich dem Kamin. »Ach,« rief Marcel, »und wir hatten ein so wundervolles Feuer.« »Ja,« sagte Fräulein Dudelsack und betrachtete die fünftägigen Speisenüberreste auf dem Tisch, »ich komme zu spät!«
»Warum?« fragte Marcel.
»Warum?« wiederholte sie und errötete ein wenig. Sie setzte sich Marcel aufs Knie. Sie zitterte noch immer, und ihre Hände hatten einen bläulichen Schimmer.
»Du warst wohl nicht frei?« fragte Marcel sie leise.
»Ich, nicht frei?« schrie das hübsche Mädchen. »Ach, Marcel, wenn ich inmitten der Sterne säße, im Paradies des lieben Gottes, und du winktest mir, ich stiege zu dir hinab. Ich nicht frei!« Und sie begann von neuem zu zittern.
»Es sind fünf Stühle hier«, sagte Rudolf. »Das ist eine ungleiche Zahl, abgesehen davon, daß der fünfte eine lächerliche Form hat.« Damit zerschlug er den Stuhl in Stücke und warf diese in den Kamin. Das Feuer loderte sofort zu einer hellen und anheimelnden Flamme empor. Dann gab der Dichter Colline und Schaunard ein Zeichen, und sie erhoben sich.
»Wo geht ihr hin?« fragte Marcel.
»Wir gehen uns Tabak kaufen«, antworteten sie.
»In Havanna«, fügte Schaunard hinzu und blinzelte Marcel an, der ihm mit einem Blick dankte.
»Warum bist du nicht früher gekommen?« fragte er seine Geliebte von neuem, als er mit ihr allein war.
»Das ist wahr, ich habe mich etwas verspätet ...«
»Fünf Tage, um über den Pont Neuf zu kommen? Du hast wohl einen Umweg über die Pyrenäen gemacht?«
Sie senkte den Kopf und schwieg.
»Ach, du böses Mädchen«, sagte der Maler traurig und klopfte ihr leise mit der Hand auf das Korsett. »Was hast du denn hier sitzen?« »Du weißt es wohl«, antwortete sie lebhaft.
»Aber was hast du gemacht, seit ich dir geschrieben habe?«
»Frage mich nicht!« antwortete sie schnell und küßte ihn mehrmals. »Frage mich nach nichts. Laß mich nur an deiner Seite warm werden, während es draußen so kalt ist. Du siehst, ich hatte mein bestes Kleid angezogen, um zu dir zu gehen ... Der arme Maurice, er begriff gar nichts, als ich fortging, um hierher zu kommen, aber es war stärker als ich ... Ich habe mich auch auf den Weg gemacht ... Es ist schön, das Feuer«, fügte sie hinzu und näherte ihre kleinen Hände den Flammen. »Ich werde bis morgen bei dir bleiben? Willst du?«
»Es wird sehr kalt hier sein,« sagte Marcel, »und wir haben nichts mehr zu essen. Du bist zu spät gekommen«, wiederholte er.
»Ach, was«, sagte sie. »Um so mehr erinnert das an vergangene Zeiten.«
Rudolf, Colline und Schaunard blieben vierundzwanzig Stunden aus, um ihren Tabak zu finden. Als sie zurückkamen, war Marcel allein.
Nach sechstägiger Abwesenheit sah der Vicomte Maurice Fräulein Dudelsack zurückkehren.
Er machte ihr keinen Vorwurf und fragte nur, warum sie so traurig sei.
»Ich habe mich mit Marcel gezankt«, sagte sie. »Wir sind in Streit auseinandergegangen.«
»Und doch,« sagte Maurice, »wer weiß? Vielleicht kehren Sie noch einmal zu ihm zurück.«
»Was wollen Sie?« erwiderte Fräulein Dudelsack. »Von Zeit zu Zeit habe ich eben das Bedürfnis, wieder einmal die Luft seines Lebens zu atmen. Mein sinnloses Dasein gleicht einem Lied. Jede Liebesgeschichte darin ist eine Strophe, aber Marcel ist der Refrain.«