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Eines Abends in der Fastenzeit kam Rudolf, in der Absicht zu arbeiten, früh nach Hause. Aber kaum hatte er sich an den Tisch gesetzt und seine Feder in die Tinte getaucht, als ein eigentümliches Geräusch ihn ablenkte. Er legte sein Ohr an den Holzverschlag, der ihn von dem benachbarten Zimmer trennte, und hörte ganz deutlich eine Unterhaltung, bei der sich Küsse und andere Liebeslaute abwechselten.
»Teufel!« dachte Rudolf und blickte auf seine Uhr. »Es ist noch früh, und meine Nachbarin ist eine Julia, die ihren Romeo bis lange nach dem Morgenlied der Lerche bei sich behält. Diese Nacht könnte ich doch nicht arbeiten.« Damit nahm er seinen Hut und ging wieder fort.
Als er seinen Schlüssel beim Portier abgeben wollte, fand er dessen Frau in den zärtlichen Armen eines Liebhabers. Die Ärmste war so verstört, daß es fünf Minuten dauerte, ehe sie die Schnur ziehen konnte.
»Es gibt also tatsächlich Augenblicke,« dachte Rudolf, »wo selbst die Pförtnerinnen Weiber werden.«
Er trat ins Freie und fand in einem Straßenwinkel einen Feuerwehrmann und eine Köchin, die Ausgang hatte. Sie hielten sich an der Hand und tauschten das Ungeld der Liebe aus.
»Donnerwetter!« sagte Rudolf, als er den robusten Krieger und seine wohlgenährte Gefährtin sah. »Das sind aber richtige Ketzer, die gar nicht daran denken, daß wir uns in der Fastenzeit befinden.«
Und er ging weiter, um einen Freund aufzusuchen, der in der Nachbarschaft wohnte.
»Wenn Marcel zu Hause ist,« sagte er sich, »dann verbringen wir den Abend damit, über Colline zu schimpfen. Man muß doch irgend was anfangen!«
Auf sein laut dröhnendes Pochen wurde die Tür ein wenig geöffnet, und ein junger Mann, der einfach nur mit einer Lorgnette und einem Hemd bekleidet war, stellte sich vor.
»Ich kann dich nicht empfangen«, sagte er zu Rudolf.
»Warum nicht?« fragte dieser.
»Deshalb!« sagte Marcel und wies auf einen Frauenkopf, der sich hinter einem Vorhang zeigte. »Die Antwort genügt doch?«
»Schön ist sie nicht«, antwortete Rudolf, dem die Tür vor der Nase zugeworfen wurde. »Aber was soll ich nun anfangen?« fragte er sich, als er wieder auf der Straße war. »Ob ich zu Colline gehe? Wir verbringen dann die Zeit damit, über Marcel zu schimpfen.«
Als er die Rue l'Ouest durchschritt, die gewöhnlich dunkel und still dalag, gewahrte er einen Schatten, der melancholisch dahinschritt und Verse vor sich hin deklamierte.
»Oho,« sagte Rudolf, »was spaziert denn da für ein lebendiges Sonett herum? Ist das nicht Colline?«
»Sieh da, Rudolf! Wo gehst du hin?«
»Zu dir.«
»Du wirst mich nicht zu Hause finden.«
»Was machst du denn hier auf der Straße?«
»Ich warte.«
»Auf was denn?«
»Ach,« rief Colline mit spöttischem Pathos, »auf was wartet man, wenn man zwanzig Jahre alt ist, wenn der Himmel voller Sterne steht und die Luft von Liedern erfüllt ist?«
»Ich warte auf eine Frau.«
»Gute Nacht«, sagte Rudolf und nahm im Weitergehen sein Selbstgespräch wieder auf. »Alle Wetter, ist denn heute der Tag des heiligen Cupido, daß ich keinen Schritt gehen kann, ohne über Verliebte zu stolpern? Das ist unsittlich und empörend. Wozu haben wir die Polizei?«
Da die Anlagen des Luxembourg noch auf waren, trat Rudolf hinein, um seinen Weg abzukürzen. Aber hier, mitten in den verlassenen Alleen, tauchten geheimnisvoll umschlungen Paare auf und verschwanden wieder, wie erschreckt von dem Geräusch seiner Schritte, in der Stille und Dunkelheit, deren doppelter Zauber sie anzuziehen schien.
»Dieser Abend«, sagte sich Rudolf spöttisch, »scheint aus einem Roman abgeschrieben zu sein.« Er war aber trotzdem von einer so sehnsüchtigen Stimmung ergriffen, daß er sich auf eine Bank setzte und schmachtend den Mond ansah.
Nach kurzer Zeit war er ganz von fieberhaften Phantasien erfüllt. Es schien ihm, als hätten die marmornen Götter und Heroen, die den Garten belebten, ihre Piedestale verlassen, um den Göttinnen und Heroinen in der Nachbarschaft ihre Huldigung zu überbringen, und er hörte deutlich, wie der dicke Herkules der keuschen Artemis, deren Gewand bedenklich hochgerafft erschien, ein Madrigal aufsagte.
Vor der Bank, auf der er saß, sah er einen Schwan, der zu einer Nymphe am Ufer hinschwamm.
»Sehr gut«, dachte Rudolf, der alles der Mythologie gemäß auffaßte. »Das ist Jupiter, der sich zu seinem Liebesabenteuer mit der Leda schleicht. Hoffentlich überrascht ihn der Parkwächter dabei nicht.«
Rudolf verbarg sein Gesicht in den Händen und überließ sich ganz der süßen Qual seiner Gefühle. Aber mitten im schönsten Träumen wurde er plötzlich durch einen Wächter aufgestört, der sich ihm näherte und ihm auf die Schulter schlug.
»Es wird geschlossen, mein Herr«, sagte er.
»Das ist ein Glück«, dachte Rudolf. »Denn wenn ich hier noch fünf Minuten geblieben wäre, dann hätte ich mehr Vergißmeinnichtblüten im Herzen, als um den ganzen Rhein herum wachsen.«
Und indem er seinen Weg wieder aufnahm, verließ er hastig das Luxembourg und trällerte leise ein sentimentales Lied vor sich hin, das für ihn die Marseillaise der Liebe war.
Eine halbe Stunde später war er, ohne zu wissen wie, in den ›Prado‹ gelangt, wo er vor einem Glase Punsch saß und mit einem großgebauten jungen Menschen plauderte, der berühmt war wegen seiner merkwürdigen Nase, die von der Seite gesehen eine Adlernase, von vorne gesehen eine Stumpfnase war. Er war ein Nasenkönig, dem es nicht an Geist fehlte und der genug galante Abenteuer erlebt hatte, um in ähnlichen Fällen seinen Freunden mit einem guten Rat nützlich zu sein.
»Sie sind also verliebt?« fragte Alexander Schaunard, denn das war der Mann mit der Nase.
»Ja, mein Lieber. Es hat mich vorhin ganz plötzlich überfallen, wie wenn man ganz heftige Zahnschmerzen am Herzen bekäme.«
»Geben Sie mir doch mal den Tabak«, sagte Alexander.
»Stellen Sie sich vor,« fuhr Rudolf fort, »seit zwei Stunden begegnen mir nichts als Liebespaare. Ich bekam den Einfall, in das Luxembourg zu gehen, wo ich alle möglichen Phantasien hatte, die mich merkwürdig erregten. Ich bin ganz elegisch, ich blöke wie ein Lamm und girre wie eine Taube. Betrachten Sie mich doch einmal, ob ich nicht Wolle und Federn an mir habe.«
»Was haben Sie getrunken?« fragte Alexander ungeduldig. »Sie wollen mich verulken.«
»Ich versichere Ihnen, daß ich vollkommen nüchtern bin«, sagte Rudolf. »Das heißt, eigentlich bin ich gar nicht nüchtern. Jedenfalls muß ich irgend etwas an mein Herz drücken. Sehen Sie, Alexander, es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, mit andern Worten: Sie müssen mir helfen, eine Frau zu finden ... Wie wär's, wenn wir in ein Tanzlokal gingen? Die erste, die ich Ihnen zeige, zu der gehen Sie hin und sagen ihr, daß ich sie liebe.«
»Warum gehen Sie nicht selbst zu ihr hin und sagen ihr das?« fragte Alexander mit seinem wundervollen, nasalen Baß.
»Ja, mein Lieber,« sagte Rudolf, »Sie können mir glauben, daß ich plötzlich ganz vergessen habe, wie man es anfängt, solche Geständnisse zu machen. Übrigens haben in allen meinen Liebesromanen meine Freunde das Vorwort geschrieben, und manche auch die Widmung. Ich wußte nie so recht, wie ich anfangen sollte.«
»Es genügt, wenn man weiß, wie man Schluß macht«, sagte Alexander. »Im übrigen verstehe ich Sie jetzt. Ich kenne ein junges Mädchen, das für Hoboisten schwärmt, vielleicht gefallen Sie ihr.«
»Ja, aber ich hätte gerne, wenn sie weiße Handschuhe und blaue Augen besäße.«
»Zum Teufel, blaue Augen, das geht noch ... aber Handschuhe ... Sie wissen doch, daß man nicht alles zugleich haben kann ... Aber wir wollen nach dem aristokratischen Viertel aufbrechen.«
»Halt«, sagte Rudolf, als sie in den Salon eintraten, wo sich die eleganteren Mädchen aufhielten. »Da ist eine, die mir recht sanft vorkommt.« Und er wies auf ein junges, nett gekleidetes Mädchen, daß in einem Winkel saß.
»Abgemacht!« antwortete Alexander. »Bleiben Sie etwas zurück, ich werde ihr für Sie den Brand der Leidenschaft ins Herz schleudern. Wenn es soweit ist, dann rufe ich Sie.«
Zehn Minuten lang plauderte Alexander mit der jungen Schönen, die von Zeit zu Zeit in ein lustiges Lachen ausbrach und schließlich Rudolf ein Lächeln zuwarf, das zu sagen schien: »Kommen Sie, Ihr Anwalt hat den Prozeß gewonnen.«
»Also, gehen Sie hin«, sagte Alexander. »Sie haben gesiegt. Die Kleine wird sich sicherlich nicht spröde verhalten, aber spielen Sie für den Anfang doch lieber den Naiven.«
»Das brauchen Sie mir nicht erst ans Herz zu legen.«
»Mein Gott,« sagte das junge Mädchen, als Rudolf neben ihr Platz genommen hatte, »was haben Sie für einen ulkigen Freund, er redet wie ein ganzes Orchester.«
»Dafür ist er auch Komponist«, antwortete Rudolf.
Zwei Stunden später waren Rudolf und seine Gefährtin vor einem Hause in der Rue Saint Denis angelangt.
»Hier wohne ich«, sagte das junge Mädchen.
»Aber wann und wo werde ich Sie wiedersehen, geliebte Louise?«
»Morgen abend um acht Uhr in Ihrer Wohnung.«
»Ganz bestimmt?«
»Mein Ehrenwort«, antwortete Louise und reichte ihm ihre frischen Wangen, diese schönen, reifen Früchte der Jugend und Gesundheit zum Küssen dar.
In einem wahren Rausch kehrte Rudolf nach Hause zurück.
»Ach,« seufzte er, indem er sein Zimmer mit großen Schritten durchmaß, »so darf das nicht vorübergehen, ich muß es in Versen verewigen.«
Und am nächsten Morgen fand sein Portier in seinem Zimmer an die dreißig Bogen Papier verstreut, an deren Kopfende in majestätischer Würde sich die eine Verszeile erhob:
»O Liebe, Liebe, Königin der Jugend!«
Rudolf erwachte an diesem Tage gegen seine Gewohnheit sehr früh, und obgleich er nur wenig geschlafen hatte, stand er sofort auf.
»Ah,« rief er aus, »heute ist der große Tag gekommen! Aber noch zwölf Stunden warten ... womit soll ich diese zwölf Ewigkeiten verbringen?«
Und da sein Blick auf seinen Schreibtisch fiel, schien es ihm, als ob seine Feder ihm winkte. Es sah aus, als riefe sie ihm zu: »Arbeite!«
»Jawohl, arbeiten! Fort mit der Prosa! ... Aber... hier kann ich nicht bleiben, alles riecht nach Tinte!«
Das beste war schon, in ein Restaurant zu gehen, wo er sicher war, keine Freunde zu treffen.
»Sie würden mir ansehen, daß ich verliebt bin,« dachte er, »und mir mit ihren Reden mein Ideal verekeln.«
Nach einem sehr bescheidenen Frühstück setzte er sich auf die Bahn und befand sich eine halbe Stunde später in dem Wäldchen von Ville d'Avray.
Den ganzen Tag wanderte Rudolf umher und durchschweifte das junge Grün des Frühlings. Erst bei einbrechender Nacht kehrte er nach Paris zurück.
Nachdem er den Tempel, in dem er seine Göttin empfangen wollte, in Ordnung gebracht hatte, begann er eine den Umständen angemessene Toilette zu machen, wobei er nur bedauerte, daß er sich nicht in Weiß kleiden konnte.
Von sieben bis acht Uhr war er eine Beute fieberhafter Erwartung, einer langsamen Folter, in der seine ganze Jugend mit allen früheren Liebesabenteuern vor ihm auftauchte. Immer hatte sich Rudolf nach der idealen Leidenschaft gesehnt, aber immer war er enttäuscht worden. Trotzdem wartete er auf eine Frau, die ihm als Göttin Modell stehen konnte, auf einen Engel in Seide und Samt, dem er seine Sonette vorlesen konnte.
Endlich hörte Rudolf die heilige Stunde schlagen, und kurz darauf klopfte es leise zweimal an seine Tür. Rudolf öffnete, es war Louise.
»Sehen Sie, ich habe Wort gehalten«, sagte sie.
Rudolf zog die Vorhänge zu und zündete eine neue Kerze an.
Währenddessen hatte die Kleine Schal und Hut abgenommen und sie aufs Bett gelegt. Die blendende Weiße der Bettbezüge machte sie lächeln und auch ein wenig erröten.
Louise war mehr anmutig als schön, und ihr frisches Gesicht bot eine reizende Mischung von Gutmütigkeit und Schelmerei. Sie glich einem Motiv von Greuze, das Gavarni überarbeitet hatte. Die ganze gewinnende Frische eines jungen Mädchens wurde durch eine Kleidung hervorgehoben, die zwar sehr einfach war, aber doch die angeborene Verführungskunst verriet, die allen Frauen vom Beginn des Sprechenkönnens bis zum Tage der Verehelichung eigen ist. Ihre Bewegungen waren bezaubernd, ihre fein beschuhten Füße entzückend klein, und an ihren zarten Händen sah man, daß sie schon lange die Arbeit mit der Nadel aufgegeben hatten. Mit einem Wort, Louise war eine jener flüchtigen Vögel, die infolge eines Einfalls und manchmal auch aus Not einmal für einen Tag oder richtiger für eine Nacht ihr Nest in den Mansarden des Zigeunerviertels aufschlagen und auch gerne eine kurze Zeit bleiben, wenn sie durch ihre Laune oder durch seidene Bänder gefesselt werden.
Als Rudolf eine Stunde lang mit ihr geplaudert hatte, zeigte er ihr neben andern die Gruppe von Amor und Psyche.
»Ist das Paul und Virginie?« fragte sie.
»Ja«, antwortete Rudolf, der sie nicht im Anfang durch einen Widerspruch kränken wollte.
»Sie sind gut getroffen«, sagte Louise.
»Das arme Kind,« dachte Rudolf, »von Kunst und Literatur versteht sie gleicherweise nichts. Ich muß ihr Unterricht geben.« Inzwischen hatte sich Louise beklagt, daß die Schuhe sie drückten, und er half ihr bereitwillig, sie auszuziehen.
Plötzlich erlosch das Licht.
»Halt,« rief Rudolf, »wer hat denn die Kerze ausgeblasen?«
Ein lustiges Lachen gab ihm die Antwort.
Einige Tage später traf Rudolf auf der Straße einen seiner Freunde.
»Was machst du denn?« fragte dieser. »Man sieht dich ja gar nicht mehr.«
»Oh, ich lebe ganz der Poesie«, antwortete Rudolf.
Der Unglückliche sagte die Wahrheit. Er verlangte von Louise mehr, als sie ihm geben konnte, denn aus einem Dudelsack läßt sich keine Harfe machen. Sie war im Grunde eine Alltagsnatur, und Rudolf wollte sie in feierliche Höhen hinaufführen. Natürlich verstanden sie sich so gar nicht.
Acht Tage später traf Louise in demselben Tanzlokal, wo sie Rudolf gefunden hatte, einen jungen, blondhaarigen Mann, der mit ihr ein paarmal tanzte und sie dann mit in seine Wohnung nahm.
Er war ein Student im dritten Semester, der sich sehr gut auf die leichtverständliche Sprache des Vergnügens verstand, hübsche Augen und einen wohlgefüllten Geldbeutel hatte.
Louise ließ sich von ihm Tinte und Papier geben und schrieb an Rudolf folgenden Brief:
»Zehle nicht mehr auf Mir, ich umahrme dich zum letzten Mahl. Adieu Louise.«
Als Rudolf des Abends nach Hause kam und den Brief las, erlosch plötzlich auch das Licht.
»Merkwürdig«, sagte er nachdenklich. »Das ist dieselbe Kerze, die ich anzündete, als Louise zu mir kam. Offenbar sollte sie mit unserer Liebe sterben. Hätte ich das vorher gewußt, ich würde eine längere gewählt haben«, setzte er halb verächtlich, halb bedauernd hinzu und warf den Brief seiner Geliebten in eine Schublade, die er manchmal die Katakombe seiner Herzenserlebnisse nannte.